Als im Bundestag das Deutschlandlied angestimmt wurde
Vor zehn Jahren im Herbst: In der DDR gärt es. Immer mehr Menschen wollen ihre Ausreise erzwingen und flüchten sich in Botschaften der Bundesrepublik in Nachbarländern. Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang und lässt DDR-Bürger die grüne Grenze nach Österreich überqueren. Kurz darauf erlaubt die Tschechoslowakei rund 4.000 Menschen, die mehrere Wochen in der bundesdeutschen Botschaft ausgeharrt hatten, die Ausreise über Dresden. Der 40. Gründungstag der DDR am 7. Oktober ist durch heftige Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei geprägt. Eher durch ein Versehen denn durch Absicht wird am Abend des 9. Novembers die Mauer geöffnet. Tausende von Menschen strömen nach West-Berlin. In Bonn tagt währenddessen der Bundestag. Blickpunkt Bundestag hat Teilnehmer dieser denkwürdigen Sitzung nach ihren Erinnerungen befragt.
Ein milder Herbstwind wehte am Morgen des 9. November 1989 durch das Rheintal, als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) pünktlich um neun Uhr die 174. Sitzung der 11. Wahlperiode eröffnete. Abzuhandeln war eine wenig spektakuläre Tagesordnung, ohne Bezug zu der sensationellen Wendung, die die Deutschlandpolitik an jenem Abend nehmen sollte. In einer Aktuellen Stunde ging es um die "Schätzung der EG-Getreideernte durch die EG-Kommission". Etwas lebhafter wurde es im Bonner Wasserwerk erst bei zwei "Dauerbrennern" der politischen Diskussion: der Altersversorgung der Abgeordneten und der Rentenreform. Und eine parlamentarische Rüge verzeichnet das amtliche Protokoll auf Seite 13099. Eine Rüge, die es am Vormittag noch in sich hatte, die aber zehn Stunden später zur polemischen Fußnote geworden war. Denn was war der Zwischenruf eines CDU-Abgeordneten, die SPD-Politikerin Heidemarie Wiczorek-Zeul "koaliere mit den Mauermördern", gegen den Fall der Mauer nach 28 Jahren Schießbefehl und Trennung?
Jener Tag, an dem in Berlin Weltgeschichte geschrieben wurde, war in Bonn ein Tag hektischer Sitzungen und Beratungen. Regierung und Opposition waren sensibilisiert, denn die DDR schien am Ende. Wie erstarrt nahm eine überalterte SED-Führung das für sie Unfassbare hin: die Massenfluchten über die Botschaften in Budapest und Prag, die von Leipzig ausgehenden Demonstrationen mit der Forderung nach freien Wahlen ...
In Bonn rief Hans-Jochen Vogel den engeren Fraktionsvorstand zusammen. "In einer dramatischen Stimmung", wie sich Norbert Gansel erinnert, habe ihn der SPD-Fraktions- und Parteichef ermuntert, eine neue deutschlandpolitische Konzeption zu entwerfen, um auf die sich abzeichnenden Veränderungen zu reagieren. Eile war geboten angesichts der sich überschlagenden Ereignisse. Noch am Nachmittag diktiert der Kieler Abgeordnete einem Mitarbeiter eine Reihe von Forderungen an die DDR in die Schreibmaschine, darunter Punkt fünf "DDR-Bürger sollen die Grenzübergänge unbürokratisch zum Einkaufsverkehr in die Bundesrepublik nutzen dürfen und die Grenze ihres barbarischen Charakters entkleiden". Eine Forderung, die sich schon wenige Stunden später durch den Ansturm der Ostberliner auf die Grenzübergänge erledigt hatte.
Trotz der Anspannung, die auf Gansel während jener Stunden in seinem Büro im 16. Stock des Abgeordnetenhochhauses "Langer Eugen" lastet, bleibt ihm "das seltsam fahrige Verhalten" eines Mitarbeiters nicht verborgen. Fünf Jahre später erfolgt dessen Enttarnung als Stasi-Mitarbeiter.
Als gegen 20 Uhr die ersten noch vagen Nachrichten von der Öffnung der Mauer in Bonn bekannt werden, unterbricht die amtierende Präsidentin Annemarie Renger (SPD) die Bundestagssitzung von 20.22 bis 20.46 Uhr. Das Wort zu einer kurzen Regierungserklärung erhält anschließend Rudolf Seiters, der Chef des Bundeskanzleramts. Dem CDU-Politiker und jetzigen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages bleiben diese Stunden unvergessen. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) war zu offiziellen Besuch in Warschau und musste laufend über die neueste Entwicklung unterrichtet werden. Erste Vorbereitungen für eine Unterbrechung der Polen-Reise wurden getroffen. Denn Seiters' Mitarbeiterstab ist sich schnell darüber im Klaren, dass der Regierungschef jetzt nach Berlin gehört, ungeachtet polnischer Bedenken gegen Kohls überstürzte Abreise. Dem Enkel Adenauers soll der Vorwurf erspart bleiben, der auf der politischen Leistungsbilanz "des Alten" lastet: den Bundestagswahlkampf ungerührt fortgesetzt zu haben, als Walter Ulbricht am 13. August 1961 seinen "antifaschistischen Schutzwall" quer durch Berlin bauen ließ. 28 Jahre später verschwindet die Mauer, und Seiters sagt heute: "Niemand von uns konnte damit rechnen, dass auf einen Schlag die Mauer fällt." Im Kanzleramt wird an diesem Abend "rauf und runter dekliniert, was zu machen ist".
Zunächst muss der Kanzleramtschef ins Plenum. "Beifall bei allen Fraktionen" vermerkt das Bundestagsprotokoll, als Seiters "die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR" einen "Schritt von überragender Bedeutung" nennt. Und die Regierungserklärung richtet sich direkt an die Adresse der SED: "Wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird."
Im Leben des Politikers Rudolf Seiters war das ein Abend, der ihn in Atem hielt; auch im fernen Bonn weitab der Freudentänze der Berliner Mauer. "Das war eine Situation, in der man sich nicht fortbewegen wollte", erklärt der Minister sein Bleiben in der Bonner Machtzentrale. Zwei, drei Telefonate mit der Ehefrau im heimatlichen Emsland, ansonsten bestimmten die Fernsehbilder und die Agenturmeldungen das Geschehen in Seiters' Dienstzimmer. Irgendwann dann zu nächtlicher Stunde geht er in seine Abgeordnetenwohnung. "Ich habe in der Nacht kaum geschlafen."
Während Seiters Schlaf zu finden sucht, dreht Wolfgang Mischnick in seinem Büro immerfort die Wählscheibe seines Telefons. "Den schönsten Tag meiner 37 Jahre im Bundestag" wollte der gebürtige Dresdner mit seinen Verwandten in Sachsen teilen. Wie nur wenige Politiker hat der langjährige F.D.P.-Fraktionschef die Entwicklung in der DDR immer im Blick gehabt und seine informellen, aus der Nachkriegszeit stammenden Kontakte nie abreißen lassen.
Als Mischnick von dem Massenansturm auf die Mauer erfährt, geht ihm sein Gespräch mit SED-Chef Egon Krenz durch den Kopf. Der Honecker-Nachfolger hatte Ende Oktober ein großzügiges Reisegesetz angekündigt. "Von da an war mir klar, dass alles viel schneller geht als gedacht", erinnert sich Mischnick. Am 9. November ist der Liberale der letzte Redner, der gegen 21 Uhr das Wort ergreift. "Unsere Bewährungsprobe steht uns noch bevor", warnt Mischnick in der Stunde der Freude und fährt fort: "Erweisen wir uns alle dieser Bewährungsprobe würdig. Kleinkariertes Aufrechnen von Lasten oder Belastungen sind dieser historischen Stunde nicht gerecht."
Der gesamtdeutsch engagierte F.D.P.-Fraktionschef hatte gerade tief bewegt geendet, da sprang zögernd zunächst der Funke der Freude und des Glücks über vom fernen Berlin in den Bundestag am Rhein. Die Abgeordneten ließen sich von ihren Gefühlen übermannen. "Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne", heißt es in der nüchternen Sprache des Plenarprotokolls.
Die "unnationalistische Stimmung" habe ihn sehr beeindruckt, beschreibt Gansel den denkwürdigen Moment, in dem die Abgeordneten die dritte Strophe des Deutschlandliedes anstimmen. Mit Ausnahme der Grünen-Fraktion, der die Tragweite des Geschehens an diesem Abend noch nicht klar gewesen sei, wie die Abgeordnete Marieluise Beck sagt. Im Rückblick bedauert die Grünen-Parlamentarierin, dass die Rentenreform, das vermutete Topthema der Tagesordnung, niemanden mehr interessiert habe. Zehn Jahre danach sind die Erinnerungen der heutigen Ausländerbeauftragten an diesen historischen Tag nicht allzu ausgeprägt: "Die Grünen waren damals nicht so wichtig", entsinnt sich Beck. Offenen Widerspruch oder gar einen Eklat haben die Grünen mit ihrer Außenseiterrolle an jenem Abend nicht hervorgerufen. Die innere Freude bei den Koalitionsfraktionen und der SPD war wohl zu groß, um lautstarken Streit aufkommen zu lassen. Carl-Dieter Spranger, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, hat die Grünen mit "Schweigen und Unverständnis" bedacht. "Jeder Einzelne hat die bewegenden Stunden ganz persönlich empfunden. Ich wusste in diesem Moment, jetzt hat sich mein politisches Leben gelohnt", empfand der CSU-Politiker, der sich am späten Abend noch mit Fraktionskollegen zu einem Schoppen Wein in der Parlamentarischen Gesellschaft getroffen hat.
|
Wolfgang Mischnick |
|
Rudolf Seiters |
Nach einem (Partei übergreifenden) Jubelfest war den Abgeordneten am Abend nicht zumute. Man ging leise auseinander. Norbert Gansel, der bekennende linke Sozialdemokrat, zögerte auf seinem Heimweg einen Moment und schaute kurz in seiner Stammkneipe in der Bonner Südstadt vorbei. "Doch die Stimmung passte mir nicht", schildert der langjährige Parlamentarier seine Gefühlslage. Die unfassbaren Fernsehbilder von damals treiben dem heutigen Kieler Oberbürgermeister noch zehn Jahre später die Freudentränen in die Augen, wenn er über den 9. November 1989 spricht.
Jörg Kürschner