Den Tagungsort Tampere hatten die finnischen Gastgeber mit Bedacht gewählt: Im Oktober 1999 hatten die Regierungschefs hier einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" in Europa geschaffen. Doch der "Geist von Tampere" wollte sich diesmal nicht einstellen. Am Donnerstag konnten Journalisten per Videoübertragung verfolgen, wie der spanische Innenminister Juan Fernando López Aguillar mehr Solidarität bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms aus Afrika einforderte. Er erwarte von den europäischen Partnern "Geld, Mittel, Ressourcen und Entschlossenheit". Sein deutscher Kollege, Innenminister Wolfgang Schäuble, hörte sich die Bitte ebenso höflich an wie den Appell seines maltesischen und italienischen Kollegen. Doch hinterher sagte er: "Der Ruf nach dem Geld anderer ist immer der bequemste." In den Zeiten als Deutschland bis zu 800.000 Flüchtlinge im Jahr habe aufnehmen müssen, sei von Solidarität auch nicht die Rede gewesen.
Trotz deutscher Ablehnung rief Innenkommissar Frattini die Mitgliedstaaten dazu auf, sich solidarisch zu zeigen. Zusätzlich zum bereits existierenden Flüchtlingsfonds, für den pro Jahr knapp 100 Millionen Euro eingeplant sind, soll es einen Rückkehrfonds in gleicher Höhe und einen Fonds zum Schutz der Außengrenzen geben, der jährlich mit 260 Millionen Euro ausgestattet werden soll. Das Budget der Warschauer Grenzschutz-Agentur Frontex wird zudem von neun auf 20 Millionen Euro jährlich aufgestockt. Der Vorschlag der finnischen Präsidentschaft, für jeden Flüchtling einen festen Betrag aus dem EU-Budget zu zahlen, wurde aber nicht weiter verfolgt.
Scharfe Kritik übten die deutschen Minister und ihre Kollegen aus Österreich und den Niederlanden an der spanischen Legalisierungspolitik. Im vergangenen Jahr hatten die spanischen Behörden fast 700.000 illegal eingereisten Flüchtlingen ein Bleiberecht eingeräumt. Bevor über EU-Hilfen gesprochen werden könne, müsse Spanien sicherstellen, dass jeder Flüchtling in der Fingerabruck-Datenbank Eurodac registriert und hinterher abgeschoben werde. "Weil dann Freunde und Bekannte sehen, dass es keinen Erfolg und keinen Sinn hat, die gefährliche Reise übers Meer anzutreten", so der deutsche Innenminister. Dem Unmut gegen den spanischen Alleingang in der Legalisierungspolitik will Franco Frattini mit einem neuen Vorschlag gegensteuern. Beim nächsten regulären Innen- und Justizministerrat am 5. Oktober in Luxemburg soll ein engerer Informationsaustausch beschlossen werden. Alle nationalen Entscheidungen im Bereich Einwanderung und Asyl, die Auswirkungen auf andere EU-Staaten haben könnten, sollen künftig in ein Informationssystem eingespeist werden, zu dem die anderen Regierungen Zugang haben.
Der illegalen Beschäftigung hat Frattini ebenfalls den Kampf angesagt. Arbeiter ohne Papiere, die ihren Chef anzeigen, sollen zur Belohnung eine Arbeitserlaubnis erhalten. Die Arbeitgeber sollen künftig drastisch bestraft werden. Auf diese Weise wäre skrupellosen Unternehmern beizukommen, die sich die rechtlose Lage ihrer Arbeiter zunutze machen und darauf vertrauen, dass sie keiner bei den Behörden anzeigt.
Am Freitagmorgen schalteten die finnischen Gastgeber Kameras und Mikrofone im Sitzungssaal aus. Hinter verschlossenen Türen, so ihre Hoffnung, würden die Deutschen ihren Widerstand dagegen aufgeben, Fra-gen der inneren Sicherheit und der Flüchtlingspolitik künftig mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden und das Europaparlament einzubeziehen.
Der Zwang zur Einstimmigkeit unter fünfzig Justiz- und Innenministern hat das Gremium völlig gelähmt. Doch der Widerstand, Souveränitätsrechte aus der Hand zu geben, ist groß. Zwanzig Redner hätten Stellung bezogen, nur fünf davon zugunsten des finnischen Vorschlags, sagte Justizministerin Brigitte Zypries.
Die Bundesregierung begründet ihren Widerstand damit, dass die Verfassung geschwächt würde, wenn einzelne Bausteine daraus vorab in Kraft träten. Außerdem müssten alle 25 Parlamente zustimmen, wenn Gesetze im Bereich der Justiz- und Innenpolitik künftig mit Mehrheit und unter Mitwirkung des Europaparlaments verabschiedet werden sollten. Das sei ähnlich langwierig wie der Verfassungsprozess selber.
Dem widersprach Innenkommissar Frattini. "Die Möglichkeit, das Vetorecht abzuschaffen, eröffnet schon der geltende EU-Vertrag. Die nationalen Parlamente könnten das Thema alle am gleichen Tag auf die Tagesordnung setzen. Mit ihrer Zustimmung würden sie dafür sorgen, dass ihre Bürger für die Zukunft mehr Sicherheit bekämen." Die Änderung würde auch die Rechte des Europaparlaments und des Europäischen Gerichtshofs stärken. "Der Rat entscheidet über Bürgerrechte und mehr Polizeikompetenzen ohne die Beteiligung des Parlaments - das ist lächerlich!", erklärte, sichtlich aufgebracht, der EU-Kommissar.
Vom deutschen Widerstand gegen Mehrheitsentscheidungen will sich Finnlands Justizministerin Leena Luhtanen deshalb nicht entmutigen lassen. Nach der Tagung in Tampere kündigte sie an, für den nächsten Innenministerrat Anfang Oktober in Luxemburg einen konkreten Vorschlag auszuarbeiten. Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember werde die finnische Präsidentschaft das Thema erneut auf die Tagesordnung setzen.