Pressemitteilung
Datum: 25.09.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
25.09.2001
Bundestagspräsident Thierse begrüßt den russischen Staatspräsidenten Putin
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält zur Begrüßung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag nachfolgende Rede:
"Im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich Sie, Herr Staatspräsident Putin, herzlich hier im Plenarsaal unseres Parlaments. Wir in Berlin haben Ihren letzten Besuch im Juni 2000, kurz nach Ihrem Amtsantritt, noch lebhaft in Erinnerung. Die beiderseitige Einschätzung, dass die deutsch-russischen Beziehungen eine neue Qualität gewonnen haben, hat sich seitdem in vielen weiteren Begegnungen bestätigt.
Nach den Terrorangriffen vor zwei Wochen gegen die gesamte Zivilisation, gegen Grundwerte und fundamentale Überzeugungen, zu denen Sie, Herr Präsident, sich schon oft bekannt haben, stehen wir vor einer neuen Pflicht und einer neuen Chance: die zivile, die freiheitliche und die friedliebende Menschheit gemeinsam gegen fanatischen Terror zu verteidigen. Russland kann dabei eine besondere Rolle spielen, weil viele Bürger Ihres Landes Muslime sind und sie unterschiedliche islamisch geprägte Staaten als unmittelbare Nachbarn haben. Russland weiß deshalb, dass der Islam eine friedliebende und tolerante Religion ist. Russland weiß aber auch, dass fanatische Islamisten, die sich zu Unrecht auf die Religion berufen, nicht erst neuerdings eine Bedrohung selbst islamischer Gesellschaften darstellen.
Die Bekämpfung des Terrorismus ist nicht in erster Linie eine militärische Aufgabe. Im Gegenteil: eine Spirale der Gewalt, die immer mehr unschuldige Opfer fordert, wollen wir vermeiden. Das ändert nichts daran, dass der besondere Charakter dieses Terrorismus keine andere Wahl lässt, als mit repressiven Mitteln gegen die Täter vorzugehen. Die Aufgabe erfordert intensive, vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Staaten und einen langen Atem. Wir dürfen uns weder von Rachegefühlen leiten lassen, noch uns durch die Differenzen und Interessenunterschiede, die bisher zum politischen Alltag unserer Beziehungen gehörten, von der weltweiten Zusammenarbeit abhalten lassen.
Ihre Reaktion auf die terroristischen Massaker, Herr Präsident, Ihre Solidaritätsbekundung mit dem amerikanischen Volk und die Betroffenheit und Trauer, die die Menschen in Russland spontan zum Ausdruck bringen, sind eine große Ermutigung. Der Deutsche Bundestag hat dies insgesamt mit Dankbarkeit aufgenommen, und wir werden das nicht vergessen.
Jeder hat im Augenblick der Angriffe auf New York gespürt: dies ist eine Zeitenwende. Die Welt hat sich verändert. Zunächst folgte auf das anhaltende Entsetzen und die große Trauer die Einsicht: gegen diese Art von Verbrechen ist auch der Mächtigste nicht wirklich geschützt. Viele haben dieses Gefühl wütender und lähmender Ohnmacht in ihren Herzen noch nicht überwunden. Die Trauer um die Opfer wird von Solidarität mit den Angehörigen und mit dem gesamten Volk der Vereinigten Staaten von Amerika begleitet. Aber es zeichnet sich eine Hoffnung, eine Möglichkeit ab. Wir können sie ergreifen, wenn wir besonnen, mit Augenmaß, Beharrlichkeit und Verantwortung eine weltumspannende Koalition gegen den Terrorismus schmieden. Auch das wäre eine Zeitenwende: wenn Russland, China, Deutschland und die anderen NATO-Staaten, die arabische Welt und die USA zusammen diesen islamistischen Terror in die Knie zwingen. Eine solche Koalition wäre noch vor zwei Wochen eine Utopie gewesen. Sie, Herr Staatspräsident, gehörten zu den ersten Staatsmännern, die diese Koalition ermöglichen wollen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Ihr Besuch heute ist auch deshalb ein besonderes Ereignis. Nicht nur weil es Ihr erster offizieller Staatsbesuch in Deutschland ist, nicht nur, weil er die politischen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau einmal mehr bekräftigt und festigen wird, sondern auch, weil wir eine neue Qualität internationaler Zusammenarbeit anstreben. Der Deutsche Bundestag hat deshalb gern Ihrem Wunsch entsprochen, zu den Abgeordneten und - dank der Liveübertragung - auch zu den Bürgerinnen und Bürgern unserer beiden Länder zu sprechen.
Sie sind das erste russische Staatsoberhaupt, das vor dem Deutschen Bundestag spricht. Und Sie sind unser erster ausländischer Staatsgast, der das auch in deutscher Sprache tun wird - eine außergewöhnliche Geste. Wir verdanken sie nicht nur der Tatsache, dass Sie ein Kenner unserer Landessprache und unseres Landes sind. Wir verdanken sie auch den vielen Menschen in beiden Ländern, die in den vergangenen Jahren aufeinander zugegangen sind und die gute Tradition von Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit wieder belebt haben.
Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass sich Russen und Deutsche heute mit Sympathie und Respekt begegnen. Das Leid zweier Weltkriege und die ideologischen Barrieren des Kalten Krieges haben hartnäckige Ressentiments und Vorurteile erzeugt. Wir wissen um die tragischen Seiten der Geschichte unserer beiden Völker und um die Schuld, die wir Deutsche daran tragen. Die tiefste Zäsur in der Ge-schichte der deutsch-russischen Beziehungen war der 22. Juni 1941. Das ist fast genau 60 Jahre her.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begannen die Nationalsozialisten einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg, der gerade den Völkern der Sowjetunion ungeheure Opfer abverlangte. Für viele Menschen in Russland und seinen Nachbarstaaten sind die Schrecken dieses Krieges heute noch lebendig. Auch deshalb bin ich froh darüber, dass der Weg endlich frei ist für die überfällige Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Wenn Sie heute hier im Reichstagsgebäude zu uns sprechen, sprechen Sie in einem Haus, dass das demokratische und vereinte Deutschland symbolisiert. Und es symbolisiert auch den Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland. Als die rote Fahne vor 56 Jahren auf dem zerstörten Reichstagsgebäude wehte, war der Krieg beendet und ein mörderisches Regime ausgelöscht. Sowjetische Soldaten, die dies spürten, als sie Berlin erobert hatten, haben sich an den Wänden dieses Hauses verewigt. Es war eine bewusste - und, wie ich finde, eine richtige - Entscheidung, diese Inschriften freizulegen und zu bewahren. Indem wir das Irritierende gerade nicht zudecken, sondern indem wir es sichtbar machen, auch wenn es manche stört oder gar provoziert, stehen wir zu den beschämenden Kapiteln unserer Geschichte.
Vierzig Jahre lang standen sich West und Ost in Berlin unmittelbar und unversöhnlich gegenüber. Seit 1989 ist Berlin zu einem Zentrum der Begegnung zwischen Ost und West geworden. Wir Deutsche haben nicht vergessen, dass unsere staatliche Einheit ohne die Zustimmung Michail Gorbatschows nicht möglich geworden wäre. Für die Bereitschaft zur Versöhnung, die sich darin ausdrückte, bleiben wir ihm und den Völ-kern der ehemaligen Sowjetunion dankbar.
Als die Blockkonfrontation überwunden wurde, geschah das in der Hoffnung, eine friedliche Welt errichten zu können, das den Menschen eine Leben ohne Angst vor Krieg und Gewalt ermöglicht. Wir wissen heute: das war - bisher - eine Illusion. Nun haben wir es mit einer Vielzahl ethnischer oder ethnisierter, religiöser oder religiös verbrämter und sozialer Konflikte zu tun und mit einem neuen, nicht staatlichen Fanatismus, dem wir sozial, kulturell, ökonomisch, sicherheitspolitisch und gegebenenfalls auch militärisch begegnen müssen.
Herr Staatspräsident Putin, das letzte deutsch-russische Gipfeltreffen in Ihrer Heimatstadt St. Petersburg war der Auftakt zum "Petersburger Dialog", der ein regelmäßiger Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern beider Länder werden soll. In den letzten zwölf Jahren hatte sich ein intensiver wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Austausch entwickelt. Das gibt uns die Chance, an die gelungenen Phasen des europäischen Miteinanders wieder anzuknüpfen. Denn es gibt sie ja, diese gute Tradition unserer gemeinsamen Geschichte, in der auch Russland zu einem nicht wegzudenkenden Teil der europäischen Kultur und Politik geworden ist. Wie eng waren die Beziehungen zwischen Königshäusern, Kaufleuten und Kulturschaffenden! Thomas Mann hat von der "anbetungswürdigen, heiligen russischen Literatur" gesprochen. Daran können wir heute anknüpfen - immer auch mit Blick auf die neue Herausforderung, von der ich schon gesprochen habe.
"Toleranz, Moral, Menschlichkeit - die Ideale und Träume der deutschen und russischen Aufklärer sind keine wirklichkeitsfremden Utopien. Sie sind Wegweiser für unsere Gegenwart und Zukunft". Das hat Lew Kopelew gesagt, der große Förderer der deutsch-russischen Verständigung.
Mit dem Beitritt zum Europarat und zur Europäischen Menschenrechtskonvention hat sich Russland zur europäischen Wertegemeinschaft bekannt. In der Konsequenz dieses Schrittes liegt es, auch für Tschetschenien eine politische Lösung zu finden, die sich an diesen Werten orientiert.
Die Völker Osteuropas wollen in der Konsequenz von 1989, als sie den Eisernen Vorhang aufbrachen, auch an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit teilhaben, die ihnen die Zugehörigkeit zur Europäischen Union verspricht. Aus unserer Sicht ist die Osterweiterung der Europäischen Union ein notwendiger Schritt, um ein friedliches und demokratisches Europa zu erhalten. Wir sind dabei, das "europäische Haus" umzubauen und wir wissen, dass es kein europäisches Haus ohne die intensive und gute Nachbarschaft, ohne enge Zusammenarbeit mit Russland geben kann.
Der Umbruch von 1989 hat Russland vor ebenso große Herausforderungen gestellt wie die anderen Länder des ehemaligen Ostblocks. 1993 hat sich Ihr Land in einer neuen Verfassung auch auf das Ziel verpflichtet, eine demokratische Bürgergesellschaft aufzubauen. Heute sehen wir: Der Weg zu Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit, zum Schutz der Menschenrechte nach innen und nach außen, zu Meinungsfreiheit und breiter demokratischer Teilhabe ist lang. Über jeden Fortschritt auf diesem Weg freuen auch wir in Deutschland uns.
Und wir freuen uns mit Ihnen, dass ein spürbares Wirtschaftswachstum den Menschen in Russland neue Chancen, neue Hoffnung, neue Zuversicht gegeben hat. Dabei können Sie, Herr Staatspräsident, auf Ihre Popularität beim russischen Volk bauen. Wir setzen darauf, dass Ihr Land auch den Prozess der Neugestaltung Europas begleitet und mit voranbringt. Denn wie immer die Gemeinschaft der europäischen Staaten in Zukunft organisiert sein wird: Ohne festes Band zu Russland bleibt Europa unvollständig."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_010925