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Norbert Lammert: „Ich lese gerade Mikos Panajotopoulos: Die Erfindung des Zweifels.“
Der Zweifel wird in diesem Buch weder erfunden noch ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Immerhin beschreibt Panajotopoulos die verheerenden Folgen der scheinbaren Überwindung unvermeidlicher Zweifel durch genetische Nachweise.
Ein zu Beginn des 21. Jahrhunderts geborener Schriftsteller hat früh überragenden kommerziellen und künstlerischen Erfolg, der bei zwei weiteren Romanen ausbleibt. Weitere Werke finden keinen Verleger mehr, da der Autor es ablehnt, sich einem inzwischen etablierten genetischen Test seiner künstlerischen Begabung zu unterziehen. Verlage wie Galerien verfügen damit über ein vermeintlich sicheres Kriterium für die Auswahl ihrer Künstler. Lektoren werden durch den Test überflüssig, Kunstkritiker durch Marketingexperten verdrängt, Zweifel am Wert alter Meister eröffnet.
Neue Beschäftigungsperspektiven ergeben sich für die durch den Test gefallenen Künstler erst, als der übersichtliche Markt der verbliebenen Autoren seine unvermeidlichen Engpässe produziert und anonyme Schriftsteller als „Ghostwriter“ der schon quantitativ überforderten Wunderkinder benötigt werden. Dass der auf diese Weise reaktivierte Autor mit seinem letzten Roman einem gefeierten Jungstar der Literaturszene endlich zum Nationalpreis verhilft, ist eine schöne Pointe.
Die Wiederherstellung des Zweifels ist nicht der geringste Verdienst dieses Buches, dem eine brillante Idee zu Grunde liegt, auch wenn die daraus entwickelte Geschichte mit manchen umständlichen Fußnoten nicht rundum gelungen ist. Gelegentlich habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, was wohl Ernest Hemingway aus diesem Stoff gemacht hätte. Beruhigend ist die schöne Erfahrung, dass Verlage nach wie vor neuen Autoren auch ohne genetischen Test Publikationsmöglichkeiten eröffnen.
Mikos Panajotopoulos: Die Erfindung des Zweifels, Reclam Verlag Leipzig 2002