Anfang Juni standen vor einer Lagerhalle in Brüssel die Laster startklar, beladen mit modernster Computertechnologie. Die Fracht war für eine bunkerähnliche Anlage am Stadtrand von Straßburg bestimmt, wo das Schengen-Informationssystem (SIS) untergebracht ist. Dort soll für eine Übergangszeit auch das mehr Mitgliedstaaten und mehr Daten umfassende, technisch kompliziertere SIS II seinen Platz finden.
Dann kam der Anruf aus Straßburg: Experten hätten ermittelt, dass der Betonboden des Computerraums zu dünn sei für die schweren Rechner. "Die wären sofort durch den Boden geknallt", erinnert sich ein Kommissionsmitarbeiter. Wenig später stellte sich heraus, dass auch die Klimaanlage für die neue Technik nicht ausreichte. Die Laster starteten 17 Wochen später. Eine Bodenverstärkung im Wert von 50.000 Euro hatte Verzögerungen zur Folge, die in den Mitgliedstaaten und im Zentralrechner Zusatzkosten in Millionenhöhe verursachen.
Und die Verzögerungstaktik geht weiter. Seit zwei Monaten weigert sich Bernard Kirch, der Leiter der Straßburger Behörde, Daten aus dem laufenden SIS den von der EU-Kommission beauftragten Informatikern zu Testzwecken zur Verfügung zu stellen. Mal ist die Datenschutzbehörde des SIS dagegen, dann meldet angeblich das französische Innenministerium, dem SIS formal untersteht, Datenschutzbedenken an. Zu vermuten ist, dass auch Paris am liebsten nichts am alten SIS ändern würde, das unter französischer Kontrolle auf französischem Boden untergebracht ist. Im Kreis der EU-Mitgliedstaaten stimmten zwar auch die Franzosen für eine technische Überarbeitung von SIS. Doch die heikle Frage nach Standort und künftiger Organisationsform wurde vertagt - wie so oft in der EU, wenn ein Thema nationale Eigeninteressen berührt. Schuld ist aber auch die unklare Rechtsgrundlage, die es EU-Kommission, neuen und alten Mitgliedstaaten leicht macht, sich gegenseitig die Schuld für die Zeitverzögerungen zuzuschieben. Das alte SIS betrieben die Mitgliedstaaten formal gemeinsam, sie hatten Frankreich lediglich die Regie für die praktische Durchführung übertragen. Es sollte die Sicherheitslücke füllen, die durch den Abbau der Schlagbäume von 1985 an entstanden war. Von mehr als 30.000 Terminals aus können die Polizeidienststellen der Mitgliedstaaten derzeit Daten einspeichern oder abrufen. Mehr als 16 Millionen personenbezogene Daten und mehr als 20.000 verdeckte Überwachungen werden im SIS gespeichert. Den meisten Speicherplatz aber belegt der Kampf gegen illegale Einwanderer - 766.885 Menschen haben bereits einmal vergeblich in der EU Asyl beantragt und sollen beim nächsten Mal nicht mehr über die Grenze gelassen werden.
SIS II wird nötig, weil das alte System nicht mehr als 18 angeschlossene Mitgliedstaaten verkraften kann. Biometrische Daten wie Fingerabdrücke kann es nicht speichern. Deshalb kommt es derzeit häufig vor, dass Menschen an den Außengrenzen der EU wegen einer Namensgleichheit zu Unrecht aufgehalten werden. Am alten SIS war das EU-Parlament nicht beteiligt. Inzwischen gehört alles, was das grenzfreie Europa, den so genannten Schengen-Raum betrifft, zur gemeinschaftlichen Politik. Deshalb stimmte am 24. Oktober das Europaparlament in erster Lesung über das Gesetzespaket zum SIS II ab. Damit werden zentrale Fragen der öffentlichen Sicherheit, aber auch des Schutzes zentraler Bürgerrechte parlamentarischer Kontrolle unterworfen. Die Abgeordneten aus den neuen Mitgliedsländern drängen zur Eile. Der Beitritt zum Schengen-Raum soll den Wählern deutlich machen, dass sie keine EU-Bürger zweiter Klasse sind. Die polnische Europaabgeordnete Barbara Kudrycka schildert die Situation so: "Die Bürger der neuen Mitgliedstaaten warten darauf, dass die Schlagbäume fallen. Für sie ist es ein Symbol dafür, dass sie zu einer Gemeinschaft gehören, wo sich alle Bürger frei bewegen können. Aber auch die Menschen aus den alten EU-Ländern würden gern ohne Formalitäten nach Prag, Budapest oder Krakau reisen." Der konservative Abgeordnete Mihael Brejc aus Slowenien sagte in der Debatte, sein Land habe die technischen Vorbereitungen abgeschlossen. "Länder, die bereits alle Bedingungen erfüllen, sollten bis Ende 2007 am SIS beteiligt werden", forderte er. Kudrycka weist die Kritik der EU-Kommission, die den neuen Ländern schleppende technische Vorbereitung vorwirft, zurück. "Wir arbeiten auf Hochtouren und könnten in einem Jahr fertig sein."
Ein interner Bericht stellt der EU-Kommission sehr schlechte Zeugnisse für ihre eigenen Vorarbeiten aus. Die neuen Mitgliedstaaten sind gut vorbereitet und hätten Ende 2007 beitreten können. Doch alles kam ins Stocken, weil die Rechtsgrundlage fehlt. Einige technische Arbeiten hängen schließlich davon ab, wie das Gesetz für SIS II aussieht." Die Abgeordneten aus den alten Mitgliedsländern haben dagegen mehr die politischen und technischen Probleme von SIS II im Blick. Sie warnen davor, biometrische Daten in das System einzuspeisen, ohne die Kosten und die datenschutzrechtlichen Folgen zunächst genau zu prüfen. Sie kritisieren, dass der Datenschutz für gemeinschaftliche Einrichtungen wie das neue SIS noch immer nicht geregelt sei. Ein entsprechender Rahmenbeschluss liegt im Rat fest.
Heftige Kritik übten mehrere Redner bei der Debatte am 23. Oktober an der deutschen Bundesregierung. Sie hatte nachträglich verlangt, dass die Geheimdienste Zugang zum SIS erhalten sollen. Der portugiesische Berichterstatter Carlos Coelho empörte sich: "Das macht keinen Sinn. Wir können nicht auf der einen Seite die Sicherheitsstrukturen des SIS erhöhen und es dann für Dienste öffnen, die per Definition nicht kontrollierbar sind."
In der ersten Lesung lehnten es die Abgeordneten ab, den Datenzugriff auf die Geheimdienste zu erweitern. In den meisten EU-Staaten sind Grenzschutz und Nachrichtendienste nicht getrennt, sodass die Dienste bereits auf SIS zugreifen könnten. Da die deutschen Dienste keine Informationen einspeisen, erhalten sie dementsprechend auch keine Daten aus dem SIS. Die Bundesregierung hält jedoch weiter an dieser Forderung fest.