"Die Toten brauchen unser Gedenken"
Berlin: (hib/MAP) "Die Toten - "was brauchen sie?", so fragt eine junge Frau in Jorge Semprúns Roman "Die große Reise". Gérard, der Erzähler, antwortet: Sie brauchen "einen reinen, brüderlichen Blick und unser Gedenken". Der 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Es ist der Tag, an dem 1945 Auschwitz befreit wurde." So begann Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am Montagnachmittag im Plenum des Deutschen Bundestages seine Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages. "Man kann, man muss die notwendigen richtigen Konsequenzen ziehen. Am heutigen Tag wird der Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet", sagte er. Dies sei mit den Worten von Paul Spiegel ein "historisches Ereignis" und mit denen von Michel Friedman "eine Brücke über die Vernichtung, eine Brücke in die gemeinsame Zukunft". Thierse mahnte an, dass die Gesellschaft auch in der Sprache bewusst mit der Vergangenheit umgehen müsse. Vergleiche zwischen heute und der NS-Zeit, wie sie sich in der politischen Diskussion in letzter Zeit gehäuft haben, seien deshalb unerträglich, "weil sie die Opfer der NS-Diktatur verhöhnen." Theodor Adorno hätte gesagt, so Thierse, dass es unmöglich sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. "Doch das war ein Irrtum - man muss wohl sagen: Zum Glück". Denn was wäre imstande, das Unvorstellbare, das Unbeschreibliche auszusprechen oder wenigstens anzudeuten, wenn nicht die Literatur - ja, die Kunst überhaupt." Es gebe Archive und Bibliotheken, welche den Holocaust dokumentieren würden. Doch, so zweifelt der Bundestagspräsident, könnten Akten und Statistiken schwerlich Empathie erzeugen. So wichtig eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Holocaust sei, die künstlerische sei mindestens ebenso wichtig, mit wachsendem zeitlichen Abstand vom Geschehen eher noch wichtiger. Denn die emotionale Dimension der Vermittlung sei genauso notwendig wie das Lernen von Fakten.
Jorge Semprún, ehemaliger spanischer Kulturminister und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, betonte im Anschluss, dass die Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit ausschlaggebender Faktor für den Wiederaufbau eines deutschen Nationalbewusstseins gewesen sei. Es sei ein Projekt der deutschen Nation, sich ihrer Vergangenheit, ihrer Licht- und Schattenseiten bewusst zu werden. Gerade jetzt, wo sich die Europäische Union für die Länder Mittel- und Osteuropas öffne, sei es ratsam, sich "vor Augen zu führen, welche Rolle Deutschland zukommt, nicht nur auf Grund der geopolitischen Lage, sondern vor allem auf Grund der Singularität der historischen Erfahrungen während des ganzen letzten Jahrhunderts." Deutschland sei das einzige Land Westeuropas das die Erfahrungen beider Totalitarismen hätte, genau wie die mittel- und osteuropäischen Länder der heutigen Erweiterung. Darum könne kein anderes Land Europas besser als Deutschland sich diese komplexe, widersprüchliche, reiche und tragische Erfahrung verständlich machen.