142. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 14. Februar 2008
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich, wünsche uns allen einen guten Morgen sowie für den heutigen Tag und insbesondere die unmittelbar folgende Debatte besonders gute und intensive Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Dr. Klaus Lippold begeht heute seinen 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses herzlich.
Dieses beachtliche Ereignis haben in den vergangenen Tagen noch vier weitere Kollegen feiern können, und zwar der Kollege Wolfgang Spanier am 30. Januar, der Kollege Paul Friedhoff am 2. Februar, der Kollege Ernst Hinsken am 5. Februar und der Kollege Dr. Hakki Keskin am 12. Februar. Auch ihnen gelten unsere herzlichen Glückwünsche.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der Kollege Clemens Bollen ebenfalls am 12. Februar seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. Auch ihm gelten meine herzlichen Glückwünsche.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 28. November 2007 ?Der Aufschwung kommt bei den Menschen an? und die wirkliche Situation in Deutschland
(siehe 141. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 29)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen
- Drucksache 16/8044 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Bahnprivatisierung am Parlament vorbei
- Drucksache 16/8046 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE:
Haltung der Bundesregierung zu einer räumlichen und personellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden
- Drucksachen 16/5587, 16/6497 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Aufsichtsstruktur der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetz)
- Drucksache 16/7078 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksache 16/8083 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Nina Hauer
Frank Schäffler
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Katherina Reiche (Potsdam), Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht durch europäische Vorgaben für einen Zertifikatehandel unterlaufen werden
- Drucksache 16/8047 -
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle von EU-Agenturen
- Drucksache 16/8049 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 8 morgen nach dem Tagesordnungspunkt 23 aufzurufen. Der Tagesordnungspunkt 24 soll zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 22 beraten werden. Die Tagesordnungspunkte 15 und 16 sowie 17 und 18 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungspunkt 21 wird abgesetzt.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 133. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15 Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz)
- Drucksache 16/7438 -
überwiesen:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
Ich frage, ob irgendjemand mit den vorgesehenen Veränderungen nicht einverstanden ist. - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7981 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche (Potsdam) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7982 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen (Stammzellgesetz - StZG)
- Drucksache 16/7983 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7984 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiterer Abgeordneter
Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz - Adulte Stammzellforschung fördern
- Drucksache 16/7985 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Diese Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner der unterschiedlichen Anträge verteilt werden. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich darauf verständigt, dass aufgrund der großen Anzahl der Redewünsche und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprache die Reden der Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Ich vermute, dass es auch dazu Einvernehmen gibt. - Das ist der Fall. Dann verfahren wir genau so.
Diejenigen, die die Debatte an den Bildschirmen verfolgen, weise ich darauf hin, dass im Unterschied zu dem in diesem Haus sonst üblichen Verfahren keine Fraktionszugehörigkeiten angezeigt werden. Das mag den einen oder anderen zunächst irritieren, erklärt sich aber aus der Debattenlage; denn wir verhandeln nicht über Gesetzesinitiativen oder Anträge von Fraktionen, sondern über Anträge, die quer durch das Haus Unterstützung von Mitgliedern der einen wie der anderen Fraktion gefunden haben, sodass eine Diskussionslage deutlich wird - das wird sich in der Debatte gleich ganz sicher herausstellen -, die mit den Fraktionszugehörigkeiten nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen René Röspel. - Bitte schön, Sie haben das Wort.
René Röspel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sechs Jahren haben wir an dieser Stelle eine grundsätzliche Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen geführt. Vorangegangen war der Antrag eines Forschers an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, sich den Import embryonaler Stammzelllinien aus dem Ausland finanzieren zu lassen. Es gab damals in Deutschland keine Rechtslage, wie damit zu verfahren ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Antrag so lange zurückgestellt, bis die Politik ein Votum dazu abgeben konnte.
Wir haben viele Monate, fast anderthalb Jahre, in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Politik und im Parlament sehr intensiv darüber diskutiert. Die Enquete-Kommission hat im November 2001 einen sehr umfassenden und auch heute noch lesenswerten Bericht zur Stammzellforschung abgegeben. Der Nationale Ethikrat folgte wenige Wochen später. Wir haben damals sehr viele Fragen aufgeworfen: Ab wann beginnt das menschliche Leben? Ist der Embryo schon vom ersten Tag an Träger der Menschenwürde? Wie geht man mit Stammzelllinien um, die ohne unser Zutun - aber auch, ohne dass wir es hätten verhindern können - im Ausland aus Embryonen hergestellt worden sind? Wie stark kann Forschungsfreiheit eingeschränkt werden?
Wir haben weder als Enquete-Kommission noch in den Debatten allgemeingültige Antworten finden können; das wäre bei dieser ethischen Frage auch nicht möglich gewesen. Aber wir haben für die Grundsatzentscheidung, die alle Mitglieder dieses Hauses für sich allein und ihrem Gewissen verpflichtet am 30. Januar haben treffen müssen, Entscheidungshilfen geben können. Die übergroße Mehrheit hat damals entschieden: Für deutsche Forschung soll kein Embryo zerstört werden. Margot von Renesse, eine ehemalige Kollegin, drückte es damals so aus: nicht in Deutschland und auch nicht im Ausland. Es sollte von Deutschland aus kein Anreiz an das Ausland gehen, dies zu tun.
Aber deutsche Forscher sollten - das war der Grundsatzbeschluss 2002 - unter bestimmten Bedingungen mit bereits existierenden Stammzelllinien arbeiten dürfen. Diese Grundsatzentscheidung führte zum Stammzellgesetz, das wir im April 2002 beschlossen haben und das den sogenannten Stichtag enthält, das heißt, vor dem 1. Januar 2002 im Ausland hergestellte embryonale Stammzelllinien durften und dürfen nach Deutschland importiert werden. Auch wenn ich persönlich bei der Grundsatzentscheidung 2002 gegen den Import gestimmt habe, so habe ich den Kompromiss, das Stammzellgesetz, im April 2002 mitgetragen, und zwar aus guter Überzeugung. Er ist möglicherweise ein ethisch nicht hundertprozentig konsequenter Kompromiss - wir haben es auch nie als Kompromiss bezeichnet, sondern als Mittelweg -, aber er war ein guter politischer und guter gesellschaftlicher Kompromiss.
Denn er hat die lange Debatte, die vorher stattfand, befriedet. Dieser Rechtsfrieden hat auch seinen Wert. Ich bin froh, dass es sechs Jahre lang gut vonstatten gegangen ist.
Heute und in den nächsten Wochen geht es darum, ob dieser Kompromiss, dieser Mittelweg, Bestand hat, ob er auf Dauer in den nächsten Jahren lebensfähig bleibt. Dazu gehört nicht nur die Einhaltung der ethischen Grenzlinien, die wir 2002 gezogen haben, sondern eben auch die Einhaltung des Versprechens an die Forschung, mit Stammzellen arbeiten zu können. Genau das ist der Punkt, über den wir heute und in den nächsten Wochen diskutieren werden.
Während der Grundsatzdebatte 2002 sind wir davon ausgegangen - das stand auch so im Enquete-Bericht -, dass weltweit etwa 60 Stammzelllinien existieren. Mittlerweile wissen wir: Heute sind für deutsche Forscher 21 Stammzelllinien verfügbar. Ich würde mir wünschen, dass die deutschen Forscher mit diesen Stammzelllinien noch viele Jahre arbeiten könnten; wer je mit Zellkulturen gearbeitet hat, weiß aber, dass sie sich verändern. Nach meiner Einschätzung ist absehbar, dass mindestens ein Teil dieser Stammzellen, die es heute noch für deutsche Forscher gibt, nicht mehr für die intendierten Forschungszwecke zu gebrauchen sein werden.
Im Antrag der Kolleginnen und Kollegen Hinz, Klöckner, Hüppe und anderer wird diese Position bestätigt. Ich zitiere:
Probleme, die durch die Kultivierung von menschlichen embryonalen Stammzellen entstehen wie genetische/epigenetische Veränderungen, treten bei allen menschlichen embryonalen Stammzellkulturen auf.
Embryonale Stammzellen sind im Allgemeinen instabil. Um über genetisch/epigenetisch stabile Kulturen zu verfügen, müssen diese regelmäßig ersetzt, also immer wieder neue Embryonen getötet werden.
Weiter unten heißt es:
... da auch neue embryonale Stammzelllinien durch die Kultivierung genetische/epigenetische Veränderungen aufweisen und damit unbrauchbar werden.
Ich sage: Das gilt natürlich erst recht für die 21 bestehenden Stammzelllinien. Auch sie werden sich verändern, und zwar nachhaltig. Neue Embryonen zu töten, wie es in dem Zitat zum Ausdruck kommt, wäre mit den im Jahre 2002 vereinbarten ethischen Grundlinien nicht vereinbar. Ich glaube, dafür gäbe es auch in diesem Hause keine Mehrheit.
Ist denn der Ersatz oder die Ergänzung der bestehenden Stammzelllinien möglich, ohne diese Grenzlinien zu überschreiten? Wie unserem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, meinen wir: Ja, das ist möglich, nämlich mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007. Dann würde es dabei bleiben, dass erstens für deutsche Forschung kein Embryo zerstört wird und dass wir dadurch zweitens dem Ausland keinen Anreiz geben, dies zu tun. Denn es ist nicht anzunehmen, dass bis zum 1. Mai 2007 irgendjemand im Ausland damit gerechnet hätte, für Deutschland Stammzelllinien produzieren zu können.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass laut DFG weltweit mittlerweile etwa 500 Stammzelllinien beschrieben und anders, besser, etablierter und stabiler in Kultur gehalten sind, als es die von vor sechs Jahren waren. Vielleicht werden für deutsche Forscher in einiger Zeit 200 oder noch mehr Stammzelllinien verfügbar sein. Das würde für viele Jahre guter Forschung reichen.
Meine Damen und Herren, im Jahre 2002 haben wir aus meiner Sicht einen guten Weg eingeschlagen. Die rot-grüne Bundesregierung hat den ethisch unproblematischen Weg der adulten Stammzellforschung deutlich breiter angelegt und darin investiert. Frau Bundesministerin Schavan hat sogar noch eine Schippe draufgelegt. Sie setzt diesen Kurs hervorragend fort. Beispielsweise hat sie ein Programm zur Reprogrammierung von Stammzellen zur Förderung ausgeschrieben. Das ist ein vielversprechender Bereich.
Wir haben in der letzten Zeit viel von den Arbeiten des japanischen Forschers Yamanaka gehört. Er hat es tatsächlich geschafft, normale Hautzellen des Menschen so weit zurückzuprogrammieren bzw. in einen Zustand zurückzuversetzen, der fast dem einer embryonalen Stammzelle gleicht. Daran wird das große Potenzial deutlich, das sich aus der Entwicklung anderer Zellkulturarten ergibt. Das ist ein ethisch unproblematischer Weg - so scheint es zumindest. Das ist nämlich nur dann der Fall, wenn diese Hautzellen tatsächlich nicht zu embryonalen Stammzellen zurückentwickelt werden, die Alleskönner sind.
Um das zu verhindern und die Grenze einzuziehen, dass diese Hautzellen nicht so weit zurückentwickelt werden, dass sie wieder zu embryonalen Stammzellen werden, braucht man zum Vergleich sicherlich embryonale Stammzellen. Denn man muss der Frage nachgehen: Wann weisen diese Hautzellen die typischen Charakteristika einer Stammzelle auf? Möglicherweise bzw. vermutlich betont der japanische Forscher Yamanaka, dessen erklärtes Ziel es ist, dazu beizutragen, dass zukünftig auf embryonale Stammzellforschung verzichtet werden kann, dass aus seiner Sicht in nächster Zukunft noch nicht auf embryonale Stammzellforschung verzichtet werden kann.
Meine Damen und Herren, die Unterstützer unseres Gesetzentwurfes kommen aus durchaus unterschiedlichen Richtungen. Frau Aigner und ich haben im Jahr 2002 gegen den Import gestimmt, Kollege Tauss und Kollegin Reimann dafür. Es gab sicherlich einige, die damals noch weiter hätten gehen wollen und gehen können. Wir haben uns zusammengefunden, weil wir ein gemeinsames Interesse verfolgen: Wir wollen den Kompromiss, besser gesagt den Mittelweg von 2002 am Leben erhalten und fortführen.
Die anderen Vorschläge, die gemacht werden - die embryonale Stammzellforschung ganz zu verbieten oder den Stichtag abzuschaffen -, würden das sofortige Ende dieses Kompromisses bedeuten. Den Stichtag unverändert beizubehalten, wie es in einem anderen vorliegenden Antrag vorgesehen ist - ich habe ausgeführt, dass die Zahl der Stammzelllinien sinken wird -, würde zu einem Austrocknen dieses Kompromisses führen und hätte sein schleichendes oder vielleicht sogar schnelles Ende zur Folge. Das wäre falsch.
Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtages wollen wir den erfolgreichen Mittelweg weiter beschreiten. Wir wollen keine Embryonen zum Zweck der deutschen Forschung zur Verfügung stellen und dem Ausland keinen Anreiz geben, das für die deutsche Forschung zu tun. Wir wollen aber gewährleisten, dass deutsche Wissenschaftler in den nächsten Jahren genug Arbeit haben. Ich lade Sie ein, den erfolgreichen Weg dieses Kompromisses, der Rechtsfrieden im Land gebracht hat, mit uns weiterzugehen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Priska Hinz.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits seit über einem Jahr gibt es massive Forderungen, vor allem aus der Forschung, die Politik solle das Stammzellgesetz ändern. Herr Röspel hat Ihnen mitgeteilt, dass es vor sechs Jahren nach schwieriger Abwägung zu einer großen Mehrheit in diesem Haus dafür kam, einen Mittelweg zu beschreiten und ein Stammzellgesetz zu beschließen, das den Embryonenschutz hochhält, aber gleichzeitig die embryonale Stammzellforschung unter eng bestimmten Bedingungen zulässt.
Das wichtigste Argument für dieses Stammzellgesetz war und ist der geltende Stichtag. Dazu kommen die Alternativlosigkeit der embryonalen Stammzellforschung und die Hochrangigkeit der Forschungsziele. Bereits damals haben viele Mitglieder dieses Hauses diesen Kompromiss für zu weit gehend erachtet, weil sie der Meinung waren: Wenn man einmal die Tür aufgemacht hat, landet man auf einer Rutschbahn, bei der nicht abzusehen ist, wohin sie führt.
Ich glaube, gerade aus diesem Grund müssen wir besondere Anforderungen stellen, wenn wir heute darüber nachdenken, was sich in diesen sechs Jahren eigentlich verändert hat und ob diese Veränderungen tatsächlich zu einer Änderung des Stammzellgesetzes führen müssen. Schauen wir uns das einmal an - auch mit einem Blick auf das, was andere Länder tun -: Gibt es denn neue ethische Erkenntnisse? Aus meiner Sicht nicht. Denn das vielfach vorgebrachte Argument der Ethik des Heilens ist zwar eine wichtige Leitlinie; aber die embryonale Stammzellforschung kann heute wie 2002 keine dem Embryonenschutz gleichwertige Hochrangigkeit oder gar therapeutischen Erfolge für sich beanspruchen.
Weltweit glauben immer weniger Wissenschaftler daran, irgendwann einmal eine Zellersatztherapie entwickeln zu können.
Stattdessen haben sich die Forschungsziele geändert: Embryonale Stammzellen werden inzwischen für die toxische Überprüfung von Medikamenten benutzt. Natürlich ist das eine wichtige Sache. Aber Hand aufs Herz: Sind Medikamentenprüfungen wirklich der Grund, weshalb das Stammzellgesetz eingeführt wurde? Ist die embryonale Stammzellforschung zur Medikamentenüberprüfung wirklich ein hochrangiges Forschungsziel und alternativlos? Wir sagen: Nein.
Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse? Natürlich, die gibt es. Die Forschung entwickelt sich ständig weiter, führt zu neuen Erkenntnissen. Das gilt natürlich auch für die Stammzellforschung. Aber man muss doch sehen: Seit 2002 basieren die meisten Publikationen - das gilt weltweit - auf der Forschung an Stammzelllinien, die vor 2002 gewonnen wurden. Das heißt, in Deutschland ist Grundlagenforschung nach wie vor sehr wohl möglich. Auch aus diesem Grund brauchen wir keine Änderung des Gesetzes.
Natürlich sind Verunreinigungen ein Problem, aber nicht nur bei den alten Stammzelllinien, Herr Röspel.
Auch die neuen Stammzelllinien sind verunreinigt. Es gibt weltweit nur zwei Linien, die xenofrei sind. Diese sind allerdings nicht standardisiert nach den sogenannten GMP-Richtlinien; um jetzt mal Fachchinesisch zu sprechen. Das heißt, den Ansprüchen der DFG genügen diese beiden Linien nicht. Auch das muss man in dieser Debatte wissen.
Ich glaube deswegen nicht, dass wir, nur weil die Forscher sagen, sie brauchten neue Stammzelllinien, den Kompromiss aufkündigen sollten. Die bedeutsamste Frage ist doch: Haben die bisherigen Forschungsarbeiten bewiesen, dass die embryonale Stammzellforschung im Hinblick auf eine Therapie überhaupt Fortschritte macht? Nein, das ist weder in Deutschland noch in den Ländern der Fall, in denen eine andere Gesetzgebung gilt und in denen es weder einen Stichtag noch sonstige große Restriktionen gibt. Das heißt, der Wunsch, dass man mit embryonaler Stammzellforschung schwere Krankheiten heilen kann, bleibt bis heute ein Wunsch.
Da die Grundlagenforschung möglich ist, man aber das Ziel, das mit dem Stammzellgesetz verfolgt wird, nämlich Heilserwartungen zu erfüllen, nicht erreicht hat, kann man nicht sagen, dass die Forschungsziele so hochrangig sind, dass man den Stichtag zur Disposition stellen kann.
Uns, die wir gegen die Verschiebung des Stichtages sind, wird oft Fortschrittsfeindlichkeit oder sogar Wissenschaftsfeindlichkeit unterstellt.
Ich muss sagen: Das ärgert mich. Es gibt nämlich keine wissenschaftlichen Beweise für den Glauben, dass die Nutzung neuer embryonaler Stammzellen zu mehr Heilungschancen führt. Es gibt keinen seriösen Wissenschaftler, der bereits sagen könnte, dass klinische Versuche in irgendeiner Form in absehbarer Zeit möglich sind. Dafür ist die Tumorgefahr zu groß.
In Deutschland und weltweit werden demgegenüber große Schritte in der sogenannten alternativen Stammzellforschung, der adulten Stammzellforschung, gemacht. Wir sind nicht wissenschaftsfeindlich. Wir wollen die Forschung stützen und fördern, die tatsächlich Aussicht auf Erfolg hat, nämlich die adulte Stammzellforschung.
Die Reprogrammierung von Hautzellen oder das Gewinnen von Stammzellen aus Nabelschnurblut und Hoden - all diese Forschritte hat es in den letzten sechs Jahren gegeben. Auch von daher muss man sich überlegen, ob die embryonale Stammzellforschung unter den heutigen Gesichtspunkten wirklich alternativlos ist und ob man - ich sage es einmal so - den Stichtag verschieben muss, nur weil Stammzelllinien instabil werden. Auch die neuen Linien, die seit 2002 gewonnen wurden, sind instabil. Das ist immanent. Wenn es Entwicklungen hin zu einer anderen, besseren und ethisch unbedenklicheren Forschung gibt, dann sollte man sich wirklich überlegen, ob man nicht diesen Weg geht und fördert und das Bisherige auf dem Level belässt, auf dem es sich jetzt befindet. Grundlagenforschung ja, etwas anderes brauchen wir aber nicht.
Meine Damen und Herren, es gibt auch noch ein anderes Argument, das uns immer wieder vorgehalten wird: Die Stichtagsverschiebung sei notwendig, weil wir jetzt neue Linien brauchen, um später ganz darauf verzichten zu können - das allein finde ich schon eine fragwürdige Vorstellung -, und wir bräuchten die neuen Linien für die vergleichende Forschung.
Herr Röspel hat eben auf den Yamanaka-Erfolg bei der Reprogrammierung von Hautzellen hingewiesen. Der Forscher Yamanaka hat für die vergleichende Forschung aber Stammzelllinien von 1998 genutzt, das heißt, Stammzelllinien, die auch bei uns in Gebrauch sind und zugelassen werden können. Allein auf die Vermutung hin, es könnte irgendwann einmal eine vergleichende Forschung notwendig sein, für die man bisher zugelassene Stammzelllinien nicht mehr brauchen kann, sollte man einen gesellschaftlich gefundenen Kompromiss, eine ethische Grenzziehung nicht einfach opfern.
Ich will kurz noch einen anderen Punkt ansprechen. Es geht darum, was sich entwickelt, wenn es bei der embryonalen Stammzellforschung keine Restriktionen und damit auch keine Entschleunigung des Prozesses gibt. Spanien und Großbritannien gehen in den Bereichen der Stammzellforschung und der Fortpflanzungsmedizin gleich vor. Weil die Stammzellforscher sagen, sie könnten die tiefgekühlten Embryonen nicht mehr benutzen, wenn sie aufgetaut sind, da dann die Qualität nicht mehr so gut sei, werden Frauen dazu überredet, angehalten und teilweise auch bezahlt, dass sie bei der Fortpflanzungsmedizin entweder ihre Embryonen oder sogar Eizellen direkt für die Stammzellforschung spenden. Meine Damen und Herren, dies ist die Folge, wenn keine Entschleunigung stattfindet, wenn es keine Restriktionen gibt. So werden nicht nur Frauenkörper, sondern auch Embryos zur Ware degradiert. Hier sehe ich die Notwendigkeit einer Grenzziehung.
Zum Schluss weise ich noch kurz darauf hin, dass der Glaube daran, man könne es bei einer einmaligen Verschiebung des Stichtags belassen, ein Trugschluss ist. Schon die einmalige Verschiebung des Stichtags ist ein Angriff auf das Herzstück des Stammzellgesetzes. Selbst die Forscherinnen und Forscher, die heute dankbar wären, wenn es eine einmalige Verschiebung gäbe, sagen Ihnen ganz deutlich, dass sie sich damit nicht zufriedengeben. Sie sagen heute schon, sie brauchen weitere Verschiebungen. Wenn Sie mit ihnen unter vier Augen reden, sagen sie: Wir wollen überhaupt kein Stammzellgesetz, wir wollen die Freigabe aller Stammzelllinien, wir wollen sie im Lande selber herstellen.
Das sollte man wissen, wenn man sich in diese Debatte begibt.
Wir wollen nicht, dass der Stichtag zur Wanderdüne wird. Wir wollen, dass die ethische Grenzziehung bleibt. Es ist notwendig, sich noch einmal zu vergewissern, was in der Debatte im Jahre 2002 denen gesagt wurde, die meinten, der Damm mit einer Stichtagsregelung sei vielleicht nicht hoch genug.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Letzter Satz! - Dort wurde gesagt: Das Parlament soll doch bitte selbstbewusst sein und an sich glauben; es soll davon ausgehen, dass die von ihm geschaffene Grenzziehung hält. Diese Aussage von damals sollten wir beherzigen und daher diese Grenzziehung beibehalten.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach.
Ulrike Flach (FDP):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir führen hier heute eine forschungspolitische Debatte, die mehr als eine forschungspolitische Debatte ist. Sie ist eine Debatte, die in diesem Lande mit vielen Hoffnungen verknüpft ist, und zwar Hoffnungen auf zwei Seiten: Zum einen sind es die Hoffnungen der Forscher - ich bin sehr froh, dass wir heute eine ganze Reihe von namhaften Forschern unter uns haben; ich denke beispielsweise auch an namhafte Krebsforscher, die uns alle angeschrieben haben -, die wollen, dass sie mit Forschern auf der ganzen Welt gleichgestellt werden. Zum anderen sind es die Hoffnungen von Menschen, die an schweren Krankheiten leiden: MS - hier hat Sie ein Schreiben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft erreicht -, Parkinson, Diabetes. Die Menschen, die mit diesen schweren Krankheiten tagtäglich leben und die pflegende Angehörige haben, setzen natürlich Hoffnungen in eine solche Debatte. Sie alle wissen, dass wir eine Lösung - an dieser Stelle bin ich völlig bei Ihnen, Frau Hinz - weder heute noch morgen anbieten können. Aber wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, in diese Therapien hineinzukommen. Es geht um Grundlagenforschung mit dem erklärten Ziel, wirklich zu einer Therapie kommen zu können.
In der Tat ist die Stammzellforschung in den letzten Jahren enorm vorangekommen, sowohl im embryonalen - das sagen wir ausdrücklich - als auch im adulten Stammzellbereich. Wir, die inzwischen 100 Unterzeichner des Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin, möchten hier gar nicht die verschiedenen Formen der Stammzellforschung gegeneinander aufrechnen. Für uns sage ich ausdrücklich: Wir brauchen beides. Das sagen uns übrigens auch die Wissenschaftler, darunter viele, die zum Beispiel mit Nabelschnurblut forschen und gerne von den Gegnern der embryonalen Stammzellforschung zitiert werden.
Gerade in diesen Tagen hat der Düsseldorfer Forscher Peter Wernet, der mit Stammzellen aus Nabelschnurblut arbeitet, erklärt:
Nur wenn ich meine Ergebnisse mit denen der embryonalen Stammzellen vergleiche, weiß ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin.
Darum geht es, meine Damen und Herren.
Deshalb haben wir uns immer dafür ausgesprochen, beide Forschungszweige zu fördern. Wir - sowohl wir als Liberale, die wir uns seit vielen Jahren für die embryonale Stammzellforschung einsetzen, als auch viele andere Kollegen in diesem Hause - tun dies finanziell und mental. Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Jahren Millionenbeträge für beide Forschungszweige ausgegeben.
Wir werden dabei von Patientenorganisationen wie der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft begleitet, die sich klar für unseren Antrag ausgesprochen haben. Sie wollen diesen Antrag - ich zitiere -, ?um die Hoffnungen der vielen tausend MS-Erkrankten in unserem Land verantwortungsbewusst in die Entscheidungsfindung einzubeziehen?. Es geht um Chancen und Hoffnungen. Wir wissen, dass eine Chance noch keinen Erfolg und eine Hoffnung keine Gewissheit bedeutet. Aber die Politik muss aus unserer Sicht Chancen und Hoffnungen eröffnen, statt sie zu verbauen.
Unser Antrag geht einen klaren und eindeutigen Weg. Wir wollen den Stichtag 1. Januar 2002 für den Import embryonaler Stammzellen abschaffen, und wir wollen keinen neuen Stichtag setzen. Das heißt nicht - auch das betonen wir -, dass wir jegliche Forschung freigeben. Jeder Import- und Forschungsantrag soll wie bisher - das ist nämlich bereits der Fall - vom Robert-Koch-Institut als Genehmigungsbehörde intensiv geprüft und entschieden werden. Hochrangigkeit der Forschung, Alternativlosigkeit der Nutzung embryonaler Stammzellen und ethische Abwägung - all dies bleibt im Einzelfall erhalten. Diese Praxis hat sich bewährt. Sie ist Garantie dafür, dass es in diesem Land keine Grauzone und keine Wildwestmethoden gibt, wie es uns die Gegner der Stammzellforschung 2002 mit auf den Weg gegeben haben. Wir sind ein streng regulierter Staat, in dem diese Forschung an hohen ethischen Maßstäben gemessen wird.
Die Stichtagsregelung allerdings hat sich nicht bewährt. In diesem Punkt sind wir anderer Meinung als die Kollegen um René Röspel. Der Umstand, dass aus Deutschland kein Anreiz zur Etablierung neuer Zelllinien gegeben werden sollte, hat entgegen der erklärten Absicht der damaligen Befürworter nämlich nicht dazu geführt, dass weltweit weniger Stammzelllinien entstanden sind. Er hat aber dazu geführt, dass deutsche Wissenschaftler keinen Zugang zu den neuesten Linien haben und mit Zellen arbeiten müssen, die Alterserscheinungen wie Mutationen aufweisen und durch tierische Viren verunreinigt sind. Deshalb können - wie die Max-Planck-Gesellschaft zu Recht sagt - die anstehenden biologischen und medizinischen Fragen nicht beantwortet werden.
Zwar können bestimmte Fragen der Grundlagenforschung mit den alten Linien beantwortet werden - das bezweifelt niemand -, aber eine Therapie wird damit nie möglich sein. Außerdem - das ist für mich als Liberale besonders wichtig - wird vor dem Hintergrund der sich im Laufe der Zeit immer weiter verschlechternden Qualität der Zellen das hohe Gut der Forschungsfreiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes, die nur in besonderen Ausnahmefällen vom Gesetzgeber eingeschränkt werden darf, immer mehr gefährdet.
Hinzu kommt, dass auch die Mitwirkung an Projekten im Ausland mit Stammzelllinien, die nach dem Stichtag etabliert wurden, strafbar ist. Diese Entwicklung haben wir schon immer für falsch gehalten. Die Regelung wurde damals als Kompromiss in das Gesetz aufgenommen. Ich erinnere diejenigen daran, die damals dabei waren, dass wir schon damals darauf hingewiesen haben, dass dies falsch ist. Dadurch kriminalisieren wir unsere Forscher selbst dann, wenn sie mit EU-Mitteln EU-weit forschen. Das müssen wir ändern. Ich bin sehr froh, zumindest in allen ernstzunehmenden Anträgen und Gesetzentwürfen zu erkennen, dass in diesem Punkt die Strafbarkeit beseitigt werden soll.
Aus den Ausführungen von Herrn Röspel ist deutlich geworden, dass es auf diesem sehr schwierigen ethischen Feld nicht nur eine Lösung gibt. Wiederum reicht für uns eine Verschiebung des Stichtages nicht aus, weil sie nach unserer Meinung auf einem ethisch sehr schwankenden Fundament steht. Entweder ist Forschung moralisch, oder sie ist es nicht. Entweder können wir sie rechtfertigen, oder wir können sie nicht rechtfertigen. Wir müssen uns entscheiden. Ein Kompromiss kann nicht der Weg auf einem so schwierigen ethischen Feld sein. Das führt uns in dieser Forschungslandschaft nicht zu einem schlüssigen Ergebnis.
Eine Verschiebung ist aber auch eine Mogelpackung in rechtlicher Hinsicht; denn die Forschungsfreiheit wird weiterhin eingeschränkt. Als Stichtag ist der 1. Mai 2007 vorgesehen. Dieser ist völlig willkürlich. Die Entscheidung, in diesem Land frei zu forschen, wird politischen Prämissen unterworfen. Lieber Kollege Röspel, es ist nicht sehr glaubwürdig, wenn Sie sagen, dies solle ein einmaliger Nachschlag sein.
Was tun Sie denn, wenn es in zwei Jahren Stammzelllinien gibt, mit denen wir viel weiter kommen können. Sagen Sie dann den Menschen, jetzt könnten wir nicht mehr verschieben, weil wir im Jahre 2008 gesagt hätten, wir würden nur einmal einen Nachschlag gewähren?
Ich finde, das ist der große Pferdefuß einer Verschiebung. Aus diesem Grunde stimmen wir dem nicht zu.
Auch unter den Unterzeichnern unseres Antrags gibt es viele, die christliche Werte in den Mittelpunkt ihrer Überzeugung stellen. Im katholischen Spanien, im anglikanischen England und im protestantischen Skandinavien gelten zurzeit weniger restriktive Regelungen als bei uns. In England haben sich Erzbischöfe für die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen. In Spanien gibt es die liberalsten Regelungen in Europa. Christliches Bekenntnis und Abschaffung des Stichtages passen aus unserer Sicht zusammen. Wir, die 100 Unterzeichner des Antrages auf Abschaffung des Stichtages, bekennen uns eindeutig zur Ethik des Heilens.
Altpräsident Herzog hat einmal gesagt, er könne es nicht verantworten, einem kranken Kind sagen zu müssen, dass wir nicht alles täten, um ein Mittel gegen seine Krankheit zu finden. Sowohl die christliche Nächstenliebe als auch die ärztliche Pflicht gebieten es, alle Chancen auszuloten. Das wollen wir.
Für mich als Forschungs- und Technologiepolitikerin ist auch das Argument des Forschungsstandortes Deutschland wichtig. Ich möchte eben nicht, dass unsere Wissenschaftler dauerhaft ins Ausland getrieben werden. Ich möchte auch keinen Patiententourismus. Ich möchte nicht, dass Menschen, denen in Deutschland nicht geholfen werden kann, gesagt wird: Dann geht doch ins Ausland; dort hat man inzwischen etwas gefunden, und zwar mit Methoden, die bei uns nicht zulässig sind.
Aber für viele von uns ist der Forschungsstandort nachrangig. Es geht - das möchte ich an dieser Stelle betonen - um den besten Weg, kranken Menschen eines Tages zu helfen, nicht heute und nicht morgen, Frau Hinz. Das sind keine falschen Heilsversprechungen. Aber Forschung hat nun einmal das Ziel, Menschen langfristig zu helfen.
Das sage ich Ihnen als ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für Bildung und Forschung und damit als intime Kennerin der Forschungsszene in diesem Lande.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir alle haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Viele Kollegen haben bereits unterschrieben. Ich freue mich, dass dieses Thema so großes Interesse in diesem Plenum hervorruft. Wir appellieren an Sie: Treffen Sie eine Entscheidung gegen einen Kompromiss! Geben Sie diesem Land die Chance, etwas auf einem Forschungsgebiet zu tun, welches rasante Fortschritte macht und überall auf der Welt als eines der innovativsten und zukunftsträchtigsten Forschungsgebiete angesehen wird! Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und stimmen Sie für unseren Antrag!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Hubert Hüppe.
Hubert Hüppe (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs Jahren haben 266 Kolleginnen und Kollegen gegen einen Import von embryonalen Stammzellen nach Deutschland gestimmt. Wir bringen heute wieder einen solchen Antrag ein, weil wir glauben, dass es wichtig ist, zu zeigen, dass es Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause gibt, die glauben, dass das große Problem darin besteht, dass menschliches Leben für Forschungszwecke getötet wird. Wenn man die Argumentation von damals mit der von heute vergleicht, muss man sagen, dass die Gründe, gegen diese Forschung zu sein, heute stärker sind, als es noch vor sechs Jahren der Fall war.
Die Forschung an menschlichen Embryonen und die Schaffung von embryonalen Stammzellen setzen voraus, dass menschliche Embryonen getötet werden. Wenn der menschliche Embryo nicht lebendig wäre, dann würde er sich nie zu dem Blastozystenstadium entwickeln, in dem er dann zur Stammzellgewinnung getötet wird. Es ist völlig unbestreitbar - deswegen haben wir hier im Deutschen Bundestag vor Jahren mit großer Mehrheit ein Embryonenschutzgesetz verabschiedet -, dass es sich hierbei um individuelles menschliches Leben handelt. In dieser Phase - es ist nicht die befruchtete Eizelle, wie manchmal gesagt wird -, nach fünf, sechs Tagen, kann sich dieser Embryo nicht mehr teilen. Es können keine eineiigen Zwillinge mehr entstehen. Es ist völlig klar, welche Erbanlagen er hat, und es wird sogar feinsäuberlich registriert, welches Geschlecht der Embryo hat. Bei den letzten embryonalen Stammzelllinien, deren Import nach Deutschland gerade noch im Januar genehmigt worden ist, kann man erkennen, dass eine Zelllinie von einem männlichen Embryo stammt, die andere Zelllinie von einem weiblichen Embryo. Man kann also nicht sagen, dass das irgendeine Zellmasse ist, irgendein Müll, der bei der Reproduktion übrigbleibt, sondern es handelt sich um menschliches Leben. Wir haben Probleme damit, dass dieses menschliche Leben allein für Forschungszwecke getötet wird.
Aus meiner Sicht spielt es auch keine Rolle, ob diese Menschen überzählig sind. Die Frage, ob jemand überzählig werden kann und deswegen die Menschenwürde verletzt werden kann, überhaupt zu stellen, ist für mich gar nicht nachvollziehbar. Es ist übrigens auch egal, wie dieser Mensch entstanden ist. Es ist doch nicht die Frage, wie ein Mensch entsteht - übrigens auch nicht, wenn das Klonen funktionieren würde -, sondern ob ein Mensch entstanden ist. Und wenn er Mensch ist, dann hat er die volle Menschenwürde. Das ist Verfassungsgrundsatz, so steht es in den Gerichtsurteilen des Bundesverfassungsgerichts. Da, wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.
Wir können nach zehn Jahren Bilanz ziehen. Seit 1998 gibt es embryonale Stammzellforschung. Ich möchte etwas als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion, was die meisten Kolleginnen und Kollegen wissen, sagen. Ich kenne keinen Behindertenverband, zumindest keinen Betroffenen-Verband, der dafür ist, diese Forschung in Deutschland zu erweitern oder diese Forschung noch weiter zu öffnen.
Das gilt im Übrigen auch für die MS-Kranken. Frau Flach, ich habe angerufen und mich erkundigt. Es waren nicht die Betroffenen, nicht die Selbsthilfeleute, die diesen Brief geschrieben haben, sondern es war der Ärzte- und Forschungsbeirat. Ich habe gestern telefoniert und gefragt, ob ein Betroffener oder ein Angehöriger unter denen gewesen sei, die diesen Brief unterschrieben haben. Das war nicht der Fall.
Auf der anderen Seite haben Sie einen Brief von der Lebenshilfe für sogenannte geistig Behinderte bekommen. Ich mag den Begriff ?geistig Behinderte? nicht. Diese haben an uns appelliert, die Stammzellforschung nicht weiter zu öffnen, und zwar deswegen, weil sie Angst haben, dass dann noch stärker als bisher der Schutz der Menschenwürde gegen die Forschungsfreiheit abgewogen wird. Die Menschenwürde kann nicht gegen die Forschungsfreiheit abgewogen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird ja argumentiert, dass durch die Forschung viele geheilt werden können. Dazu ist zu sagen: Vor einigen Monaten fand die Debatte über das Gewebegesetz statt. Wir haben - übrigens mit der Unterstützung der Gesundheitsministerin - entgegen dem ersten Entwurf zum Schluss festgestellt: Eingriffe an nicht Einwilligungsfähigen dürfen nicht stattfinden, wenn sie nicht ihnen selbst helfen.
Jeder kann sich vorstellen, dass vielleicht Medikamente für Alzheimerkranke entwickelt werden könnten, wenn man Medikamentenversuche mit Alzheimerpatienten oder sogenannten geistig Behinderten machen würde. Aber wir tun es nicht, weil unserer Auffassung nach das Individuum im Mittelpunkt steht und wir keine Forschung an Menschen wollen, in die der Betroffene nicht selber einwilligen kann. Ansonsten wäre das ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Nicht umsonst ist die Menschenwürde in Art. 1 der Verfassung verankert, das Lebensrecht in Art. 2 und die Forschungsfreiheit in Art. 5. Die Menschenwürde ist nicht abstufbar; daran sollten wir auch nichts ändern.
Es wird gesagt: Wir setzen auf Therapien. Aber warum hat es denn dann innerhalb von zehn Jahren nicht eine Therapie gegeben? Warum hat es noch nicht einmal eine klinische Studie gegeben? Ich habe noch einmal nachgeschaut: Das größte Register über klinische Studien mit Stammzellen gibt es beim NIH in den USA. In diesem Register werden über 1 700 Studien mit Stammzellen aufgeführt - nicht eine einzige mit embryonalen Stammzellen, aber sehr viele mit adulten Stammzellen und Cord Blood, also Stammzellen aus dem Nabelschnurblut.
Wenn wir den Menschen helfen und sie heilen wollen, dann sollten wir uns doch dort engagieren, wo Hilfe wirklich möglich ist. Das gilt nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Anwendung. Es wäre viel sinnvoller, die Zeit, in der wir über diesen kleinen Forschungsbereich sprechen, für die Kranken und Behinderten aufzuwenden, die heute in Einrichtungen wie Pflegeheimen leben und dort Probleme haben und auf Therapie und Pflege warten. Ich glaube, damit wäre ihnen mehr geholfen als mit Heilungsversprechen, die jedenfalls bisher nicht gehalten werden konnten.
Ich halte es für etwas schwierig, es dauerhaft bei nur einem Nachschlag zu belassen, wie jetzt gesagt wird. Diejenigen - zu denen ich und übrigens auch der Kollege Röspel gehörten -, die damals gesagt haben, dass sie gegen einen Import von embryonalen Stammzellen sind, haben das wie folgt begründet: Wenn wir die Tür einmal ein Stück weit aufmachen, dann wird sofort die nächste Diskussion darüber beginnen, ob die Tür nicht ganz aufgemacht werden oder der Stichtag wieder verschoben werden soll.
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Röspel, nehmen Sie es mir nicht übel, aber die Zuversicht, dass man sich dieses Mal daran hält, den nächsten Stichtag ganz bestimmt nicht zu verschieben, nimmt bei mir eher ab.
Frau Flach, Sie haben argumentiert - und das kam auch von René Röspel -, wir brauchen diese Stammzellen - über Therapie redet hoffentlich niemand; denn es gibt keine Therapie mit embryonalen Stammzellen -, um sie mit den adulten oder den iPS-Zellen, also den reprogrammierten Zellen, zu vergleichen.
- Das ist ja immer wieder gesagt worden. - Ich habe die Bundesregierung gefragt - die Antwort liegt seit Freitag letzter Woche vor -, welche Studien an adulten Stammzellen sie nennen könnte, deren Erkenntnisse letztlich auf dem Vergleich mit Erkenntnissen aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen basierten. Die Antwort des Ministeriums war, dass leider keine solchen Studien vorliegen.
Wer so argumentiert, der muss zumindest den Beweis erbringen, dass es wirklich so ist. Wenn es nicht so ist, dann sollte man dieses Argument nicht gebrauchen.
- Kollege Röspel, es steht in Ihrem Antrag, dass Sie auch deswegen eine Stichtagsverschiebung anstreben, weil es jetzt weniger Stammzelllinien gebe, als es zum Zeitpunkt der Debatte in 2002 der Fall war. Auch das habe ich die Bundesregierung gefragt. Das Ergebnis war: An dem Tag unserer Debatte gab es eine einzige Stammzelllinie, die für den Import verfügbar war. Im Oktober 2002 waren es 16, 2004 waren es 17, und heute sind es 21.
Meine Damen und Herren, wenn die Forscher forschen wollen - sie sind noch bei der Grundlagenforschung -, können sie es jetzt machen. Es gab noch nie so viele Stammzelllinien, die zur Verfügung stehen, wie heute, und deswegen brauchen wir keine Verschiebung. Wir brauchen schon gar keine Abschaffung des Stichtages. Es gibt keine Argumente dafür. Es gibt vor allen Dingen keine Argumente, menschliches Leben für Forschungszwecke zu töten.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner.
Ilse Aigner (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt die Sorge, dass der Lebensschutz mit einer Änderung des Stammzellgesetzes beeinträchtigt werden könnte. Deshalb will ich als Erstes auf eines hinweisen: In keinem der Anträge ist eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes vorgesehen.
Durch dieses Gesetz sind in Deutschland die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, die Forschung an Embryonen sowie die Herstellung von Stammzelllinien unter Strafe verboten - und das soll auch so bleiben!
Das zur Debatte stehende Stammzellgesetz regelt den Import von Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt wurden. Jeder Antrag muss folgende Kriterien erfüllen:
Die Forschung kann nur mit embryonalen Stammzellen durchgeführt werden, wenn es keine Alternativen gibt. Das heißt, es müssen alle Möglichkeiten, mit adulten und tierischen embryonalen Stammzellen zu forschen, ausgeschöpft sein.
Die Stammzelllinien müssen aus einem Embryo gewonnen worden sein, der ursprünglich für die künstliche Befruchtung erzeugt wurde und für diese endgültig nicht mehr verwendet werden kann.
Ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes war der Stichtag. Er lag in der Vergangenheit, also vor der damaligen Debatte. So konnte sichergestellt werden, dass nur Stammzellen verwendet werden, die schon zum Zeitpunkt der Gesetzgebung vorhanden waren. Damals gab es weltweit etwa 70 Stammzelllinien. Heute sind es etwa 500 Stammzelllinien, ohne einen Anreiz aus Deutschland.
Durch eine einmalige Verschiebung des Stichtages, der wieder in der Vergangenheit liegt, wird kein einziger Embryo angetastet und wird auch weiterhin kein Anreiz zur Gewinnung von neuen Stammzelllinien entstehen; denn es gibt keinen Automatismus für eine weitere Anpassung. Die Entscheidung wird immer in der Hand des Bundestages liegen.
Warum wollen die Forscher eigentlich auch an embryonalen Stammzellen forschen, wo doch bereits Therapien mit adulten Stammzellen möglich sind? Adulte Stammzellen können sich eben nicht - im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen - in alle Zelltypen des Körpers differenzieren. Deshalb erhofft man sich von der Forschung an embryonalen Stammzellen langfristig Therapien für bisher nicht heilbare Krankheiten. Aber man verspricht sich eben auch grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung von Zellen. Eine Erkenntnis konnte daraus gewonnen werden: wie normale Hautzellen reprogrammiert werden können. Sie ähneln stark embryonalen Stammzellen. Man bezeichnet sie als induzierte pluripotente Stammzellen.
Diejenigen Forscher, die dies bewiesen haben, gehören zu den weltweit führenden Köpfen der embryonalen Stammzellforschung.
Auch sie mussten auf das Wissen aus der embryonalen Stammzellforschung zurückgreifen. James Thomson, einer der Forscher, bestätigte dies wie folgt:
Diese neuen (iPS-)Zelllinien hätten auf keinen Fall hergestellt werden können, wenn es zuvor nicht 10 Jahre humaner embryonaler Stammzellforschung gegeben hätte.
Bisher wurde allerdings nur die prinzipielle Machbarkeit der Reprogrammierung bewiesen. Um zu verstehen, ob und in welchem Maße induzierte pluripotente Stammzellen den embryonalen Stammzellen tatsächlich gleichen, werden jetzt auch Stammzelllinien benötigt, die unter standardisierten Bedingungen hergestellt wurden. Diese gibt es eben erst seit 2006.
Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass Vergleiche von induzierten pluripotenten Stammzellen und embryonalen Stammzellen überhaupt zu belastbaren Aussagen führen können. Diese Art von Zellen könnten vielleicht - und dann weltweit - die embryonalen Stammzellen ersetzen. Jetzt können sie es noch nicht.
Die Hoffnung auf Ersatz für embryonale Stammzellen ist für mich ein gewichtiger Grund dafür, einer einmaligen Verschiebung des Stichtages zuzustimmen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können, wie von einigen vorgeschlagen, die Forschung an bestehenden Stammzelllinien in Deutschland ganz verbieten. Aber die weltweite Herstellung embryonaler Stammzelllinien und die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien weltweit können wir nicht verbieten - ob es uns gefällt oder ob es uns nicht gefällt. Damit stellen sich für uns folgende Fragen: Wie gehen wir eigentlich mit dem Wissen um, das im Ausland durch die Forschung mit diesen Linien entsteht und publiziert wird? Werden wir unseren Forschern verbieten, diese Publikationen zu lesen? Darf dieses Wissen für den Erkenntnisgewinn auch bei der adulten Stammzellforschung genutzt werden? Sollten doch einmal Anwendungen, in welcher Form auch immer, entstehen: Darf und kann man diese dann den Menschen in Deutschland verwehren?
Diese Fragen muss jeder von uns selbst beantworten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Julia Klöckner ist die nächste Rednerin.
Julia Klöckner (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hoffnung und Hilfe sind gerade für kranke Menschen sehr, sehr wichtig. Aber wer Hilfe verspricht, der muss diese auch bieten können. Unhaltbare Heilsversprechungen sind meines Erachtens sehr, sehr unlauter.
Seit Jahren wird so getan, als könne die Forschung mit embryonalen Stammzellen ganz neue Erfolge garantieren. Genau das war 2002 auch der Grund dafür, dass die embryonale Stammzellforschung unter gewissen Bedingungen in Deutschland überhaupt erlaubt wurde. Die ganz konkreten Versprechen, die die Forscher damals selbst gaben, haben sich aber nicht einmal ansatzweise bewahrheitet. Im Gegenteil, wissenschaftliche Studien zeigen, dass embryonale Stammzellen ein extremes Tumorrisiko besitzen. Man sollte deshalb nicht so tun, als hänge das Glück aller Patienten von der Forschung mit embryonalen Stammzellen ab.
Wer das Stammzellgesetz ändern will, braucht meiner Meinung nach sehr gute Gründe.
Ein oft vorgetragenes Argument lautet, die aktuellen Zelllinien seien verunreinigt. Für mich ist das wenig überzeugend. Gerade erst im Januar wurde eine weitere Importgenehmigung erteilt. Sie wäre wohl kaum beantragt worden, wenn man den Zellen nicht das nötige Potenzial zusprechen würde.
Als weiteres Argument wird angeführt, man brauche die embryonale Stammzellforschung zum Vergleich für die adulte. Trotz dieser Behauptung finden sich bei den adulten Stammzellforschern keine Beispiele, die dies konkret belegen. Das gilt selbst für die zitierten Wissenschaftler Thomson und Yamanaka. Der Vergleich für die Reprogrammierung wurde mit alten Stammzelllinien gemacht. Das hätte auch in Deutschland geschehen können.
Die adulte Stammzellforschung ist älter und auch viel weiter. Deutschland gehört auf dem Gebiet der ethisch unproblematischen adulten Stammzellforschung zu den international führenden Nationen. Wir haben bereits Therapien in der Anwendung, die den Menschen helfen, und darum geht es.
Mit dem Kompromiss von 2002 wurde ein Import unter strengen Auflagen möglich. Dies hing genau mit den enormen Heilsversprechungen zusammen. Wir sind heute aber schlauer. Der einmalige Unschuldsbonus von damals ist vergeben. Ich habe die Sorge, dass wir einen Stichtag auf Rollen bekommen würden. Der Kern des Kompromisses von 2002 war aber just dieser Stichtag.
Irgendwann könnten auch die neuen, sogenannten frischen Stammzelllinien verbraucht sein. Was wäre dann, liebe Kolleginnen und Kollegen? Bestimmen wir dann einfach wieder einen neuen Stichtag?
Durch die Verschiebung des Datums nimmt man meiner Meinung nach in Kauf, dass mehr Embryonen nachgefragt, also zerstört werden. Wenn der Stichtag einmal verschoben wird, gibt es keinen Grund mehr, der dagegen spricht, ihn wieder und wieder und immer wieder zu verschieben. Das kommt einer Abschaffung gleich.
Es ist nur eine Frage der Zeit - wenn man nur lange genug wartet -, bis ein zukünftiges Datum in der Vergangenheit liegt und sich dann wiederum für eine neue Stichtagsregelung eignet. Wir dürfen nicht einen Dominoeffekt auslösen. Deshalb bin ich ganz klar gegen eine Stichtagsverschiebung und für die Beibehaltung des Kompromisses von damals.
Immer wieder betonen die Forscher, die Stammzelllinien seien keine Embryonen mehr. Das stimmt, die Stammzelllinien sind keine Embryonen mehr, aber sie waren es vor der Zerstörung ihres Lebens. Es geht also um die Voraussetzungen dieses Stichtages. Der Embryo wird nicht mehr als Zweck an sich, sondern nur als bloßes Mittel behandelt. Aber der menschliche Embryo entwickelt sich nicht etwa aus einem untermenschlichen Stadium plötzlich zum Menschen, und es gibt in diesem Ablauf auch keine Zäsur, von der sich sagen ließe: Just genau hier entsteht etwas völlig Neues.
Deshalb geht es um die Grundsatzentscheidung, welchen moralischen Preis die hypothetische medizinische Behandlung von Krankheiten haben darf. Ich meine, die Zerstörung wäre eindeutig ein zu hoher Preis für die versprochene Heilung.
Ich meine auch, das jeweils schützenswerte menschliche Leben darf nicht nach den aktuellen Erfordernissen der Biowissenschaften fortlaufend neu definiert werden. Menschliches Leben ist um des Lebens willen zu schützen und nicht vor dem Hintergrund der Nutzbarmachung. Der Wert und die Würde des menschlichen Lebens leiten sich nicht davon ab, wie hoch die Überlebenschancen oder die Nutzbarmachungsmöglichkeiten sind.
Ich habe Sorge, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass wir immer und immer wieder von Fall zu Fall im Bundestag darüber entscheiden werden, unter welchen Bedingungen menschliches Leben weniger wert ist als andere erstrebenswerte Güter.
In einer solchen Gesellschaft, wo je nach Interessenlage darüber entschieden wird, was wert ist oder nicht wert ist, zu leben, möchte ich persönlich nicht leben. Forschungsfreiheit darf niemals unter Preisgabe der Menschenwürde ermöglicht werden. Deshalb sage ich: Bedenke das Ende - im Zweifel für das Leben!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche.
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier für den Antrag, mit dem die Stichtagsregelung ersatzlos aufgehoben und unseren Medizinern die Unterstützung für ihre verantwortungsvolle Forschung gegeben werden soll, die sie brauchen. Noch nie haben Biologen und Mediziner in so kurzer Zeit so viel Neues über die Grundlagen des Lebens und über die Möglichkeiten, dieses Wissen anzuwenden, gelernt. Über kein Forschungsfeld wird so intensiv diskutiert wie über die Stammzellforschung. Sie ist eines der vielversprechendsten Forschungsfelder der Biomedizin. Deshalb sollten wir ernst nehmen, was uns die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Selbstorganisation der gesamten deutschen Hochschulwissenschaft, sagt. Sie bittet uns nämlich, den Zugang zu neuen reinen Stammzelllinien zu ermöglichen.
Worum geht es? Im Jahre 2001 hat der Deutsche Bundestag entschieden, die embryonale Stammzellforschung in Deutschland mit großen Einschränkungen zuzulassen. Doch zeigt sich im Rückblick, dass das Gesetz mit starken sachfremden Einschränkungen arbeitet. Die geltende Regelung stellt eine Forschungsbremse dar. Diese Forschungsbremse müssen wir lösen. Der Entwurf, den wir heute vorlegen, sieht das Minimum dessen vor, was an Veränderungen passieren muss, um dem Lebensrecht kranker Menschen und der Freiheit der Forschung den Raum zu geben, den das Grundgesetz ausdrücklich schützt. Die Einschränkungen des aktuellen Gesetzes stellen eine folgenschwere Behinderung der medizinischen Forschung sowie eine grundgesetzwidrige Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit dar.
Der entscheidende Unterschied zur Situation 2001 ist, dass die Wissenschaft heute in großer Breite sagt, dass die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien unverzichtbar ist, um adulte Stammzellen zu verstehen. Auch für die adulte Stammzellforschung werden die Erkenntnisse der embryonalen Stammzellforschung gebraucht. Frau Kollegin Flach hat Zitate genannt; ich könnte diese Liste weiterführen.
Auch die induzierten pluripotenten Stammzellen, über die die Forscher Thomson und Yamanaka vor kurzem publiziert haben, sind nur mit der Erkenntnis aus der vorangegangenen embryonalen Stammzellforschung möglich gewesen.
Die für deutsche Forscher verfügbaren embryonalen Stammzelllinien sind alt, mit Viren verseucht und haben viele der Eigenschaften verloren, an denen geforscht werden muss, die gebraucht werden. Für weitergehende Forschungsarbeiten oder gar therapeutische Ansätze sind sie in jedem Fall unbrauchbar. Damit ist deutschen Forschern nicht nur eine Teilnahme am internationalen Forschungsgeschehen verwehrt - es sei denn, sie verlassen Deutschland -; vielmehr läuft das Gesetz nun auf ein Forschungsverbot hinaus, da neuere, standardisierte Stammzelllinien für deutsche Forscher unerreichbar sind.
Das Stammzellgesetz droht damit in die Verfassungswidrigkeit zu gleiten, wenn es nicht schon von Anfang an verfassungswidrig war. Denn die in Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz gewährte Forschungsfreiheit darf gar nicht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden. Nur die Kollision mit anderen Grundrechten würde eine solche Einschränkung zulassen. Beim Import von Stammzelllinien ist eine solche Kollision aber auch mit größter Mühe nicht zu konstruieren.
Nun, nach fünf Jahren, ist der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit sehr ernst zu nehmen; denn der Ausschluss deutscher Forscher von einer Forschung an Stammzelllinien und eben nicht an befruchteten Eizellen selbst kommt einem Forschungsverbot gleich. Dabei ist diese dynamische Grundlagenforschung erst am Anfang. Der Vorwurf von Stammzellkritikern an die Forscher, es gebe noch keine Therapie, ist geradezu absurd. Die erfolgreiche Grundlagenforschung ist ja gerade Voraussetzung für die Entwicklung von Therapien - ohne Grundlagenforschung keine Therapie.
Stammzellen sind auch für die Forschung gedacht, um neue Medikamente zu erproben und so auf den Versuch am Tier oder am Menschen verzichten zu können. Aber das sind Forschungsmöglichkeiten, die sich unseren Forschern momentan verschließen. Wir müssen in Verantwortung für kranke Menschen, die leiden und hoffen, und in Verantwortung für unsere Wissenschaftler, die mit Sorgfalt, Seriosität und hohem Verantwortungsbewusstsein ihrer Arbeit nachgehen, den Weg für eine hochrangige Forschung eröffnen und sie unterstützen. Deshalb bitte ich Sie, der Streichung des Stichtags und der Streichung der Strafandrohung Ihre Zustimmung zu geben.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konrad Schily.
Dr. Konrad Schily (FDP):
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Reiche hat es gerade gesagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wissenschaft und Kunst sind frei. - Dann kommt ein wichtiger Nachsatz: Das entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Wir haben es mit einem Spannungsbogen zu tun, den Frau Flach beschrieben hat. Auf der einen Seite stehen die Wissenschaftsfreiheit und die Tatsache, dass wir über die Welt Aufklärung haben wollen. Alle Heilsversprechen, dass dabei etwas herauskommen könnte, mögen eine Rolle spielen; aber sie sind nicht bestimmend. Es ist die Freiheit der Grundlagenforschung, die die Wissenschaft fruchtbar gemacht hat und die zu den Erfolgen geführt hat, die wir heute vorweisen können. Das ist die eine abendländische Linie.
Die andere ist, dass die Technik und Wissenschaft, vor denen wir alle bewundernd stehen, uns immer mehr Ehrfurcht vor der - lassen Sie es mich ruhig so sagen - Weisheit der vor uns ausgebreiteten Schöpfung empfinden lassen. Diese abendländische Entwicklung hat Kant in dem Satz zusammengefasst, dass der Mensch nie Mittel nur, sondern immer auch Zweck sein muss. Darin gründet sich die Menschenwürde; sie ist unantastbar.
Ungeachtet dessen, ob wir mittels eines bestimmten Weges helfen können: Wir dürfen diese Menschenwürde nicht antasten. Es gibt keinen Grund - beispielsweise ein ökonomisches Versprechen -, menschliches Leben zu zerstören. Wann der Mensch zum Menschen wird, ist biologisch nicht festzustellen und aus dem Materialismus nicht abzuleiten. Es ist eine ethische, soziokulturelle Feststellung. Deswegen wird diese Frage in unterschiedlichen Kulturen verschieden beantwortet.
- Ja, wir sagen es eigentlich auch.
In dem Moment, wo die Anlage zum Mensch gegeben ist - das ist beim Embryo der Fall -, besteht das Recht auf Menschenwürde. Es gibt darüber sehr viele Besprechungen, die sich mit den Konsequenzen aus dieser Feststellung beschäftigen. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit. Wie gesagt: Es gibt nicht nur das Versprechen, zu ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält, um daraus die Heilung abzuleiten, sondern es gibt zwei Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit ist, die Forschung freizugeben. Das ist eine klare und eindeutige - man kann auch sagen: fortschrittliche - Meinung. Dann verzichten wir aber auf die Menschenwürde. Wir würden damit die Auffassung vertreten, dass Freiheit unteilbar ist, dass sie gilt und dass sie uns in die Zukunft führen wird.
Die zweite Möglichkeit ist, dass die Entwicklung auf diesem Gebiet uns nicht von der Treue zur Verfassung entbindet und dass wir uns zur Menschenwürde und dazu bekennen, dass menschliches Leben niemals in irgendeiner Form zum Mittel gemacht werden darf und dass der Mensch in sich Zweck bleibt.
Ich denke, wir werden versuchen - das liegt ja in der Natur der Politik -, Kompromisse zu machen. Wir werden sagen: Mit dem ersten Stichtag hat es nicht geklappt, vielleicht klappt es mit dem nächsten. In diesem polaren Spannungsfeld - Frau Flach und Herr Hüppe haben es anhand der entsprechenden Anträge dargestellt - gibt es aber keinen Kompromiss. Wir müssen uns schon entscheiden.
Ich plädiere für die Menschenwürde. Wir werden den Fortschritt auch damit erreichen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Jörg Tauss.
Jörg Tauss (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, die Debatte zeigt, dass wir - wie auch schon bei der letzten Debatte, als wir das Stammzellgesetz verabschiedet haben - mit großem Ernst und mit großem Respekt voreinander diskutieren. Deswegen habe ich die Bitte, Frau Kollegin Klöckner und Herr Kollege Schily, dass Sie denen, die hier in der Tat um einen Kompromiss ringen und einen anderen Vorschlag unterbreiten - das sind über 300 Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause -, auch nicht ansatzweise etwas Ähnliches wie ein gestörtes Verhältnis zur Menschenwürde unterstellen. Das halte ich für nicht akzeptabel, und das sollte auch nicht Gegenstand der Auseinandersetzung sein.
Ich hätte die herzliche Bitte, dass im weiteren Verlauf der Debatte auch auf den Kampfbegriff des Heilsversprechens verzichtet wird.
Ein solches Heilsversprechen gibt es von keinem seriösen Wissenschaftler in diesem Land. Wer gestern im Forschungsausschuss war - wir werden zu diesem Thema eine Anhörung durchführen, an der teilzunehmen alle Kolleginnen und Kollegen eingeladen sind, und danach fragen -, hat erkennen können: Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seriös mit diesen Fragen beschäftigen - das geschieht hier im Lande -, sagen uns: Wir sind sehr weit weg von einem medizinischen Erfolg. Wir befinden uns im Bereich der Grundlagenforschung, und Heilsversprechen erfolgen nicht. - Diesen Begriff sollten wir deshalb im weiteren Verlauf der Debatte aufgeben; denn dies trägt zur Sachlichkeit bei.
Kollege Röspel hat zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, dass er aus einer etwas anderen Richtung kommt. Ich komme eher aus der Richtung, die die Kollegin Flach vertritt. Kollege Schily, wir haben in der Tat geschaut - das halte ich für gut und richtig; das ist angemessen für dieses Parlament -, wie wir angesichts der unterschiedlichen Positionen einen Kompromiss finden können. Das ist unsere Aufgabe hier. Dieser Aufgabe will ich nachkommen.
Ein Punkt ist heute noch kaum angesprochen worden: Das ist der strafrechtliche Bereich, bei dem schon damals erkennbar war, dass er gewisse Probleme aufwerfen wird. Dieser Punkt ist heute weniger umstritten. Deswegen glaube ich, dass wir an diesem Punkt auf einem guten Weg sind.
Frau Kollegin Hinz, wir waren sogar so fair, Sie auf einen Fehler in Ihrem Antrag hinzuweisen; denn Sie hätten, wenn man den Originaltext ansieht, sogar die Strafbarkeitsschwelle abgeschwächt. Dazu haben wir Ihnen noch gesagt: Wenn ihr das tut, ist das gar nicht in eurem Sinne. - Ich glaube, auch das gehört zu einem kollegialen Umgang untereinander. Das tun wir auch.
Der Stichtag ist der eigentliche Streitpunkt. Da besteht immer die Frage: Warum eigentlich eine Stichtagsverschiebung? Haben wir dann nicht - das hat die Kollegin Klöckner gesagt; das ist ein ernstes Argument - eine Art Wanderdüne und ständig zu verändernde Stichtage? Ich bin nicht so vermessen, zu sagen, was künftige Parlamente an dieser Stelle tun werden. Ein Parlament wäre hier sogar frei, zu sagen: Wir schaffen das Stammzellgesetz völlig ab. Es wäre sogar, wenn die entsprechenden Mehrheiten da sind, so frei, zu sagen: Wir schaffen das Embryonenschutzgesetz ab.
Dies ist keine Position, die hier jemand vertritt. Vielmehr haben wir auf der Basis des Embryonenschutzgesetzes das Stammzellgesetz geschaffen. Wir stellen fest - Kollege Röspel hat darauf hingewiesen -, dass die damaligen Grundlagen insofern nicht mehr bestehen, als eine ausreichende Zahl von Stammzelllinien für die Forschung nicht mehr vorhanden ist. Aus diesem Grunde wollen wir jetzt eine Änderung vornehmen, wenn eine entsprechende Mehrheit zustande kommt; denn wir wollen die Forschung, die wir damals vorgesehen haben, auch künftig ermöglichen.
Frau Hinz fragte: Haben die bisherigen Forschungen etwas bewiesen? Sie sagte Nein. All denjenigen, die einen Erfolg anzweifeln, kann ich nur empfehlen, in dem entsprechenden Protokoll des Forschungsausschusses nachzulesen: Es ist ganz klar gesagt worden, dass die Forschung an adulten Stammzellen in einem logischen Zusammenhang mit der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen steht, dass die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen eine Grundlagenforschung auch im Hinblick auf die Forschung an adulten Stammzellen ist. Wer dies bestreitet, begibt sich in eine absolut gegenteilige Darstellung dessen, was die gesamte deutsche Wissenschaft hierzu seriös vorträgt.
Wir haben im Laufe dieser Diskussion sehr viele emotionale Briefe bekommen. Den von der Lebenshilfe habe ich ein bisschen bedauert, weil er Heilsversprechen und Ähnliches zum Gegenstand hatte. Aber ich warne die Kollegen Hüppe und Schily - auch in ihrem Sinne - davor, ihren Weg, den sie gehen wollen, weiterzugehen. Die USA haben es bewiesen: Herr Bush, der US-amerikanische Präsident, hat ein ganz klares Veto gegen die Forschung an embryonalen Stammzelllinien eingelegt. Was war die Folge? Er hat kein nationales Gesetz geschaffen. Sogar ein Parteifreund von ihm, Herr Schwarzenegger, ist ausgeschert und hat in Kalifornien eine eigenständige gesetzliche Regelung geschaffen, mit der Folge, dass für die Forschung an embryonalen Stammzellen 3 Milliarden US-Dollar im Wesentlichen nicht so strikt gesetzlich reguliert, wie wir es hier kennen, fließen. Allein im Januar dieses Jahres wurden 260 Millionen US-Dollar zusätzlich freigegeben.
Das ist ein Argument dafür, Herr Kollege Schily, verantwortungsbewusst mit diesem Thema umzugehen und eine ethische Grundlage für die Forschung an embryonalen Stammzellen zu legen. Mit dem Kompromissantrag, den ich Sie zu unterstützen bitte, haben wir genau dies ermöglicht. Ich bedanke mich herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben und mit uns diesen Antrag vorgelegt haben.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Däubler-Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, wie die an und für sich sehr positiv zu bewertende Suche nach einem Kompromiss in diesem Fall aussehen kann, wird, lieber Kollege Tauss, dadurch erschwert, dass es um Grundsatzfragen geht. Da muss in der Tat, sofern ein Kompromiss überhaupt möglich ist, sehr sorgfältig hingeschaut werden. Deswegen bin ich sehr dankbar, wenn wir uns nicht gegenseitig irgendwelche Dinge unterstellen. Wir haben in diesen Fragen unterschiedliche Meinungen. Ich glaube, diese Meinungen müssen sehr offen auf den Tisch gelegt werden, ohne dass der eine, der eine bestimmte Meinung vertritt, dem jeweils anderen gleich die moralische Keule übers Haupt haut. Das gilt übrigens hin wie her.
Ich spreche mich hier sehr klar dafür aus, den Stichtag nicht zu verschieben. Ich will das begründen. Vielleicht fange ich mit dem an, was wir vor sechs Jahren gemacht haben. Damals ging es im Wesentlichen um zwei Punkte: Zum Ersten ging es um die Frage, ob man den forschungspolitischen Ansatz der Forschung an menschlichen Embryonen braucht, und zum Zweiten darum, ob das ethisch vertretbar ist. Die ethische Vertretbarkeit spielt weit über die verfassungsrechtliche Frage hinaus eine gesellschaftspolitisch zentrale Rolle, weil damit die Frage verbunden ist, ob man den menschlichen Embryo, der, wie wir alle wissen, das Gebilde ist, in dem, wie man heute sagen würde, das vollständige Programm eines neuen Menschen vorhanden ist, zu Forschungszwecken wie ein Objekt benutzen bzw. gebrauchen darf. Diejenigen, die damals wie ich gegen den Kompromiss gestimmt haben, haben sehr klar gesagt: Man darf das nicht, und zwar, weil das absolute Gebot der Menschenwürde vollständig und immer dagegen steht.
Damals wussten wir noch nicht, dass der erfolgversprechende Ansatz auf der Forschung an adulten Stammzellen liegen würde. Liebe Frau Flach, wir wissen sehr wohl, dass viele Menschen hoffen, dass mithilfe der neuen Methoden schreckliche Krankheiten gelindert oder geheilt werden können. Damals wussten wir das noch nicht, dass die Hoffnung bei der Forschung an adulten Stammzellen liegt. Heute haben wir viele zusätzliche Informationen. Wir wissen heute ganz genau, dass die Forschung mit adulten Stammzellen mehr Hoffnungen bietet. Ich glaube deshalb, dass wir festhalten sollten, dass das so ist - selbstverständlich, ohne Heilsversprechen zu machen. Das gibt dann aber keinen Grund für die Stichtagsverschiebung.
Noch einmal zurück zu dem Kompromiss von damals. Viele von uns, die damals gegen den Kompromiss gestimmt haben, haben sich mit dem Kompromiss letztendlich abgefunden. Warum? Wir waren der Auffassung, dass man mit diesem Kompromiss zwar in die ethische Grauzone und damit in die gesellschaftspolitisch bedenkliche Grauzone hineingegangen ist, dass eine einmalige Stichtagsregelung das aber noch erträglich macht.
Heute gibt es weniger Argumente für die embryonale Stammzellforschung. Die ethische Grauzone indes bleibt. Warum soll dann der Stichtag verschoben werden? Ich sage das so deutlich, weil Sie daraus vielleicht erkennen, dass uns viel weniger persönliche Vorbehalte oder Misstrauen gegenüber der Forschung daran hindern, der Verschiebung des Stichtages zuzustimmen, sondern eher die schädliche Tendenz zur immer weiteren Relativierung in einer Grundsatzfrage ohne Not. Das ist genau der Punkt.
Ich will deswegen noch einmal dafür werben, sich genau zu überlegen, wie man sich entscheidet. Es kann manchmal ärgerlich sein, wenn einem vorgeworfen wird, das Festhalten an dem, was wir haben, sei durch Denkverbote oder Bequemlichkeit diktiert. Das ist es nicht, sondern das ist ganz klar das Ergebnis einer Abwägung zwischen einer Relativierung in Grundsatzfragen, die wir nicht wollen, und der Möglichkeit, positive Ansätze für Heilen und Helfen tatsächlich zu nutzen. Diese Möglichkeiten liegen aber in der Forschung an adulten Stammzellen und nicht in der Nutzung menschlicher Embryonen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Renate Schmidt ist die nächste Rednerin.
Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich stimme Konrad Schily ausdrücklich zu. Es gibt in dieser Frage in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten: entweder derartige Forschung ganz zu verbieten oder sie im Rahmen der von uns festgesetzten Regelungen ganz zuzulassen.
Ich stimme auch Herta Däubler-Gmelin zu, die gesagt hat, dass es Fragen gibt, die Kompromissen unzugänglich sind. Ich glaube, in dieser Frage ist ein Kompromiss ungeheuer schwierig. Ich unterstütze den Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin und habe mir als gläubige Christin, der an ihrer evangelischen Kirche etwas liegt, die Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich bin sowohl Bischof Huber als auch Kardinal Lehmann für ihre Stellungnahmen dankbar - auch wenn ich daraus andere Schlussfolgerungen ziehe -, weil sie mir bei meiner Entscheidungsfindung geholfen haben.
Bevor ich zu unserem Gesetzentwurf komme, möchte ich meine Position zur Frage menschlichen Lebens, werdenden, ungeborenen Lebens beschreiben, weil ich glaube, dass das in diesen Zusammenhang gehört. Wir müssen uns einmal fragen: Wie halten wir es denn insgesamt mit dem Schutz menschlichen Lebens vor der Geburt? Ich bin für einen sehr viel vorsichtigeren Umgang und für viel mehr Beratung bei der Pränataldiagnostik, um das Recht auf Nichtwissen von Eltern zu gewährleisten.
Genauso bin ich der Meinung, dass wir in Deutschland Präimplantationsdiagnostik zur Überprüfung schwerster Schäden einer befruchteten Eizelle zulassen sollten.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass diese verboten, eine spätere Abtreibung des schwer geschädigten Embryos aber zugelassen ist.
Ich hoffe - hier vertrete ich nahezu eine Einzelmeinung in meiner Fraktion -, dass wir zu Regelungen kommen werden, die Spätabtreibungen reduzieren, auch wenn es jährlich - ich sage das in Anführungszeichen - nur einige hundert Fälle sein mögen.
Genauso bin ich überzeugt, dass die Stichtagsregelungen für die Stammzellenforschung ganz entfallen sollten.
Es ist überhaupt keine Frage: Natürlich ist eine befruchtete Eizelle im ersten Entwicklungsstadium menschliches Leben, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie in Deutschland oder in einem anderen Land dieser Erde und bis zu welchem Stichtag sie entstanden ist. Aber ist diese befruchtete Eizelle werdendes, ungeborenes Leben? Nein, ihr fehlt eine wesentliche Qualität, um das werden zu können, nämlich das Einnisten in die Gebärmutter.
Nur ein Bruchteil der befruchteten Eizellen führt zu einer Schwangerschaft. Die größere Zahl nistet sich nicht ein; die Frau merkt davon nichts. Beim Einsetzen einer Spirale geschieht genau dasselbe.
Was geschieht mit sogenannten überzähligen Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung nicht mehr benötigt werden? Haben diese einen anderen menschlichen Wert als aus dem Ausland eingeführte embryonale Stammzellen? Erhalten wir uns unsere Moral, unsere ethischen Prinzipien und unsere forschungspolitische Unschuld dadurch, dass deutsche Steuergelder in Forschungsvorhaben der EU ohne jedwede Stichtagsregelungen fließen?
Nein, diese Unschuld haben wir längst verloren, und zwar beginnend mit dem Zulassen künstlicher Befruchtung. In meinen Augen versuchen wir, das mit unzulänglichen Mitteln zu verbrämen.
Kardinal Lehmann hat in seiner Stellungnahme geschrieben, dass man beim Vorliegen mehrerer Alternativen die sicherere Variante, also in dubio pro vita, wählen sollte. Bischof Huber hat in einem Interview geäußert, die evangelische Kirche habe immer gefragt, was konkret dem Menschen und dem Leben dienen kann. Ich möchte mit meiner Unterstützung des Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin pro vita entscheiden. Ich möchte damit den Menschen und dem Leben dienen, den Chancen der Menschen mit multipler Sklerose, mit Alzheimer oder Diabetes. Ich betone das Wort ?Chancen?. Ich möchte erreichen, dass nichts unversucht bleibt, von geeigneten Organspendern weniger abhängig zu werden, wohl wissend, dass dies noch Zukunftsmusik ist und vielleicht auch bleiben wird.
Natürlich dürfen wir keine verfrühten Hoffnungen wecken. Vielleicht - wirklich nur vielleicht - brauchen wir in absehbarer Zeit keine embryonalen Stammzellen mehr, um die genannten Ziele zu erreichen. Vielleicht führt auch kein einziger dieser Wege zu diesen Zielen. Dieses Noch-nicht-wissen-können gehört zum Wesen der Forschung.
Trotz aller Zweifel steht für mich daher fest: Nicht zu versuchen, den aussichtsreichen Weg der Forschung mit embryonalen Stammzellen zu gehen, wäre in meinen Augen nicht ?pro vita?, würde nicht den Menschen und dem Leben dienen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir diesen Weg gehen müssen, und zwar ohne Stichtagsregelung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Rachel.
Thomas Rachel (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre 2002 habe ich zu den Mitinitiatoren des damaligen Stammzellgesetzes gehört. In den heute zur Diskussion stehenden Vorlagen werden ebenso wie innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Religionsgemeinschaften und christlichen Kirchen ganz verschiedene Positionen vertreten. Dies zeigt vor allem eines: Es gibt bei diesem Thema keinen einfachen und nicht nur einen Weg, weder rechtlich noch ethisch noch christlich.
Den gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmen zur Beantwortung dieser Frage stellt unser Grundgesetz dar. Daher werden sich diejenigen, die ein Rollback und damit ein Forschungsverbot fordern, fragen lassen müssen, wie sie zu folgender Tatsache stehen:
Ein vollständiges Verbot, das auch die weltweit bereits vorhandenen ES-Zell-Linien umfasst, ist verfassungsrechtlich nicht begründbar.
Dies ist ein wörtliches Zitat aus der Begründung zum Stammzellgesetz.
Worum ging es 2002? Im Kern ging es um zwei Anliegen. Erstens wollten wir im Sinne der grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit die Grundlagenforschung ermöglichen. Zweitens wollten wir durch einen festen, in der Vergangenheit liegenden Stichtag ausschließen, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, dass im Ausland Embryonen zerstört werden. Sagen wir es doch ruhig: Diese Ziele hat das Stammzellgesetz zunächst erreicht.
Inwiefern hat sich die Lage seit 2002 verändert? Die Wissenschaft betont in breitem Konsens, dass mit den aufgrund des Gesetzes verfügbaren Stammzelllinien eine konkurrenz- und vor allem kooperationsfähige Forschung nur noch sehr eingeschränkt möglich ist; denn diese Stammzelllinien sind teils kontaminiert, teils genetisch verändert und nicht standardisiert.
Adulte Stammzellen sind wichtig, aber sie können embryonale Stammzellen nicht ersetzen; denn sie können nicht langfristig vermehrt werden, und sie können sich nicht zu allen Körperzellen entwickeln. An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zur Behauptung von MdB Hüppe machen, die er vorhin aufgestellt hat, als es im Zusammenhang mit der Antwort des Forschungsministeriums auf seine Anfrage um den Vergleich von adulten und embryonalen Stammzellen ging: Die Behauptung, die vorhin geäußert wurde, ist falsch. Richtig ist, dass sich die Forschung an adulten und die Forschung an embryonalen Stammzellen gegenseitig beeinflussen.
Das ist nichts Theoretisches, sondern findet statt.
Zurzeit werden in Deutschland mehrere vom Robert-Koch-Institut genehmigte Forschungsprojekte zum direkten Vergleich von humanen embryonalen Stammzellen und adulten Stammzellen durchgeführt. So wird beispielsweise am MDC in Berlin das Potenzial von Nabelschnurblutzellen und embryonalen Stammzellen bei der Generierung von Leberzellen untersucht. Das ist also bereits Praxis.
Forscher wie Yamanaka und Thomson werden für die Ergebnisse ihrer Forschung im Bereich der Reprogrammierung von Körperzellen, zu sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen, übrigens auch von denjenigen gefeiert, die keine Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland wollen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Rachel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Thomas Rachel (CDU/CSU):
Bitte.
Hubert Hüppe (CDU/CSU):
Herr Kollege Rachel, da die Antwort der Bundesregierung auch von Ihnen unterschrieben worden ist, habe ich folgende Frage: Können Sie mir eine Arbeit nennen, die im Rahmen der Forschung an adulten Stammzellen zum Erfolg führte bzw. eine klinische Studie zur Folge hatte, die tatsächlich nur deswegen durchgeführt werden konnte, weil Ergebnisse der embryonalen Stammzellforschung vorlagen? Können Sie mir eine solche Arbeit nennen?
Thomas Rachel (CDU/CSU):
Herr Kollege Hüppe, in Ihrer Anfrage an die Bundesregierung haben Sie nach einer Bewertung erschienener Publikationen gefragt. Die Antwort des Ministeriums lautete, dass es Ihnen dazu keine Zitationsanalyse vorlegen kann, da zum Stichwort ?stem-cells? knapp 20 000 Publikationen vorliegen und das genau ausgewertet werden müsste.
Faktum ist, dass es in dieser Hinsicht bereits vergleichende Studien in Deutschland gibt. Außerdem sagen die Forscher selber, dass sie die Erfolge bei der Reprogrammierung den Erkenntnissen aus der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen verdanken. Das hat Thomson erst im Dezember letzten Jahres gegenüber der New York Times erklärt. Die Forscher selbst haben es also belegt.
Thomson hat sogar gesagt, dass weder seine noch die Ergebnisse in Japan ohne die Ergebnisse der letzten zehn Jahre Forschung an embryonalen Stammzellen möglich gewesen wären.
Thomson hat nachgewiesen, dass die Reprogrammierung grundsätzlich machbar ist. Man kann auch sagen, er hat den Proof of Principle erbracht. Das ist toll. Für die nun anstehenden Detailanalysen, ob die iPS-Zellen und die humanen embryonalen Stammzellen identisch sind oder sich, wie Schöler sagt, in über 1 000 Genen unterscheiden, sind die Forscher auf neue embryonale Stammzelllinien angewiesen.
James Adjaye, der hier in Berlin am Max-Planck-Institut an der Reprogrammierung von Stammzellen forscht, hat gesagt: Wir können es schaffen, reprogrammierte Zellen für die Medizin nutzbar zu machen; dazu benötigen wir aber dringend brauchbare neue embryonale Stammzellen.
Meine Damen und Herren, eine Position, bei der ausschließlich Prinzipien verteidigt werden, wird ethisch nur schwer überzeugen können. Wer die Forschung an Stammzellen in Deutschland verbieten will, muss erklären, wie er mit den Ergebnissen umgehen will, die Forscher in anderen Ländern erzielen. Entweder werden diese Ergebnisse den kranken Menschen in Deutschland vorenthalten, oder er wird sich zumindest mit dem Vorwurf der Inkonsequenz auseinandersetzen müssen.
Wir sind gefordert, zu überprüfen, ob der Geist des damaligen Kompromisses durch das geltende Stammzellgesetz noch hinreichend verwirklicht wird, ob in Deutschland nach wie vor hochwertige Forschung an embryonalen Stammzellen möglich ist oder dies bald nur noch auf dem Papier steht. Durch die Verschiebung des Stichtages auf einen neuen, ebenfalls in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt würde es den Forschern ermöglicht, auf neue Stammzelllinien zurückzugreifen. Diese Zelllinien - um nichts anderes geht es - sind bereits vorhanden. Das heißt, kein einziger Embryo wird bei einer Verschiebung des Stichtages auch nur berührt.
Eine theoretisch denkbare Änderung in der Zukunft bleibt - das ist uns wichtig - dem Gesetzgeber vorbehalten. Wenn also einige im Moment eine ethische Wanderdüne malen, sprechen sie letztlich den Mitgliedern zukünftiger Bundestage ein verantwortliches und moralisches Urteil ab.
Die Mutmaßung, dass im Ausland extra für die Forschung in Deutschland Embryonen zerstört würden, ist, vorsichtig formuliert, gewagt. Wer die deutsche Nabelschau ein Stück verlässt, stellt fest, dass 98 Prozent der entsprechenden Publikationen im Ausland entstehen. Wir - Bund und DFG - geben innerhalb von fünf Jahren knapp 4 Millionen Euro für die embryonale Stammzellforschung aus. Allein der Bundesstaat Kalifornien stellt in einem Jahr 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Diese Größenverhältnisse sagen alles.
Kurz und gut: Mit dem von uns vorgestellten Antrag kann der Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen von 2002 in verantwortlicher Weise fortgeführt werden.
Wir tragen mit ihm den veränderten Bedingungen in der Wissenschaft Rechnung; zugleich wird kein einziger Embryo berührt. Eine Verschiebung des Stichtages entwertet den damaligen Kompromiss nicht. Im Gegenteil, sie gibt ihm den Wert zurück, den er 2002 hatte.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste Redner.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich sehr froh darüber bin, dass unsere Diskussion trotz der Bandbreite der Positionen - sie reicht von der Position Herrn Schilys und meiner Kollegin Frau Flach bis zur Position anderer - eine weit höhere Qualität aufweist als das, was ich in den letzten Tagen im Fernsehen sah. Da wurde in einem Bericht aus Berlin ein armes Kind vorgestellt, mit lauter Schläuchen an seinem Körper. Daneben stand ein ratloser Mediziner, der suggerierte: Wenn doch nur die embryonale Stammzellforschung möglich wäre; dann könnte ich diesem Kind helfen. - Als ich gestern Abend nach Berlin zurückfuhr, sprach ein Journalist im Radio davon, dass es sich doch nur um einen Zellhaufen handele und dass man Tilman Riemenschneider ja auch kein altes Holz zur Verfügung gestellt habe, um seine Kunstwerke zu erstellen.
Ich denke, es geht hier um eine ganz grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, wie wir es mit den ethischen Werten in unserer Gesellschaft halten. Es geht hier nicht darum - auch für mich ganz persönlich nicht -, seine Position als Katholik deutlich zu machen. Es geht hier nicht darum, über die Bibel zu reden, sondern es geht darum, zu fragen, was die Grundbausteine unserer Gesellschaft sind, welchen Stellenwert wir dem Leben geben und wie das Leben in unserem Grundgesetz definiert ist: Es existiert von Anfang an.
Ich bin mit der Aussage einverstanden, dass der Stichtag ein Kompromissstichtag ist. Wir haben es aber in allen Bereichen, in denen sehr wesentliche Entscheidungen getroffen werden, mit Stichtagen zu tun. Ob Sie die Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen wollen, ob Sie eine Abtreibung machen lassen wollen oder müssen - auch dann haben Sie es mit Stichtagen zu tun. Deswegen bin ich der Meinung, dass der Kompromiss hinsichtlich des alten Stichtages trägt. Diese Regelung braucht keinen neuen Geist, wie es Herr Rachel eben zum Ausdruck gebracht hat. Es besteht meiner Meinung nach auch nicht die Gefahr, dass es beim Thema Stichtag zu einer Entwicklung gleich einer Wanderdüne kommt. Wir müssen abklopfen - deswegen bin ich auch froh, dass es zu diesem Thema noch eine Anhörung geben wird -, ob der alte Stichtag für die gegebenen Erfordernisse ausreichend ist.
Ich will noch etwas sagen: Ich bin ein bisschen betroffen darüber, dass man zwischen der Ethik des Heilens und - in Anführungsstrichen - der Notwendigkeit des Tötens abwägen will. Ich glaube, das kann man nicht miteinander abwägen.
Es muss immer Vorfahrt für das Leben gelten. Das ist keine konfessionelle Position, sondern eine grundgesetzliche Position. Sie gilt nicht nur am Anfang des Lebens, sondern auch am Ende des Lebens.
Wir müssen uns sehr genau darüber unterhalten - das werden wir im Rahmen der Anhörung auch noch tun -, ob wir mit der Chance der embryonalen Stammzellenforschung weitergekommen sind. Ich glaube, man muss sehr kritisch hinterfragen, wie die Tumorneigung von embryonalen Stammzellen außerhalb des menschlichen Körpers aussieht. Nehmen wir hier nicht einen sehr hohen ethischen Preis in Kauf, um vermeintliche Erfolge zu erzielen? Ist das zu rechtfertigen? Ich melde hier erhebliche Zweifel an; denn gerade die Entwicklungen der letzten Zeit haben gezeigt, dass uns die Erfolge mit der adulten Stammzellenforschung wesentlich weiter gebracht haben.
Es betrübt mich schon, wenn manchmal durchklingt, dass der eine oder andere Antrag vielleicht nicht ganz so wertvoll sei. Ich finde sie alle sehr wertvoll, weil sie eine wichtige Grundlage sind, um Dinge zu entwickeln. Jeder von Ihnen wird persönliche Erfahrungen gemacht haben, möglicherweise mit dem Vater, der elendig an Krebs gestorben ist. Ich glaube, man sollte die Werthaltigkeit der Anträge nicht infrage stellen.
Ich habe mich positioniert und gesagt, dass ich den Kompromiss für klug und notwendig halte. Wir sollten nicht an ihm rütteln.
Ich möchte noch einen Gedanken anfügen, der manchmal ein bisschen zu kurz kommt und den man sicherlich kritisch sehen sollte. Ich fand es sehr interessant, dass in den Umfragen, die mir zur Kenntnis gebracht worden sind, Frauen eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen als Männer. Wir sollten auch einmal hinterfragen, wie die Forscherlandschaft in diesem Bereich ausgestaltet ist. Ich fand auch die Feststellung sehr interessant, dass junge Menschen gerade in letzter Zeit eine stärker ablehnende Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen. Ich meine, auch das sollten wir im Rahmen der Anhörung und der weiteren Erörterung dieser Problematik in unsere Überlegungen einbeziehen.
Ich hoffe, dass wir wieder einen guten Kompromiss finden werden, durch den unsere Gesellschaft vorangebracht wird und der von unserer Gesellschaft getragen wird.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Michael Kretschmer.
Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte ist viel von Angst die Rede, einer Angst, die aus dem Unbehagen herrührt, mit den Stammzellforschungsprojekten könnte leichtfertig umgegangen werden. Daher stelle ich zunächst einmal fest, dass jedes der wenigen Projekte, die in Deutschland genehmigt worden sind, nach sehr strengen fachlichen und vor allem ethischen Maßstäben bewertet wurde. Ich trete dem Eindruck entgegen, die deutschen Forscher gingen mit diesem Thema leichtfertig um und seien sich der ethischen Bedeutung dieses Themas nicht bewusst.
Vielmehr täten wir als Deutscher Bundestag gut daran, egal wie wir zu diesem Thema stehen, der deutschen Wissenschaft zu vertrauen und das Vertrauen in sie zu nähren und zu betonen; denn auf diese Leute, über die wir hier heute oftmals mit dem Anflug reden, es könnte sich bei ihnen um leichtfertige Gesellen handeln, sind wir ansonsten stolz. Ihnen haben wir gerade im medizinischen Bereich in den letzten Jahren unheimlich viel zu verdanken, und wir unterstützen und feiern sie bei vielen Anlässen. Aus diesem Grund haben sie zunächst einmal unser Vertrauen und unsere Achtung verdient.
Meine Damen und Herren, es wird in der Diskussion, aber auch in der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag vieles miteinander vermengt. Wir reden nicht über das Embryonenschutzgesetz, weil wir uns alle, wie ich denke, darüber einig sind, dass in Deutschland keine Stammzelllinien hergestellt werden sollen und dass wir das Embryonenschutzgesetz nicht ändern wollen. Vielmehr sagen wir ganz deutlich: Das ist für uns ein Wert, der Bestand hat. Es geht einzig und allein darum, Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt wurden, auch in Deutschland zu verwenden. Deswegen kann man auch nicht von einem Dammbruch oder von einer ethischen Wanderdüne reden. Solche Kampfbegriffe tun dieser Diskussion nicht gut.
Von Deutschland wird kein Anreiz ausgehen, Stammzelllinien herzustellen oder Embryonen zu töten. Deutschland steht eher in der Gefahr, eine Entwicklung zu verpassen und sich aus ihr zu verabschieden, als selbst treibende Kraft oder Motor zu sein. Wir haben gerade gehört, dass in Kalifornien allein von der Privatwirtschaft 300 Millionen Euro ausgegeben werden; in Deutschland reicht die Deutsche Forschungsgemeinschaft 13 Millionen Euro für alle einschlägigen Forschungsbereiche aus, wovon nur 3 Prozent für embryonale Stammzellen bestimmt sind. Alles andere wird für die Forschung mit tierischen oder adulten Stammzellen ausgegeben. Aus diesem Grund sage ich noch einmal ganz deutlich: Deutschland ist bei diesem Thema nicht der Nabel der Welt, weder was die ethischen Standards angeht - viele Länder, die wie Spanien und Großbritannien ebenfalls unserem Kulturkreis angehören, gehen ganz anders damit um; man muss auch einmal darüber nachdenken, warum andere zu anderen Ergebnissen kommen - noch was die Funktion als treibende Kraft angeht.
Es muss uns doch bedenklich stimmen, wenn ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit hohen ethischen Standards und einer bedeutenden Wissenschaft an diesem Thema nicht mehr mitwirkt.
Zum einen können wir keine ethischen Standards im Ausland mitbestimmen, wenn wir nicht mehr daran teilhaben; zum anderen werden wir, wenn es am Ende tatsächlich zu Ergebnissen kommt, an ihnen nicht teilhaben. Meine Damen und Herren, ich kann nur davor warnen, dass Geisteswissenschaftler oder Ingenieure, die Mitglieder dieses Parlaments sind und sicherlich auch große wissenschaftliche Leistungen erbringen, über die Frage urteilen, ob Forschung an embryonalen Stammzellen eine Chance haben soll oder nicht und ob wir lieber auf adulte Stammzellen setzen sollen. Dies müssen wir doch den Wissenschaftlern überlassen, darüber kann doch nicht die Politik entscheiden.
Stammzellforschung ist zutiefst Grundlagenforschung, und man kann nie im Voraus wissen, was dabei herauskommt. Wir reden nicht über Auftragsforschung. Sie müssen sich stets klarmachen, dass kein Nobelpreisträger einen Preis für das bekommen hat, was er vorhatte, sondern nur für tatsächlich gewonnene Erkenntnisse. So ist es auch bei diesem Thema. Aus diesem Grund plädiere ich klar dafür, dass wir uns an dieser Forschung beteiligen. Wir brauchen diesen Stichtag nicht. Die Zulassungsverfahren bieten uns andere Möglichkeiten, unsere ethischen Standards, die, wie ich denke, unumstritten sind, einzuhalten. Wir sollten uns aus diesem Feld nicht zurückziehen. Wenn es irgendwann einmal zu Ergebnissen kommt, können wir die Möglichkeiten zur Heilung niemandem in Deutschland verwehren; das sollten wir auch nicht tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon im Herbst 2006 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit großer öffentlicher Resonanz auf die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für die Stammzellforschung in Deutschland aufmerksam gemacht. Die DFG legte seinerzeit dar, dass die derzeit geltenden Regelungen zur Stichtags- und Strafbarkeitsregelung deutsche Forscher von der Arbeit an neuen, qualitativ hochwertigen Stammzelllinien de facto ausschließen. In einer großen öffentlichen Anhörung des Bildungs- und Forschungsausschusses - unter Beteiligung der Gesundheitspolitiker - im Mai 2007 wurde diese Sichtweise weitgehend bestätigt. Die Mehrheit der dort gehörten Sachverständigen zeigte einen dringenden Handlungsbedarf bei der Stichtags- und Strafbarkeitsregelung auf.
Schließlich fand im September 2007 eine Veranstaltung zum fünfjährigen Bestehen der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung statt.
Die beim Robert-Koch-Institut angesiedelte interdisziplinäre Kommission, die wir erstmals mit Inkrafttreten des Stammzellgesetzes eingesetzt haben, bewertet die ethische Vertretbarkeit von Forschungsvorhaben mit embryonalen Stammzellen und gibt dann gegenüber der Genehmigungsbehörde eine entsprechende Stellungnahme ab. Die ethische Vertretbarkeit ist an Vorprüfungen gebunden. Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit - das ist heute Morgen schon angesprochen worden - müssen dargelegt werden. Damit verfügt Deutschland über extrem hohe Prüf- und Zulassungsstandards, die sonst so nirgends in der Welt zu finden sind.
Bis zum Herbst 2007 - inzwischen ist ein weiteres Vorhaben dazugekommen - wurden 25 Vorhaben nach strenger Prüfung genehmigt, allerdings bei einer sinkenden Zahl von Anträgen. An dieser Stelle ist festzustellen, dass die Zentrale Ethik-Kommission hier eine ausgesprochen verantwortungsvolle und gute Arbeit geleistet hat. Dafür möchte ich mich beim Vorsitzenden, Professor Siep - stellvertretend für alle Mitglieder -, für die sehr gute Arbeit bedanken, die sie geleistet haben.
Dies gilt im Übrigen auch für die deutschen Forscher. Mein Vorredner hat bereits darauf hingewiesen, dass sie seit 2002 sehr verantwortungsvoll mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten umgegangen sind.
Bei der Veranstaltung anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Zentralen Ethik-Kommission wurde eines überdeutlich: Die Antragsentwicklung - und zwar nicht qualitativ, sondern quantitativ - gibt entschieden Anlass zur Sorge. Es muss etwas geschehen, um den beim Stammzellgesetz gefundenen Kompromiss weiterhin mit Leben zu füllen.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, eine Initiative auf den Weg zu bringen, den Stichtag einmalig zu verschieben. Durch eine einmalige Verschiebung - das ist hier schon angeklungen - erhalten deutsche Forschergruppen die Möglichkeit, mit 500 hochwertigen und unter standardisierten Bedingungen hergestellten Zelllinien zu arbeiten.
Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtags setzen wir den gefundenen Mittelweg von 2002 fort, der dazu beigetragen hat, den strengen Maßstab des Embryonenschutzgesetzes zu erhalten. Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass auch der von uns gewählte neue Stichtag in der Vergangenheit liegt. So ist sichergestellt - das war eines der zentralen Ziele des Stammzellgesetzes und sollte es auch bleiben -, dass von Deutschland keinerlei Anreize ausgehen, sogenannte überzählige Embryonen für Forschungszwecke zu verbrauchen.
Eine Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 gefährdet die Grundintention des Stammzellgesetzes in keiner Weise, sondern erhält diesen Mittelweg.
Besonders diejenigen, die eine Stichtagsverschiebung rigoros ablehnen, müssen sich fragen lassen, wie in Zukunft die wichtige Forschung mit adulten Stammzellen vorankommen soll. Hier wird immer wieder übersehen, dass die jüngsten Erfolge bei der Umwandlung von adulten Körperzellen in pluripotente Stammzellen - die sogenannte induzierte Pluripotenz - ohne die jahrelange embryonale Stammzellforschung nicht möglich gewesen wäre.
Wir können auch in nächster Zukunft nicht auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verzichten; denn sie ist - darüber wurde intensiv diskutiert - für Referenz- bzw. Vergleichsmöglichkeiten notwendig. Dabei geht es nicht unbedingt um vergleichende Studien, sondern darum, Wissen über Differenzierungsvorgänge zu erlangen. Dieses Wissen wird in beiden Bereichen genutzt, und zwar wechselseitig.
Der damalige vermittelnde Weg konnte nur zustande kommen, weil die Vertreter einer größeren Forschungsfreiheit und die Befürworter eines umfassenden Lebensschutzes ihre weiter gehenden Überzeugungen zugunsten eines tragfähigen und gangbaren Kompromisses zurückgestellt haben. Auch die Initiatoren des heutigen Kompromissvorschlages sind von unterschiedlichen Positionen gekommen, um sich nach gründlicher Abwägung der Argumente auf den nun vorliegenden Vorschlag einer einmaligen Stichtagsverschiebung zu verständigen. Deshalb denke ich, dass wir mit dem Gesetzentwurf einen vermittelnden Vorschlag vorlegen, den viele Kolleginnen und Kollegen mittragen können.
Wir erhalten damit die Substanz des gefundenen Mittelweges. Was wollten denn die Väter und Mütter des Stammzellgesetzes? - Ich begrüße in diesem Zusammenhang Margot von Renesse und Wolf-Michael Catenhusen auf der Zuschauertribüne. - Wir wollten doch einen Ausgleich zwischen Lebensschutz auf der einen Seite und Freiheit der Forschung und dem berechtigten Interesse kranker Menschen an neuen Therapiemöglichkeiten auf der anderen Seite. Wir setzen das mit dem vermittelnden Vorschlag in Verantwortung fort und ermöglichen, dass dieser Weg begehbar bleibt und nicht nur auf dem Papier besteht.
Ich danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in Europa zwei große Traditionen. Die erste große Tradition ist die Forschungstradition. Mit dieser Forschungstradition haben wir unglaublich viel für die Welt und die Menschen bewegt. Wir haben Ergebnisse erzielt, die die Menschen zum Staunen gebracht haben. Wir haben Ergebnisse erzielt, die junge Menschen dazu bewogen haben, sich den Naturwissenschaften zu widmen. Diese große Forschungstradition ist ungebrochen. Deshalb ist es völlig richtig, wenn die Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin, aber auch wir in der EU die Forschung in ganz besonderer Weise fördern und unterstützen. Wir müssen als Deutscher Bundestag alles daran setzen, dass die Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin das Ziel erreichen können, die Forschung in Europa voranzubringen.
Wir haben eine zweite große Tradition, die ihren ersten Höhepunkt in der Aufklärung hatte. Wir sind uns darüber bewusst geworden, dass der Mensch nicht einfach als naturwissenschaftliches Produkt, sondern auch als geistiges Wesen in der Welt ist. Der Mensch hat sich immer gefragt, ob es Grenzen seines Handelns gibt oder ob er alles, was er kann, auch wirklich darf. Die Qualität des Menschen zeichnet aus, dass er sich fragt, welche Konsequenz sein Handeln hat, dass er nicht nur auf Forschung und Innovation schaut. Diese zweite große Traditionslinie besagt, dass der Mensch nicht alles darf, was er kann. Unbestritten war und ist, dass der Mensch nie zum Objekt werden darf, dass er nie verzweckt werden darf, sondern dass er in seiner Menschenwürde immer als Ebenbild Gottes betrachtet werden muss.
Heute führen wir eine Diskussion darüber, was Technik, Innovation und Wissenschaft können. Ich will gar nicht bestreiten, dass es da Möglichkeiten gibt, wenngleich all diejenigen, die von den großen Möglichkeiten der embryonalen Stammzellen sprechen, den Beweis dafür noch schuldig geblieben sind und noch keine Antwort auf die Frage haben, was passiert, wenn Fehlentwicklungen stattfinden. Aber diese Frage will ich gar nicht weiter vertiefen.
Ich glaube vielmehr, dass die ganz entscheidende Frage, die gestellt werden muss, lautet: Wann beginnt menschliches Leben?
Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, was ich mit den Zellen machen darf und was nicht. Da es darüber unterschiedliche Auffassungen gibt, haben wir heute eine Debatte, die losgelöst von Fraktionsvorgaben ist. Jeder ist seinem Gewissen verantwortlich. Es ist völlig richtig, dass die Frage, wann menschliches Leben beginnt, eine Frage der Definition ist. Sie wird in verschiedenen Kulturen und von verschiedenen Religionen unterschiedlich beantwortet. Der Respekt vor diesen Religionen gebietet es mir, mich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Ich komme zu einer für mich ganz eindeutigen und klaren Position, und die heißt: Da ich nicht hundertprozentig weiß - das ist eine Definitionsfrage, und eine Definition hängt natürlich immer von denen ab, die die Definition geben -, wann menschliches Leben beginnt, bin ich in Respekt vor der Würde des Menschen und der Ebenbildlichkeit Gottes der Auffassung, den Termin zum frühestmöglichen Zeitpunkt anzusetzen und nicht zum spätestmöglichen.
Ich komme zu der Überzeugung, dass die Ei- und die Samenzelle das eine sind, aber dass mit der Verbindung von Ei- und Samenzelle etwas ganz Neuartiges entsteht, etwas, mit dem sich der Start des Lebens verbindet und mit dem Leben weitergeht. Jeder, der diese Position nicht vertritt, muss mir sagen, wann Leben beginnt.
Ich glaube, die entscheidende Frage heute - die müssen sich alle vorlegen - ist nicht, ob der Stichtag verschoben werden soll oder nicht, sondern entscheidend ist: Wenn ich dem Embryo menschliche Lebensqualität zugestehe, dann verbietet sich Forschung an ihm, und dann darf ich auch nicht aus der Dritten Welt oder von sonst wo die Zellen herholen. Da kann ich nur sagen, was der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und andere sagen: Das fortgesetzte Rechnen mit fremdem, nicht selbst begangenem Unrecht erschüttert die eigene moralische Glaubwürdigkeit.
Weil ich zu der Überzeugung komme, dass der Start des menschlichen Lebens unwiderruflich mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, was wir im Übrigen auch im Embryonenschutzgesetz formuliert haben, bin ich der Auffassung, dass wir an den Embryonen nicht forschen dürfen. Deswegen bin ich gegen eine Verschiebung des Stichtages.
Der Kollege Jochen Borchert hat im Jahr 2002 genau das formuliert, was heute eintritt: Es wird nicht beim Stichtag bleiben, er wird verschoben werden. -
Ich sage Ihnen: Es wird auch nicht bei diesem Stichtag bleiben. Es gibt nämlich nur die Alternative: Wenn der Embryo menschliches Leben ist, dann nein, und wenn er es nicht ist, dann brauche ich auch keinen Stichtag; dann stellen sich die Fragen ganz neu.
Ich werbe für klare Positionen, und ich werbe dafür, dass wir den Embryo als den Startschuss des menschlichen Lebens betrachten, sodass niemand mehr sagen kann, dass das menschliche Leben später beginnt. Allein der frühestmögliche Zeitpunkt hilft, menschliches Leben zu schützen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Cornelia Pieper.
Cornelia Pieper (FDP):
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kauder, nachdem Sie die Debatte mit der Frage, wann menschliches Leben beginnt, fortgesetzt haben, möchte ich an dieser Stelle auch namens der FDP-Fraktion an eine andere wichtige Debatte ethischer Kultur erinnern, nämlich an die Debatte zum Schwangerschaftsrecht mit der Fristenlösung. Auch damals haben wir uns verantwortungsbewusst der Frage gestellt: Wann beginnt menschliches Leben? Wir haben aus meiner Sicht sehr verantwortungsbewusst zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens und dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen abgewogen. Ich meine, dass die Lösung, die wir gefunden haben, nämlich eine Fristenlösung mit einer Beratungspflicht, eine sehr verantwortungsbewusste Lösung war, die man mit dieser Debatte heute nicht wieder infrage stellen sollte, Herr Kauder, wie Sie es getan haben.
Wir müssen uns bewusst machen, dass es in der Debatte, die wir heute zum Stammzellgesetz führen, sowohl um den Schutz des ungeborenen Lebens als auch um die Unversehrtheit des Lebens geht, also um die Ethik des Heilens.
Ich möchte ganz bewusst an die Worte der Kanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung erinnern - daran erinnere ich mich immer sehr gerne.
Sie wissen, was kommt: ?mehr Freiheit wagen!?
Ich zitiere die Kanzlerin:
Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie setzen.
Der Staat darf nicht glauben, er wisse selber, was da am besten zu tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die Wissenschaftsorganisationen in den Vordergrund rücken.
So, wie es die Kanzlerin damals formuliert hat, will ich es heute auch tun. Ich finde es nicht richtig, dass wir in der Debatte heute - in einigen Beiträgen kam das ein bisschen zum Vorschein - den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht verantwortungsbewusstes Handeln unterstellen. Denn auch sie diskutieren natürlich ethische Fragen. Wir alle wissen doch, dass selbst in der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung namhafte Stammzellenforscher mitarbeiten und unter strengen ethischen Auflagen Entscheidungen für Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen treffen.
Deshalb möchte ich heute die Leopoldina, die älteste Akademie der Naturwissenschaften - ich gratuliere Frau Schavan noch einmal zu der Entscheidung, die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften zu machen -, zitieren. Die Leopoldina hat in ihrer Stellungnahme zur Stammzellenforschung erklärt:
Es ist wissenschaftlich trotz wiederholter anderer Aussagen aus Politik und Medien allgemein anerkannt, dass beim derzeitigen Kenntnisstand die ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen die humanen embryonalen Stammzellen auch im Stadium der Forschungsentwicklung nicht ersetzen können. Dies ist in zahlreichen Studien zur Regeneration von Herzgewebe mit Knochenmarkstammzellen gezeigt worden.
Professor Steinhoff, ein Ihnen bekannter Stammzellenforscher aus Rostock, der sich mit der Regeneration von Zellgewebe des Herzens befasst, hat es in einer Anhörung, die wir im Mai vergangenen Jahres durchgeführt haben, vor dem Forschungsausschuss folgendermaßen formuliert:
Die wissenschaftliche Untersuchung von Stammzellen ist Lebensforschung, und zwar von der ersten Sekunde des Lebens bis zur letzten Sekunde, und da kann man Stammzellen nicht trennen in embryonal, fötal oder adult. Sie alle können nicht ohne Stammzellenerhalt leben. ? Deshalb können wir aus Sicht der Klinik und der adulten Stammzellforschung nicht auf die embryonale Stammzellforschung verzichten.
Meine Damen und Herren, das ist der Punkt. Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal die Ethik des Heilens in den Vordergrund zu stellen. Wozu machen wir denn Forschung? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen doch nicht aus Selbstzweck. Wir machen Forschung im Dienste des Menschen, zum Wohle der Menschen. Dank der Forschung ist es heute beispielsweise schon möglich, viele Krebsarten zu bekämpfen. Aber als die Grundlagenforschung in diesem Bereich begonnen hat, war sie natürlich ergebnisoffen. So ist es auch heute bei der Stammzellforschung. Wenn sich Chancen auf Heilung eröffnen könnten, dann dürfen wir uns dem doch nicht versperren.
Herr Hüppe, Sie haben gesagt, dass einige Verbände - Sie haben die Behindertenverbände angesprochen - zu Recht nicht wollen, dass mit embryonalen Stammzellen geforscht wird. Aber man kann doch nicht gleichzeitig anderen Menschen, die für sich persönlich entscheiden, dass sie geheilt werden möchten, Therapien verwehren, die irgendwann zur Verfügung stehen.
Ich zitiere das Grundgesetz:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Diesem Grundrecht fühlen wir uns verpflichtet.
Es sind für mich auch Zweifel angebracht, ob das bestehende Stammzellgesetz in der Tat dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit standhält; Frau Reiche hat es schon angesprochen. Auch eine Verschiebung des Stichtages wird dieses Dilemma nicht lösen. Das hat auch Herr Professor Schöler, einer der weltweit bekanntesten Stammzellforscher, in der letzten Anhörung im Forschungsausschuss zum Ausdruck gebracht.
?Deutsche Stammzellforscher können international nur noch schwer mithalten?, sagt Hans-Peter Schreiber, Leiter des Novartis-Ethikrates.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Cornelia Pieper (FDP):
Ich glaube, dass wir gut daran tun, gerade am Forschungsstandort Deutschland Zeichen zu setzen, uns nicht einer Entwicklung zu versperren, die unter ethischen Prinzipien gut ist und die aus meiner Sicht auch notwendig ist, um den Standort Deutschland weiterhin an der Spitze zu halten, vor allen Dingen um Menschen zu helfen, die schwer krank sind. Deswegen votiere ich für den Fall des Stichtages, und ich votiere vor allen Dingen für die Entkriminalisierung der Forscher in diesem Land.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Eberhard Gienger.
Eberhard Gienger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Biotechnologie verbinden sich wie in fast keinem anderen Forschungsgebiet große gesellschaftliche Hoffnungen. Aber diese Hoffnungen werden auch begleitet von Ängsten und Sorgen. Vielen Menschen wird ?unheimlich?. Sie fragen sich: Sind denn die Forscher die neuen Zauberlehrlinge des Lebens? Sie fürchten ethische Dammbrüche, die unsere Gesellschaft verändern könnten.
Die Menschen erwarten von der Politik aber zu Recht, dass sie die Rahmenbedingungen so setzt, dass neue Technologien zum Positiven genutzt werden können. Die Diskussion um die Stammzellforschung hat eine besondere Dimension, besonders für Abgeordnete, die sich am christlichen Menschenbild orientieren.
Als Forschungspolitiker stehe ich hier wie viele andere Mitglieder dieses Hohen Hauses vor der enormen Herausforderung, unsere klare Position zum Lebensschutz verantwortlich in Einklang zu bringen mit den berechtigten Interessen der Forschung. Mit dem Antrag zur einmaligen Verschiebung des Stichtages glauben wir einen guten Weg gefunden zu haben, mit dem wir die Substanz des 2002 erlangten Kompromisses fortschreiben und erhalten können. Aus forschungspolitischer Sicht geht es mir dabei in erster Linie um die Vereinbarkeit von Lebensschutz und Verpflichtung zum Heilen; zum anderen geht es mir darum, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu setzen, dass geforscht werden kann. Zugegeben, das ist keine einfache Aufgabe. Die meisten von uns befinden sich hier in einem Dilemma.
Als vor fast sechs Jahren das Stammzellgesetz verabschiedet wurde, ist den deutschen Forschern erlaubt worden, mit humanen embryonalen Stammzellen zu arbeiten, ohne jedoch Anreize für die Tötung von Embryonen zu geben. Das muss auch so bleiben.
Mit der Stichtagverschiebung zum 1. Mai 2007 haben wir einen Kompromiss gefunden, dem sich die Forscher, ein großer Teil der evangelischen Kirche und auch viele Katholiken dieses Hohen Hauses anschließen können. Ein Stichtag ist ein wirksames Instrument, um zu verhindern, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, Embryonen für die Herstellung von Stammzelllinien zu töten. Einen solchen Anreiz wollen wir definitiv nicht.
Wir lehnen deshalb die gänzliche Aufhebung des Stichtages entschieden ab. Eine Aufhebung ist auch nicht nötig, da wir eine erfolgreiche Reprogrammierung von menschlichen Hautzellen zu Zellen mit embryonalen Eigenschaften demnächst erwarten dürfen. Deswegen können wir davon ausgehen, dass wir in absehbarer Zeit auch auf embryonale Stammzellen verzichten können. Doch bis es so weit ist, müssen Forscher die reprogrammierten embryonalen Stammzellen miteinander vergleichen können.
Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass auf die Forschungsarbeiten mit humanen embryonalen Stammzellen derzeit nicht verzichtet werden kann. Grundlagenkenntnisse für mögliche spätere therapeutische Ansätze können zum Teil nur in parallelen Arbeiten an adulten sowie an embryonalen Stammzellen gewonnen werden. Professor Ho, der nur an adulten Stammzellen arbeitet, hat hier in einer Anhörung vor einigen Monaten gesagt: Ohne die Kenntnisse der embryonalen Stammzellen hätte ich es nicht so weit gebracht.
Wir wollen demzufolge der Forschungsfreiheit und auch dem Interesse der kranken Menschen an der Entwicklung neuer Therapien angemessen Rechnung tragen.
Uns ist es wichtig, dass die Grundausrichtung des bestehenden Gesetzes nicht verändert wird. Es geht um die Anpassung an neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Herausforderungen.
Wir befinden uns unausweichlich in einem Dilemma. Die Werteorientierung für uns heißt: Lebensschutz. Aber dies beinhaltet auch die Verantwortung für die geborenen Menschen und deren Lebenswürde. Diese Verantwortung verpflichtet uns, Krankheiten zu bekämpfen und Heilungschancen zu nutzen. Eine einmalige Verschiebung des Stichtags ist aus meiner Sicht nicht nur eine verantwortbare Lösung; sie ist aus meiner Sicht eine gute Lösung. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zu folgen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat Fritz Kuhn das Wort.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Präsident! Für mich ist eine vernünftige und kluge Definition dessen, was ein Embryo ist, der Satz: Ein Embryo ist ein zukünftiges Kind zukünftiger Eltern. - Er kann - deswegen bin ich gegen eine Stichtagsverschiebung - nicht als Rohstoff oder als Zellmaterial angesehen werden.
Jürgen Habermas hat in einer wichtigen Schrift zur Frage der Bioethik einmal gesagt, dass die Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens unser gattungsethisches Selbstverständnis - wie wir uns in unserer Kultur mit den Traditionen, die wir haben, definieren - aufs Spiel setzen würde, also das, was wir in unserer Kultur unter Menschsein verstehen. Deswegen sage ich: Bei alldem, was die Tür dazu öffnet, aus dem Embryo einen Rohstoff für Heilungsprozesse zu machen, haben wir es mit einer gefährlichen Fragestellung zu tun; über die Grenzen haben wir ernsthaft zu diskutieren.
Wir diskutieren - Herr Kauder hat es vorhin dargestellt - in einer Welt der naturwissenschaftlichen Zweck-Mittel-Relation, aber auch in einer moralischen Welt der Ethik. Es gibt in der Ethik seit langem, seit David Hume, einen Grundsatz, der lautet: Du darfst keinen naturalistischen Fehlschluss begehen. - Es ist unzulässig, in ethischen Diskussionen aus dem Sein auf das Sollen zu schließen.
?Weil es faktisch Ungerechtigkeit gibt, dürfen wir Ungerechtigkeit akzeptieren?, das wäre ein Beispiel für einen naturalistischen Fehlschluss.
Das heißt übrigens auch: Aus einem prognostizierten Sein - mit Stammzellenforschung heilen wir jetzt noch unheilbare Krankheiten; das ist ja eine Hoffnung oder ein vages Versprechen - darf nicht abgeleitet werden, was wir heute tun müssen. Wenn wir dies anfangen - an dieser Stelle schaue ich Frau Kollegin Flach an -, hebeln wir systematisch alle ethischen, moralischen Diskussionen aus. Dann gibt es nämlich nichts anderes mehr. Aus der Möglichkeit, die übrigens in allem steckt, dieses oder jenes zu tun, müssen wir dann, moralisch gezwungen, dieses oder jenes zulassen.
Wer dies macht, hebelt die Ethik aus und verlässt systematisch die Spannung zwischen Kausalität und moralischer Verantwortung - das sind die zwei Welten, die Kollege Kauder angeführt hat -, indem er die Ethik nicht mehr entsprechend zur Geltung bringt.
Deswegen: Vorsicht vor dieser Argumentation: ?Wir müssen, weil es das Ausland macht, weil die Hoffnung daran hängt?! Diese Argumentation ist - ich will es den Kollegen nicht persönlich unterstellen -
in logischer Konsequenz durchdacht meines Erachtens eine Kapitulation vor der ethischen Grundfrage, und die heißt seit Kant: Was dürfen wir tun? Die muss mit eigener Vernunft und darf nicht nur mit Verweis darauf, was andere tun, beantwortet werden.
Ich will jetzt noch etwas zum Thema Kompromiss sagen; da war ich doch ein bisschen erstaunt. Herr Kollege Röspel, was wir im Jahr 2002 beschlossen haben, war, fand ich, ein Kompromiss und nicht ein Mittelweg. Ich war erstaunt über den Begriff Mittelweg. Ich sage Ihnen: Es war deswegen ein Kompromiss, weil er für beide Seiten - die Lösung war ja der Stichtag - Zumutungen bedeutet hat. Für viele von uns war dieser Kompromiss eine Zumutung, aber wir haben gesagt: Obwohl wir eine eindeutige Auffassung von der Bedeutung von Embryos haben, machen wir bei der Festlegung eines einmaligen Stichtages mit, weil wir das Argument, mit der Gewährung von Forschungsfreiheit in diesem Bereich könne man möglicherweise Heilmethoden für bisher unheilbare Krankheiten entwickeln, gewertet und gewichtet haben.
Ihr Vorschlag, den Stichtag ?einmalig? zu verschieben, stellt für uns ein Abrücken von diesem Kompromiss dar. Ich fühle mich sogar ein wenig betrogen, nachdem ich 2002 den Kompromiss mitgetragen habe. Ich will Ihnen das erläutern: Damals war der Kontext, dass die Verfechter der embryonalen Stammzellforschung doch sehr stark argumentiert haben, dass sie gute Hinweise hätten, dass durch entsprechende therapeutische Eingriffe bisher unheilbare Krankheiten geheilt werden könnten.
Dieses Argument ist in den letzten sieben Jahren sehr stark in den Hintergrund getreten. Wenn man jetzt aus den gleichen Gründen sagt, man müsse den Stichtag weiter nach hinten verschieben, dann nimmt man das, was sich in der Zwischenzeit getan und gezeigt hat, nicht besonders ernst.
Herr Röspel, wir wollen fair diskutieren. Ich will Ihnen nichts unterstellen.
Man muss aber auch schon streiten und Auseinandersetzungen ertragen können. Alle wissen doch - Sie sind ja auch Politiker -, welches Signal wir, wenn wir jetzt einen neuen Stichtag festlegen, an das Ausland und die ganze Forschungscommunity senden. Das Signal ist eindeutig:
Immer dann, wenn neue Argumente - jetzt übrigens schwächere als damals - ins Feld geführt und breit über die Medien transportiert werden, hat man eine ausreichende Begründung für die Festlegung eines neuen Stichtages.
Deswegen sage ich: Wer sich dafür einsetzt, dass wir einen neuen Stichtag beschließen, der gibt damit einen Dauerauftrag für weitere Stichtagsverschiebungen auf. Ich finde, das sollten wir nicht tun. Das war nicht die Geschäftsgrundlage für den Kompromiss des Jahres 2002.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Thomas Oppermann.
Thomas Oppermann (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kant ist heute in unserer Debatte mehrfach und auch zu Recht zitiert worden, so von Herrn Schily und von Herrn Kauder. Auch mein Vorredner Kuhn hat es versucht. Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft die richtigen Fragen für unsere Debatte formuliert. Sie lauten: ?Was kann ich wissen??, ?Was soll ich tun?? und ?Was darf ich hoffen??.
Die Stammzellforschung hat zunächst einmal etwas mit Wissen zu tun. Es handelt sich nicht um eine Therapieforschung. Es geht darum, die grundlegende Funktionsweise von Zellen, von Zellveränderungen und von menschlichem Leben herauszufinden.
Bevor wir zu Heilmethoden und Therapien kommen, müssen wir erst einmal die Wissensbasis dafür erarbeiten, müssen wir durch Forschung erst einmal das notwendige Wissen dafür erlangen. Deshalb geht die Kritik, die hier teilweise formuliert worden ist, dass nach so und so vielen Jahren noch keine Therapien entwickelt wurden, das alles daher nichts gebracht habe und man jetzt auf adulte Stammzellen zurückgreifen müsse, völlig an der Sache vorbei.
Stammzellforschung ist Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist zunächst einmal die Erweiterung des Wissens, also die Verschiebung der Grenzen menschlichen Wissens, Schritt um Schritt. Aber medizinische Grundlagenforschung von heute hilft auch den Erkrankten von morgen und übermorgen. Übrigens verdanken wir die medizinischen Heilbehandlungsmöglichkeiten, die wir heute genießen, der Grundlagenforschung von vor 50 oder 100 Jahren. Deshalb ist die Frage, wie wir mit vielversprechenden, mit aussichtsreichen Forschungsansätzen bei der embryonalen Stammzellforschung umgehen, auch eine Frage, an der sich die Möglichkeiten entscheiden, die künftige Generationen haben.
Meine Damen und Herren, was sollen wir tun? Sollen wir am Stichtag festhalten, sollen wir ihn verschieben, oder sollen wir ihn ganz aufgeben? Ich plädiere konsequenterweise dafür, ihn ganz aufzuheben. Die deutsche Stichtagsregelung mit dem Stichtag 1. Januar 2002 hat ganz offenkundig und ganz erkennbar keinen Einfluss auf die Nutzung von Embryonen.
Auch ohne Veranlassung oder Anreizwirkung aus Deutschland sind in den letzten Jahren weltweit rund 500 embryonale Stammzelllinien etabliert worden. Wenn die deutschen Forscher durch eine Verschiebung oder Aufhebung des Stichtages jetzt Zugang zu diesen neuen, hochwertigen Stammzelllinien bekommen, dann können sie den Anschluss an die internationale Forschung gewinnen. Aber vermutlich müssten wir schon in wenigen Jahren den Stichtag erneut verschieben, weil dann noch bessere Linien zur Verfügung stehen. Ich rate davon ab.
Ich finde es im Übrigen ohnehin hochproblematisch, dass wir einerseits den Import von überzähligen ausländischen Embryonen erlauben, gleichzeitig aber die Verwendung überzähliger inländischer Embryonen unter Strafe stellen.
Das ist für mich ein schwerer Wertungswiderspruch. Ich kenne keinen einzigen Grund, warum inländische Embryonen schutzwürdiger sein sollten als ausländische Embryonen.
Das Argument, mit den adulten Stammzellen könnten die gleichen Erfolge erzielt werden, ist nicht redlich. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Die embryonale Stammzellforschung ist notwendige Grundlagenforschung, um die Funktionsweise von adulten Stammzellen präzise verstehen zu können. Wenn wir adulte Stammzellen für die Therapie wollen, dann brauchen wir gerade deshalb mehr Forschung mit embryonalen Stammzellen.
Was dürfen wir hoffen, meine Damen und Herren? Durch verantwortbare Forschung mit embryonalen Stammzellen können wir neue, grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung, die Degeneration und die Regeneration von menschlichen Zellen gewinnen. Das könnte für die Lebensqualität, die Gesundheit und die Lebenschancen künftiger Generationen eine ganz wesentliche Verbesserung sein. Dafür zu arbeiten, haben wir als aufgeklärte Menschen das Recht, aber auch die Pflicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Brigitte Zypries.
Brigitte Zypries (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Änderung des Stammzellgesetzes diskutieren, dann sind drei Aspekte, mit denen wir es zu tun haben, von sehr großer Bedeutung: Erstens geht es um die Grenzen der Wissenschaft, sowohl verfassungsrechtlich als auch ethisch. Nicht alles, was an Biomedizin heute oder künftig möglich ist, wollen oder können wir zulassen. Zweitens geht es neben dem medizinischen Fortschritt um die Chancen, schwere Krankheiten künftig besser zu heilen und dadurch menschliches Leben zu retten. Drittens geht es um den Forschungsstandort Deutschland und die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Forschung.
Es geht darum, ob unsere Wissenschaftler auch in Zukunft international konkurrenzfähig bleiben können.
Das Stammzellgesetz von 2002 sah einen vernünftigen Ausgleich zwischen allen Belangen - den Belangen der Medizin, der Forschung und des Schutzes embryonalen Lebens - vor. Heute, sechs Jahre später, müssen wir feststellen, dass das geltende Recht diesen Ausgleich nicht mehr hinreichend gewährleistet. Die bisherige Stichtagsregelung schränkt die Forschungsmöglichkeiten für die heutige Zeit zu stark ein. Die Stammzelllinien aus der Zeit vor dem Stichtag reichen quantitativ und qualitativ nicht mehr aus. Deshalb meine ich: Wir brauchen eine Änderung des Gesetzes. Ich meine auch, dass eine Verschiebung des Stichtages verfassungsrechtlich einwandfrei und in der Sache richtig ist.
Für mich ist klar, dass auch der Embryo in der Petrischale kein beliebiger Zellhaufen ist. Er ist menschliches Leben, und unser Grundgesetz verlangt ausdrücklich, Leben zu schützen. Dafür, wie wir das tun, gibt uns die Verfassung allerdings einen Spielraum. Wir sind verpflichtet, diesen Spielraum zu nutzen, und zwar verantwortungsvoll.
Nur so können wir auch anderen Verfassungsgütern oder anderen Facetten der staatlichen Schutzpflicht Geltung verschaffen, zum Beispiel der Forschungsfreiheit oder der Verpflichtung des Staates, die Menschen bestmöglich vor Krankheiten zu schützen.
Mit dem Embryonenschutzgesetz und der neuen Stichtagsregelung im Stammzellgesetz gelingt uns ein vernünftiger Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Verfassungsgütern. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Tötung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen. Dabei bleibt es. Dieses Verbot steht nicht zur Disposition.
Wenn wir jetzt den Stichtag einmalig verschieben, dann erlauben wir der Forschung, mit Stammzellen zu arbeiten, die bereits vor dem Stichtag bestanden. Wir schützen zugleich das embryonale Leben, weil von Deutschland auch künftig kein Anreiz ausgeht, Embryonen zur Gewinnung von neuen Stammzellen zu töten.
Die Verschiebung des Stichtages ist eine gute und verfassungsrechtlich vernünftige Lösung. Wir sichern damit eine weitere Stammzellforschung in Deutschland, und wir schaffen die Grundlage für Verbesserungen etwa in der Transplantationsmedizin und in der Krebsbekämpfung. Schließlich begründen wir damit die zusätzliche Hoffnung, dass gerade diese Forschung dazu führt, dass die Wissenschaft auf die Nutzung embryonaler Stammzellen schon bald völlig verzichten kann.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Maria Eichhorn.
Maria Eichhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die menschliche Würde ist unantastbar. Dies gilt für mich vom Beginn bis zum Ende des menschlichen Lebens. Deshalb habe ich im Jahr 2002 zusammen mit weiteren 262 Kolleginnen und Kollegen gegen den Import embryonaler Stammzellen und gegen die Stichtagsregelung gestimmt. Die Kernargumente von 2002 gelten heute genauso wie vor sechs Jahren. Diese Grundüberzeugung kommt im Gesetzentwurf Hüppe zum Ausdruck. Wir, die 52 Unterzeichner, wollen deutlich machen, dass eine Forschung mit menschlichen Embryonen auch heute ethisch nicht zu vertreten ist.
Die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen setzt die Tötung von Embryonen voraus. Deshalb lautet die Schlüsselfrage, der wir uns immer wieder stellen müssen: Wann entsteht menschliches Leben? Natürlich gibt es unterschiedliche Positionen. Aber man muss für sich selbst eine Entscheidung treffen. Solange nichts anderes bewiesen wird, ist für mich klar: Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger Mensch mit all seinen Anlagen und Fähigkeiten. Damit beginnt die Entwicklung dieses einen unverwechselbaren Menschen. Nach meiner vollen Überzeugung muss das Leben bereits ab diesem Zeitpunkt geschützt werden.
Jede andere Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn des vollen Schutzes menschlichen Lebens ist willkürlich. Würden wir dem Menschen nicht von Anfang an in jedem Stadium die volle Würde zuerkennen, so kämen wir schnell in Gefahr, auch am Ende des Lebens bei Krankheit oder Gebrechlichkeit diese Zuerkennung der menschlichen Würde infrage zu stellen.
Der Lebensschutz verträgt keine Relativierung. Forschung an embryonalen Stammzellen ist ethisch bedenklich, weil für ihre Herstellung die Tötung menschlicher Embryonen erforderlich ist. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Die Verheißungen der Forschung rechtfertigen nicht, dass menschliches Leben getötet wird. Das gilt auch für die sogenannten überzähligen Embryonen. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht nach meiner festen Überzeugung höher als die Forschungsfreiheit.
Liebe Kolleginnen, uns Frauen kommt in den Fortpflanzungstechnologien und in der Embryonenforschung eine Schlüsselrolle zu. Die embryonale Stammzellforschung basiert auf der Verfügbarkeit von Eizelle und Embryo. Das führt dazu, dass Frauen in einigen Ländern gegen Bezahlung dazu animiert werden, Eizellen für die Forschung zu liefern. Damit werden wir Frauen zu Rohstofflieferanten. Hier wird Menschenwürde verletzt. Gott sei Dank gibt es das bei uns nicht. Aber nur wenn wir die ethischen Grundsätze bewahren, wird das bei uns so bleiben.
In den letzten Jahren wurden pluripotente adulte Stammzellen entdeckt, die sich in Zellen unterschiedlicher Gewebe entwickeln, für deren Gewinnung weder Embryonen noch Eizellen von Frauen benötigt werden und die nach Aussagen der Wissenschaftler nicht von embryonalen Stammzellen zu unterscheiden sind. Die Forschung an adulten Stammzellen entspricht den Vorstellungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, vor allem den der Frauen.
Aus einer Umfrage von Infratest im Januar dieses Jahres geht hervor, dass sich 61 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 70 Prozent der Frauen für die adulte und gegen die embryonale Stammzellforschung aussprechen. 75 Prozent der deutschen Frauen wollen darüber hinaus, dass in Deutschland keine menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken erzeugt und zerstört werden. Das sollte uns nachdenklich machen.
Deutschland nimmt schon heute in der adulten Stammzellforschung einen internationalen Spitzenplatz ein. Dieser muss weiter ausgebaut werden. Forschung an adulten Stammzellen ist nicht nur ethisch unbedenklich, sondern auch therapeutisch aussichtsreicher; das ist heute schon mehrmals gesagt worden. Wenn wir uns auf diese Forschung konzentrieren und unseren Einsatz dafür verstärken, liegt dies im Interesse der Patienten und im Interesse von Forschung und Medizin. Es muss dazu kein einziger Embryo getötet werden.
Gehen wir diesen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn der Schutz des menschlichen Lebens hat höchste Priorität.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Petra Sitte.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ?Behutsame Novellierung des Stammzellgesetzes ist die Fortschreibung des Stammzellkompromisses?, haben René Röspel und andere ihren Antrag überschrieben. In der Tat gibt dieser Antrag wie auch der von Frau Flach und anderen eingebrachte Gesetzentwurf der medizinischen Stammzellforschung in Deutschland eine Perspektive. Beide Richtungen belassen es trotz Stichtagsveränderung bei den weltweit strengsten Auflagen zur öffentlichen Kontrolle und gegen eine Kommerzialisierbarkeit dieser Forschung.
Es handelt sich daher nicht um eine Ausweitung der Stammzellforschung, wie immer wieder zu hören ist; vielmehr geht es um die Suche nach neuen Heilungschancen, ergänzend zu herkömmlichen Therapien. Das heißt, die Stammzellforschung wird fortgesetzt. Am Ende eines zugegebenermaßen langen Forschungsweges soll eine auf den einzelnen Patienten oder die einzelne Patientin zugeschnittene Behandlung von solchen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer oder des Herzinfarktes stehen. Solange diese Forschungen nicht umfassend geschehen sind, diese Chancen nicht seriös erforscht worden sind, könnte ich persönlich niemandem erklären, weshalb die medizinische Stammzellforschung in Deutschland erheblich eingeschränkt wird.
Darauf liefe aber eine Beibehaltung des alten Stichtages, wie in dem von Frau Hinz und anderen eingebrachten Gesetzentwurf gefordert, hinaus. In dem von Herrn Hüppe und anderen eingebrachten Gesetzentwurf wird diese Forschung faktisch verboten.
Nun wird gesagt, die Stammzellforschung solle sich auf alternative, ethisch unbedenkliche Methoden der Gewinnung von Stammzellen konzentrieren. Es wird auf adulte Stammzellen oder auf reprogrammierte adulte Stammzellen verwiesen. Auch ich glaube, dass darin langfristig die Zukunft von Stammzelltherapien liegt. Ob die Erwartungen zu erfüllen sind, ist aber nicht ohne vergleichende Forschung an embryonalen Stammzellen einzuschätzen.
Dabei könnten die weltweit etwa 500 vorhandenen embryonalen Stammzelllinien helfen. Bliebe es beim alten Stichtag, wären - das ist schon mehrfach gesagt worden - für die deutsche Forschung eben nur 21 verunreinigte Linien nutzbar. Die so erzielten Ergebnisse sind - das wird klar belegt; das hat sich auch in der Anhörung gezeigt - unter Umständen verfälscht. Ich verweise allein auf die Schädigungen von Chromosomen.
Mit einer Stichtagsverschiebung ließen sich Forschungen aus anderen Ländern zu besonderen Risiken aller Stammzelltypen, insbesondere das Problem der Tumorbildung, vergleichen und ergänzen. Wenn nun eingewandt wird, dass die embryonale Stammzellforschung noch keine klinischen Anwendungen hervorgebracht hat, dann ist das zweifelsohne richtig. Das hat hier auch niemand behauptet. Medizinische Forschungen sind nun einmal so komplex, dass in bestimmten Feldern über Jahrzehnte geforscht wird. Das zeigt der Kampf gegen Aids. Ich will einfach einmal einwerfen, dass die Medikamentenentwicklung im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre dauert. Menschliche embryonale und reprogrammierte Zellen werden frühestens in 15 Jahren klinische Bedeutung erlangen, sagen seriöse Stammzellforscher.
Die Zulässigkeit medizinischer Stammzellforschung stand und steht im Zentrum bioethischer Debatten; denn die Zellentnahme führte bislang - es gibt, wie gesagt, auch andere Methoden - zum Verlust von Embryonen. Ich meine, der Schutz vorgeburtlichen Lebens und der Menschenwürde einerseits sowie die Hoffnung auf Heilung und die Forschungsfreiheit andererseits müssen immer wieder aufs Neue miteinander in Einklang gebracht werden. Es gibt weder einfache Antworten im Umgang mit menschlichem Leben noch gibt es einen Königsweg zu einer neuen Therapie.
Unsere Rechtsordnung schützt den Embryo in Abhängigkeit von seiner vorgeburtlichen Entwicklungsphase. Das Selbstbestimmungsrecht der Mutter geht unter Umständen dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus vor. Gleichwohl wird ein drei Tage alter achtzelliger Embryo im Reagenzglas absolut geschützt, obwohl ihm erst mit seiner Einnistung in die Gebärmutter die reale Chance auf Menschwerdung eröffnet wird.
Selbstverständlich bedarf es des strengen Schutzes. Zerstörung und Verzweckung des Embryos verhindert das Embryonenschutzgesetz. Dabei bleibt es auch nach einer Stichtagsverschiebung. Das Stammzellgesetz vollzieht aber insoweit eine ethische Abwägung, als es ausnahmsweise für ethisch hochstehende Ziele die Einfuhr und Forschung an bestehenden Stammzelllinien aus dem Ausland erlaubt.
Die Befürchtungen von 2002, dass Deutschland den Weg uferloser Embryonenforschung geht, haben sich nicht erfüllt.
Daran haben verantwortungsbewusste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein transparentes Genehmigungsverfahren und die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellforschung einen erheblichen Anteil. Ethisch umstrittene Forschung bedarf öffentlicher Kontrolle und Förderung. Schließlich ist Transparenz das beste Mittel gegen Missbrauch und Kommerzialisierung.
Abschließend: Ich finde, das Bemühen um neue Therapien für kranke Menschen ist ein wichtiges und ein ethisch hochstehendes Ziel. Auch diese Menschen haben ein Recht auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Würde. Deswegen stimme ich für eine Verschiebung des Stichtages. Das ist eine behutsame und ethisch verantwortbare Lösung.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wie vereinbart, erhält jetzt Monika Knoche das Wort zu einer Kurzintervention.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich melde mich zu einer Kurzintervention, um deutlich zu machen, dass ich mich sehr geärgert habe. Ich möchte mein Unverständnis über das Verhalten einiger Antragstellerinnen und Antragsteller in diesem Hause äußern. Sie haben sich zu Gruppenanträgen zusammengefunden, um das breite Spektrum der Meinungen zu diesem sehr wichtigen Thema, das in allen Fraktionen, auch in der Fraktion Die Linke vorhanden ist, zum Ausdruck zu bringen.
Es ist nicht möglich gewesen, uns als in dieser Frage engagierte Linke - auch ich habe sehr intensiv an der Thematik zum Jahr 2002 gearbeitet - auf die Liste der Initiatorinnen und Initiatoren dieser Gruppenanträge zu setzen. Das ist Frau Petra Sitte mit ihrer Position genauso ergangen wie mir.
Im Ergebnis bedeutet das, dass es der Fraktion der Linken heute nicht möglich ist, hier in diesem Haus die Breite der Auffassungen darzustellen. Das halte ich angesichts der Bedeutung dieser Thematik für vollkommen unangemessen,
und das ist in dieser Debatte nicht wiedergutzumachen. Ich hoffe sehr, dass wir im Verlaufe des Beratungsverfahrens ernsthaft die Chance haben, dass sich die Kollegialität und das parlamentarische Gebaren wieder dahin gehend einpendeln, wie es ehedem war.
Eine Position - ich und sehr viele Mitglieder meiner Fraktion vertreten diese - lautet, dass es hier um die grundlegende Frage des Verbotes der Instrumentalisierung menschlichen Lebens geht, dass es darum geht, dass wir Grenzen ziehen müssen gegenüber den Begehrlichkeiten einer Forschung, die auf der künstlichen Erzeugung und Zerstörung menschlichen Lebens aufbaut. Im Sinne einer Entwicklung einer humanistischen Humanmedizin müssen die Voraussetzungen für Forschung und für eventuelle therapeutische Anwendungen den Prinzipien der Menschenwürde und des Lebensschutzes gerecht werden. Wir haben in unserer Verfassung das Verbot der fremdnützigen Forschung als eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft festgehalten. An diesen Prinzipien müssen wir uns messen. Es kann nicht angehen, dass das Parlament, das eine so wesentliche Entscheidung bereits getroffen hat, heute von ständig neuen Forderungen der Forschung überhäuft wird und seine Grundsätze und Prinzipien infrage stellen muss.
Deshalb bitte ich die Öffentlichkeit um Verständnis dafür, dass es der Fraktion der Linken in der Gänze heute nicht möglich war, an dieser Debatte teilzunehmen. Es lag nicht an uns. Sie können gewiss sein, dass wir alle Instrumente nutzen, um die Breite unserer Auffassungen der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Meine Damen und Herren, damit in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck entsteht, will ich ausdrücklich sagen: Erstens sind Vertreter der Fraktion Die Linke, wenn ich es richtig gesehen habe, bei allen Vorlagen als Unterzeichner bzw. Antragsteller dabei.
Zweitens. Es war vereinbart worden, dass es hier nicht um Fraktionsmeinungen geht, sondern um individuelle Meinungen,
Gewissensüberzeugungen, die dargestellt werden, die sich nicht nach Fraktionen richten. Ich möchte das nur klarstellen; alles andere ist der Diskussion zugänglich.
Nun erteile ich Wolfgang Wodarg das Wort.
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen, jetzt neue Regeln aufzustellen und den Stichtag zu verschieben, wurde nicht von den Patienten vorgebracht. Es kommt von Forschern in Deutschland, die eine bestimmte Forschungsrichtung gefahren haben, die sich darauf verlassen und öffentliche Gelder für ihre Forschung bekommen haben. Diese Forscher sind auf dem Holzweg. Sie kommen nicht in die Nähe dessen, was sie den Menschen und uns hier im Hause versprochen haben. Sie haben uns versprochen, dass das, was sie tun, zu größeren Heilungschancen führen wird und dass daraus Therapien entwickelt werden können.
Man wollte menschliche Embryonen klonen, um Zellen zu erhalten, die nicht abgestoßen, sondern vom Körper des Patienten akzeptiert werden. Das ist ein ganz großer Umweg, für den sehr viele Embryonen und sehr viele Eizellen benötigt werden. Das ist so abwegig, dass man noch nicht einmal an klinische Versuche denken kann; auch die Tumorgefahr ist hierbei sehr groß. Das ist also ein völliger Holzweg in Bezug auf Therapien. Das ist hier heute ganz häufig angeklungen.
Jetzt lautet das Argument: Aber wir müssen das, was wir tun, mit dem, was andere tun, vergleichen. Wir brauchen das. - Wieso eigentlich? Wieso ist das der Standard, der verglichen werden muss? Das ist nichts weiter als der Versuch, mit etwas in der Diskussion zu bleiben, das überholt ist und nicht benötigt wird; die Forschung ist bereits fortgeschritten.
Wir haben im Bereich embryonaler Stammzellen natürlich ganz interessante Erkenntnisse erlangt. Aus embryonalen Stammzellen, die aus Tieren gewonnen worden sind, haben wir international über Programmierung und Reprogrammierung grundsätzliche Erkenntnisse gewinnen können. Aber für das, was wir jetzt unterstützen und woran wir weiterarbeiten wollen, nämlich dass es irgendwann einmal Therapien gibt, dass Heilungschancen für Menschen geschaffen werden, brauchen wir die embryonale Stammzellforschung nicht. Das ist das letzte Zucken derjenigen, die in der Sackgasse sind. Das Ganze ist wissenschaftlich nicht notwendig.
Wenn wir dem zustimmten, würden wir etwas aufgeben, das wir kaum wiedergutmachen können. Wir haben durch unseren Kompromiss schon viel aufgegeben.
Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, hat einmal etwas resigniert gesagt: ?Die Würde des Menschen war unantastbar.? Wir haben das Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und dieses gegenseitige Versprechen der Menschen relativiert. Denn wir haben gesagt: Es gibt auch solche Fälle, in denen man Menschen töten darf - dass es sich hierbei um Menschen handelt, ist unstrittig -, weil der höhere Zweck, anderen Menschen zu helfen, dies rechtfertigt.
Diesen Kompromiss, der sehr strittig war, sind wir eingegangen. Der Deutsche Bundestag hat sich vor einer konsequenten Haltung gedrückt. Wir haben gesagt: Da das in der Vergangenheit passiert ist, können wir das nicht ?reparieren?. Da wir aber nicht die Augen vor den Ergebnissen verschließen wollen, werden wir die Ergebnisse, die erzielt wurden, nutzen. Das haben wir getan, und zwar mit großen Bauchschmerzen. Das gilt insbesondere für diejenigen in diesem Hause, die einander achten und davon ausgehen, dass auch diejenigen, die eine andere Position vertreten, gute Argumente haben. Wir haben das getan, weil wir die Regeln für dieses Land aufstellen müssen.
Jeder in diesem Hause muss aber wissen, dass der Grund für die damals unterschiedlichen Sichtweisen dadurch nicht vom Tisch ist. Er ist weiterhin vorhanden. Wenn wir den Stichtag jetzt verschieben, dann heißt das, dass wir uns auf eine völlig andere, auf eine sehr utilitaristische, also von Nutzenerwägungen geprägte Ebene begeben. Dann muss man tatsächlich fragen: Was soll das nutzen? Am Anfang meiner Rede habe ich bereits gesagt: Es nutzt nichts.
Jetzt geht es darum, ob wir uns dafür entscheiden, embryonale Stammzellen zu ?vernutzen? und damit indirekt immer wieder einen Anreiz zu schaffen, dass anderswo auf der Welt - natürlich nicht bei uns; wir sind ganz sauber - für uns aus Embryonen, die getötet werden, Stammzellen gewonnen werden. Die Argumente, die für diese Entscheidung sprechen, sind schlechter als die Gegenargumente. Heute gibt es weniger gute Gründe, die dafür sprechen, als es bei der letzten Debatte zu diesem Thema vor einigen Jahren der Fall war.
Ich stehe zu unserem Kompromiss, weil ich dieses Haus achte und weil ich denke, dass wir Rechtssicherheit brauchen. Die Menschen müssen wissen, worauf sie sich verlassen können, und sie müssen uns ernst nehmen. Ich denke, wenn wir den Stichtag verschieben, dann werden uns die Bürger und die Forscher nicht mehr ernst nehmen können.
Deshalb bitte ich Sie alle: Lassen Sie uns zu dem guten Kompromiss, den wir gefunden haben, stehen. Wir dürfen die Basis unseres Zusammenlebens nicht aus Nutzenerwägungen relativieren oder sogar aufgeben. Das können und dürfen wir nicht machen.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Patrick Meinhardt.
Patrick Meinhardt (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Anbetracht der bisherigen Debattenbeiträge kann ich feststellen: Meiner Meinung nach ist heute ein besonderer Tag der Parlamentskultur. Im Laufe dieser auch für mich sehr bewegenden Debatte über die Zukunft der Stammzellforschung haben sich überraschend neue Überzeugungsgemeinschaften gebildet, und zwar jenseits von Fraktions- und Koalitionsgrenzen und diesseits von Ethik und Forschungsfreiheit. Deswegen können wir Parlamentarier wirklich stolz darauf sein, dass wir diese ernste Debatte mit so großem Respekt und so großer Achtung vor der Meinung des anderen führen.
Ein wesentliches Ziel der heute zur Beratung anstehenden Vorlagen besteht darin, die Rechtsunsicherheit, die für im Rahmen internationaler Forschungsverbünde tätige deutsche Forscher entstanden ist, zu beenden. Diese Rechtsunsicherheit muss durch eine Klarstellung im Stammzellgesetz, durch die die Wirkung des Gesetzes nur auf das Inland beschränkt wird, beseitigt werden. Auch wenn dieser Aspekt in der öffentlichen Debatte bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, ist er für die Forschungsgemeinschaft von nachhaltiger Bedeutung. Wir sind es unseren Forschern schuldig, für Rechtssicherheit zu sorgen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in einer Welt, in der es grausame Krankheiten gibt, die wir mithilfe der Stammzellforschung bekämpfen können und müssen, ist eine sinnvolle Forschungspolitik wichtig. Wir müssen sie aber immer wieder unter ethischen Gesichtspunkten hinterfragen. Als Abgeordneter und als bekennender Christ muss ich mir immer wieder die Frage stellen, welche Entscheidung ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Ich füge ganz bewusst hinzu: Wir werden zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, auch wenn wir von ein und demselben ethischen Fundament ausgehen; diese Demut gehört zur heutigen Debatte hinzu.
Die Bewahrung der Schöpfung Mensch ist sicherlich der oberste Maßstab. Dies beinhaltet aber auch und gerade die Ethik des Heilens. Genau wie der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Huber, sehe ich die Forschung an embryonalen Stammzellen als eine Gratwanderung, die mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 nur zeitlich begrenzt vertretbar ist. Die EKD spricht in diesem Zusammenhang von einem schonenden Ausgleich der beiden so essenziellen Grundwerte des Lebensschutzes und der Forschungsfreiheit.
Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die sagen, dass der Schutz der Würde des Menschen sie zu einem Nein zur embryonalen Stammzellforschung kommen lässt. Ich habe aber auch großes Verständnis für diejenigen, die von hier aus, wenige Hundert Meter von der Charité entfernt, dem Ort der biologischen und medizinischen Zellrevolution, wie es im Spiegel von dieser Woche zu lesen ist, der Forschung noch mehr Möglichkeiten einräumen wollen. Umso mehr müssen wir im Rahmen einer verantwortungsvollen Forschungspolitik Alternativen fördern.
Bei der Forschung an adulten Stammzellen befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich auf einem hohen Niveau. Dies sollte uns dazu motivieren, noch besser zu werden. Durch den kürzlich erfolgten Durchbruch bei der Reprogrammierung von Hautzellen eröffnet sich möglicherweise ein neuer Weg. Trotzdem muss der veränderten Sachlage Rechnung getragen werden, dass zur Zeit nur noch immer schlechter verwendbare Stammzelllinien für die so wichtige Forschung zur Verfügung stehen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die gesetzlichen Regelungen dürfen nicht so restriktiv ausfallen, dass die Forschung ins Ausland geht und später eimmal Heilmittel gegen Querschnittslähmung, Krebs und Aids, die auf Ergebnissen genau dieser Forschung beruhen, aus dem Ausland eingeführt werden, um hier Menschen zu retten.
Deshalb müssen wir konsequent entscheiden: Chancen, die sich durch die Forschung ergeben, müssen genutzt werden; sie müssen der Menschheit zugänglich gemacht werden. Wir als Gesetzgeber haben aber die Verpflichtung, hierfür einen klaren Gestaltungsrahmen zu setzen. Solch eine klare Haltung des Parlamentes auf der Grundlage des Beschlusses von 2002 ist deswegen sicherlich ein ethisch vertretbarer Weg. Oder um es mit Professor Klaus Tanner von der Universität Halle-Wittenberg zu sagen:
Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch einer Situation kein schwächliches Kapitulieren, sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen Demokratie.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die einmalige Stichtagsverlegung ist solch ein parlamentarischer Kompromiss, ist solch eine Gratwanderung, solch ein schonender Ausgleich. Die heutige Diskussion verlangt jedem von uns ab, dass er mit sich um die bestmögliche Entscheidung ringt. In dem Wissen darum, dass wir mit dieser Entscheidung immer auch Schuld auf uns laden, bietet diese Vorlage die Chance, den wichtigen Bogen zwischen der Ethik des Heilens und der Ethik des Lebens zu spannen. Deutschland verträgt solch eine ethisch fundamentierte Forschungsfreiheit.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Michael Brand.
Michael Brand (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Rede fällt mir heute nicht leicht und ich bitte Sie um einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit für eine persönliche Schilderung. Ich nehme an dieser besonderen Debatte vor dem Hintergrund besonderer Umstände teil, wie sie vielen von uns sicherlich bekannt oder selbst schon begegnet sind.
Nach dieser Debatte werde ich mich nach Hause zu meiner Familie begeben, um meinen krebskranken Schwiegervater in seiner letzten Lebensphase zu begleiten. Gestern Abend war der Pfarrer da und hat den Rosenkranz gebetet. Meine Frau hat mir gestern Abend am Telefon nochmals gesagt, dass ich hier heute meinen Beitrag zu dieser so wichtigen Debatte leisten soll.
So will ich mich auf die Kernpunkte unserer Debatte beschränken. Ich wollte diese persönliche Bemerkung aber deswegen machen, weil mir in den letzten Wochen bei den Diskussionen viele begegnet sind, die gesagt haben - Herr Tauss, es ist so, dass die Diskussion so geführt wurde -: Na ja, die einen sind für das Heilen zuständig und die anderen wissen nicht, wovon sie reden.
Mein Vater ist vor fast acht Monaten nach vielen Operationen an einem Herzleiden gestorben. Im Jahre 1973, meinem Geburtsjahr, ist er kurz nach meiner Geburt an Krebs erkrankt. Ich habe jetzt erlebt, dass mein Schwiegervater alles versucht hat, bis hin zum Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Wir alle stehen vor der Frage, was zu tun ist, um die Chancen auf Heilung zu verbessern. Wie gehen wir diesen Weg zur Heilung der Menschen, ohne das zentrale Gebot des Schutzes der Würde und des Lebens der Menschen zu verletzen?
Ich habe auch deswegen diese persönliche Bemerkung gemacht, liebe Frau Kollegin Flach, weil schon im Titel des Gesetzentwurfes, den Sie unterzeichnet haben, ?für eine menschenfreundliche Medizin? steht. Ich will Ihnen das nicht ersparen: Ich finde es sehr anmaßend, in der Diskussion so zu argumentieren. Deswegen will ich es Ihnen auch nicht ersparen, so zu antworten.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Krankenhaustourismus verhindern wollen. Mit diesem Argument müssten Sie hinsichtlich der Sterbehilfe genauso sagen: Bevor auf deutschen Parkplätzen Medikamente verabreicht werden, lassen wir die Sterbehilfe zu. Ich sage Ihnen dazu nur: Hilfe; denn ich glaube, es muss Grenzen geben.
Wir verzeichnen in Deutschland und weltweit beachtliche Erfolge in der Forschung mit adulten Stammzellen, zum Beispiel bei Herztherapien, Leukämie, Leberkrebs und anderen schweren Krankheiten. Da dies nicht allen hilft, wünscht man sich gerade in der konkreten Situation mehr Hilfe und hofft man auf mehr Fortschritte. Allerdings stimme ich Kollegin Schmidt, Kollegen Schily, Kollegen Hüppe und auch Volker Kauder ausdrücklich zu: Manche Entscheidung entzieht sich eben einem wie auch immer gewünschten Kompromiss.
Meine Überzeugung ist klar: Wir können eine weitere Aufweichung der Grenzen bei der Stammzellforschung nicht verantworten.
Lieber Herr Kollege Meinhardt: Bei allem Leid, bei aller Standortdebatte und auch bei mancher Diskriminierung ethischer Überzeugungen können wir eines nicht zulassen, nämlich die Tötung menschlichen Lebens. Das ist nicht einfach hinnehmbar.
Für mich persönlich heißt ethischer Standard, dass dies unabdingbar ist. Das bedeutet, dass ich bei dieser Gewissensfrage nicht anders kann, als gegen den Gesetzentwurf für die embryonale Stammzellforschung zu stimmen; denn die Nutzung der embryonalen Stammzellen setzt nun einmal das Töten von Menschen voraus. Vor diesem Fakt kann sich niemand drücken, kein Forscher, kein Politiker und auch kein anderer Mensch.
Der Verweis auf andere Länder, andere ethische Sichtweisen und andere Traditionen hilft hier nicht weiter. Wir alle haben uns die Frage zu stellen, ob die einmalige, ausnahmsweise vorgenommene Setzung eines Stichtages aus dem Jahr 2002 gerechtfertigt oder relativ ist. Bleiben wir bei den Standards in den gesetzten Grenzen oder durchbrechen wir diese Grenzen?
Dass der Mensch und seine Würde unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung stehen, ist ein großartiges und in vielen Ländern nicht selbstverständliches hohes Gut. Das dürfen wir nicht gefährden, auch nicht Schritt für Schritt. Alle Wissenschaft und alle Forschung sind zu Recht frei, aber sie stehen unter diesem Vorbehalt.
Heute geht es um die Frage, wer hier diese Grundrechte bei einer kleinen Frage mit großer Wirkung verteidigt. Ich glaube - das zeigt auch die große Ablehnung zur Stammzellenforschung bei jungen Menschen -, dass wir ein hohes Risiko eingingen, wenn wir uns bei konkreten einzelnen Forschungsvorhaben nicht an die weit gezogenen, aber strikt einzuhaltenden Grenzen unserer Verfassung halten.
Ich möchte Sie alle deshalb aufrufen, die Büchse der Pandora nicht weiter zu öffnen. Ich wende mich vor allem an die Zweifler, also an diejenigen, die sich noch fragen, ob der Stichtag dieses eine Mal noch einmal verschoben werden kann. Und ich stelle die zentrale Frage: Glaubt irgendjemand hier im Saal ernsthaft daran, dass wir diese zweite Verschiebung nach dem Prinzip ?Aufgeschoben ist nicht aufgehoben? beschließen und später die Schleuse wieder schließen können?
Es muss niemand meine persönliche Einstellung zum Schutz des menschlichen Lebens teilen, aber eines ist in dieser Debatte doch ganz wichtig: Wenn wir heute der Verschiebung zustimmen, dann ist es vorbei; denn dann wird eine Grenze überschritten, die nicht mehr zu schließen ist.
Nach aller Erfahrung wird sie dann immer weiter verschoben.
Ich möchte Sie daher herzlich bitten: Tun wir das nicht. Lassen wir uns nicht dazu bringen, aus durchaus überzeugend erscheinenden Gründen einen schweren Fehler zu begehen, den wir nicht mehr ungeschehen machen können. Wir müssen mehr als bisher tun, um die erfolgreiche Forschung an adulten Stammzellen, Alternativen mit Nabelschnurblut und vieles andere zu raschen Ergebnissen zu bringen.
Es ist und bleibt bitter, dem Tod und dem Leid ausgesetzt zu sein und manchmal einfach machtlos davorzustehen. Dennoch bitte ich Sie an diesem besonderen Tag: Geben wir nicht die Grenzen auf, bleiben wir bei den Grundfragen menschlichen Lebens wachsam, tun wir bitte nicht alles, was uns technisch möglich ist, weil wir mehr als die Würde und die Achtung vor dem menschlichen Leben verlieren könnten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Horst Seehofer.
Horst Seehofer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mich mit einigen Wertungswidersprüchen beschäftigen, die mich bewegen, seit ich Gesundheitspolitik betreibe.
Ich habe heute niemanden gehört, der dafür eingetreten wäre, dass menschliche Embryonen zu Forschungszwecken produziert werden. Vielmehr geht es ausschließlich um den Fall, wie wir Stammzellen behandeln, die aus Embryonen gewonnen werden, die für eine Schwangerschaft produziert wurden, dafür aber nicht benötigt werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt;
denn damit müssen wir alle die Frage beantworten, wieso wir keine öffentliche Debatte über die Tatsache führen, dass solche überzähligen Embryonen zum Tod verurteilt werden, wenn sie für die Schwangerschaft nicht gebraucht werden, wohl aber eine Debatte über eine Forschung an Stammzellen aus solchen Embryonen.
- Ja, die Tötung ist möglich, nicht aber die Forschung. Dies ist ein gewaltiger Wertungswiderspruch.
Daher stelle ich, der ich für eine Verschiebung des Stichtags eintrete, jedenfalls für meine Person fest: Es geht nicht um eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes - das ist ganz wichtig -, es geht nicht um die Produktion von Embryonen zu Forschungszwecken, und die Forschungsfreiheit erhält keinen Vorrang vor der Menschenwürde. Diese eindeutige Lage kann niemand bezweifeln.
Auch für diejenigen, die für den Stichtag oder seine Verschiebung eintreten, steht die Achtung der Menschenwürde an vorderster Stelle.
Mich bewegt dieses Thema der Wertungswidersprüche so stark, weil im Grunde nur eine gesellschaftliche Kraft, die katholische Kirche, in diesem Punkt in sich schlüssig argumentiert, nämlich von der künstlichen Befruchtung bis zur Forschung an Stammzellen überflüssiger Embryonen. Alle anderen beschäftigen sich nicht mit diesem Wertungswiderspruch, dass Embryonen getötet werden, wenn sie für die Schwangerschaft nicht gebraucht werden, aber bei der Forschung sehr wohl wieder in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtung treten.
Wir müssen uns diesen Spiegel in vielen Bereichen selbst vorhalten. Wir haben ethische Regeln für die Transplantation, die uns aber nicht daran hindern, täglich in Deutschland Organe zu implantieren, die in Europa nach ganz anderen ethischen Regeln gewonnen worden sind. Wir haben ethische Regeln für die Präimplantationsdiagnostik, die uns überhaupt nicht daran hindern, täglich in der deutschen Medizin im Ausland gewonnene Erkenntnisse der Präimplantationsdiagnostik anzuwenden. Wir haben ethische Regeln für Blutspenden und die Produktion von Blutprodukten, was uns überhaupt nicht daran hindert, Blutprodukte, die nach ganz anderen ethischen Regeln zum Beispiel in Amerika gewonnen worden sind, in Deutschland tagtäglich einzusetzen, weil wir sonst unsere Versorgung nicht sicherstellen könnten.
Auf diesen Punkt wollte ich hinweisen, weil es hier nicht um die Frage geht, ob man Embryonen für Forschungszwecke produziert, sondern ausschließlich darum, ob man aus überzähligen Embryonen Stammzellen für die Forschung gewinnen darf. Deswegen ist die These einfach falsch, dass Leben zerstört werde, um forschen zu können.
Meine Damen und Herren, wer sich in der Medizin auskennt, kommt an der Realität nicht vorbei. Da bin ich eher auf der Seite der Mehrheitsmeinung bei der FDP. Die Stammzellforschung ist eines der am ehesten zukunftsträchtigen und vielversprechenden Felder der Biomedizin. Damit verbinde ich ausdrücklich kein Heilsversprechen. Aber es gehört zum Wesen der Grundlagenforschung, dass man das Ergebnis nicht vorhersagen kann. Wenn wir erreichen wollen, dass heute noch nicht beherrschbare oder nicht heilbare Krankheiten überwunden werden können, dann brauchen wir die Grundlagenforschung an embryonalen Stammzellen.
Insofern werden wir einen Prozess erleben, der die Voraussetzung dafür ist, dass heute noch nicht beherrschbare Krankheiten überwunden werden können.
Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt, warum ich für eine Verlegung des Stichtags bin - in Amerika wurde die gleiche Debatte geführt -: Ohne einen Stichtag bestünde in der Tat die Gefahr, dass im Zuge der künstlichen Befruchtung überzählige Embryonen produziert würden, um umfangreicheres Material für Forschungszwecke zu erhalten. Deshalb ist ein Stichtag notwendig, der in der Vergangenheit liegt, damit die Gefahr, dass wegen der Forschung im Zuge der künstlichen Befruchtung überzählige Embryonen entstehen, vermieden wird.
Ich selbst bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht um einen blinden Fortschrittsglauben geht; es geht vielmehr um eine sorgfältige Güterabwägung. Ich glaube, dass diejenigen, die für eine Verlegung des Stichtags eintreten, für sich in Anspruch nehmen können, für einen ethisch verantwortlichen Fortschritt einzutreten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Norbert Geis.
Norbert Geis (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme mit Horst Seehofer darin überein, dass die Freiheit der Forschung nicht unbegrenzt sein kann. Auch wenn Art. 5 des Grundgesetzes keinen Gesetzesvorbehalt kennt, gilt für die Forschung eine immanente Schranke, wenn ein höheres Rechtsgut der Forschung entgegensteht. Das sind immer das Leben und die Würde des Menschen.
Insofern stellt sich die Frage, ob der Embryo Würde und ein Recht auf Leben hat.
Ich stimme mit den meisten in diesem Hause auch darin überein, dass der Embryo von Anfang an ein Mensch ist. Denn wir alle haben als Embryo angefangen. Das ist der Beginn unseres Lebens. Wenn dies so ist, dann gilt der Grundsatz, dass der Embryo von Anfang an - nach Verschmelzung von Ei und Samenzelle - Würde und das Recht auf Leben hat. Deshalb ist der Staat verpflichtet, dieses Grundrecht gegen die Forschung zu schützen.
Das gilt auch vor der Nidation. Die Nidation ist die Voraussetzung für den Fortgang des Lebens. Diese Voraussetzungen gelten aber auch für den geborenen Menschen. Es gibt immer wieder Momente, in denen es darauf ankommt, dass ein Hindernis beiseitegeschoben wird, damit das Leben seinen Fortgang nehmen kann. Die Nidation ist nichts anderes. Sie ist kein neuer sogenannter qualitativer Sprung; vielmehr ist der Mensch auch vor der Nidation ein Mensch. Ich glaube, dass man auch diese Überlegung anstellen muss.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Horst Seehofer hat eben ausgeführt, dass bei der Konservierung der sogenannten - so würde ich es lieber ausdrücken - überzähligen Embryonen eine Tötung erfolgt. Das ist nicht der Fall. Embryonen, die konserviert werden, werden nicht getötet. Sonst müssten sie schließlich nicht konserviert werden. Sie sterben aber, wenn die Konservierung beendet wird.
Aber das ist etwas anderes.
- Lieber Herr Tauss, lassen Sie mich ausreden! Ich habe Sie auch nicht gestört. Wir haben eine hervorragende Debatte geführt, und ich möchte, dass wir in Ruhe weiterreden können.
Nach meiner Auffassung ist es etwas anderes, jemanden sterben zu lassen, als ihn zu töten.
Das ist ein wesentlicher Unterschied. Deswegen ist die eben getroffene Folgerung nicht richtig, dass bei der Konservierung eine Tötung erfolgt, der ?überzählige? Embryo aber nicht getötet werden darf, wenn es um Forschung geht. Dann wird er aber getötet. Der sogenannte überzählige Embryo wird dann zu Forschungszwecken getötet. Um den Embryo zu schützen, haben wir aber das Embryonenschutzgesetz, das offensichtlich auch niemand aufheben will. In Deutschland darf kein Embryo getötet werden, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Diesen Grundsatz wollen wir beibehalten. Das ist in der Diskussion nicht ganz deutlich zum Ausdruck gekommen.
Nun kommt ein weiterer Punkt. Die aus dem getöteten Embryo gewonnene Stammzelle ist mit dem Embryo nicht identisch; das muss man anerkennen. Sie hat deshalb keinen unmittelbaren Anspruch auf Schutz des Lebens und der Würde. Aber sie steht in einem engen Verhältnis zum Embryo. Sie war Embryo, bevor der Embryo getötet wurde, um sie zu gewinnen. Deswegen wirkt das Recht auf Leben - das wissen wir seit der Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus einem anderen Zusammenhang -, der Anspruch auf Würde gewissermaßen über den Tod des Embryo hinaus und erstreckt sich auch auf die embryonale Stammzelle. Deswegen tun wir uns so schwer und haben einen Stichtag eingeführt. Von Deutschland soll kein Anreiz ausgehen, Embryonen im Ausland zu töten, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Dies haben wir 2002 so beschlossen. Richtiger wäre die Auffassung von Hubert Hüppe, der sagt: Auch dann darf es keine Forschung an Stammzellen geben. Das ist konsequent. Darauf haben der Kollege Schily und andere hingewiesen. Man kann eigentlich nur Ja oder Nein sagen; denn wenn man davon ausgeht, dass auch die Stammzelle Würde hat, weil sie vom Embryo stammt, dann darf man daran eigentlich nicht forschen.
Wir haben aber den Kompromiss aus dem Jahre 2002 zu achten; davon müssen wir ausgehen. Nun geht es darum, ob wir den Stichtag, den wir eingeführt haben, damit kein Embryo im Ausland getötet wird, um in Deutschland an Stammzellen zu forschen, verschieben. Ich schließe mich hier all den Argumenten an, die von Volker Kauder in sehr eindrucksvoller Weise vorgetragen wurden. Wenn wir den Stichtag aufgeben, werden wir im Ausland nicht mehr ernst genommen.
Von Deutschland wird dann der Anreiz ausgehen, im Ausland Embryonen zu töten, um Stammzelllinien nach Deutschland einzuführen.
- Diese Befürchtung muss man haben, Herr Tauss. Sie liegt auf der Hand.
Wir werden nicht mehr ernst genommen werden. Außerhalb Deutschlands wird man sagen: Die Deutschen meinen es mit ihrem Stammzellgesetz nicht ganz so ernst, genauso wenig wie mit ihrem Embryonenschutzgesetz. Diesen bösen Anschein dürfen wir nicht erwecken. Deswegen müssen wir uns diesen Überlegungen widersetzen und am vorhandenen Stichtag festhalten.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kerstin Griese.
Kerstin Griese (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich richte mich bei meiner Entscheidung zugunsten eines Gesetzentwurfs nach meinen ethischen, christlichen Grundwerten. Viele in diesem Parlament tun das, kommen aber zu unterschiedlichen Entscheidungen. Ich glaube, das muss in dieser Debatte möglich sein.
Genauso wie bei den Patientenverfügungen muss man anerkennen, dass man aufgrund christlicher Grundüberzeugungen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen kann.
Mir ist es wichtig, was meine Kirche zu diesem Thema sagt. Es ist aber gut, dass es eine Vielfalt in den Positionen der christlichen Kirchen in dieser Frage gibt.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei der katholischen und der evangelischen Kirche für viele Stellungnahmen und Ausführungen. Es ist richtig und wichtig, dass sie sich in die Diskussion über ethische Grundwerte einschalten. Ich will aber auch deutlich sagen: Gleichzeitig müssen die Kirchen Raum für die Gewissensverantwortung jedes einzelnen Christen und jeder einzelnen Christin in diesem Parlament und darüber hinaus geben.
Ich möchte sagen, welche Grundsätze mir aus ethischer Verantwortung wichtig sind, welche Argumente mich bewogen haben, den Gesetzentwurf von Herrn Röspel und anderen auf eine einmalige Stichtagsverschiebung zu unterstützen. Wir müssen eine klare Regelung finden. Ich weiß nicht, warum hier so negativ über den Kompromiss gesprochen wird. Ich glaube, das geltende Stammzellgesetz stellt eine klare Regelung dar, die deutlich macht, dass keine Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen zerstört werden. Das wird im Ausland sehr ernst genommen, weil es eine klare Regelung ist, eine deutlichere als in vielen anderen Ländern.
Wir müssen eine Regelung finden, die es uns ermöglicht, Heilungschancen zu nutzen, wenn es solche - das kann noch niemand wissen - in Zukunft gibt. Bischof Huber, der EKD-Ratsvorsitzende, ist heute schon häufiger zitiert worden. Er hat sich für die einmalige Verschiebung des Stichtages mit dem Argument ausgesprochen: Starre Argumentationen können Lösungen auch verhindern. Ich glaube, das ist ein sehr kluges Argument. Er hat weiter gesagt, es sei gerade im Sinne des Lebensschutzes, den Stichtag nicht abzuschaffen, sondern einen Weg zu finden, das Stammzellgesetz von 2002 fortzuschreiben. Deshalb habe ich mich für die Verschiebung des Stichtages ausgesprochen, und ich will ganz deutlich sagen: Das ist eine klare, eine sehr strenge, eine sehr restriktive Regelung, die sehr viel restriktiver als die Regelungen in allen anderen Ländern der Welt ist.
Es sind besonders drei Argumente, die mich bewogen haben, für diese Haltung zu plädieren. Erstens. Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher nicht kennt.
Das ist eine Binsenweisheit, aber es liegt in der Natur der Forschung, dass man vorher nicht weiß, was dabei herauskommt. Ob die embryonale Stammzellforschung nun wirklich ergebnislos ist, wie heute einige sagten und zu wissen meinen,
können wir nicht sagen. Das muss und wird die Forschung ergeben.
Deshalb müssen wir die Forschung mit adulten Stammzellen - das tun wir auch - stärken. Genau das brauchen wir. Wir sollten uns hier und heute nicht anmaßen, schon zu wissen, dass embryonale Stammzellforschung keine Ergebnisse zeitigen und dass es keine Heilungschancen geben wird. Deshalb sage ich noch einmal: Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher nicht kennt. Deshalb muss man sie ermöglichen.
Mein zweites Argument. Die strengen ethischen Regeln, die das deutsche Stammzellgesetz vorsieht, können nur erhalten bleiben, wenn dieses Gesetz weiterentwickelt wird, wenn wir der einmaligen Verschiebung zustimmen; denn - ich habe es schon gesagt - im internationalen Vergleich sind diese Regelungen sehr restriktiv. Es gibt keine Zerstörung von Embryonen zum Zwecke der Forschung in Deutschland, und es gibt auch keinen Anreiz im Ausland zur Zerstörung von Embryonen für die Forschung in Deutschland, weil wir diese klaren Regelungen haben. Der Gesetzentwurf des Kollegen Röspel und anderer schreibt diese Regelungen fort.
Mein drittes Argument. Wir sind keine Insel in Deutschland, und wir können auch keine Insellösung finden. Was passiert denn, wenn mithilfe der embryonalen Stammzellforschung in anderen Ländern Erkenntnisse gewonnen werden, mit denen auch bei uns in Deutschland Menschen geheilt werden könnten? Wie gehen wir mit solchen Ergebnissen um? Muss dann ein Arzt oder eine Ärztin sagen: Aus ethischer Verantwortung wende ich diese Ergebnisse nicht an?
Ich glaube, Grundlage von Ethik ist, Mitleid haben zu können. Eine Ethik ohne Mitleid gibt es nicht, hat mir Margot von Renesse gestern für diese Debatte mit auf den Weg gegeben. Mitleid ist ein Teil von Ethik. Man muss sich um Menschen kümmern wollen, Menschen heilen wollen. Auch das ist Ethik. Wir können uns nicht wie auf einer Insel vor dem verschließen, was im Rest der Welt geschieht.
Mich haben besonders diese drei Gründe bewogen, für eine Verschiebung des Stichtages zu stimmen, übrigens im Sinne der Menschenwürde - das nehme ich ausdrücklich auch für mich und die anderen, die diesen Gesetzentwurf unterschrieben haben, in Anspruch -, im Sinne ethischer Grundlagen, die wir nicht nur auf dem Papier stehen haben wollen, sondern die wir anwenden und die wir tatsächlich bei uns leben wollen. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollegin Marlies Volkmer hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Deswegen erteile ich jetzt Peter Hintze das Wort.
Peter Hintze (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte eint uns die Überzeugung, dass der Schutz des Lebens des Menschen den rechtlichen und moralischen Kern unserer Zivilisation darstellt.
Ich möchte uns bitten, dass wir in dieser Debatte nicht in falsche Alternativen geraten, wenn es um die Menschenwürde, wenn es um den Schutz des menschlichen Lebens und wenn es um die Heilung der Menschen geht. Die von Immanuel Kant bis Volker Kauder
geäußerte These unterstütze ich - ich werde es gleich erläutern - nachdrücklich, nämlich dass es Grenzen des Handelns geben muss. Ich unterstütze nachdrücklich die These, dass kein noch so hoher medizinischer Zweck eine Verzweckung des Menschen gestatten würde. Das ist überhaupt nicht die Alternative, über die wir hier reden.
Wir sagen, der rechtliche und moralische Kern unserer Zivilisation ist der Lebensschutz. Wer kümmert sich denn in Deutschland und in der Welt mehr um den Schutz des Lebens als unsere Ärzte, als die Biologen und Wissenschaftler in der medizinischen Forschung? Die Medizin ist von ihrer Natur her Lebensschutz.
Die Mediziner, die um diesen Lebensschutz ringen, bitten uns in großer Einhelligkeit - übrigens ein interessanter Unterschied im Vergleich zu 2001 - darum: Gebt uns diese Möglichkeit auf dem hoffnungsvollsten Feld der Medizin, nämlich dem der regenerativen Medizin! Gebt uns die Möglichkeit, dem Menschen in seinem Leben zu helfen!
Kollege Schily und Kollege Kauder haben gesagt, dass man dazu eine Entscheidung treffen muss. Die Entscheidung hängt natürlich mit unserem Menschenbild zusammen. Ich glaube, auch darin sind wir uns wieder einig.
Volker Kauder hat die Frage aufgeworfen, wann menschliches Leben beginnt. Er hat die Theorie vom frühestmöglichen Zeitpunkt angesprochen. Dieser Theorie kann man zustimmen. Aber ich finde, wenn man den Beginn des menschlichen Lebens auf diese biologische - um das harte Wort ?biologistisch? zu vermeiden - Weise definieren will, dann muss man auch der Logik recht geben. Menschliches Leben kann doch wohl frühestens dort beginnen, wo bei weiterer Entwicklung auch ein Mensch entsteht.
Die Vorverlegung dieses Zeitpunktes ist meiner Ansicht nach logisch ausgeschlossen. Wenn man sich auf eine solche biologische Definition einlassen will, dann entsteht der Mensch, wenn sich die befruchtete Eizelle im Mutterleib einnistet. Dann entsteht ein Mensch.
Wenn wir nach dem frühesten Zeitpunkt fragen, dann haben wir ihn damit bestimmt.
Jetzt will ich ein ethisches Urteil sprechen: Für mich hat ein kranker Mensch, um dessen Heilung es geht, in der Tat einen höheren Stellenwert als die sehr achtenswerte biologische Substanz, aus der ein Mensch entstehen kann. Ich bin der Meinung, damit muss man würdevoll umgehen. Aber für mich hat ein kranker Mensch Vorrang vor einer befruchteten Eizelle, die wir tiefgekühlt in einem Stahlbehälter im Labor der Reproduktionsmedizin aufbewahren. Übrigens fragt niemand, ob das der Menschenwürde entspricht.
Wer diesen Unterschied nicht macht, wer meint, eine befruchtete mikroskopisch kleine Eizelle in der Petrischale ist vom gleichen Wert wie ein kranker Mensch, dem geholfen werden muss, wer lieber den kranken Menschen sterben lässt,
als diese gespendete überzählige Eizelle zur Verfügung zur stellen, der kann natürlich sagen: Ich bin konsequent. Das ist ganz klar. Aber Konsequenz hat Menschen schon oft sehr geschadet. Ich bin für eine menschenfreundliche Konsequenz. Und die menschenfreundliche Konsequenz lautet: Wenn uns die Medizin in Deutschland, die Menschen, die für den Lebensschutz arbeiten und um ihn kämpfen, darum bitten, dann sollten wir diese Möglichkeit rechtlich auch erschließen, unabhängig von der Frage, ob das unser Grundgesetz nicht sowieso gebietet.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zum Wissenschaftsverständnis anführen. Wer Wissenschaft so versteht, dass Forschung dort erlaubt ist, wo die Forscher von vornherein das therapeutische Endergebnis garantieren, der hat Wissenschaft nicht verstanden.
Der Charakter der Wissenschaft ist ihre Offenheit. Daraus erwachsen Ergebnisse, und zwar erstaunliche Ergebnisse, die den Menschen sehr helfen. Ich möchte, dass unsere verantwortlichen Forscher dieses Recht bekommen.
Deswegen bin ich für die Abschaffung der entwürdigenden Kriminalisierung und Strafandrohung. Deshalb bin ich dafür, dass wir den Stichtag aufheben und es bei den anderen guten Regelungen belassen, die sicherstellen sollen, dass wir einer Ethik des Heilens Rechnung tragen. Das können wir durch unsere Beschlussfassung in diesem Parlament.
Ich danke Ihnen sehr.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Steffen Reiche.
Steffen Reiche (Cottbus) (SPD):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten und wollen einen Kompromiss finden. Wir finden uns gespalten in fünf Beschlussvorschläge - so viele Gruppen wie Fraktionen. Kompromiss heißt, zuzusagen, sich der Entscheidung eines Schlichters zu beugen. Schlichter kann hier nur der Gesetzgeber als Ganzes, also der Bundestag sein.
Durch einen Kompromiss wird niemand kompromittiert.
Unser Gesetzentwurf beinhaltet einen Kompromiss zwischen divergierenden, gut begründeten Positionen, indem eine einmalige Verschiebung des Stichtages und die Begrenzung der Reichweite der Strafandrohung auf das Inland beschlossen werden sollen. Ja, die Positionen stehen unvermittelbar im Raum; aber gerade deswegen ist ein Kompromiss notwendig.
Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat unseren Vorschlag im vergangenen November - anders als ein Jahr zuvor - im Wesentlichen als tragfähigen, glaubwürdigen Kompromiss angesehen. Also gab es auch hier keine Änderungen bei den ethischen Grundlagen, wohl aber bei der daraus entwickelten Position.
Wir schreiben hier einen schon einmal erzielten Kompromiss einmalig fort. So wie damals sichert er eine Balance zwischen Embryonenschutz und Forschungsfreiheit. Mir sind folgende Argumente besonders wichtig:
Wir fördern mit europäischem Geld aus guten, mit der Mehrheit des Europäischen Parlaments beschlossenen Gründen auch die embryonale Stammzellenforschung. Wenn mit deutschem Fördergeld gefördert wird, was deutsche Forscher in Deutschland nicht dürfen, ist das nicht konsequent.
Die Debatte, die wir heute führen, ist eine zu Recht häufig geführte, und sie wird auch nach diesem Beschluss geführt werden und werden müssen. Seinerzeit, Mitte Juni 2006, als es um die Fortschreibung des EU-Forschungsrahmenprogramms ging, entzündete sich die Debatte im Europäischen Parlament genau an der Frage, ob dieses Förderprogramm eben auch die Forschung unter Verwendung menschlicher Stammzellen, sowohl adulter wie embryonaler, ermöglichen soll. Ergebnis der Diskussion war auch hier ein vernünftiger Kompromiss: Ja, die EU fördert diese Forschung, aber nur nach Maßgabe des Inhalts des wissenschaftlichen Vorschlags, nach den rechtlichen Rahmenbedingungen des betreffenden Mitgliedstaats und unter Einhaltung strenger, EU-weit geltender Genehmigungs- und Überwachungsvorschriften.
Mit der einmaligen Verschiebung ermöglichen wir die seit langem und mit Nachdruck geforderte europäische und internationale Forschungskooperation. Noch ist die deutsche Forschung auf diesem Gebiet gefragt. Stehen deutschen Forschern mit einem Beschluss der einmaligen Stichtagsverschiebung statt 21 dann rund 260 der im neuen Stammzellregister geführten Zelllinien zur Forschung zur Verfügung, wird in den nächsten Jahren klar werden, welcher Weg um der Menschen willen weiter verfolgt werden sollte: der der adulten oder auch der der embryonalen Stammzellenforschung.
Damit diese Frage endlich beantwortet werden kann, sollte eine der weltweit erfolgreichsten Forschungslandschaften, nämlich die deutsche, diese derzeit global bearbeitete Frage mit klären können. Lebensschutz ist uns von der Verfassung aufgetragen, von der Zeugung bis zum Tod. Aber wie wir Leben schützen, dafür gibt uns die Verfassung einen Freiraum. Mit der Regelung über die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches oder die erlaubte Nutzung der Spirale ist in Deutschland dieser Raum genutzt worden.
Die deutsche medizinische Forschung darf sich nicht selbst von einer medizinischen Entwicklung innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft abschneiden. Das ist in der Begründung der Gesetzesinitiative zur ersatzlosen Streichung der Stichtagsregelung richtig erkannt worden. Unser Kompromiss der einmaligen Verschiebung des Stichtags fügt dem aber ein entscheidendes Detail hinzu: Wir müssen sowohl mit unseren Forschungsfortschritten als auch mit den berechtigten ethischen Vorbehalten argumentieren dürfen. Verbleibt es bei der jetzigen Situation, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man deutschen Stammzellforschern nicht mehr zuhört. Aber käme es zur ersatzlosen Stichtagsabschaffung, würden wir die Möglichkeit, aus ethischen Gründen Widerspruch zu erheben, gänzlich abschaffen. Damit liegt der vernünftige Kompromiss auf der Hand.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung, die der Deutsche Bundestag nach Abschluss seiner Beratungen zur Stammzellgesetzgebung zu treffen hat, ist nicht nur für Deutschland bedeutsam. Von ihr gehen auch Signale an die internationale Wissenschaftswelt aus. Forschung ist international vernetzt. Unser Wertefundament endet nicht an nationalen Grenzen, sondern ist Teil einer europäischen Wertetradition.
Die besondere Stellung des Menschen als Individuum, die Überzeugung von der Würde eines jeden Menschen und davon, den grundlegenden Wert des Lebensschutzes zu achten, sind nicht Sondermoral, sondern kulturelles Fundament für die Forschung in dieser Tradition - in Deutschland und in Europa.
Genau davon sind das Stammzellgesetz und das Embryonenschutzgesetz geprägt, das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990, das Stammzellgesetz aus dem Jahr 2002.
Wissenschaft und Politik in Deutschland haben bei der Frage der Stammzellforschung einen weitreichenden Konsens erzielt - quer durch die Fraktionen, im Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. Nenne man mir ein Land der Welt, in dem der Konsens so groß ist wie in Deutschland und in dem das Fundament im Blick auf den Schutz des Lebens und die Heilung von Krankheiten so stabil ist wie in Deutschland!
Das haben gerade die Debatten der vergangenen Monate gezeigt: Niemand will die grenzenlose Forschung. Niemand stellt das Embryonenschutzgesetz in Frage. Wissenschaft und Politik führen seit Monaten einen ernsthaften Dialog, der auch für andere Länder beispielgebend ist.
Das Signal, das vom Stammzellgesetz in Deutschland bislang ausgeht und nach meiner Überzeugung auch in Zukunft ausgehen soll, lautet: Erstens. Es darf keine Herstellung von menschlichen Embryonen zum Zweck der Forschung geben. Zweitens. Es darf von Deutschland kein Anreiz zum Verbrauch von Embryonen für die Forschung ausgehen.
Der Import von embryonalen Stammzelllinien, gewonnen aus menschlichen Embryonen, darf nur im Ausnahmefall und für einen streng definierten Korridor der Forschung erfolgen. Seit Inkrafttreten des Stammzellgesetzes wurden 25 Anträge bewilligt. In jedem Antrag muss dargelegt werden, dass keine Alternative zu dem Weg existiert, der beantragt wird.
Der damalige Justizminister Klaus Kinkel schrieb 1990 im Vorwort zum Embryonenschutzgesetz: Das Embryonenschutzgesetz ist im europäischen Vergleich die umfassendste Regelung der mit der Fortpflanzungsmedizin zusammenhängenden strafrechtlichen Fragen.
Auch das sollten wir also sagen: Nirgends sonst in Europa ist eine so klare Regelung sämtlicher strafrechtlichen Fragen erfolgt.
Die Stammzellgesetzgebung in Deutschland gilt bis heute als eine der restriktivsten Regelungen; ich sage: als eine der verantwortungsbewusstesten Regelungen überhaupt.
Beide Gesetze haben dazu beigetragen - davon bin ich überzeugt -, dass man sich in Deutschland erfolgreich auf solche Stammzellforschung konzentriert hat, die vor allem ethisch unbedenkliche Alternativen - sprich: Quellen für die Gewinnung embryonaler Stammzelllinien - sucht. Glaube niemand, irgendwann brauche man embryonale Stammzelllinien nicht mehr! Natürlich werden sie gebraucht. Die Frage ist nur, woher wir diese Stammzelllinien gewinnen. Deshalb sind die neuen Durchbrüche so wichtig für die Zukunft dieser Forschung, die die Basis der regenerativen Medizin, der Medizin im 21. Jahrhundert sein wird.
Wenn ich immer höre, man solle jetzt endlich mehr für adulte Stammzellforschung tun, muss ich noch einmal eine Zahl nennen: 97 Prozent der Mittel sowohl des Ministeriums wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind in Alternativen, also in Forschung mit tierischen und adulten Stammzellen, geflossen.
Um noch eine Zahl zu nennen: Im gesamten Zeitraum seit Anfang 2000 hat das Forschungsministerium 49 Millionen Euro ausgegeben. Allein der neue Förderschwerpunkt ?Wege der Reprogrammierung?, den ich im letzten Jahr verkündet habe, wird jährlich mit bis zu 10 Millionen Euro dotiert sein. Ich habe erklärt: Am Geld wird es nicht liegen. Was notwendig ist, wird finanziert werden.
Noch vor fünf Jahren, noch vor drei Jahren glaubte niemand, dass Reprogrammierung möglich ist. Das hat in der damaligen Debatte keine Rolle gespielt. Genau hier setzt das Dilemma im Blick auf die ethische Bewertung ein, in dem wir jetzt stehen. Ich sage noch einmal sehr deutlich - das kann einem ethisch passen oder nicht; mir passt es auch nicht hundertprozentig -: Zu moralischer Integrität gehört auch, dass ich nicht einfach ignoriere, was mir nicht passt. Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass Reprogrammierung ohne embryonale Stammzellforschung nicht funktionieren kann und dass alles, was Yamanaka und Thomson gemacht haben, auf Erkenntnisse aus der embryonalen Stammzellforschung angewiesen ist. Wir wüssten sonst - so hat es ein Berliner Forscher gestern gesagt - nicht einmal, wann aus einer Hautzelle eine embryonale Stammzelle geworden ist. Diese Tatsachen können forschungspolitisch nicht ignoriert werden.
Natürlich, Frau Hinz, hat diese Forschergruppe mit sogenannten alten Stammzelllinien gearbeitet. Aber jeder in der Forschung weiß, dass sich an den Durchbruch, der jetzt erreicht wurde, gleichsam eine Überprüfungsphase anschließt. In dieser Überprüfungsphase ist es notwendig, wenn es denn je um die Entwicklung von Therapien gehen soll, auf qualitativ einwandfreie Stammzelllinien zurückgreifen zu können.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident; ich sehe das Blinklicht. - Mit den vor 2002 gewonnenen Stammzelllinien lässt sich forschen. Ja, das bezweifelt niemand. Aber um die neuen Wege der Reprogrammierung zum Erfolg zu bringen, um also das zu erreichen, was wir wollen, nämlich ethisch unbedenkliche Quellen für Stammzellen, ist der Rückgriff auf qualitativ bessere und neuere Stammzelllinien notwendig. Die Forschung in diesem Feld braucht Überprüfung, wenn ich Alternativen will, wenn ich also will, dass Deutschland zu einem Motor für die Entwicklung ethisch unbedenklicher Alternativen wird. Aus diesem Grunde halte ich die Verlegung des Stichtages für verantwortbar. Was wir damit ermöglichen, bedeutet nach meiner festen Überzeugung weder Dammbruch noch grenzenlose Forschung. Wir sorgen damit nicht für eine Liberalisierung des Gesetzes, sondern für eine Weiterentwicklung, die der Intention des Gesetzes von 2002 entspricht.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Jung, Krings, Willsch, Eisel, Weiß (Emmendingen), Fischer (Karlsruhe), Mißfelder, Liebing, Eymer (Lübeck), Knoche und Volkmer.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7981, 16/7982, 16/7983, 16/7984 und 16/7985 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nach dieser intensiven Debatte, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zu einem anderen Tagesordnungspunkt, dem Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Herbert Schui, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent
- Drucksachen 16/4485, 16/6732 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Barbara Höll
Ich weise darauf hin, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion, das Wort.
Lydia Westrich (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich warte vielleicht noch ein bisschen, bis sich die Unruhe etwas gelegt hat.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie dieser Debatte nicht mehr folgen wollen, dann bitte ich Sie, Ihre Gespräche außerhalb fortzusetzen.
Lydia Westrich (SPD):
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kinderarmut zu bekämpfen ist ein Ziel, dem sich das ganze Hohe Haus verschrieben hat. Die Quote der in Armut lebenden Familien in Deutschland ist viel zu hoch. Natürlich ist das materielle Wohl der Kinder nicht allein ausschlaggebend für ihr glückliches und gesundes Aufwachsen. Was dazu nötig ist, können wir von Staats wegen nicht beeinflussen. Aber immer mehr Familien sind nur deshalb, weil sie Kinder haben, auf Grundsicherung angewiesen. Bei Familien mit mehreren Kindern steigt das Armutsrisiko.
Diese Armut beeinträchtigt natürlich die Möglichkeiten sozialer, gesundheitlicher und auch kultureller Entwicklung der Kinder. Das nehmen wir als Regierungsfraktionen nicht einfach hin.
Zug um Zug rücken wir - die Koalitionsfraktionen, Bundesregierung, Länder und Kommunen, aber auch viele gesellschaftliche Partnerorganisationen - diesem Problem zu Leibe. Das Ganztagsschulprogramm, der Kinderzuschlag, die Wohngelderhöhung, die BAföG-Erhöhung, die Mehrgenerationenhäuser, der Ausbau der Kinderbetreuung sind ganz wichtige Bausteine, die wir bereits auf den Weg gebracht haben.
Deren Ergebnisse werden sich in Kürze zeigen.
Nur ein kleines Beispiel: Durch die durch unser Programm ermöglichte Einrichtung der Ganztagsschule ist es in meiner Region, in der Regionalen Schule Wallhalben, gelungen, fast alle Kinder wenigstens mit Haupt- oder Realschulabschluss ins Leben zu entlassen. Die individuellen Fördermöglichkeiten ersetzten teure Nachhilfestunden und eröffneten den Kindern neue Welten. Das ist wirkungsvolle Armutsbekämpfung.
Was liegt uns heute vor? Ein Antrag, der vorspiegelt, die große Sorge der Kinderarmut durch ein paar Drehungen an diversen Schräubchen beheben zu können. Das ist angesichts dieser Aufgabe mehr als unredlich.
Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite, benutzen die Not der betroffenen Familien, um hier wieder einmal eine ganz große Show abzuziehen.
Ihr Antrag ?Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent? ist jetzt bald ein Jahr alt. Inzwischen sollten Sie, eventuell belehrt von Exfinanzminister Oskar Lafontaine, gelernt haben, dass wir alle hier, auch Sie, dieser Forderung nicht entsprechen können, weil sie EU-rechtswidrig ist, sehen wir einmal davon ab, wie sinnvoll eine solche Maßnahme wäre. Gegen Polen wurde jetzt wegen solcher Maßnahmen von Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Über diese offenkundige EU-Rechtswidrigkeit lassen Sie auch noch namentlich abstimmen. Da sieht man einmal, wie Sie zu Europa stehen. Bei dieser Farce fällt es zumindest auch denjenigen leicht, dagegen zu stimmen, die aufgrund des Tenors Ihres Antrags vielleicht noch damit geliebäugelt haben. Sie führen mit dieser Maßnahme doch nur vor, wie wichtig Ihnen die Bekämpfung der Kinderarmut in Wirklichkeit ist. Es macht mich zornig, wie Sie die Nöte und Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger instrumentalisieren.
Vor drei Wochen fast um dieselbe Zeit hat Herr Gysi an diesem Rednerpult Vorschläge gemacht, wie er Kinderarmut bekämpfen würde, leidenschaftlich und lautstark, wie er ist. Am Schluss seiner Rede erklärte er, dass alles leicht über Steuererhöhungen - er sprach von 120 Milliarden Euro jährlich - zu finanzieren sei. Und worüber reden wir heute, drei Wochen später, aufgrund seines Antrags? Nicht über mehr, sondern über weniger Steuern. Das Merkwürdigste dabei ist, dass jeder weiß, dass dieses Geld kaum den Familien zugutekommen wird, die es brauchen. Sie stopfen es den Unternehmen in den Rachen, die Sie sonst immer mit mehr Steuern belegen wollen.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, einen Vergleich der Preise für Kinderkleider in mehreren Ländern anzustellen. Das war schwierig; denn selbst in Deutschland gibt es häufig unterschiedliche Preise in den einzelnen Regionen. Aber ich habe es doch geschafft. Zum Beispiel ein Babylangarmshirt von derselben Firma kostet in Österreich 3,19 Euro, in Tschechien - ermäßigter Steuersatz - 3,74 Euro, in Deutschland 2,99 Euro, in Großbritannien 3 Pfund, also mehr als 4 Euro. Ungefähr das Gleiche gilt für Pampers und anderes. In Großbritannien ist Kinderkleidung ganz von der Mehrwertsteuer befreit; dennoch war das Shirt dort am teuersten. Wer hat in dem Fall den Profit?
Außerdem ist die Kinderarmut in dem von Ihnen als Beispiel genommenen Großbritannien noch weit höher als in Deutschland. Was wollen Sie also mit diesem Antrag bewirken?
Ich nehme an, dass Sie sich schon vor dem Verfassen des Antrags über die tatsächlichen Verhältnisse schlau gemacht haben. Also wissen Sie, dass das ein reiner Schaufensterantrag ist. So einen Umgang haben die Familien wirklich nicht verdient.
Falls die EU-Kommission die Babywindeln in den Katalog der ermäßigten Steuersätze aufnimmt, was wir dann natürlich auch tun, können wir allein an diesem Beispiel studieren, wie sich die Preise entwickeln werden. Dass das am Ende dem Verbraucher nutzt, bezweifle ich sehr.
Stimmten wir aber Ihrem Antrag zu, hätten wir zuverlässig hohe Steuerausfälle. Um das zu erkennen, brauche ich mir nur die Schreiben auf meinem Tisch anzuschauen: Die deutschen Freizeitparks sind familienfreundlich, Mineralwässer und Medikamente für Kinder ebenso. Wie sieht es mit der Bahn aus? Auch Bahnfahren ist familienfreundlich. Nette Familienrestaurants gibt es ebenfalls. Sehr viele würden vorgeben, Produkte für Kinder herzustellen bzw. Dienstleistungen für Kinder zu erbringen. Ein Milliardenloch würde so entstehen. Zusätzlich erwartet uns ein teures Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel. Die von Herrn Gysi anvisierten 120 Milliarden Euro Steuererhöhung würden also nicht ausreichen. Da müssten Sie kräftig noch etwas drauflegen. Ihr Antrag ist wirklich ein schlechter Witz, obwohl niemand bei diesem Thema lachen kann.
Mit einer Minderung der Umsatzsteuer, meine Damen und Herren von der Linken, entziehen Sie Bund, Ländern und Gemeinden das Geld, das gebraucht wird, um all das zu finanzieren, was Familien zugute kommt. Ich nenne beispielsweise beitragsfreie Kindergärten, Kinderpsychologen und Gesamtschulen, wie sie in Rheinland-Pfalz - von den Eltern gefordert und vom Land gefördert - auch in ländlichen Gebieten wohnortnah entstehen.
Der von Ihnen zitierte Christoph Butterwegge analysiert, dass sich Kinderarmut in der Regel auf Mütterarmut zurückführen lässt. Er sieht den Schlüssel zur Verringerung dieser Armut in einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen. Mütter sollen Geld verdienen, so schreibt er. Wenn ich Ihren Kronzeugen ernst nehme, dann komme ich zu dem Schluss: Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wir können ein höheres Kindergeld beschließen sowie Ganztagsschulen, Kinderbetreuung und anderes einführen. Wie die rot-grüne Koalition wird auch die Große Koalition die Familienförderung weiterentwickeln. Das Wichtigste ist aber, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Denn Arbeitslosigkeit macht arm - nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Schauen wir einmal auf den rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt. In keinem Jahr konnte in Rheinland-Pfalz die Arbeitslosigkeit so deutlich abgebaut werden wie im Jahr 2007. Der Abbau hat alle Personengruppen erreicht: Frauen, Männer, Jugendliche und auch viele Bezieher von Arbeitslosengeld II. Natürlich ist das dem konjunkturellen Aufschwung geschuldet, aber auch unseren Arbeitsmarktreformen. Das ist eine nachhaltige Bekämpfung der Armut.
Die Mindestlöhne, die wir auf den Weg gebracht haben, ziehen Familien aus der Armut. Auf diesem Weg werden wir weitermachen. Ich bin davon überzeugt, dass der Armuts- und Reichtumsbericht ganz anders ausschauen wird, wenn wir es geschafft haben, Mindestlöhne flächendeckend durchzusetzen, sodass Menschen, die arbeiten, nicht noch zusätzlich Unterstützung vom Staat brauchen.
Wir werden es schaffen - allerdings nicht mit Ihren Forderungen nach immensen Steuererhöhungen, meine Damen und Herren von der Linken. Denn dadurch verschwinden die Arbeitsplätze so schnell, wie sie entstanden sind.
Da Sie die 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die Kinder ausgeben wollen, bleibt für einen öffentlich unterstützten Arbeitsmarkt nichts übrig, es sei denn, Sie würden noch etwas oben drauflegen. Mit Ihren Plänen stürzen Sie die Familien geradezu in Armut.
Ich komme zurück zur Mehrwertsteuer, die für die Durchsetzung so vieler Ziele einschließlich der Verminderung der Schuldenlast der öffentlichen Haushalte bestimmt ist. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, gerade wenn wir uns mit dem Thema Kinder beschäftigen.
Die Liste der Dinge, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, ist zugegebenermaßen kaum noch nachvollziehbar. Sie ist in vielen Jahren gewachsen und verändert worden. Neu hinzugekommen sind nun die Bergbahnen. Ich wünsche mir zum Beispiel die Aufnahme der Kunstfotografie. Die Begehrlichkeit von allen Seiten, in das verwirrende System der ermäßigten Steuersätze aufgenommen zu werden, nimmt zu. Wir Finanzpolitiker werden uns diese Liste in Kürze genauer anschauen müssen. Herr Wissing, Kaviar ist übrigens nicht mit dem ermäßigten Steuersatz belegt, wie Sie das immer behaupten.
- Man kann immer etwas finden. - Wir werden uns diese Liste, wie gesagt, genauer anschauen müssen, um eine Linie zu finden. Diese Linie könnte zum Beispiel sein, leibliches und geistiges Wohl durch einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu unterstützen und alles andere dem normalen Steuersatz zu unterwerfen.
Das wird eine sehr spannende Diskussion, auf die mich schon jetzt freue. Aber heute bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag abzulehnen, weil er die Familien benutzt, ihnen aber in keiner Weise nutzt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing, FDP-Fraktion.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag scheint zwar jetzt auf Ablehnung zu stoßen. Aber ich kann Ihnen sagen: Sie haben auch Befürworter, zum Beispiel jemanden im Bundeskanzleramt. Dort gibt es eine große Fürsprecherin Ihres Antrages. Staatsministerin Maria Böhmer hat dazu Folgendes gesagt - ich zitiere sie -: Das ist ein ?zielgerichteter Vorschlag für eine familienfreundliche Steuerpolitik?.
Sie sehen, es geht wie Kraut und Rüben durcheinander. Sie haben im Bundeskanzleramt auch noch andere Fürsprecher. Die Bundeskanzlerin selbst hat gesagt, sie könne nicht ausschließen, dass mittelfristig der ermäßigte Steuersatz für die meisten Kinderprodukte gelten solle.
Nun werden Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union, sagen: Diese Aussagen sind schon zwei Jahre alt. Zwei Jahre sind natürlich eine lange Zeit für eine Regierungsfraktion. Damals wurden viele Steuersenkungsversprechungen gemacht, und am Ende wurde kräftig erhöht; das wissen wir alle. Die Erinnerungslücke, was die Wahlversprechen in der Steuer- und Finanzpolitik angeht, ist bei den Regierungsfraktionen schon beängstigend.
2005 haben Sie den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Kinderartikel gefordert, und 2007 haben Sie noch einmal 3 Prozentpunkte auf den vollen Umsatzsteuersatz draufgeschlagen.
Statt für Kinderartikel einen Steuersatz von 7 Prozent einzuführen, besteht für die Bürgerinnen und Bürger heute ein Steuersatz von 19 Prozent. Das heißt, statt einer Halbierung haben wir jetzt fast eine Verdreifachung dessen, was Frau Böhmer damals beschworen hat.
Eines kann man jedenfalls sagen: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte ist eine Antifamilienpolitik, die Sie von der SPD mitgetragen haben. Die Bürgerinnen und Bürger haben auch Ihre Mehrwertsteuerlügen nicht vergessen. Es hieß, die Merkel-Steuer werde teuer. Mit der SPD wurde es dann noch viel teurer. So war das in Deutschland.
Diese Steuererhöhungspolitik, die Sie von der Großen Koalition in den letzten Jahren massiv betrieben haben, hat die Familien erheblich belastet. Sie zahlen heute jährlich im Schnitt 1 600 Euro mehr an den Fiskus. Dieses Geld fehlt für die Kinder, fehlt den Familien. Das ist für sie ein sehr ernstes Thema. Deswegen kann ich nachvollziehen, dass Sie von der SPD jetzt so ernst schauen. Bei vielen Familien in Deutschland wurde durch Ihre Politik wirklich existenziell abkassiert. Da hilft es auch nichts, wenn Sie dann Feigenblättchen in die Welt setzen, zum Beispiel das Elterngeld und all das andere Gute, das Sie tun wollen. Wenn man erst bei den Leuten abkassiert und sich hinterher bei den Familien als Gönner aufspielt, dann ist das schon an der Grenze dessen, was man den Menschen zumuten kann.
Sie haben die Eigenheimzulage gestrichen, Sie haben die Pendlerpauschale gekürzt, Sie haben den Sparerfreibetrag gekürzt, Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht und damit tief in die Taschen der Familien gegriffen. Sie haben den Familien in Deutschland sehr viel genommen, und Sie nehmen ihnen sehr viel. Sie sind nicht in der Lage, ihnen auch nur ansatzweise etwas Adäquates zurückzugeben; auch das muss an dieser Stelle gesagt werden.
Die Forderung der Linken nach Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte ist von der Zielsetzung her verständlich. Wir alle wollen etwas für Familien tun. Es war einmal die erklärte Absicht des Gesetzgebers, bei der Mehrwertsteuer ein System zu schaffen, das die Artikel des täglichen Bedarfs vergünstigen soll. Es gibt in diesem Haus niemanden, der bestreitet, dass dieses Ziel verfehlt worden ist.
Das Bundesministerium der Finanzen vertritt sogar die Auffassung - wir hatten da einmal nachgefragt -, dass die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes keiner inneren Logik folge - das ist schon bemerkenswert -, sondern vielmehr - so sagt das BMF - Ausdruck der Durchsetzungsfähigkeit verschiedener Lobbyisten und anderer Interessengruppen sei. Nun hat das Bundesfinanzministerium im Oktober 2006 den ermäßigten Umsatzsteuersatz für getrocknete Schweineohren gewährt. Für Kinderartikel gilt aber nach wie vor der volle Satz. Da sieht man: Beim BMF haben sich die Lobbyisten für getrocknete Schweineohren durchsetzen können. Für Kinder, in der Familienpolitik wurde bisher wenig getan.
Da gibt es starke Lobbygruppen für Sessellifte und Seilbahnen, die bei der Bundesregierung offene Ohren finden und sich durchsetzen können. Es ist eine Sache, wenn Lobbyisten und Interessengruppen ihre Anliegen vertreten. Es ist aber eine andere Sache, wenn deren Wünsche dann mir nichts, dir nichts den Weg in das Gesetz finden. Es spricht nicht gerade für die politische Standhaftigkeit der Bundesregierung, wenn sie es nicht einmal schafft, den Interessenvertretern für getrocknete Schweineohren Paroli zu bieten. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobbygruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den berechtigten Belangen der Gesellschaft und - wie wir immer betonen - einer guten Familienpolitik gerecht wird.
Es wäre ein Signal gewesen, wenn Sie, statt stupide die Mehrwertsteuer zu erhöhen, die Chance genutzt hätten, unser Mehrwertsteuersystem umfassend zu reformieren. Das ist zwar ein großes Projekt, es wäre aber angemessen gewesen, wenn die Große Koalition das in Angriff genommen hätte. Wenn Sie gebetsmühlenartig sagen: ?Das geht alles nicht, wegen Europa!?, frage ich mich: Wer ist denn Europa?
Die Bundesregierung tut immer so, als hätten wir damit gar nichts zu tun. Um Gottes willen! Erheben Sie doch einmal Ihre Stimme und sagen Sie in Europa, was für Deutschland richtig, wichtig und gut ist. Wir können uns von den anderen doch nicht immer sagen lassen, dass das nicht geht. Nein, damit flüchten Sie sich aus der Verantwortung, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wer den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Sessellifte und Bergbahnen einführen kann, der kann sich in anderen Bereichen nicht einfach mit dem Verweis auf Europa verweigern.
Immerhin gab es schon einmal eine Initiative der SPD. Sie wollten das schon einmal überarbeiten, damals unter Finanzminister Eichel. Jetzt werden Sie sagen: Die FDP war damals nicht begeistert. Natürlich nicht! Weil Sie nur einseitig anheben wollten. Sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht, ob man in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Trüffel und Gänsestopfleber, von der Subventionierung wegkommen müsste, weil sie keinen Sinn macht, Frau Kollegin Westrich. Das haben Sie damals einfach ausgelassen.
Wenn man schon eine Reform macht, sollte es auch eine vernünftige sein, dann sollte es nicht nur ein bisschen sein, dann sollte man nicht nur die Kassen ein bisschen auffüllen, wie Sie immer denken, sondern dann muss man etwas machen, das das System strukturell verbessert. Deswegen sagt die FDP gebetsmühlenartig immer wieder im Finanzausschuss: Wir brauchen die Selbstbefassung. Wir müssen jetzt an die Überarbeitung des Mehrwertsteuersystems ran. Es ist höchste Zeit.
Ich kann Sie an dieser Stelle nur wieder auffordern: Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Man sollte nicht immer nur sagen: Europa! Europa! Wir können nicht! Wir wollen nicht! - Ich glaube, es gibt viel zu tun: In Deutschland gibt es unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für Dill und Basilikum. Bei Lorbeer kommt es darauf an, ob er frisch oder getrocknet ist. Weihnachtskränze haben je nach Feuchtigkeitsgehalt der Tannen unterschiedliche Mehrwertsteuersätze. Was ist denn das für ein Steuersystem? Da kann man doch hier nicht einfach sagen: Das lassen wir einfach so! Europa! Ich finde, wir müssen uns dieses Themas dringend annehmen. Wir sollten uns diesem Thema nicht immer verweigern und sagen, dass das nicht geht. Lassen Sie uns die Selbstbefassung machen.
Zu dem Antrag der Linken: Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vorstellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Symbolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch auch keinem. Sie sprechen von ?Waren und Dienstleistungen für Kinder?. Wie das abgegrenzt und praxisgerecht ausgestaltet werden soll, sagen Sie aber nicht. Nehmen Sie beispielsweise ein Kinderschnitzel in einem Restaurant. Jetzt kommt ein Erwachsener und isst ein Kinderschnitzel. Was machen wir denn jetzt? Sagen wir dann: Es kommt darauf an. Wir können Ihnen den Mehrwertsteuersatz und den genauen Preis erst beim Abrechnen mitteilen, erst, nachdem wir Ihr Alter festgestellt haben.
Sie müssen schon einen Vorschlag vorlegen, der hieb- und stichfest und europatauglich ist.
Die Chance, die dieser Finanzausschuss und dieses Parlament haben, sollten wir nutzen. Wir sollten aber keine Symbolpolitik machen, weil das Thema viel zu ernst ist. Da hat Frau Westrich recht. Wenn wir das machen wollen, lassen Sie es uns gemeinsam tun. Bei einer vernünftigen Überarbeitung des Systems ist die FDP an Ihrer Seite. Ich sage Ihnen aber eines voraus - Stichwort: Steuererhöhungen -: Wenn Sie meinen, Sie könnten mit einer Systemüberarbeitung wieder abkassieren, so wie damals, dann haben Sie uns als Gegner.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.
Manfred Kolbe (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke, den Mehrwertsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent zu ermäßigen, ist der klassische Fall eines Rohrkrepierers: Eine im Kern gut gemeinte Absicht wird durch schlechte handwerkliche Ausführung kaputtgemacht. Das ist Ihr Rohrkrepierer.
In der Sache hat sich auch die Union mittelfristig das Ziel gesetzt, wie jüngst wieder in der Hamburger Erklärung vom 11. Februar betont wurde, zu prüfen, ob auf typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs künftig nur noch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann. Familien und Kinder stehen im Mittelpunkt der Politik dieser Koalition.
Der heute zur Abstimmung stehende Antrag ist handwerklich schlicht und ergreifend Murks. Das hätte Ihnen der ehemalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine eigentlich erklären können. Ich sehe ihn nicht. Er ist nicht da. Das ist schon bezeichnend. Sie ziehen hier etwas hoch, Sie beantragen eine namentliche Abstimmung, und dann kommt einer Ihrer Fraktionsvorsitzenden nicht. Das zeigt doch den Showcharakter dieses Antrags.
Ihr Antrag ist schlicht und ergreifend schlampig formuliert. Warum ist er handwerklicher Murks? Der Antrag übersieht zunächst, dass eine ganze Reihe von Artikeln für Kinder bereits jetzt dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt: Nahrungsmittel, Milchprodukte, Süßigkeiten, Schokolade - das ist nicht ganz unwesentlich - und Bücher einschließlich Malbücher werden schon heute ermäßigt besteuert.
Was sollen denn dann die weiteren Waren und Dienstleistungen für Kinder sein? Sollen darunter generell Musik-CDs, Videofilme, Videospiele, Gameboys, MP3-Player, iPods nano und andere teilweise kostspielige Elektronik fallen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benutzen, ja oder nein? Sie werden wahrscheinlich Nein sagen. Sollen darunter auch hochwertige Puppen, Modellautos, Modelleisenbahnen, Modellflugzeuge, teure Markenkleidung und Ähnliches fallen? Mancher erwachsene Sammler oder erwachsene Konsument würde sich darüber freuen. Der Zielrichtung Ihres Antrags würde das aber wahrscheinlich nicht gerecht werden.
Meine Damen und Herren von der Linken, der Teufel liegt wie immer im Detail. Der kurze und knappe Rat meiner Fraktion lautet: Ziehen Sie diesen schlampigen Antrag zurück und sitzen Sie nach. Damit dienen Sie auch den Kindern.
Dieser Antrag ist typisch für Ihre Fraktion: immer alles fordern, aber nichts in die Realität umsetzen.
Das ist auch typisch für Ihre scheinheilige Strategie und für Ihre Spitzenleute. Unter Ihnen befinden sich zwei Personen, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, die einmal hohe Staatsämter in dieser Republik bekleidet haben. Da hätten sie manches ändern können, aber sie haben es nicht getan. Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, die bedauern, dass sie es nicht getan haben. Sie haben irgendwann den Bettel hingeschmissen und sich lieber der Polemik im Bundestag hingegeben. Genau das ist die Scheinheiligkeit Ihrer Strategie.
Dafür ist auch dieser Antrag typisch.
Sie übersehen weiter - Kollege Wissing hat es schon ausgeführt -, dass dieser Antrag schlicht und ergreifend europarechtswidrig ist.
Auch Sie haben Europaabgeordnete. Über eine habe ich neulich etwas in der Zeitung gelesen. Herr Gysi, vielleicht treffen Sie sich einmal mit Frau Wagenknecht zum Hummeressen in Brüssel und lassen sich das erklären.
Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass Sie dabei fotografiert werden.
Frau Wagenknecht löscht diese Bilder dann eigenhändig auch von fremden Kameras.
Die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Mehrwertsteuersystemrichtlinie bildet heute die rechtliche Grundlage für das harmonisierte Mehrwertsteuerrecht in Europa. Gemäß Art. 98 Abs. 1 können Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden, aber eben nur auf Gegenstände, die sich in Anhang III befinden. Schaut man sich einmal das Verzeichnis in Anhang III an, so findet man eben nicht - ich bedauere das - Kinderwindeln, Kinderkleidung oder Spielsachen. Man mag dies bedauern, aber es ist so. Eine Möglichkeit zur Änderung haben wir zurzeit nicht.
Mein Vorredner hat bereits zu Recht ausgeführt, dass Europa nicht irgendein Fremdkörper ist, sondern wir Teil der Europäischen Union sind und Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wir begrüßen es deshalb, dass die Europäische Union im letzten Jahr zu der Auffassung gelangt ist, dass die derzeitige Struktur der Mehrwertsteuersätze, insbesondere der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, vereinfacht werden muss, da die derzeitige Regelung zu komplex sei. Die Kommission möchte neue gemeinsame Vorschriften entwickeln, die nach 2010 Anwendung finden sollen. Hierbei wird die Koalition den Bundesfinanzminister, der dafür die Verhandlungen in Brüssel führt, mit Tatkraft unterstützen. Die Kinder stehen dabei für uns ganz im Zentrum der Bemühungen.
Auch wir - das kann ich für meine Fraktion sagen - wollen die Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände gemäß der Anlage zu § 12 Umsatzsteuergesetz überarbeiten. Brauchen wir tatsächlich eine solche ellenlange, detailverliebte Kasuistik, die regelmäßig eine Fundgrube für Büttenredner im Karneval darstellt, um die Regelungswut des Steuergesetzgebers anzuprangern? Ich zitiere die Nummer 22 dieser Liste: Dem ermäßigten Steuersatz unterliegen:
Johnnisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten sowie andere pflanzliche Waren (einschließlich nichtgerösteter Zichorienwurzeln
- was auch immer das ist -
der Varietät Cichorium intybus sativum) der hauptsächlich zur menschlichen Ernährung verwendeten Art, ... ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr.
Alles klar, oder? Ich könnte auch aus dem Schreiben des BMF zum Thema Schweineohren zitieren. Hier besteht in der Tat Reformbedarf.
Noch schwerwiegender als solche Kuriosa wiegen die teilweise krassen Wertungswidersprüche, die in dieser Liste enthalten sind. Warum werden Musik-CDs niedriger besteuert als Babywindeln?
Warum wird Tierfutter niedriger besteuert als Arzneimittel besteuert werden? Warum werden Hummer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser besteuert wird?
Ich glaube, es besteht sicherlich ein gewisser Konsens in diesem Hause, dass eine breit angelegte Diskussion über das Thema ?Ermäßigte Mehrwertsteuersätze? geführt werden muss. Allerdings sollten die Vorarbeiten der Europäischen Kommission abgewartet werden. Wir wollen eine europäische Regelung. Deutschland darf hier keinen nationalen Alleingang wagen. Die Vorarbeiten der Europäischen Kommission und die uns vorliegenden Berichte des Bundesfinanzministeriums bilden dabei die Grundlage. Unser Ziel ist, zu prüfen, ob es möglich ist, dass auch typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs lediglich mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belastet werden.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, was wir uns auf keinen Fall vorwerfen lassen werden: dass wir Kinder politisch benachteiligen. Die Bundesregierung mit der Bundeskanzlerin und der Bundesfamilienministerin an ihrer Spitze hat die Familienpolitik ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und dem auch Taten folgen lassen:
Erstens. Mit dem Elterngeld haben wir Vätern und Müttern im ersten Lebensjahr ihres Kindes gezielt das Einkommen gesichert, damit sich die Eltern für ihr Neugeborenes Zeit nehmen können.
Auch die große Gruppe der Alleinerziehenden profitiert davon, Frau Schewe-Gerigk.
Zweitens. Der beschlossene Ausbau des Betreuungsangebots für unter Dreijährige sorgt für echte Wahlfreiheit. Bis 2013 wollen wir in Deutschland für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsangebot in Tagespflege oder Kinderkrippen schaffen. Im Anschluss daran werden wir ein Betreuungsgeld für Eltern einführen, die ihre Kinder vom vollendeten ersten bis dritten Lebensjahr zu Hause betreuen und keinen Platz in einer Kindertagesstätte beanspruchen.
Drittens. Die Koalition wird im Herbst dieses Jahres entscheiden, ob wir das Kindergeld erhöhen oder nicht.
Abschließend: Auch wir wollen im Rahmen der europäischen Vorgaben und unserer haushaltspolitischen Möglichkeiten typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs künftig nur noch mit dem ermäßigtem Mehrwertsteuersatz belasten. Den heutigen Antrag der Fraktion Die Linke lehnen wir aber ab, da er dazu wegen seiner fachlichen Mängel nicht geeignet ist.
Danke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kolbe, ich verstehe gar nicht, warum Sie sich darüber aufregen, dass einer unserer Fraktionsvorsitzenden fehlt. Wir haben immerhin zwei. Ihrer ist nicht da, von der Regierung ist keiner da.
Ich weiß gar nicht, was Sie hier herummeckern. Das Problem, das mir an dieser Debatte auffällt, ist: Manche Abgeordnete werden, wenn sie über den Schutz von Embryonen diskutieren, sehr leidenschaftlich. Wenn es aber um die bereits geborenen Kinder geht, dann fehlt ihr Interesse plötzlich.
Wir haben es hier mit einem sehr ernsten Thema zu tun. Denn in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, leben 2,6 Millionen Kinder in Armut.
Das können wir uns nicht leisten. Ganz egal, ob man Mitglied der CSU oder der Linken ist: Das ist nicht hinnehmbar. Das müsste der ganze Bundestag beschließen.
Ursache der Kinderarmut ist immer die Armut der Eltern. Also muss man dort ansetzen und die Strukturen verändern. Da Sie uns immer vorwerfen, wir würden Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das, was wir gerade bei der Union erleben, ist in jeder Hinsicht klassischer Wahlkampf. Das werde ich Ihnen auch belegen.
Frau Westrich, Sie haben argumentiert, indem Sie auf das EU-Recht hingewiesen haben. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das finde ich wirklich unakzeptabel. Denn wenn man von EU-Recht spricht, tut man immer so, als sei dieses Recht göttlich gegeben. Darf ich Sie daran erinnern, dass auf EU-Ebene nichts ohne Zustimmung der deutschen Bundesregierung beschlossen wurde?
Selbstverständlich sind wir berechtigt, auf europäischer Ebene Veränderungen herbeizuführen.
Dass Sie das Handwerkliche an unserem Antrag kritisieren, finde ich völlig falsch. In unserem Antrag steht: Die Bundesregierung wird aufgefordert, das Umsatzsteuergesetz so zu ändern, dass solche Produkte aufgenommen werden können. - Wenn der Bundestag das beschlösse, könnten die Bundesregierung und der Bundestag anschließend beraten, welche Produkte aufgenommen werden, wie wir vorgehen und was am EU-Recht verändert werden muss. Wenn der Bundestag unseren Antrag mehrheitlich annimmt - wenn er es denn täte, er macht es leider nicht -, drückt er seinen Willen aus, dass die Bundesregierung diesbezüglich aktiv wird. Das ist handwerklich völlig sauber.
Wenn wir alles einzeln aufgeschrieben hätten, hätten Sie über das Handwerkliche meckern können. Doch in diesem Falle ist Ihr Vorwurf falsch.
Hinzu kommt: Wie schnell haben Sie die Mehrwertsteuer gleich um 3 Prozentpunkte, von 16 auf 19 Prozent, erhöht! Wieso haben Sie, wenn Sie das schon machen, im Ausgleich nicht wenigstens die Mehrwertsteuer für bestimmte Produkte gesenkt? Warum haben Sie sich dafür bei der EU nicht entsprechend eingesetzt? Die Situation ist doch grotesk: Bei Nahrungsmitteln sind es 7 Prozent, bei Zeitungen, Büchern, Kultur, öffentlichem Nahverkehr sind es 7 Prozent, bei Tiernahrung und Tiermedikamenten sind es 7 Prozent. Sie müssen einmal erklären, wieso jemand auf das Antibiotikum für seinen Hund nur 7 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss, auf ein Antibiotikum für sich selbst hingegen 19 Prozent!
Dieser Logik kann ich nicht folgen.
Kinderkleidung - das ist selbstverständlich - muss für jedes Jahr neu angeschafft werden, also viel häufiger als bei Erwachsenen, und auf jedes Kleidungsstück sind 19 Prozent Mehrwertsteuer zu zahlen. Kommen Sie mir jetzt nicht mit Beispielen, wo es nicht angebracht wäre, wenn der Mehrwertsteuersatz ermäßigt würde! Darüber können wir diskutieren, wenn der Bundestag beschlossen hat, die Mehrwertsteuer auf Produkte für Kinder zu ermäßigen. Dann können wir das Produkt für Produkt durchgehen.
Bayern ist spitze: Bayern sorgt dafür, dass Seilbahnfahrten künftig nur noch mit 7 Prozent besteuert werden. Im Hinblick auf Kinderkleidung gab es keinen solchen Antrag aus Bayern; das möchte ich an dieser Stelle einmal feststellen.
Kommen wir einmal zu dem Affentheater, das wir hier in letzter Zeit erleben. Im Wahlkampf in Hamburg wird erklärt, das Kindergeld muss erhöht werden. Der Bundesfinanzminister äußert sich dazu, das sei der völlig falsche Weg, er sei strikt dagegen, das Kindergeld zu erhöhen. Einen Tag später denkt Herr Beck laut darüber nach, das Geld je zur Hälfte in eine Erhöhung des Kindergeldes und in Schulessen zu investieren. Dann hört man wieder nichts. Dann beschließt die CDU die Hamburger Erklärung, zufällig in Hamburg; ich glaube, da sind Wahlen. In dieser Hamburger Erklärung steht, anders als Sie es heute zitiert haben:
Zahlreiche wichtige Kinderartikel unterliegen schon heute dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Wir wollen auch unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit prüfen, wo in Zukunft grundsätzlich der untere Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann. Ziel ist, typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs hierunter zu fassen.
Nicht vor zwei Jahren - jetzt, im Jahre 2008, ist das beschlossen worden. Da muss ich Herrn Beck recht geben, der hierzu sagt: Es ist nicht glaubwürdig, was die Union da macht. - Denn heute wird sie genau gegen das stimmen, was sie in ihrer Hamburger Erklärung gefordert hat; das wollen wir den Hamburgerinnen und Hamburgern und der Öffentlichkeit zeigen.
Wenn Sie Ihre Hamburger Erklärung ernst nehmen, müssen Sie heute unserem Antrag zustimmen. Sonst ist das eine typische Wahlkampferklärung, die nicht in Ordnung ist. Wie gesagt: Das Ganze ist ein ziemliches Affentheater.
Noch etwas. Sie sagen, alles ist abhängig von dem, was im Existenzminimumbericht steht. Dieser Bericht, der im September vorgelegt werden soll, bindet Sie; da sind Sie gar nicht frei in Ihrer Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat klipp und klar gesagt: Das Existenzminimum ist für jedes Kind zu gewährleisten. Sie kommen gar nicht umhin, die Ergebnisse dieses Berichts zu berücksichtigen. Andernfalls würden Sie sich in eine grundgesetzwidrige Situation begeben, was dann entsprechende Folgen hätte.
Die CDU/CSU spricht davon, das Kindergeld um 10 Euro erhöhen zu wollen. Die SPD will die Hälfte - das wären dann 5 Euro - sowie den gleichen Betrag für Schulessen. So kommen wir nicht weiter, so überwinden wir die Armut von 2,6 Millionen Kindern in Deutschland nicht.
Jedes sechste Kind in Deutschland kann sich Klassenfahrten nicht leisten, hat kein Taschengeld, kann sich die Mitgliedschaft im Sportverein nicht leisten und geht in Suppenküchen. Wenn Sie sich einmal die Gesichter der Kinder, die in Suppenküchen gehen, anschauen - das hätte ich gerne Herrn Koch gesagt -, dann wissen Sie, wo Frust und Gewaltbereitschaft entstehen.
Wenn wir das nicht überwinden, haben wir es später mit noch viel schlimmeren Folgen zu tun.
Sie haben recht: Die 7 Prozent Mehrwertsteuer sind nur der erste Schritt. Wir fordern ja mehr; wir können nur nicht immer alles zur Abstimmung stellen. So fordern wir, das Kindergeld von 154 Euro auf 200 Euro zu erhöhen. Doch dazu sind Sie nicht bereit. Wir fordern darüber hinaus, den Kinderzuschlag für Hartz-IV-Bezieherinnen und Hartz-IV-Bezieher von maximal 140 Euro für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro zu erhöhen.
Wir sagen: Die entsprechenden Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern müssen von 207 Euro bzw. 276 Euro auf 300 Euro erhöht werden. Damit könnte man die Kinderarmut überwinden.
Sie alle fragen, wovon man das bezahlen soll. Wir sagen: Wir brauchen Steuergerechtigkeit. An einer Tatsache kommen Sie, die Sie hier so lange über die 120 Milliarden Euro gesprochen haben, nicht vorbei: Die durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote in Deutschland liegt bei 35,6 Prozent, während der Durchschnitt aller 27 Mitgliedsländer der EU bei 40,8 Prozent liegt. Als stärkstes ökonomisches Land der EU liegen wir also um über 5 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt.
Damit meinen wir nicht die Mehrwertsteuer und auch nicht die Einkommensteuer - schon gar nicht die der Empfänger unterer Einkommen und auch nicht die der Empfänger durchschnittlicher Einkommen. Damit meinen wir eine gerechte Besteuerung der Empfänger hoher Einkommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ja. - Wir meinen eine Vermögensteuer, eine Börsenumsatzsteuer, eine Luxussteuer und eine Veräußerungserlössteuer. Auf all das verzichten Sie.
Andere Länder haben sie aber. Wenn wir darauf nicht verzichten würden und Steuergerechtigkeit hätten, dann könnten wir die Kinderarmut überwinden.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Rede von Herrn Gysi könnte man meinen, dass alle, die diesem Antrag nicht zustimmen, völlig unsozial sind, noch nie eine Suppenküche gesehen haben und sich mit dem Problem der Kinderarmut nicht auseinandersetzen wollen. Ich glaube, diesen Eindruck muss man ganz deutlich zurückweisen.
Sie schlagen die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes vor. Ich rede nicht über andere Vorschläge, die wir teilweise durchaus richtig finden. Wir selber haben den Antrag gestellt, die Regelsätze endlich an das Existenzminimum anzupassen, damit die Kostensteigerungen, die unter anderem durch die Mehrwertsteuererhöhung entstanden sind, durch entsprechende Einkommenserhöhungen für die Menschen gemildert werden. Natürlich kann man hier über einiges reden, aber heute steht die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte zur Debatte.
Sie würde natürlich überhaupt nichts zur Bekämpfung der Kinderarmut beitragen, die Sie hier gerade anhand einer Reihe von Bildern geschildert haben.
Möglicherweise würde das Symptom der Kinderarmut aufgrund der Verbilligung einzelner Produkte ein wenig gelindert werden - aber wohl noch nicht einmal das.
Herr Gysi, auf das Gegenargument von Frau Westrich, dass sich die Reduzierung der Mehrwertsteuer auf die Preise nicht auswirken würde - das ist das zentrale Kernargument, und ich sage auch für meine Fraktion, dass die Reduzierung bei den Menschen nicht ankommt -, sind Sie gar nicht eingegangen. Daran erkennt man, dass Ihr Antrag nicht wirklich begründet ist. Es kommt bei den Kindern nicht an. Deswegen lehnen wir den Vorschlag auch ab.
Wir müssen uns mit der Kinderarmut beschäftigen. 2 Millionen Kinder leben unter der Armutsschwelle. Auch im aktuellen Aufschwung steigt diese Zahl. Dies gilt auch für Baden-Württemberg, einem Bundesland, dessen ökonomische Zahlen häufig überdurchschnittlich sind. Mit einem Plus von 13 Prozent stehen wir sogar am oberen Rand dieses Zuwachses. Man sieht eindeutig, dass ein Handlungsbedarf vorhanden ist. Diesem dürfen wir uns nicht entziehen.
Deswegen ist es richtig, dass wir über die Kindergelderhöhung sprechen und uns fragen, wie wir die Infrastruktur verbessern und es verhindern können, dass Eltern, insbesondere alleinerziehende Eltern, so stark von Armut betroffen sind. Das sind richtige Fragen, denen wir uns mit einer Reihe von Vorschlägen stellen.
Ich möchte hier jetzt aber nicht zu allen Aspekten der Kinderpolitik sprechen, vielmehr möchte ich Sie noch einmal darauf hinweisen, was wir im Steuersystem machen und wo das richtig angesiedelt ist. Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen, dass wir das Mehrwertsteuersystem nicht für die zentrale Stelle halten, an der wir Sozialpolitik idealerweise betreiben sollten. Die empirische Evidenz, dass das irgendetwas bringt, ist einfach nicht gegeben. Durch den Bericht der Bundesregierung wurde uns das noch einmal sehr deutlich gemacht. Darin sind wir alle uns ja auch einig.
Nun kommen wir aber zu folgendem Punkt: Wenn die Bundesregierung feststellt, dass das Mehrwertsteuersystem jeder Logik widerspricht und es im Wesentlichen auf Lobbyeinflüsse zurückzuführen ist, wo wir Ausnahmen machen und wo nicht, dann müssen wir jetzt einmal etwas tun. Ich halte den Vorschlag der Oppositionsfraktionen, einmal richtig an dieses Thema heranzugehen, für geeignet, hier System hineinzubringen. Daher würde ich mich freuen, wenn die weiteren Rednerinnen und Redner von der Großen Koalition uns einen Vorschlag machten, wie wir darangehen wollen. Wir haben vorgeschlagen, das im Rahmen der Selbstbefassung im Ausschuss hinter verschlossenen Türen zu machen, gegebenenfalls auch in Form eines Berichterstattergesprächs, damit wir uns diesem Thema in Ruhe nähern können.
Allerdings hat Herr Wissing hier zu Recht deutlich gemacht, dass die Große Koalition damit ihre Schwierigkeiten hat: Ihre Leute werben in Hamburg und im Saarland damit, dass sie die Ermäßigung wollen; gleichwohl werden sie hier mit Nein stimmen. Auch das Beispiel der Sessellifte widerspricht jeder Systematik. Dies zeigt das Ausmaß des Problems, das wir nur gemeinsam angehen können. Unsere Fraktion ist bereit, an einer besseren Systematik des Mehrwertsteuerrechts mitzuwirken. Dies werden wir aber nur tun können, wenn Sie von der Großen Koalition endlich zu einem ernsthaften Prozess der Verbesserung und Vereinfachung unseres Mehrwertsteuersystems Ja sagen. Darauf warten wir, und ich fordere die nachfolgenden Redner der Koalition auf, hierzu Stellung zu nehmen.
Aber die FDP muss noch eine Voraussetzung schaffen, wenn wir ernsthaft an dieses Thema herangehen wollen. Wenn Sie in dem Graben bleiben und überall dort, wo ungerechtfertigte Erleichterungen, Subventionen und Vergünstigungen abgebaut werden, mit der großen Steuererhöhungskeule ausholen - ich erinnere nur daran, wie die Debatte lief, als wir damals Verbesserungsvorschläge vorgelegt hatten -, dann werden wir nicht vorankommen. Im Endeffekt ist es doch egal, ob man an dieser oder an einer anderen Stelle die Steuer erhöht, wenn man einen Konsolidierungsbedarf hat. Wenn Sie wirklich an die Systematik heran wollen, dann müssen Sie diese Systematik in den Vordergrund stellen und dürfen nicht in erster Linie darauf abstellen, dass Steuern erhöht würden.
Deswegen fordere ich Sie auf, konstruktiv mitzumachen und nicht wieder in den Fehler zurückzufallen, sofort ?Steuererhöhung? zu schreien. Dann haben wir die Chance, zu mehr Systematik bei der Mehrwertsteuer zu kommen. Außerdem könnten wir dann dort, wo es sinnvoll ist, nämlich im Bereich der Transferleistungen und der Infrastruktur, wirklich etwas für Kinder in diesem Lande tun. Wir müssen Kinderarmut dort bekämpfen, wo es tatsächlich etwas bringt, also nicht so, wie es die Linke heute vorschlägt.
Danke schön.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion erteile ich nun das Wort der Kollegin Gabriele Frechen.
Gabriele Frechen (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Schick hat eben etwas aufgegriffen, was ich mir auch dachte, als ich Herrn Dr. Wissing hörte: Egal, was es ist, und wenn es die getrockneten Schweineohren sind,
fällt etwas aus dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz heraus, ist Herr Dr. Wissing der Erste, der auf den Barrikaden steht und brüllt: Haltet den Dieb, Steuererhöhungen! Das ist unredlich, Herr Dr. Wissing, einfach unredlich.
Herr Dr. Gysi hat relativ wenig zum Antrag seiner Fraktion gesprochen, sondern eher allgemeine Ausführungen gemacht, was ich auch nachvollziehen kann. Aber er hat behauptet, in dem Antrag werde die Bundesregierung aufgefordert, die Voraussetzungen für eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes zu schaffen. Nein, Herr Dr. Gysi, in dem Antrag steht, dass Sie das Umsatzsteuergesetz ändern wollen, unabhängig davon, ob es EU-rechtlich zulässig ist. Sie wollen also sehenden Auges in ein Vertragsverletzungsverfahren hineinlaufen. Oder bereiten Sie Spiegeleier zu, indem Sie zuerst das Ei auf den Herd kloppen und dann die Pfanne daraufstellen? Ich mache es umgekehrt, und so sollten wir eigentlich auch Gesetze machen.
In der heutigen Diskussion habe ich schon mehrfach bemerkt, dass Ihnen der Hang zur Logik abgeht. Zu den Beispielen von Frau Westrich haben Sie auch gesagt, dahinter stecke keine Logik. Alle Kolleginnen und Kollegen konnten sie verstehen, nur Sie merkwürdigerweise nicht.
Aber lassen Sie mich ein ähnliches Beispiel anführen; denn ich habe mich wirklich mit Ihrem Antrag auseinandergesetzt. Auch wenn er nur wenige Zeilen hat, hat er ordentlich Zeit gekostet.
- Sie nicht. Das habe ich auch nicht vermutet.
Ich habe im Internet gestöbert und eine Plattform entdeckt, auf der sich Eltern austauschen können. Dort habe ich Folgendes gefunden:
Ich habe heute Windeln gekauft, aber kann es wirklich sein, dass dieselben Windeln in unterschiedlichen Geschäften einen Preisunterschied von mehr als 5 Euro haben? Zuerst war ich bei A:
Ich kann Ihnen zwar die Marke nennen, aber ich will keine Reklame machen.
... eine Packung ... mit 56 Windeln 13,99 Euro. Das war mir viel zu teuer, also zu B ..., da kostete dieselbe Packung 10,99 Euro, gut, dachte ich, sind ja 3 Euro! Zur Sicherheit bin ich dann noch mal zu C ... in der Hoffnung, vielleicht noch 50 Cent oder so zu sparen, da kostete genau dieselbe Packung ... auch mit 56 Stück nur 8,45 Euro.
Die Preisdifferenz beträgt 5,54 Euro bzw. 40 Prozent.
Die Nachbarländer erleben dasselbe. In Österreich hat die Tiroler Arbeiterkammer festgestellt, dass Windelpreise um bis zu 50 Prozent variieren. Sind Sie wirklich der Meinung, dass das am Steuersatz liegt?
Meinen Sie im Ernst, der Mutter wäre ihre Windelrallye erspart geblieben, wenn der Steuersatz nur 7 Prozent betragen würde? Das wage ich zu bezweifeln.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gysi?
Gabriele Frechen (SPD):
Ja.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Kollegin, ich habe eine Frage, weil Sie wie Ihre Vorredner behaupten, dass eine Mehrwertsteuersenkung nicht bei den Kundinnen und Kunden ankäme. Erstens haben wir aber erlebt, dass eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte bei allen Kundinnen und Kunden ankommt.
Darf ich zweitens aus Ihrer Bemerkung schließen, dass Sie sämtliche Unternehmer für Gauner dergestalt halten, -
Gabriele Frechen (SPD):
Nicht durchgehend.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
- dass sie bei einer Mehrwertsteuersenkung um 12 Prozentpunkte anschließend eine Preissteigerung um 12 Prozentpunkte durchführen? Ist das wirklich Ihre Einstellung? Eine so negative Einstellung habe ich nicht gegenüber den Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland.
Gabriele Frechen (SPD):
Ich bin bestimmt kein misstrauischer Mensch, aber ich glaube nicht, dass Steuersenkung gleichbedeutend mit Preissenkung ist. Denn wie das Beispiel der Mutter, die sich auf den Weg durch die Geschäfte machte, zeigt, folgt die Preisfindung bei Babykleidung, Babyfläschchen, Babyschnullern und Babywindeln offensichtlich ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als dem Mehrwertsteuersatz. Sonst würden sich nicht solche Preisunterschiede ergeben.
Deshalb bin ich sicher, dass es mit der in Ihrem Antrag vorgeschlagenen Lösung zwei Gewinner gäbe: zum einen die Händler, die die Preise, wie gesagt, nach anderen Kriterien festlegen, und zum anderen die Hersteller - die internationalen Konzerne -, die auch gerne ein Stück von dem Kuchen abhaben wollen. Ich weiß nicht, ob es die Intention Ihres Antrags war, Steuersenkungen zugunsten der betroffenen Unternehmen durchzuführen. Fakt ist, dass ihr Antrag diese Wirkung hätte. Die Familien hätten nichts davon. Das ist reine Augenwischerei.
Wenn Sie von Kindern sprechen, dann fallen immer nur Begriffe wie Kostenfaktor, Armutsrisiko und schlechte Lebensbedingungen für die Eltern. Dass Kinder einen Wert an sich darstellen, habe ich von Ihnen noch kein einziges Mal gehört.
Das schmerzt mich; denn Kinder möchten genau das sein, was sie sind: weder ein Armutsrisiko noch ein Kostenfaktor, sondern ganz einfach Kinder.
Ich bin, wie gesagt, kein misstrauischer Mensch. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich hinter dem Antrag ansatzweise das Anliegen verbirgt, dass es Familien mit Kindern bessergehen soll. Dieses Anliegen teilt sicherlich jeder hier und die SPD-Fraktion ganz besonders.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Gabriele Frechen (SPD):
Ja.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Danke schön, Frau Kollegin Frechen. - Ich möchte auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz eingehen. Ich habe Ihrer Rede entnommen, dass Sie alles, was wir vorschlagen, für nicht sehr zielführend halten. Ich komme aus Bayern. Der VdK Bayern sammelt zurzeit Unterschriften für eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Medikamente. Wenn ich mich richtig erinnere, sind inzwischen 800 000 bis 1 000 000 Unterschriften zusammengekommen. Die Vorsitzende des VdK Bayern ist Mitglied Ihrer Partei. Ich möchte gerne wissen, ob Sie die hier geforderte Senkung des Mehrwertsteuersatzes ebenfalls für unsinnig halten. In der Vergangenheit haben Sie unseren Antrag abgelehnt, während Mitglieder Ihrer Partei nun in Bayern Unterschriften dafür sammeln.
Gabriele Frechen (SPD):
Frau Kollegin, ich würde dem VdK Bayern eine ähnliche Antwort geben wie in der heutigen Diskussion. Wenn Sie sich den Preisverfall bei Medikamenten nach der Gesundheitsreform, wonach die preiswertesten unter gleichwertigen Medikamenten genommen werden müssen, anschauen, dann müssen auch Sie sehen, dass der Mehrwertsteuersatz ganz sicher nicht das entscheidende Kriterium bei der Preisfindung bei Medikamenten ist.
- Das will ich gar nicht abstreiten.
Ich will nicht abstreiten, dass neben den Vorteilen für Händler und Hersteller von Babyartikeln vielleicht ein Erfolg für die Familien erzielt würde. Aber Copenhagen Economics und das Bundesfinanzministerium sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass es deutlich bessere Mittel gibt als einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz, um Familien zu entlasten. Ich habe mich natürlich gefragt, welche Produkte und Dienstleistungen Sie in Ihrem Antrag meinen und wie das praktisch aussehen könnte; denn ich nehme Sie ernst. Soll künftig auf Bleistifte ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozentpunkten erhoben werden, wenn Kinder sie benutzen, und ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozentpunkten, wenn ich als Erwachsene sie benutze? Wie groß darf eine Jeans sein, um eine Kindergröße zu haben? Die Turnschuhe meines 13-jährigen Neffen passen mir ebenfalls. Das alles können also keine Kriterien sein. Nehmen wir das Alter als Beispiel. Die Eltern müssten den Kinderausweis vorzeigen, um nachzuweisen, dass sie noch Kinder im Sinne des Umsatzsteuerrechtes haben. Das ist doch ein Stück aus Absurdistan. Das kann doch nicht ernst gemeint sein.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, der Kollege Pronold hat den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen. Gestatten Sie?
Gabriele Frechen (SPD):
Ja.
Florian Pronold (SPD):
Liebe Kollegin Frechen, es geht um die Frage, ob eine Mehrwertsteuersenkung an die Verbraucher weitergegeben wird. Nehmen wir als Beispiel Fast-Food-Restaurants. Wenn man das Essen mitnimmt, wird ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz erhoben. Wenn man das Essen im Lokal verzehrt, wird der volle Mehrwertsteuersatz erhoben. Ist Ihnen bekannt, ob die Preise unterschiedlich sind, ob der Hamburger billiger ist, wenn man ihn mitnimmt?
Gabriele Frechen (SPD):
Vielen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege Pronold. Das ist ein geeignetes Beispiel dafür, dass die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze bei der Preisfindung keine Rolle spielen. Ich kaufe ab und zu einen Döner ?auf die Faust? - ich weiß natürlich nicht, ob auch Sie von der Linken das machen - oder bestelle mir eine Pizza. Ob ich die Pizza in der Pizzeria esse oder ob ich sie mitnehme, sie kostet immer gleich viel. Dabei wird im ersten Fall ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent und im anderen Fall ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent erhoben. Die Weitergabe einer Mehrwertsteuersenkung an den Kunden findet also nicht statt. So viel dazu.
Die eben schon erwähnte Studie von Copenhagen Economics oder auch der Bericht des Bundesfinanzministeriums besagen, dass es zielführendere Hilfen gibt. Es gibt vieles, was deutlich besser ist, um Familien zu helfen, und das sind direkte Hilfen. Wer wirklich ernsthaft Familien entlasten will, der muss erst einmal dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer Arbeit auch leben können. Deshalb stehen wir zu Mindestlöhnen.
Wenn das Familieneinkommen nicht ausreicht, gibt es den Anspruch auf Kinderzuschläge, die weiter ausgebaut werden. Damit Eltern in Ruhe arbeiten gehen können, gibt der Bund viel Geld für die Tagesbetreuung von Kindern ab dem ersten Lebensjahr aus. Das ist für uns direkte Hilfe für Familien. Was mir noch wichtig ist, sind Einschulungspakete, kostenloses Mittagessen in der offenen Ganztagsschule oder in den Kindertagesstätten.
Wer mir jetzt entgegenhält, das sei Ländersache und damit habe der Bund nichts zu tun, dem kann ich nur sagen, dass er den Gong noch nicht gehört hat. Wer heute noch nicht kapiert hat, dass Familienpolitik, dass die beste Politik für unsere Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe auf allen staatlichen Ebenen ist, der lernt es nie mehr.
Ich glaube, Kompetenzgerangel oder Schmollecken auf den verschiedenen Ebenen helfen da überhaupt nicht. Was am allerwenigsten hilft, sind populistische Einzelmaßnahmen, wie sie von Ihnen heute gefordert wurden. Diese stärken vielleicht das Ego des einen oder anderen Machos bei Ihnen, aber den Familien hilft das ganz bestimmt nicht.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun darf ich Sie um Aufmerksamkeit für den letzten Redner in dieser Debatte bitten. Es ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
Otto Bernhardt (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Umsetzung der Forderung im Antrag der Linken würde 1,5 Milliarden Euro kosten. Ich glaube, Sie stimmen mir zu, dass man mit diesem Betrag Besseres für die Kinder in unserem Lande tun kann.
Natürlich ist es populär, so etwas zu fordern. Aber ich finde, wenn man so etwas fordert, sollte man der Fairness halber auch sagen, was das kostet. Bei der gesamten Debatte über den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bzw. den normalen Mehrwertsteuersatz dürfen wir eines nicht aus dem Auge verlieren: Jede Maßnahme zur Ausdehnung des ermäßigten Steuersatzes auf weitere Produkte führt zur Verringerung des Steueraufkommens. Dann stehen wir vor der Frage, ob wir den generellen Steuersatz erhöhen.
Ich will das einmal an der Größenordnung der Mehrwertsteuer klarmachen. Das Gesamtaufkommen liegt bei etwa 175 Milliarden Euro, und damit ist die Mehrwertsteuer für die öffentliche Hand eine der wichtigsten Einnahmen überhaupt. Ich will darauf verweisen, dass 85 Prozent aller Güter und Dienstleistungen mit dem normalen Steuersatz von 19 Prozent und 15 Prozent mit dem ermäßigten Steuersatz besteuert werden.
75 Prozent der Produkte, die den ermäßigten Steuersatz haben, entfallen auf Lebensmittel. Wenn wir keinen ermäßigten Steuersatz hätten, sondern alle Produkte mit 19 Prozent besteuern würden, dann hätten wir ein zusätzliches Aufkommen von 18 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass wir den Steuersatz generell um 2,5 Prozentpunkte reduzieren könnten, um zum gleichen Steueraufkommen zu kommen.
Nun wissen Sie, dass die Mehrwertsteuer in der heutigen Form ziemlich genau vor 40 Jahren eingeführt wurde. Damals gab es den Übergang von der generellen Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer. Damals gab es eine sehr intensive Diskussion über die Frage, für welche Produkte ein ermäßigter Steuersatz gelten soll und für welche nicht. Das EU-Recht eröffnet den Ländern übrigens sogar die Möglichkeit, zwei ermäßigte Steuersätze anzuwenden. Viele Ländern machen davon Gebrauch - wir nicht.
Natürlich sind die Maßstäbe, nach denen man heute Grundlebensmittel von anderen Lebensmitteln abgrenzt, heute andere als noch vor 40 Jahren. Das zeigt ein extremes Beispiel: Vor 40 Jahren - niemand von uns war damals schon im Bundestag - hielt man zum Beispiel Wasser nicht für ein lebensnotwendiges Gut. Es wurde mit 19 Prozent besteuert. Wir alle erhalten jedes Jahr immer wieder Schreiben mit der Bitte, doch dieses Produkt, das immer wichtiger wird, endlich nur noch mit 7 Prozent zu besteuern.
Ich will Ihnen einmal sagen, was das kosten würde: Wir hätten Mindereinnahmen von 300 Millionen Euro, wenn die Besteuerung von Wasser auf 7 Prozent gesenkt würde. Dieses Beispiel - und auch andere Beispiele, die meine Vorredner angeführt haben - zeigt, dass das System überprüfungsbedüftig ist.
Jeder, der das leugnet, kann sich mit dem Thema nicht beschäftigt haben.
Sobald man eine Detaildiskussion führt, macht jeder Vorschläge dazu, bei welchen Produkten der Steuersatz dringend auf 7 Prozent gesenkt werden muss. Aber es kommen keine Anträge und Vorschläge, welche Produkte höher besteuert werden sollen - außer vielleicht Katzenfutter. Aber mit den 10 Millionen Euro, die sich daraus ergeben würden, kann das System nicht verändert werden.
Deshalb glaube ich, es ist richtig, dass wir uns diesem Thema ausführlich widmen - das wird ja auch im Grundsatz von allen Fraktionen gefordert - und nicht mit Rosinenpickerei beginnen. Ich sage an dieser Stelle auch, vor welcher Problematik wir stehen: Es gibt zwei Bereiche, die heute schon angesprochen worden sind, bei denen vieles dafür spricht - auch mit Blick auf den internationalen Vergleich -, einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. Der eine Bereich ist die Gastronomie, der andere die Medizin. Ich nenne die Größenordnungen, um die es dabei geht: Wenn wir die Produkte bzw. Dienstleistungen in diesen beiden Bereichen - und viele fordern das ja von uns - in Zukunft mit 7 Prozent besteuern, dann ergibt sich ein Steuerausfall von rund 8 Milliarden Euro. Im Gegenzug müssten wir den generellen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent auf 20 Prozent erhöhen. Ich finde es fair, wenn wir in unseren Diskussionen vor Ort darauf hinweisen.
Ich sage mit allem Nachdruck: Ich finde den Antrag der Linken - mein Kollege Kolbe hat es bereits gesagt -, für einen Bereich 1,5 Milliarden Euro einzusetzen, wenn man nicht einmal weiß, wie viel davon wirklich bei den Kindern ankommt, im Grunde erbärmlich. Jeder, der sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt - einige Vorredner haben das gemacht -, wird schnell zu dem Ergebnis kommen, dass das vor dem Hintergrund der EU-Regelungen schwierig umzusetzen ist. Sicherlich können wir auf EU-Ebene etwas verändern, aber das geht nur in Jahren und nicht in Monaten, um das klar zu sagen. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch noch das Stichwort der gesamten Abgrenzungsproblematik nennen.
Wir von der Koalition werden Ihren Antrag aus diesen Gründen ablehnen und dem Beschluss des Finanzausschusses zustimmen. Wir werden unsere Politik insbesondere der Stärkung der Situation der jungen Generation und der Kinder fortsetzen. Ein wichtiger Beitrag, vielleicht der wichtigste, ist es, an dem Ziel der Stabilisierung und Sanierung der öffentlichen Finanzen konsequent weiterzuarbeiten. Denn alle Schulden, die wir heute machen, müssen unsere Kinder und Enkelkinder nicht nur verzinsen, sondern auch zurückzahlen. Wir bleiben bei unserer soliden Finanzpolitik
und lassen uns bei einer Politik für die Kinder durch niemanden überbieten, insbesondere nicht durch die Einmalhascher von der linken Seite. Wir bleiben bei unserer soliden Politik für die Kinder in Deutschland.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent?. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6732, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4485 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich würde gern die Beratungen fortsetzen. Wir haben noch eine ganze Reihe von Abstimmungen zu bewältigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Gespräche vor dem Saal zu führen. Diejenigen, die an den weiteren Beratungen und Abstimmungen teilnehmen wollen, bitte ich, die Plätze einzunehmen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 142. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 15. Februar 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]