161. Sitzung
Berlin, Freitag, den 9. Mai 2008
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unseren heutigen Beratungen. Wir können unmittelbar in die Tagesordnung einsteigen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Migrationsbericht 2006
- Drucksache 16/7705 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse nach § 43 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 16/6043 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort Herrn Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Phänomen der weltweiten Migration - Ursache und Folge zunehmender Globalisierung zugleich - tritt zunehmend an die Spitze auf der globalen politischen Agenda. Ohne umfassende Analyse der Migration würden wir mit unseren Konzepten für Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integration nur schwer vorankommen. Deswegen brauchen wir aussagekräftige Statistiken und Berichte zur Entwicklung des Migrationsgeschehens. Mit dem Migrationsbericht 2006 legen wir einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Zu- und Abwanderung, über die rechtlichen Hintergründe der Zuwanderung und über die Struktur der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vor.
Ich will ein paar Schlaglichter dieses Berichts kurz nennen: Der Wanderungssaldo 2006 von Deutschen und Ausländern war mit einem Plus von 23 000 Zuwanderern auf dem niedrigsten Stand seit 1984. Wir hatten 662 000 Zuzüge und 639 000 Fortzüge. Bei den Ausländern gab es einen Wanderungsüberschuss von rund 75 000 Personen. Bei den Deutschen gab es unter dem Strich eine Abwanderung von 59 000 Personen. Hauptziel für deutsche Auswanderer - übrigens auch Hauptherkunftsland von deutschen Rückkehrern - waren die Vereinigten Staaten von Amerika.
Im Zeitraum seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 bis Ende 2006 erhielten - auch diese Zahl ist bemerkenswert - 1 123 hochqualifizierte Ausländer eine Niederlassungserlaubnis nach § 19 Aufenthaltsgesetz. Es gab im Jahr 2006 gegenüber 2005 eine leichte Steigerung bei der Ersteinreise von Hochqualifizierten. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung liegt weiterhin bei rund 8,8 Prozent. Rund ein Viertel aller in Deutschland lebenden Ausländer - es sind genau 25,6 Prozent - sind türkische Staatsangehörige. Das ist damit die größte Gruppe ausländischer Zuwanderer in Deutschland. Knapp ein weiteres Viertel sind übrigens Bürger der Europäischen Union: 24,4 Prozent.
Noch eine Zahl: Im Jahr 2006 wurden 125 000 Personen eingebürgert, seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 insgesamt rund 1 Million. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2006 sind knapp 100 000 Personen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive aus Staaten außerhalb der Europäischen Union zu uns gekommen, davon 56 302 im Wege des Familiennachzugs, 7 747 Spätaussiedler, 29 466 zum Zwecke der Beschäftigung usw. Sie sehen an diesen Zahlen, dass sich bei Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive die Notwendigkeit der Integration stellt; denn bei Zuwanderung mit der Perspektive, dauerhaft zu bleiben, ist es entscheidend, dass die Integration gelingt.
Die Zahlen, von denen der Migrationsbericht viele enthält - ein paar habe ich genannt -, belegen - deswegen habe ich sie so ausgewählt -, dass zur Dramatisierung in mancherlei Richtung nicht zu viel Anlass besteht. Durch die Zahlen kann man die Dinge vielmehr wieder auf den realen Kern zurückführen.
Wir wissen, dass die Defizite, die wir im Bereich der Integration haben, nicht durch die aktuellen Zuwanderungszahlen begründet sind. Wir wissen, dass diese Defizite vor allen Dingen bei Menschen der zweiten und dritten Generation bestehen, also bei Menschen, deren Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten zugewandert sind. Deswegen war es richtig - ich will daran erinnern -, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode die Bekämpfung der Integrationsdefizite innerhalb der zweiten und dritten Generation zu einem Schwerpunkt der Politik in dieser Legislaturperiode erklärt hat. Die vielfältigen Bemühungen von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft - Sport und vieles andere mehr -, die es diesbezüglich gibt, werden durch die Integrationsbeauftragte, die Kollegin Böhmer, koordiniert. Ich will darauf hinweisen, dass diese Bemühungen auch im Rahmen des Integrationsgipfels Schritt für Schritt vorangebracht werden. Ich glaube, dass wir schon ein gutes Stück vorangekommen sind.
Die Bemühungen des Bundes sind nur ein Teil der Integrationsmaßnahmen; das muss man immer berücksichtigen. Die wichtigste integrationspolitische Einzelmaßnahme des Bundes ist der Integrationskurs. Im Jahr 2008 haben wir dafür Haushaltsmittel in Höhe von insgesamt rund 155 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Integrationskurse sollen dazu beitragen, dass Ausländer die Chancen, die unser Land allen bietet, besser nutzen können. Die Kurse sollen die gleiche Teilhabe dieser Menschen an unserer Gesellschaft stärken. Die Integrationskurse sind ein Erfolg. Seit 2005 haben über 27 000 Kurse begonnen. 185 000 Teilnehmer haben den Kurs bereits abgeschlossen. Wir evaluieren von Anfang an und beständig. Aus diesen Studien ziehen wir immer wieder Konsequenzen im Sinne von Verbesserungen: Wir haben die Stundenkontingente flexibler gestaltet, das Verfahren entbürokratisiert und finanzielle Anreize geschaffen; so wird beispielsweise nach erfolgreicher Teilnahme der Kostenbeitrag teilweise zurückerstattet. Das ist ein fortlaufender Prozess, wir kommen damit voran.
Ich will eine Bemerkung zur Sprache machen. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist zwar keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Integration, aber es ist eine notwendige, damit Bildungschancen und Chancen auf dem Arbeitsmarkt genutzt werden können. Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt sind natürlich die eigentliche Voraussetzung für gelingende Integration. Sprachkenntnisse sind aber unerlässlich, damit diese Chancen genutzt werden können; deswegen ist das so wichtig.
Wir haben beschlossen, dass auch die Eltern der Kinder, insbesondere die Mütter, die deutsche Sprache lernen sollen. Das ist notwendig - das sagen insbesondere die Lehrer der Schulen, die davon besonders betroffen sind -, damit wir nicht in jeder Generation wieder von vorne anfangen müssen. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Familiennachzug gesagt: Es ist besser, wenn bei Einreise zumindest ein Minimum an deutschen Sprachkenntnissen vorhanden ist.
Wir kommen damit voran. Ich habe mir das in der Türkei im vergangenen Jahr genau angeschaut. Die anfänglich befürchteten Schwierigkeiten sind längst weitgehend verschwunden. Es funktioniert und wirkt sich in der Praxis Schritt für Schritt aus.
Das bringt mich zu einer anderen Bemerkung: Integration kann nur gelingen, wenn sie als Prozess der Gegenseitigkeit verstanden wird. Wir brauchen Fördern und Fordern. Wir brauchen die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zur Offenheit, die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, Zuwanderer aufzunehmen. Wir brauchen aber auch die Bereitschaft der Zuwanderer bzw. der Zugewanderten, in diesem Land heimisch werden zu wollen. Auch das ist unerlässlich; das muss man sagen.
Wir wollen nicht - dazu ist Deutschland viel zu dicht besiedelt und Europa viel zu kleinräumig und kleinteilig - Parallelgesellschaften entstehen lassen. Das ist das Gegenteil von gelingender Integration. Das ist keine gute Voraussetzung dafür, dass Toleranz, Offenheit und Friedlichkeit in unserem Land bewahrt werden. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, sondern Integration; darauf müssen wir setzen.
Angesichts von Erfahrungen mit Medien, die wir etwa im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe in Ludwigshafen gemacht haben, will ich noch einmal sagen: Es gibt auch eine Verantwortung der Medien. Verzerrende Mediendarstellungen solcher Ereignisse, beispielsweise auch in türkischen Zeitungen, dienen nicht der Integration; sie fördern das Gegenteil. Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen, der Staat alleine kann es nicht.
Deswegen will ich im Hinblick auf die viel diskutierte, vielleicht auch ein bisschen missverständliche Rede von Premierminister Erdogan eine Bemerkung machen; Wahlkampfreden haben es gelegentlich an sich, dass sie im politischen Streit ein bisschen aufgeladen werden.
- Ich sagte ja deswegen gerade: ?Hängt es ein bisschen tiefer!?.
- Sage ich doch. Ich habe nichts Gegenteiliges gesagt.
Ich wollte nur eines dazu sagen: In dieser Rede und der Debatte dazu ist klargeworden, dass es wichtig ist, sich dazu zu bekennen, dass wir den Menschen nicht auf Dauer die Entscheidung ersparen können, ob sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten oder eine neue beantragen wollen. Das ist für Zuwanderer, die auf Dauer zuwandern, eine schwere Entscheidung. Sie fällt Menschen niemals leicht; aber sie kann ihnen nicht erspart werden. Wenn man die Entscheidung verweigert, dann erfüllt man nicht die Grundvoraussetzung, die notwendig ist, damit Integration, Anpassung und Heimischwerden in der neuen Heimat gelingen.
Es war daher richtig, dass wir die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit verhindert haben und jetzt - das habe ich mit der türkischen Regierung verabredet - mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten, damit Probleme im Alltag und im konkreten Verwaltungsvollzug bei der Umsetzung der Optionslösung verhindert werden können.
Ich will in aller Kürze noch eine Bemerkung zu einem weiteren Thema machen. Ein spezieller Aspekt von Migration und Integration ist die Tatsache, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist. Dem tragen wir mit der Islamkonferenz Rechnung, in deren Rahmen wir versuchen, die Thematik aufzuarbeiten. Darüber haben wir vielfältig diskutiert und werden es weiter tun müssen. Ich finde, dass wir mit dem Prozess, den wir durch diesen Dialog zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie der vielfältigen pluralen Gemeinschaft von Muslimen in unserem Lande auf den Weg gebracht haben, insgesamt gut vorangekommen sind.
Das wird im Übrigen insbesondere durch den Streit, der dort vielfältig stattfindet, sichtbar. Denn Streit und plurale Debatten sind Voraussetzung für offene demokratische Prozesse. Deswegen stört mich dieser Streit nicht. Ich sehe es vielmehr als einen Fortschritt, dass die Vielfalt von muslimischem Leben in unserem Lande Muslimen wie der Mehrheitsgesellschaft durch diese vielfältigen Debatten sichtbar wird. Auch wenn wir noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, weiß ich: Das ist genau der richtige Weg, damit Integration gelingt.
Im Übrigen haben wir eine Reihe von wichtigen Vereinbarungen zustande gebracht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht im Sinne von Art. 7 des Grundgesetzes, wenn er denn gewünscht wird, wurden in der Partnerschaft geschaffen. Wir haben gemeinsame Erklärungen über Grundrechte, Grundwerte und Grundverständnisse unserer Verfassung mit allen Vertretern in der Islamkonferenz verfasst; unter anderem auch dazu, dass islamistische Bestrebungen, das heißt, der Missbrauch der Religion zu Zwecken gewalttätiger Auseinandersetzungen, zu bekämpfen sind. Wir sind also insgesamt auf einem guten Weg vorangekommen.
Ich will eine letzte Bemerkung machen, weil auch dies in den Zusammenhang von Migration und Integration gehört. In einem Europa der offenen Grenzen können wir Migrationspolitik nicht mehr alleine national steuern. Deswegen brauchen wir eine gemeinsame europäische Politik zur Bekämpfung illegaler Migration. Wir haben gemeinsame Außengrenzen, wir brauchen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Wir bleiben dabei, dass die Frage der Steuerung legaler Migration in den Arbeitsmarkt Sache der Mitgliedstaaten bleibt, die die Kompetenz für den Arbeitsmarkt haben. Natürlich gibt es in der Partnerschaft mit Herkunfts- und Transitstaaten, die man braucht, um die Schleuserkriminalität zu bekämpfen, auch Verbindungen zwischen der Steuerung legaler und der Bekämpfung illegaler Migration. Dabei müssen wir auch die Interessen der Dritten Welt, der Herkunftsländer bedenken. Das nennt man dann strukturierte Migration. Und wenn wir dies tun, sehen wir auch den Zusammenhang zwischen Migration und globaler Verantwortung. Wenn wir eine solche Gesamtkonzeption der Migrationspolitik verwirklichen, dann werden wir unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion.
Sibylle Laurischk (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schäuble, Sie haben gerade das Thema Auswanderung angesprochen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Auswanderung in die Schweiz insbesondere in unserer südbadischen Heimat mittlerweile bedeutsam geworden ist. Die Schweiz hat wohl einen Standortvorteil. In der Schweiz wird gut verdient, und auch die Arbeitsbedingungen sind gut - das gilt insbesondere für diejenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind -, sodass immer mehr Deutsche ihren Arbeitsplatz und ihren Wohnort dort nehmen.
Deutschland wird vielfältiger; dieses Phänomen heißt auf Neudeutsch ?Diversity?. Der aktuelle Migrationsbericht zeigt dies klar auf. Der Anteil der Bevölkerung, der einen Migrationshintergrund hat, steigt kontinuierlich. In Großstädten ist in weiterer Zukunft mit einer Größenordnung von 40 bis 50 Prozent zu rechnen. Daran wird deutlich, dass die Integrationspolitik eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft ist.
Die Tatsache, dass Migration stattfindet, wurde mit dem Satz ?Deutschland ist kein Einwanderungsland.? lange Zeit schlichtweg geleugnet. Andere hingegen fanden ?Multikulti? besonders schick. Die Grünen lehnten noch vor zwei Jahren tatsächlich das Sprechen der deutschen Sprache auf Berliner Schulhöfen ab.
Plötzlich mussten Migrantenkinder ihr Deutschsprechen gegen die vermeintlich politisch Korrekten verteidigen. Das war verkehrte Welt.
Tatsächlich erfolgt Integration über die Kenntnis der deutschen Sprache. Viele Migranten haben aber keine ausreichenden Deutschkenntnisse, auch wenn sie in Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind. Dies hat nichts mit der Schulart zu tun, sondern ist ausschließlich auf die Intensität der Förderung zurückzuführen.
Die FDP will, dass Kinder so früh wie möglich gefördert werden. Entscheidend ist dabei die durchgängige, systematische Sprachförderung: vom Kindergarten über die Schule bis hin zur beruflichen Bildung. Der Schlüssel zum Bildungserfolg und damit zum Zugang zur Arbeitswelt ist die Kenntnis der deutschen Sprache. Sprachstandstests dienen einer frühen Problemanalyse, die allerdings auch Konsequenzen haben muss. Statt versäumte Bildungsangebote nachzuholen, müssen wir Kinder und Jugendliche früh für ein Leben in und nicht am Rande unserer Gesellschaft fit machen. Hier sind auch die Länder gefordert. Wir wissen: Wer am Anfang spart, legt am Ende drauf.
Gleiches gilt für die nachholende Integration lange hier lebender Migranten und neuer Zuwanderer. Das Ziel der Sprachkurse, die im Rahmen der Integrationsbemühungen durchgeführt werden, ist dann erreicht, wenn sich die Kursteilnehmer im täglichen Leben in ihrer Umgebung sprachlich selbstständig zurechtfinden, entsprechend ihrem Alter und Bildungsstand ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken können. Dieses B1 genannte Niveau wird mit den geltenden 900 Lernstunden nicht erreicht. Die Praxis zeigt deutlich, dass es der Mehrzahl der Kursabsolventen nicht möglich ist, das angestrebte Niveau nach 900 Lernstunden zu erreichen.
Die FDP fordert deshalb, dass im Rahmen der Integrationskurse 1 200 Unterrichtsstunden durchgeführt werden. Außerdem sollte die Möglichkeit geschaffen werden, innerhalb dieser Stundenzahl ein höheres Sprachniveau als B1 zu erreichen, um letztendlich insbesondere beruflich qualifizierten Migranten die Arbeitsaufnahme zu erleichtern.
Das Unterrichtsniveau hängt natürlich auch von einer angemessenen Bezahlung der Lehrkräfte ab. Es kann nicht angehen, dass qualifizierte Lehrkräfte Einkünfte auf Hartz-IV-Niveau beziehen. Das ist ein falsches Signal. Der Integrationsarbeit muss eine angemessene Wertschätzung entgegengebracht werden.
Herr Innenminister, ich lade Sie ein, sich einmal die konkrete Situation in unserem Wahlkreis gemeinsam mit mir anzuschauen.
Lassen Sie mich jetzt noch das Thema Ehegattennachzug ansprechen. Die Bundesregierung hat nach Auffassung der FDP mit dem neuen Zuwanderungsrecht Ehen zweiter Klasse geschaffen. Hier müssen die nachziehenden Ehegatten in ihrem Heimatland Deutsch gelernt haben, während das für andere nicht gilt.
Die Frühjahrskonferenz der Integrations- und Ausländerbeauftragten der Länder hat Ende April dieses Jahres festgestellt, dass sich diesbezüglich einige Schwierigkeiten ergeben haben und dass eine Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen dieser Gesetzeslage notwendig ist
bzw. dass in begründeten Ausnahmefällen eine Einreise ohne Sprachnachweis ermöglicht werden sollte. Erweist sich das neue Gesetz bereits als nicht tragfähig? Unsere Anstrengungen müssen doch dahin gehen, Frauen in ihrem Potenzial zur Integration gerade der Familie und der Kinder zu stärken und nicht auszugrenzen.
Unverzichtbar für eine gelingende Integration bleibt die Unvoreingenommenheit gegenüber und die Akzeptanz von Migranten; denn sie bedeuten für diese Gesellschaft Zukunft und Entwicklung.
Ich empfehle die Lektüre dieser beiden Berichte. Eine moderne Gesellschaft braucht Vielfalt, nicht Einfalt.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rüdiger Veit.
Rüdiger Veit (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich zu dieser Debatte kam, traf ich draußen den Kollegen Josef Winkler. Wir schätzten übereinstimmend ein - das ist bisher auch wahr geworden -, dass diese Debatte nicht besonders streitig werden wird. Natürlich bieten die nüchternen Zahlen nur bedingt Material für Streit; aber auf einige unterschiedliche Schlussfolgerungen muss man meines Erachtens hier und da auch hinweisen. Wir sprechen unter anderem über den Erfahrungsbericht zu den Integrationskursen. Die Sicht der SPD-Fraktion dazu wird Ihnen mein Kollege Michael Bürsch nachher noch einmal im Einzelnen darlegen.
Aber lassen Sie mich zu Beginn an Folgendes erinnern: Die Einführung dieser Integrationskurse ist ein Verdienst und eine Initiative der früheren rot-grünen Regierung und der sie tragenden Mehrheiten.
Ich bin ausdrücklich sehr froh darüber, Herr Kollege Grindel, dass unser nicht mehr ganz so neuer, aber jedenfalls anderer Koalitionspartner fest an unserer Seite steht, wenn es um die Fortentwicklung der Integrationskurse geht. Ich halte die gemeinsam gefundene Formulierung zu der Integrationskursverordnung für ein gutes Beispiel,
denn immerhin haben wir auf diesem Gebiet noch einiges zu leisten: Wir wissen vom Bundesamt in Nürnberg, dass es immer noch etwa 1,6 Millionen Erwachsene und circa 850 000 Jugendliche gibt, bei denen wir uns darüber freuen würden, wenn sie ein Integrationsangebot annehmen würden.
Den Migrationsbericht könnte man in seinem Zahlenwerk unter das Motto stellen: Die Zeit ist reif. Sie ist reif für einen Umdenkprozess aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte in der Bundesrepublik, und zwar unter Einschluss aller Innenminister und -senatoren der Länder. Reif ist die Zeit schon deswegen, weil wir nach der Bevölkerungsprognose, die ebenfalls in diesem Bericht enthalten ist, im Jahr 2050 mehr als ein Viertel der Bevölkerung verloren haben werden, falls wir uns nicht um Gegensteuerung bemühen. Übrigens würde auch die Entwicklung unserer Altersstruktur ohne Migration noch weitaus ungünstiger verlaufen. Ich mache darauf aufmerksam, dass fast drei Viertel der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die zu uns kommen und die zu uns gekommen sind, unter 40 Jahre alt sind. Bei der Stammbevölkerung trifft dies nur auf knapp die Hälfte zu.
Der Minister hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass der sogenannte Wanderungssaldo, also der Überschuss der Zuzüge, im Jahre 2006 gerade noch 23 000 Menschen betragen hat.
In der Tat haben wir, auch wenn hier und da Überfremdung beklagt wird, aufgrund dieser Zahlen keinen Grund, etwas zu dramatisieren. Aber wir müssen uns angesichts der von mir angesprochenen Bevölkerungsentwicklung Gedanken über angemessene Gegenstrategien hierzu machen.
Dazu bilde ich einen Vergleich zu den Jahren 1991 und 1992. Wir hatten 1991 einen Wanderungssaldo von circa 600 000 Menschen und im Jahr 1992 sogar von fast 800 000 Menschen, also mehr Zuzüge als Fortzüge. Beispielsweise sind in den Jahren 1997 und 1998 Ausländer in größerer Zahl aus Deutschland weggezogen, als sie zu uns gekommen sind. Die Zahl der Deutschen, die ausgewandert sind, hat übrigens mit 150 000 im Jahr 2006 ihren Höchststand seit 1954 erreicht.
Ein wenig abgrenzend zu Ihren Ausführungen, Herr Minister, mache ich an dieser Stelle aber doch auf zwei Dinge aufmerksam: Hinsichtlich des Familiennachzugs sollten wir uns gemeinsam Gedanken über seine Förderung machen, statt ihn noch weiter zu begrenzen; denn die mit ihm verbundene Möglichkeit, mit Familie hier leben zu können, hat auch etwas mit Integration zu tun. Auch hierzu einmal die Zahlen: 2002 sind zum Zwecke der Familienzusammenführung 85 000 Visa erteilt worden. 2006 waren es nur noch rund 50 000 Visa. Die Zahl der Visa, die an türkische Staatsbürger ausgestellt wurden, hat sich im gleichen Zeitraum übrigens halbiert; es sind gerade noch 12 000 Visa pro Jahr.
Was Ihre Ausführungen zur doppelten Staatsbürgerschaft angeht, Herr Minister, will ich auf den Widerspruch aufmerksam machen, dass auch im Lichte des neuen Staatsbürgerschaftsrechts, das wir geschaffen haben - Sie haben die doppelte Staatsbürgerschaft bekämpft -, aufgrund der verschiedensten Umstände immer noch über 50 Prozent der Eingebürgerten ihre Staatsangehörigkeit als zweite Staatsangehörigkeit behalten. Auch hier gibt es also keinen Grund, zu dramatisieren. Wir haben vielmehr Anlass dazu, uns auch darüber noch einmal Gedanken zu machen, nicht nur was die Frage der verwaltungsmäßigen Abwicklung angeht.
Ich habe darüber gesprochen, wie sich der Bevölkerungsrückgang bis zum Jahre 2050 vollziehen wird. Selbst wenn wir jährlich 200 000 Menschen mehr bei uns aufnehmen als von uns wegziehen, wird unsere Bevölkerung von heute 82 Millionen auf 74 Millionen zurückgehen. Außerdem muss man sehen, dass wir die genannte Größenordnung von 200 000 Menschen weder mit einer Greencard noch mit der von der EU geplanten Bluecard erreichen werden; da werden wir uns schon mehr einfallen lassen müssen.
Es geht aber nicht nur um Arbeitsmigration: Auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen haben wir keinerlei Anlass, etwaige hartherzige Abschottungstendenzen in aller Zittrigkeit und Ängstlichkeit aufrechtzuerhalten. Es macht - wie ich mich darzulegen bemüht habe - auch in unserem wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse Sinn, Menschen aufzunehmen. Gegenwärtig nehmen wir gerade noch 20 000 Flüchtlinge im Jahr auf. Wir erinnern uns, dass das früher ganz anders war. Die Hauptlast tragen heute die Mittelmeeranrainer, und das, wie wir wissen, nicht immer vorbildlich im Hinblick auf humanitäre Standards, wie wir sie kennen.
Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Wir von der SPD-Fraktion finden es ausgesprochen richtig, dass sich vor dem Hintergrund dieser Zahlen der deutsche Innenminister und andere aus seiner Partei Gedanken machen, ob wir nicht gut daran täten, Flüchtlinge aus dem Irak bzw. Menschen, die aus dem Irak nach Jordanien oder Syrien geflüchtet sind, aufzunehmen. Die SPD-Fraktion würde das allerdings nicht gern nur auf verfolgte Christen beschränkt sehen. Wenn wir schon an der Religion anknüpfen, sollten wir das auf alle religiösen Minderheiten aus dem Irak, die nicht muslimischen Glaubens sind, ausweiten.
Wenn es Ihnen, Herr Minister Schäuble, gelingt - das wünschen wir Ihnen -, diese Initiative, die die Aufnahmekapazität und -bereitschaft aller europäischen Staaten betrifft, zu verbreitern, können wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir weitere besonders schutz- und betreuungsbedürftige Flüchtlinge von dort bei uns aufnehmen.
Lassen Sie mich gegen Ende meiner Ausführungen ein Thema ansprechen, von dem Sie wissen, dass ich es immer wieder anspreche, nicht nur weil Wiederholung nach pädagogischen Grundsätzen ein wesentliches Element der Vertiefung ist, sondern auch deswegen, weil man das der Bevölkerung, an die sich der Migrationsbericht ja richtet, deutlich sagen muss. Ich weiß, dass ich damit bei vielen, über Parteigrenzen hinweg, offene Türen einrenne. Ich sage das aber auch und gerade wegen der Erfahrungen, die ich mit manchen Innenministern und -senatoren gemacht habe: Meine Damen und Herren, es macht doch keinen Sinn - Stichwort Beseitigung von Kettenduldungen und Bleiberechtsregelung -, Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren, die hier aufgewachsen, die hier zur Schule gegangen sind, ihrer Heimat - Deutschland ist ihre Heimat - zu berauben und sie samt ihren Eltern abzuschieben
und dafür andere, die wir zur Stabilisierung unseres Sozialversicherungssystems oder zur Aufrechterhaltung unserer Wirtschaftsordnung brauchen, mit großem Kostenaufwand, mit großem Zeitaufwand anzuwerben und sie langwierig zu integrieren. Wenn jemand schon hier ist und gut integriert ist, sollte er bleiben können.
Wir wissen, dass durch die gesetzliche Bleiberechtsregelung - über die ich mich gefreut habe - mittlerweile rund 12 000 Personen begünstigt worden sind; das sind die Zahlen vom Jahresende 2007, wenige Monate vorher trat die Regelung inkraft.
Mein aufrichtiger Wunsch an Sie alle ist: Wir sollten uns vom Bundesinnenminister und von den Landesinnenministern sowie -senatoren die Zahlen für das erste Halbjahr 2008 bald geben lassen und auswerten, damit wir wissen, ob wir das ausreichend ausgestaltet haben oder ob wir unter Umständen noch etwas verbessern müssen. Ich würde mir an dieser Stelle und im Lichte der Zahlen dieses Migrationsberichtes jedenfalls wünschen, dass alle, die mit der Anwendung dieses Rechts befasst sind, nicht eng- bzw. hartherzig, sondern großzügig und vernünftig handeln, damit diese Menschen, die zum Teil schon seit vielen Jahren hier leben, auch eine Perspektive in Deutschland behalten.
Wir haben jetzt alle Zeit, zu handeln. Ich sagte schon: Die Zeit ist reif. Die Zahlen liegen vor, und wir können an dieser Stelle auch und gerade für unsere gesamte Bevölkerung Gutes und Richtiges tun.
Danke sehr.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dagdelen für die Fraktion Die Linke.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal lohnt es sich, einen Blick auf die vorliegenden Drucksachen zu werfen. Auf Seite 5 der Drucksache 16/7705 heißt es nämlich:
Der Migrationsbericht der Bundesregierung verfolgt das Ziel, durch die Bereitstellung möglichst aktueller
- aktuell sind sie ja nicht mehr -,
umfassender und ausreichend detaillierter statistischer Daten über Migration Grundlagen für die Entscheidungsfindung von Politik und Verwaltung im Bereich der Migrationspolitik zu liefern. Zudem möchte er die Öffentlichkeit über die Entwicklung des Migrationsgeschehens informieren.
Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006 daraufhin anschaue, stelle ich fest - hier muss ich mich Herrn Bundesminister Schäuble oder auch meinem Vorredner anschließen -, dass es einen stetigen Rückgang bei den Zuwanderungszahlen gibt.
Schauen wir uns einmal an, welche Ziele mit dem Zuwanderungsgesetz - es liegt sozusagen auch der vorliegenden Drucksache zugrunde - verfolgt werden:
Erstens. Eine Zuwanderung soll möglichst verhindert werden. Laut Migrationsbericht gelingt das anscheinend auch.
Zweitens. Wenn es überhaupt zur Zuwanderung kommt, dann sollten es zumindest Menschen sein, die im hiesigen Wirtschaftsprozess eine verwertbare Leistung erbringen bzw. nützlich sind.
Manchmal kann man Politik aus einem Bauchgefühl heraus gestalten, oder sie entsteht aus religiösen Sätzen oder aber aus wissenschaftlichen Erkenntnissen oder der Empirie bzw. Untersuchungen. Ich muss aber leider feststellen, dass die Politik der Bundesregierung weit von den Fakten entfernt ist.
Erinnern wir uns und schauen wir uns einmal an, welche Einbürgerungspolitik gerade auch im Frühjahr 2006 betrieben wurde. Die Politikerinnen und Politiker überboten sich fast schon hysterisch mit ihren Vorschlägen, einbürgerungswilligen Migranten mit Wissenstests, Wertetests, Gesinnungstests, Staatsbürgerkursen oder auch Einbürgerungsgesprächen zu Leibe zu rücken, um zu überprüfen, ob sie eine rechtschaffene Gesinnung haben.
Oft überschritt das Niveau ihrer Argumente nicht das Niveau der Parolen, die an Stammtischen von sich gegeben wurden. Wenn man sich den Bericht der Bundesregierung anschaut, dann erkennt man, dass Sätze wie ?Wir entscheiden, wer Deutscher ist? und ?Wir lassen nicht jeden hinein? - die Kanzlerin sprach von einer Staatsbürgerschaft zu Ramschpreisen oder gar im Vorbeigehen - unerträglich sind und überhaupt keine materielle Basis haben.
Die Einbürgerungszahlen sinken stetig; das wissen Sie auch. Das wird auch durch diesen Bericht gezeigt. Im Jahr 2006 lagen die Einbürgerungszahlen nämlich weit unter denen des Jahres 1999. 1999, also noch vor der sogenannten Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes, gab es etwa 143 000 Einbürgerungen, 2006 waren es dann 125 000. Obwohl dies mehr Einbürgerungen als im Jahr 2005 waren, wird es hier keine Trendwende geben. Das hat die Bundesregierung im letzten Jahr durch weitere Verschärfungen der Einbürgerungsvoraussetzungen bereits sichergestellt.
Es wundert auch nicht, dass die Bundesrepublik im europäischen Vergleich trotz der leicht höheren Einbürgerungszahl in 2006 schlecht abschneidet. Durch die im Oktober 2007 veröffentliche Untersuchung des British Council und der Migration Policy Group wird der Bundesrepublik für die Integrationspolitik insgesamt nur europäisches Mittelmaß bescheinigt. Denn die Einbürgerungsquote bei Migrantinnen und Migranten beträgt bei uns nur 1,7 Prozent.
Die Linke fordert radikale Erleichterungen bei der Einbürgerung, damit hier lebende Menschen nicht nur Pflichten erfüllen müssen - was sie tun -, sondern auch ihre staatsbürgerlichen Rechte erhalten.
Ein entsprechender Antrag liegt bereits seit längerem vor.
Lassen Sie uns auf die Asylanerkennungspraxis eingehen. Auch sie sieht - gerade auch im Hinblick darauf, dass sich in diesem Monat die faktische Abschaffung des Asylrechts zum 15. Mal jährt - nicht berauschend aus. Damals gab es eine sehr schlimme Stimmung in diesem Lande. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil die Ereignisse in Solingen und Mölln dazu geführt haben, dass ich mich politisch in der antifaschistischen Arbeit engagiert habe.
Die Zahl der Asylanträge hat einen historischen Tiefstand erreicht. Das ist kein Wunder. Deutschland wird schließlich nicht nur am Hindukusch verteidigt. Deutsche Interessen gibt es mittlerweile auch auf Lampedusa und Lanzarote. Wie Herr Schäuble bereits deutlich gemacht hat, ist eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik notwendig.
Aber statt die Ursachen für die Flucht von Menschen zu bekämpfen oder nach humanitären Lösungen zu suchen, wird die EU-Grenze immer weiter militarisiert. Hunderte von Toten werden an den Außengrenzen Europas billigend in Kauf genommen ebenso wie - das zeigen die Statistiken - die über 7 000 Toten im Mittelmeer.
Das ist die Folge der repressiven Flüchtlingspolitik, die in Deutschland und auch in Europa betrieben wird, zum großen Teil forciert durch die deutsche Bundesregierung.
Nur noch wenige Flüchtlinge erreichen die Bundesrepublik, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Trotzdem ist die Anerkennungspraxis restriktiver denn je. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hebt sogar die Anerkennungen nach Art. 16 a des Grundgesetzes auf. Insofern fordert die Linke eine humanitäre Flüchtlingspolitik und die Beendigung dieser skandalösen Praxis.
Sie haben festgestellt, dass die Sprache ein wesentliches Mittel für die Integration ist. Deshalb haben Sie die Regelungen zum Ehegattennachzug geändert. Schon dem Migrationsbericht 2006 ist ein deutlicher Rückgang zu entnehmen, und zwar von einst rund 64 000 im Jahr 2002 auf nicht einmal mehr 40 000 im Jahr 2006. Die Kinder sind hier nicht eingerechnet.
Der Rückgang in diesem Zeitraum hatte sicherlich auch mit dem EU-Beitritt vieler Staaten zu tun. Das sieht im letzten Jahr anders aus. Das hat mein Kollege Veit bereits deutlich gemacht. Vom dritten auf das vierte Quartal 2007 betrug der Rückgang laut einer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion allgemein 40 Prozent und beim Ehegattennachzug aus der Türkei sogar fast 68 Prozent. Das liegt an den von der Bundesregierung neu eingeführten Nachzugsbarrieren wie den Sprachanforderungen. Diese müssen nun bereits im Herkunftsland erworben werden. Unter welchen Umständen dies geschieht, ist der Bundesregierung völlig egal.
Die Linke hat das bereits bei der Novellierung angemahnt. Selbst die Ausländerbeauftragten der Bundesländer haben uns auf ihrer Tagung Ende April in Mainz unterstützt und gerade beim Ehegattennachzug Verbesserungen gefordert. Diese Regelung gehört abgeschafft, und zwar sofort.
Leider kann ich aber der Bundesregierung nicht einmal in der Integrationspolitik das Motto ?Einwanderung nein - Integration ja? unterstellen. Das wird auch im Migrationsbericht deutlich. Denn ihre Politik ist von national-kulturellen Hegemonisierungs- und Homogenisierungsversuchen geprägt. Verbesserungen im Hinblick auf eine strukturell soziale Gleichstellung sind bei der Bundesregierung jedenfalls nicht erkennbar.
Der zentrale Glaubenssatz der deutschen Integrationspolitik - den leider auch die FDP als Oppositionspartei übernommen hat - lautet: Das Erlernen der deutschen Sprache ist der Schlüssel zur Integration. So wird Integration im Wesentlichen auf das Beherrschen der deutschen Sprache reduziert. Doch wie Wilhelm Heitmeyer in der FAZ vom 3. April 2006 festgestellt hat:
Wenn Sprache so betont wird wie derzeit, kann sie auch zu einem neuen Ausgrenzungskriterium werden, statt, wie plötzlich behauptet wird, ein Integrationsinstrument.
Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel zu lesen.
Die kritische Auseinandersetzung mit den seit Januar 2005 angebotenen Integrationskursen mündete in den Erlass einer neuen Integrationskursverordnung. Wir begrüßen zwar die Erhöhung des Stundensatzes, können aber leider nicht dahinter stehen, weil es einer Erhöhung des Stundensatzes um 3 Euro und einer Senkung der Teilnehmerzahl auf maximal fünfzehn bedarf. Nicht ohne Ironie ist, dass nun die Zulassung von Kursträgern mit Auflagen erteilt werden kann. Das betrifft insbesondere die Regelungen zur Vergütung der Lehrkräfte. Dahinter verbirgt sich nichts anderes, als dass das BAMF den Trägern einen Mindestlohn verordnen kann. Die Bundestagsfraktion Die Linke begrüßt natürlich einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir fordern ihn seit eh und je. Angesichts der unzureichenden Finanzierung der Träger ist dies allerdings nicht realistisch.
Ich komme zum Schluss. Integration ist weitaus mehr als nur Sprache. Integration ist eine soziale Frage. Schauen Sie sich die Statistiken und die Zahlen an! Exzellente Bildungsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten führen nicht automatisch dazu, dass sie einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz bekommen. Das heißt, es hängt nicht von der Sprache, sondern von den strukturellen Rahmenbedingungen ab. Schaffen Sie entsprechende Rahmenbedingungen! Sorgen Sie für gleiche Teilhabe sowohl in der Bildung als auch in der Arbeitswelt, im Gesundheitsbereich und in der Politik! Schaffen Sie endlich eine gleichberechtigte politische Mitbestimmung, zum Beispiel ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger, damit die unerträgliche Ungleichbehandlung von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern aufgehoben wird!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Veit, ich fühle mich ein bisschen missverstanden. Ich habe zwar gesagt, dass ich zustimme, es werde wahrscheinlich nicht sehr strittig. Aber damit habe ich das Verhältnis zwischen Union und SPD gemeint.
Es kommt so selten vor, dass zwischen euch etwas nicht strittig ist, dass ich dem nur zustimmen konnte. Warum konnte es heute nicht strittig werden? Die Koalition hat gar keinen Entschließungsantrag vorgelegt. Sie haben keine Kraft mehr, sich in der Migrationspolitik auf eine gemeinsame Strategie zu einigen.
Wir diskutieren heute über eine Statistik aus dem Jahr 2006; das ist interessant. Interessanter wäre aber, zu hören, welche politischen Schlussfolgerungen Sie aus dieser Statistik ziehen.
Da hört die Einigkeit schnell auf. Trotz aller schönen Worte, die wir eben gehört haben, betreibt diese Bundesregierung eine systematische Politik der Zuwanderungsverhinderung. Das hat das Gesetzesverfahren im letzten Jahr eindeutig gezeigt.
Ich will zu einigen Zahlen etwas sagen. Wir haben den Ehegattennachzug im letzten Jahr neu geregelt; das wurde schon einige Male erwähnt. Ich möchte gleich einige krasse Fälle aufzeigen. So kurz vor Pfingsten hoffe ich, dass der Heilige Geist insbesondere über die Unionsfraktion ausgeschüttet wird, sodass dort eine Verbesserung festzustellen ist.
Wir sieht es denn inzwischen aus? Wir stellen fest, dass seit der Verschärfung im letzten Jahr die Zahl der Familienzusammenführungen, also der Nachzug zu bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen bzw. Ehegatten, um 40 Prozent zurückgegangen ist, bei Menschen aus der Türkei sogar um 68 Prozent. Trotzdem bestreitet die Bundesregierung, dass diese Regelung als Anti-Türken-Gesetz gemeint war. Aber diese Regelung stellt nun einmal für Türken ein schwieriges Problem dar. Im gleichen Zeitraum ist unter Ihrer Regierung ein Rückgang beim Spätaussiedlerzuzug um über 90 Prozent zu verzeichnen. Des Weiteren ist die jüdische Zuwanderung faktisch zum Erliegen gekommen. 2007 gab es nur 14 - ich betone: 14 - Zusagen zu Einwanderungen nach Deutschland. Das ist noch nicht einmal eine Zusage pro Bundesland. Dazu haben wir heute leider nichts gehört.
Bei der Steuerung der Zuwanderung ist ein völliger Stillstand zu beklagen. Bei der Begrenzung der Zuwanderung tut sich allerdings einiges, und das, obwohl die Wirtschaft und verschiedene Dachverbände immer wieder sagen: Wir brauchen Zuwanderung. - Aber Sie wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine Steuerung und Regulierung der Zuwanderung durch ein Punktesystem. Das widerspricht den einfachsten Gesetzen der Logik. Sie sagen, man könne die demografischen Probleme der Republik nicht alleine durch Zuwanderung lösen. Das ist richtig. Wenn man aber ein demografisches Problem hat, dann wäre es sinnvoll, Zuwanderer, die mit Kindern einreisen wollen, mit besonders vielen Punkten zu honorieren, das heißt, sie primär einreisen zu lassen,
oder bestimmten Berufsgruppen, an denen die Bundesrepublik einen Mangel hat, einen Bonus zu geben. Dies soll honoriert werden, und diese Personengruppen sollen verstärkt einreisen können. Wieso Sie sich dagegen wenden,
obwohl Sie steuern und regulieren wollen, versteht nun niemand.
Vielleicht können Sie das gleich klarstellen.
Wir brauchen in Deutschland eine Regulierung der Zuwanderung, weil wir Zuwanderer haben wollen. Wir brauchen diese Bereicherung für unser Land, und wir sollten die Regulierung so gestalten, dass wir die Besten der Besten, die wir brauchen, nach Deutschland holen können. Es soll aber nicht nur ein Teil der Familie kommen, sondern sie sollen mit ihren Familien kommen. Sie sollen sich hier integrieren können. Ich plädiere also für ein Punktesystem. Die Zeit ist reif dafür. Bewegen Sie sich!
Sie reden in diesem Zusammenhang immer davon, dass die Belastungsschwelle erreicht, wenn nicht sogar überschritten sei. Dazu ist hier schon etwas vom Kollegen Veit gesagt worden. Die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft hängt zunächst einmal von der Integrationsbereitschaft ab, aber nicht von irgendeiner imaginären Grenze, die niemand kennt. Das heißt, die politischen Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag oder auch in den Bundesländern während der Wahlkämpfe führen, entscheiden darüber, ob eine Integrationsbereitschaft der Bevölkerung besteht oder nicht. Da hat nun zum Beispiel der Wahlkampf eines Roland Koch in Hessen, der in unseliger Weise, geradezu mit verhetzerischer Qualität Wahlkampf betrieben hat, dazu beitragen sollen, dass die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung, insbesondere in Hessen, sinkt. Dass ihm das nicht gelungen ist, muss man der Bevölkerung in Hessen hoch anrechnen und ist wohl dem Grad der politischen Bildung der Hessen geschuldet. Herzlichen Dank dafür.
Ich will an einigen Punkten klarmachen, wo das Problem beim Ehegattennachzug liegt. Wir haben im Übrigen im Petitionsausschuss des Bundestages inzwischen Dutzende von Petitionen von Einzelpersonen dazu vorliegen, die große Probleme haben und nicht zusammenkommen können. Es gibt zum Beispiel eine Weisung des Auswärtigen Amtes vom Oktober letzten Jahres, wonach Antragsteller, die ein Familienzusammenführungsvisum beantragen wollen, nicht nach Hause geschickt werden sollen, nur weil sie das geforderte Sprachzertifikat noch nicht haben; denn damit wäre ihnen der Rechtsweg gegen diese Entscheidung verschlossen. Das wird aber immer noch gemacht. Weiterhin werden nur die Sprachzertifikate des Goethe-Instituts akzeptiert, was unter Wettbewerbsgesichtspunkten inakzeptabel ist und natürlich keinen Qualitätswettbewerb ermöglicht. Ferner steht im Gesetz überhaupt nicht, dass das Sprachniveau A 1 erreicht werden soll. Das ist völlig willkürlich in die Verordnung eingefügt worden. Im Gesetz war von einfachsten Sprachkenntnissen die Rede, und es wurde kein festes Niveau definiert. Es kommt immer wieder vor - ich weiß nicht, ob Sie das möchten -, dass selbst Antragsteller, die fließend deutsch sprechen können oder zumindest erkennbar über dem Niveau A 1 liegen, zurückgeschickt werden, nur weil sie den A-1-Test nicht machen. Der kostet Geld und Zeit. Wenn man schon deutsch kann, warum soll man diesen Test machen? Bewegen Sie sich ein bisschen, und lassen Sie die Leute ins Land!
Bei den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern ist es besonders krass. Gerade ältere Menschen schaffen den Nachweis der Sprachkenntnisse häufig nicht, sonst wären sie nach dem Verfahren gemäß Bundesvertriebenengesetz nach Deutschland eingereist. Nun gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen sich Eheleute darauf verlassen haben, dass ein Ehegattennachzug nach dem Ausländerrecht möglich ist. Jetzt aber wird Eheleuten, die nach Deutschland vorausgereist sind, gesagt: Wenn ihr das nicht schafft, dann müsst ihr womöglich den Rest eures Lebens eben getrennt leben. - Herzlichen Glückwunsch dazu. Die Alternative ist, dass der Partner die Bundesrepublik Deutschland wieder verlässt und nach Osteuropa zurückreist. Das kann doch bei Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern nicht Ihr Ernst sein.
Am allerschlimmsten trifft es die Analphabeten. Auch wir in Deutschland haben einen gewissen Prozentsatz von Analphabeten. Das Grundrecht auf familiäres Zusammenleben, nach Art. 6 des Grundgesetzes auch der besondere Schutz der Ehe, gilt für Analphabeten faktisch nicht mehr. Dafür sollten Sie sich wirklich schämen, oder Sie sollten das schnellstmöglich ändern.
Ich nenne hier beispielhaft den Fall eines Mannes aus Gambia, der Analphabet ist. Er bekam von der deutschen Botschaft sinngemäß die Auskunft: Lerne doch erst einmal in deiner Muttersprache lesen und schreiben, dann kannst du den Deutschkurs im Goethe-Institut machen, falls du ihn dir leisten kannst. Falls du dann noch in den Senegal reist, wo nämlich das nächste Goethe-Institut ist, dann kannst du dort die Prüfung ablegen. Deine deutsche Frau muss dann eben so lange warten, bis du das alles geschafft hast. - Bis dahin können natürlich viele Jahre ins Land gegangen sein.
Das ist ziemlich zynisch, und wenn Sie all das haben wollen, dann haben Sie es zumindest mit dem Gesetz, das Sie letztes Jahr verabschiedet haben, geschafft.
Sie reden auch über den Irak und die irakischen Flüchtlinge. Ich bin gar nicht dagegen, dass man sie aufnimmt. Es leben allerdings auch schon welche bei uns, die lediglich ihre Familienangehörigen nachziehen lassen wollen. Die bekommen jetzt gesagt - -
- Frau Präsidentin, können Sie meine Redezeit etwas verlängern? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, es ist alles spannend, aber hören Sie mir doch noch bis zum Ende zu; ich bin gleich fertig.
- Genau. Die Union hat keine Flugblätter gekriegt. Vielleicht kann man ihr eins geben.
Die Antragsteller aus dem Irak zum Beispiel, wo es faktisch keine deutsche Auslandsvertretung gibt , bekommen jetzt die Auskunft, sie sollten nach Ankara reisen und dort in der deutschen Botschaft den Antrag auf Familienzusammenführung stellen.
Ich habe jetzt nur dieses eine Gesetz aus dem Gesetzespaket, das Sie letztes Jahr beschlossen haben, als Beispiel genommen, um zu zeigen, dass diese Politik, die Sie als Migrationspolitik bezeichnen, in Wirklichkeit eine Migrationsverhinderungspolitik ist. Das ist wirklich kein Grund zum Feiern.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Vorlage des Migrationsberichts der Bundesregierung gibt Anlass, über unsere Zuwanderungspolitik der Vergangenheit und der Großen Koalition nachzudenken. Deshalb möchte ich mir kurz einen Rückblick erlauben. Wie Sie wissen, haben wir Jahrzehnte mit einem sehr törichten Definitionenstreit darüber verbracht, ob wir nun Einwanderungsland sind oder nicht. Stattdessen hätten wir uns in den Jahrzehnten besser um die Menschen und deren Integration kümmern müssen.
Die Debatte war von Anfang an - ich blicke jetzt weit zurück - ziemlich unehrlich und ziemlich inkonsequent. Es begann ganz am Anfang mit dem unsäglichen Euphemismus ?der Gastarbeiter?. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, einen Gast lässt man nicht arbeiten, und ein Gast geht irgendwann wieder. Das passte überhaupt nicht zum Thema, um das es damals ging.
- Ja, einen guten Morgen wünsche ich vor allem Ihnen von den Linken.
Wir haben es ganz am Anfang versäumt, die Kriterien für eine Zuwanderung festzulegen. Es wurde erst über Rotation und dann wieder über Integration fabuliert. Man kam aber zu keinem Ergebnis.
Nicht wir haben uns dafür entschieden, wann und wie man zuwandert, sondern die Menschen, die gekommen sind, haben sich selbst entschieden,
und dann hat man ihre Kinder nachkommen lassen. Das waren die Fehler der Vergangenheit. Das war falsch.
Falsch war auch Folgendes: Nachdem sich die Zuwanderer der ersten Generation - sie waren sehr fleißig - in das Arbeitsleben integriert und einen wesentlichen Beitrag zu unserem Bruttosozialprodukt geleistet haben, zogen wir den Trugschluss, dass sich Integration von selbst erledige.
Genau das Gegenteil war der Fall: Die Probleme entstanden nicht mit der ersten, sondern mit der zweiten und der dritten Generation, und diese Probleme haben wir heute. Hier ist ein Kulturbruch festzustellen. Wir erleben, dass es nicht richtig ist, einfältig von ausländischen Mitbürgern zu reden, als würden sie mit uns leben. Nein, sie leben teilweise neben uns und ohne uns in Parallelwelten. Heute ist es leider einfacher denn je, in einer Parallelwelt - insbesondere in einem Ballungsraum oder in einer Großstadt - das gewohnte Leben von früher, das sie aus ihrem Heimatland kennen, unverändert weiterzuleben, ihre alte Sprache zu sprechen, statt die deutsche Sprache zu erlernen, sich nicht an unseren Bräuchen zu orientieren und nicht unsere Werte und unsere Lebensgewohnheiten zu übernehmen.
Sie können heute in Deutschland etwa 40 türkische Fernsehsender anschauen und natürlich auch türkische Zeitungen bekommen. Das ist auch richtig so; aber das zieht sich auch ins normale Alltagsleben hinein: Türkische Supermärkte, türkische Ärzte, selbst türkische Rechtsanwälte - all diese kann man problemlos finden. Sie können in Berlin so leben, als wären sie in der Türkei.
Es geht noch einen Schritt weiter: Sie können über arrangierte Ehen und Zwangsverheiratung - Dinge, die wir alle, auch Sie, nicht billigen können - dafür sorgen, dass diese Parallelwelt auch in der zweiten Generation bestehen bleibt.
Was ist angesichts der beängstigenden Zahlen, die uns vorliegen, zu tun? Während 19 Prozent der deutschen Jugendlichen eine Hauptschule besuchen, besuchen ja 44 Prozent der Ausländer eine Hauptschule. Während 8 Prozent der deutschen Jugendlichen keinen Schulabschluss haben, sind es ja 17 Prozent der ausländischen Jugendlichen. Dieser Trend setzt sich auch in der Arbeitsmarktstatistik und in der Statistik der Sozialhilfeempfänger fort. Die Arbeitslosigkeit bei den Ausländern liegt leider doppelt so hoch wie bei den Deutschen.
Nun sagt Herr Winkler, die Große Koalition habe nicht die Kraft, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dem widerspreche ich nachhaltig; denn die Große Koalition hat eine Wende in der Integrationspolitik herbeigeführt, indem wir, Herr Veit, nicht nur Integrationskurse wie früher unter Rot-Grün angeboten haben, sondern das Erlernen der deutschen Sprache als Bestandteil der Integration eingefordert haben und dafür gesorgt haben, dass Konsequenzen gezogen werden, wenn sich jemand weigert.
Das stellt die eigentliche Wende in der Integrationspolitik dar: nicht nur reden, sondern auch für konsequente Umsetzung sorgen.
Dazu gehört auch der Nationale Integrationsplan, den die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, zur Chefsache gemacht hat und für den Frau Staatsminister Böhmer wesentliche Vorarbeiten geleistet hat.
Wir haben dafür gesorgt, dass allen bewusst wird, dass Zuwanderer die deutsche Sprache zu erlernen haben. Wir haben dafür gesorgt, dass sie unsere Rechts- und Werteordnung zu kennen und auch zu verstehen haben und dass man sich daran orientiert.
Nur so können Zuwanderer auf Dauer in Deutschland heimisch werden.
Neuzuwanderer müssen mit ihren Integrationsbemühungen - das bekämpfen Sie offensichtlich immer noch - im Heimatland beginnen. Bevor man sich entschließt, seinen Lebensmittelpunkt zu uns nach Deutschland zu verlagern, muss man im Heimatland anfangen, die deutsche Sprache zu lernen.
Jeder von uns würde es übrigens genauso machen, wenn er sich entschlösse, seinen Lebensmittelpunkt von Deutschland nach China zu verlagern: Er würde in Deutschland beginnen, Chinesisch zu lernen.
Nichts anderes fordern wir von den Migranten, die zu uns kommen.
Gute Sprachkenntnisse sind die Voraussetzung für schulischen Erfolg. Der schulische Erfolg ist die Voraussetzung für eine Berufsausbildung, und diese ist die Voraussetzung für einen Arbeitsplatz. Dieses wiederum ist die Voraussetzung für ökonomische Besserstellung und ein zufriedenes Leben von Migranten in Deutschland.
Wir wissen, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Sie setzt voraus, dass die Zuwanderer hier heimisch werden wollen, dass sie die deutsche Sprache erlernen wollen und dass sie unsere Rechts- und Werteordnung übernehmen wollen. Wer dies nicht will, muss sich selber klarmachen, dass er besser wieder das Land verlässt, als weiter im Konflikt mit diesem Land zu leben. Das wissen auch die 3,5 Millionen Muslime. Hier ist es das große Verdienst des Bundesinnenministers Schäuble, sich diesem sehr komplexen und sehr schwierigen Thema mit der Einrichtung von Islamkonferenzen ganz besonders zugewandt zu haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen: Der Migrationsbericht beinhaltet hochinteressante Zahlen und zeigt auf, was wir zu tun haben. Er zeigt auch auf - das ist eine interessante Tatsache -: Die Abwanderungstendenz von Deutschen nimmt zu. Waren es in den 70er-Jahren noch 50 000, um 1990 dann 100 000, sind es nun schon 150 000 Deutsche, die das Land jährlich verlassen. Die Ursachen für diese Abwanderung müssen untersucht werden. Wenn immer mehr jüngere hochqualifizierte Leistungsträger aus Deutschland wegziehen, dann läuft etwas schief in diesem Land, und wir müssen dafür sorgen, dass sich das ändert. Auch der Bundesfinanzminister sollte vielleicht darüber nachdenken; denn auch er hat die Möglichkeit, Migrationsströme von Deutschen, die aus Deutschland wegziehen, zu steuern.
- Ja, da haben Sie recht, Herr Veit; danke für den Zuruf. Da hilft am Schluss nur eins: Mehr netto für alle, Herr Veit. Daran sollten Sie sich orientieren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Migrationsbericht 2006 verdeutlicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der CSU, Sie haben das lange verleugnet. Aber, Herr Uhl, Sie haben heute, wenn ich das richtig mitgeschrieben habe, gesagt, dass Sie in der Vergangenheit Fehler gemacht haben.
Wir nehmen einmal an, dass - Sie haben es nicht explizit erwähnt - auch das ein Fehler in Ihrer Vergangenheit war und Sie daraus gelernt haben.
Die Steuerung der Zuwanderung ist aus unserer Sicht dringend notwendig und auch richtig, um ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben in Deutschland zu gewährleisten. Dabei ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, dass wir denen, die hierher kommen und die hier bleiben wollen, ein Heimatgefühl vermitteln können.
Herr Schäuble, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir hier keine Parallelgesellschaften wollen. Dem stimmen wir zu. Auch haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass diejenigen, die hierher kommen wollen, sich integrieren müssen. Aber wir müssen nicht nur leisten, dass diejenigen, die hierher kommen, sich integrieren; vielmehr müssen wir denen, die hier leben, ein Heimatgefühl bieten können. Ich glaube, das ist sehr wichtig.
Frau Dagdelen, ich denke, dass Sprache die Schlüsselqualifikation dafür ist, sich hier integrieren zu können. Denn - das hat auch mein Vorredner zu Recht gesagt - ohne Sprache ist eine Integration in einem Land nicht möglich. Ich warte immer noch darauf, dass Sie mir erklären, wie das gehen soll.
- Aber auch ein Hochqualifizierter, Frau Dagdelen, kann in einem Land nur hochqualifiziert und dauerhaft arbeiten, wenn er die Sprache beherrscht.
Eine ganz persönliche Frage, die ich an Sie habe: Sie sitzen ja auf der linken Seite quasi als Nach-Nachfolge der SED in der DDR.
Wie war denn da eigentlich die Migrationspolitik? Was Sie hier sagen, passt nicht zu der Geschichte, die Sie hier sozusagen vertreten.
Sie haben hier sicherlich zu Recht manches angemahnt, was andere Fraktionen nicht angesprochen haben. Aber Sie haben zum Beispiel keinen Ton dazu gesagt, dass die Folgen der schlechten Migrationspolitik in der ehemaligen DDR uns bis heute beschäftigen und dass es in den neuen Ländern so schlimm ist wie nirgendwo anders. Das ist kein Ossi-Bashing, sondern das ist eine Tatsache. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dagdelen?
Gisela Piltz (FDP):
Da ich eine Ahnung habe, dass die Zwischenfrage polemisch sein wird, möchte ich sie nicht hören.
Zugleich zeigt der Migrationsbericht auf, dass immer mehr Menschen Deutschland verlassen. Das ist hier von allen Rednern gesagt worden. 2006 gab es mit über 150 000 Wegzügen von deutschen Staatsangehörigen einen neuen Wegzugsrekord. Auch wenn der Bericht hinsichtlich der Frage, ob insbesondere Hochqualifizierte Deutschland verlassen, auf eine dürftige Datenlage hinweist, ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen - auch unsere persönlichen Erfahrungen zeigen das, je nachdem, mit wem man spricht -, dass Deutschland gerade für junge Wissenschaftler und Ingenieure sowie andere innovative und hochqualifizierte Berufe, auch Ärzte zum Beispiel, nicht mehr genügend Attraktivität zu bieten hat. Hier müssen Konsequenzen gezogen werden, ebenso wie aus den Fragestellungen, die sich nach wie vor bei der Einwanderung ergeben.
Herr Uhl, ich habe Sie eben so verstanden, dass die CSU der Erbschaftsteuerreform offensichtlich nicht zustimmen will. Wir sind einmal gespannt, ob Sie sich daran auch halten.
Zuwanderung nach Deutschland steuern - das ist nicht unanständig, sondern zwingend notwendig, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern, die wirtschaftliche Balance zu bewahren und zu verbessern sowie humanitären Verpflichtungen nachzukommen.
Es ist selbstverständlich, dass es zuerst darum gehen muss, den Bedarf an Arbeitskräften mit Inländern zu decken. Dazu müssen wir auch für hochqualifizierte deutsche Arbeitskräfte attraktiver werden. Nur dann können wir die Abwanderung stoppen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das als Problem erkannt haben, dann tun Sie doch etwas!
Dennoch braucht Deutschland die Zuwanderung qualifizierter Kräfte in den Arbeitsmarkt. Dafür brauchen wir ein Instrument, um flexibler auf die Entwicklungen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt reagieren zu können. Wir haben einen Vorschlag für ein Punktesystem vorgelegt, das wir für die richtige Maßnahme halten, um die Zuwanderung so zu steuern, wie wir es brauchen. Dabei denken wir sowohl an hochqualifizierte Arbeitskräfte als auch an Saisonarbeiter. Auch dieses Thema kommt bei vielen hier zu kurz.
Im Umgang mit illegaler Migration tut sich dieses Land leider noch sehr schwer. Ich glaube, wir müssen schnell eine Regelung finden, wie wir insbesondere mit Kindern derjenigen umgehen, die sich in unserem Land illegal aufhalten. Die FDP setzt sich schon seit längerem dafür ein, die Meldepflicht für Lehrer, was diesen Fall betrifft, abzuschaffen.
Wir halten das für sehr wichtig.
Wir hoffen, dass das Parlament noch in dieser Legislaturperiode die Kraft findet, diesbezüglich zu einer Regelung zu kommen. Sie haben in dieser Woche eindrucksvoll bewiesen, dass Sie die Kraft haben, auch anderes zu regeln. Wir hoffen für die Kinder der illegal hier lebenden Menschen, dass Sie sich auch dieses Themas annehmen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zu einer Kurzintervention erteile ich nun das Wort der Kollegin Dagdelen.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es tut mir leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich diese Debatte jetzt verlängern muss, weil Frau Piltz meine Zwischenfrage nicht zugelassen hat.
Frau Piltz, Sie haben mich persönlich angesprochen, und darauf möchte ich antworten. Zunächst einmal will ich sagen, dass meine Eltern aus der Türkei kamen. Die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sind aber nicht einfach gekommen, sondern sie wurden gerufen. Das sage ich auch an die Adresse von Herrn Uhl. Vielleicht hat er ja vergessen, dass es Anwerbeabkommen gegeben hat.
Ich bin in Duisburg geboren und auch dort aufgewachsen. Ich habe mich mit der Vergangenheit meiner Partei - viele haben das hinsichtlich der Vergangenheit ihrer eigenen Partei nicht getan - kritisch auseinandergesetzt. Es gab Probleme in der ehemaligen DDR bezüglich der Integration, was von mir und auch von meiner Partei kritisiert wird.
Aber Tatsache ist doch - korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege -, dass wir über den Migrationsbericht 2006 der Bundesregierung und nicht über die Politik ehemaliger Staaten und Regierungen sprechen. Da muss es auch erlaubt sein - vor allen Dingen Sie als Vertreterin einer Oppositionspartei müssten mir dieses Recht doch eigentlich zugestehen und müssten mich darin unterstützen -, dass ich hier Kritik an der repressiven Migrations- und Integrationspolitik dieser Bundesregierung anbringe.
Ich möchte ferner erwähnen, dass Sie anscheinend die Zahlen überhaupt nicht kennen. Es gibt in diesem Land sehr viele Jugendliche, die einen guten Bildungsabschluss haben. Aber sie haben keinen Ausbildungsplatz. Schauen Sie sich den Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer, der im Dezember des vergangenen Jahres von der Bundesregierung veröffentlicht wurde, einmal an. Daraus ergibt sich, dass die Sprache nicht die einzige Voraussetzung für eine Integration ist. Ganz im Gegenteil!
Gestern wurde eine Studie veröffentlicht, die von der Ausländerbeauftragten, Frau Böhmer, unterstützt wurde. Es leben rund eine halbe Million Menschen in Deutschland, die ihre Qualifikation im Ausland erworben haben, deren biografische Lebensleistung aber in diesem Land nicht anerkannt wird. Deshalb kann ich Frau Böhmer nur unterstützen, wenn sie sagt, dass hier ein Schatz zu heben ist und dass man in Gesprächen mit der Kultusministerkonferenz erreichen muss, dass diese Abschlüsse anerkannt werden.
Russische Ärztinnen sollen nicht mehr als Putzfrauen arbeiten, und iranische Ingenieure sollen nicht mehr als Hausmeister hier arbeiten. Die biografische Lebensleistung dieser Menschen muss anerkannt werden; sie darf nicht mehr ignoriert werden.
Zu diesem Thema liegt von meiner Fraktion seit Anfang des Jahres ein entsprechender Antrag vor. Ich bitte dafür um Unterstützung. Es kann keine Integration geben, wenn die Menschen keine Teilhabemöglichkeiten in diesem Land haben.
Teilhabe ist nicht nur im Hinblick auf die Sprache, sondern auch im Hinblick auf Bildung, Arbeitsmarkt und Kultur von zentraler Bedeutung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, möchten Sie erwidern? - Bitte sehr, Frau Piltz.
Gisela Piltz (FDP):
Ich habe es geahnt. So gesehen, bereue ich meine Entscheidung, weil Sie jetzt noch mehr Redezeit hatten.
Erstens. Ich habe Sie nicht persönlich gemeint, sondern als Vertreterin Ihrer Fraktion. Das ist ein riesiger Unterschied. Wenn Sie das persönlich nehmen, ist das Ihr persönliches Problem.
Zweitens. Dass Sie sich so viel Zeit nehmen, um zu sprechen, zeigt doch, wie wichtig Sprache ist. Sprache ist aus meiner Sicht eine notwendige Voraussetzung, um hier teilhaben zu können. Natürlich muss hier jeder teilhaben können. Teilhabe ist wichtig.
Aber ohne die deutsche Sprache ist keine ausreichende Teilhabe möglich.
Das ist die herrschende Meinung in diesem Haus. Dagegen sollten Sie nicht immer wieder angehen.
Auf der ganzen Welt kann man sehen, wie wichtig die Beherrschung der Landessprache ist; das ist Fakt. Wie wollen Migranten hier lernen, wenn sie die Landessprache nicht können? Wie wollen sie sich an der Arbeit dieses Parlaments beteiligen, wenn sie kein Deutsch können? Sie können Deutsch. Akzeptieren Sie, dass Sprachbeherrschung eine Schlüsselqualifikation für Integration sein muss!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
Dr. Michael Bürsch (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich komme auf das eigentliche Thema des heutigen Tages zurück: Migration, Integration. Bis zu diesem Zeitpunkt der Debatte kann ich zweierlei feststellen:
Erstens. Über Zahlen lässt sich offenbar doch streiten, obwohl sie eigentlich einen objektiven Eindruck vermitteln sollen. Die Auslegung ist jedenfalls ein wenig unterschiedlich ausgefallen.
Zweitens. Die Ideologisierung dieses Themas verschwindet langsam. Es wird über dieses Thema erheblich weniger ideologisch als noch vor zwei, drei oder zehn Jahren geredet. Insofern nehme ich den Beitrag von Herrn Uhl durchaus mit Freude zur Kenntnis.
Im Folgenden möchte ich zwei Bemerkungen zu dem Thema des heutigen Tages machen.
Erstens. Bei allen Wünschen, die vielleicht noch bestehen, bei aller Kritik, die man hier und dort üben kann, kann man insgesamt sagen: Die Integrationskurse sind ein Erfolgsmodell.
Diese Kurse hat die Bundesregierung vor drei Jahren eingeführt. Wir wollen nicht über die Väter und Mütter dieses Erfolges reden. Es war eine andere Bundesregierung, die diese Kurse eingeführt hat; sie hat das Fundament gelegt. Die Integrationskurse sind uns jetzt 155 Millionen Euro im Jahr wert. Das ist eine beträchtliche Summe, die wir, der Bund, freiwillig für die Sprachförderung ausgeben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter der Leitung von Albert Schmid leistet eine hervorragende Arbeit, die wir auch an dieser Stelle einmal loben sollten.
Wer immer diese Behörde besucht, muss feststellen, dass sie sehr modern ist. Der Präsident dieser Behörde kommt aus Bayern.
- Über die Parteizugehörigkeit sagen wir an dieser Stelle nichts. - Diese Behörde macht eine hervorragende Arbeit und ist immer bereit, ihre Arbeit auch zu verbessern.
Das ist das, was ich beiden Berichten, insbesondere dem Zwischenbericht über die Integrationskurse, entnehme. Es gibt immer noch Bedarf und Möglichkeiten, zu verbessern. Das wird gemacht. Was ich besonders begrüße, ist, dass dieses Bundesamt ständige Evaluationen vornimmt. Dort wird etwas gemacht, was wir in der Politik vielleicht zu selten machen: Man überzeugt sich jeweils in Zwischenschritten davon, wie die Programme, die man beschlossen hat, eigentlich wirken. An anderen Stellen dagegen herrscht vielleicht ein allzu großer Mangel an Evaluation.
Zweitens. Vermittlung der Sprache ist - darauf ist schon hingewiesen worden - eine ausgesprochen wichtige Voraussetzung - da bin ich bei Frau Piltz -; aber sie ist beileibe nicht alles. Integration verlangt erheblich mehr.
Ich möchte die beiden Berichte zum Anlass nehmen, drei Stichworte zu nennen, die wir bei der weiteren Arbeit im Auge behalten sollten: Bildung, Beteiligung und Anerkennung.
Erstens: Bildung. Herr Uhl hat darauf hingewiesen: Fast 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland und fast 20 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Hauptschulabschluss. Der Anteil ist also bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fast doppelt so hoch. Ein weiterer Blick in die Statistik zeigt, dass 30 Prozent der Jungen mit Migrationshintergrund den Hauptschulabschluss nicht schaffen. Das ist im Grunde wie eine versperrte Tür vor allem Positiven, das sich besonders in beruflicher Hinsicht auf dem Lebensweg ergeben könnte.
An dieser Stelle ist eine Veränderung nötig. Insofern begrüße ich sehr, was der Arbeitsminister gestern angeboten hat: Er hat eine Art Rechtsanspruch für jeden jungen Menschen in Deutschland auf einen Hauptschulabschluss angekündigt.
An dieser Stelle möchte sich die Bundesagentur für Arbeit mit einklinken. Damit würde eine ganz wichtige Voraussetzung für eine Veränderung in diesem Bereich geschaffen.
Wir reden hier über insgesamt 2 Millionen Menschen, die zu uns gekommen sind und eine sogenannte nachholende Integration gebrauchen könnten, das heißt, die nicht verpflichtet sind, Sprach- oder Integrationskurse zu belegen, die aber durchaus davon profitieren könnten. In dieser Gruppe gibt es rund 340 000 Haupt- und Realschüler zwischen zehn und 15 Jahren. Das ist aus Sicht der SPD eine sehr schwierige Gruppe, die besonderer Förderung bedarf. Eine solche Förderung würde nämlich verhindern, dass in 10 oder 15 Jahren ein enormer sozialer Sprengstoff entsteht.
Zweitens: Beteiligung. Integration setzt in der Tat gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe voraus. Dabei geht es zum einen um die Teilhabe an der Bürgergesellschaft. Hier wiederhole ich, was ich an anderer Stelle schon zu diesem Thema gesagt habe: Zum Beispiel muss die freiwillige Feuerwehr mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern die Türen öffnen. Sie sollte den Migranten sagen: Ihr seid bei uns wirklich von Herzen willkommen; wir wollen und brauchen euch hier; ihr seid Teil der Gesellschaft, die etwa in der freiwilligen Feuerwehr gesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt.
Beteiligung heißt aber noch mehr: Menschen müssen bei wichtigen Entscheidungen mitwirken können, sowohl die Deutschen als auch diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben. Mir hat das Beispiel eines Moscheenbaus sehr eingeleuchtet - bei einer Veranstaltung wurde vor ein paar Tagen davon berichtet -: In Nordrhein-Westfalen gibt es offenbar - so wurde mir berichtet - zwei eklatante Beispiele für Moscheenbau, bei denen die Entwicklung bzw. die Kontroverse sehr unterschiedlich verlaufen ist. Vor dem Bau einer Moschee in Köln hat es keine große Bürgerbeteiligung gegeben. Vor dem Bau einer Moschee in Duisburg-Marxloh wurde in einem langen Prozess offenbar ein großes Maß an Beteiligung praktiziert; die Menschen, die diese Moschee besuchen wollen - Ausländer, Migranten -, und Deutsche sind in einen langwierigen Prozess der Beteiligung eingebunden worden. Dies war offensichtlich ein wichtiger Schritt, der dazu geführt hat, dass die schwierige Entscheidung für einen Moscheebau in Duisburg mehr Akzeptanz findet als in Köln. Auch das ist ein Beispiel für Beteiligung.
Bildung bedeutet beispielsweise, dass Menschen nicht erst in der Schule, sondern noch früher - im Kindergarten oder in der Familie - eine Förderung erfahren. Dafür gibt es wunderbare Beispiele; ich möchte nur eines nennen: HIPPY, ein Hausbesuchsprogramm für sozial benachteiligte Familien mit Kindern im Vorschulalter. Die deutschen Sprachkenntnisse sollen verbessert, der Lernort Familie gestärkt werden. Türkische, arabische und russische Mütter finden sich dort engagiert zusammen. Sie bewerten die Frühförderung ihrer Kinder überaus positiv. In erster Linie begrüßen sie, dass die Kinder rechtzeitig Deutsch lernen und sie selbst als Eltern gefordert werden, sich an dieser Sprachförderung zu beteiligen. Es gibt viele andere Beispiele; ich wünsche mir noch mehr davon.
Drittens: Anerkennung. Ich komme zu einem Punkt, bei dem es offensichtlich immer noch nicht zu einer einvernehmlichen Regelung mit der CDU/CSU kommen kann. Ich bin der Meinung, dass die doppelte Staatsangehörigkeit in der Tat eine Form der Anerkennung wäre.
Der Innenminister hat davon gesprochen. Herr Schäuble, es gibt nicht nur wenige Fälle von doppelter Staatsbürgerschaft in Deutschland. In vielen Fällen kommen Inhaber der doppelten Staatsbürgerschaft aus den USA oder anderen Ländern, in denen es das Recht des Geburtsortes gibt: Jemand, der dort gelebt hat, der also etwa als Franzose oder Amerikaner geboren wurde, erhält zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Es gibt viele solcher Fälle in Deutschland. Dies dürfen wir nicht verteufeln. Die Süssmuth-Kommission hat damals gesagt, die Zulassung von doppelten Staatsbürgerschaften sei geeignet, die Kluft zwischen Staatsvolk und Wohnbevölkerung zu schließen. Es ist eine Form der Anerkennung, dass es Menschen, die hier wohnen, erlaubt wird, eine Identität zu haben, die sie weiterhin zum Beispiel mit der Türkei oder anderen Ländern verbindet. An dieser Stelle brauchen wir eine Entwicklung, wie wir sie inzwischen zum Thema Einwanderungsland erlebt haben. Wir brauchen die Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften. Dies nimmt uns nichts,
sondern fördert gerade das, was wir alle wollen: Integration.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Reinhard Grindel.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier nicht nur um Zahlen, sondern auch um Menschen und um ihre Schicksale. Ich finde, Frau Kollegin Dagdelen, wir müssen hier noch einige gemeinsame Grundlagen möglich machen. Dass Sie hier sagen, dass die bedauernswerten Todesfälle von Flüchtlingen aus Afrika im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln Ergebnis unserer Ausländer- und Asylpolitik sind, geht zu weit.
Das ist das Ergebnis menschenverachtenden Schlepper- und Schleusertums. Wir sollten uns zumindest darin einig sein, dass wir das bekämpfen.
Das Zweite. Wir diskutieren hier über die Frage des Familiennachzugs. Wir haben in diesem Zusammenhang zwei politische Ziele verfolgt: Wir wollten gerade an die Familien in Deutschland das klare Signal geben, dass es ohne die deutsche Sprache nicht geht, und - das ist hier zu wenig betont worden - wir wollten Zwangsehen bekämpfen. Wir wollten Frauen durch Deutschkenntnisse, die sie vor der Übersiedlung in unser Land erwerben, stärken, sich Hilfe holen zu können, sich gegen Unterdrückung und Gewalt wehren zu können.
Deswegen ist es logisch, dass diese Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung erworben werden müssen;
denn gerade die von Zwangsehen betroffenen Frauen dürfen nicht an Integrationskursen teilnehmen. Mir haben die für die Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs zuständigen Mitarbeiter in unseren Botschaften in Ankara und Istanbul gesagt, dass sie vermuten - obwohl sie es nicht immer beweisen können -, dass 30 bis 40 Prozent der Visa, die erteilt werden, den Hintergrund der Zwangsehe haben.
Insofern sage ich Ihnen: Wenn jetzt die Zahlen der Familienzusammenführung zurückgehen, dann heißt das auch, dass wir Zwangsehen erfolgreich bekämpfen, dass wir Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Frauen davor bewahren, hier in Deutschland in einer Zwangsehe leben zu müssen. Das ist eine richtige Politik.
Es wurde in der Debatte gesagt, wir müssten in der Migrationspolitik einen europäischen Ansatz haben. Ich will Sie darauf hinweisen, dass die französische Regierung im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr dieses Jahres an einem europäischen Einwanderungs- und Asylpakt arbeitet. Ich möchte mit Blick auf die Opposition aus dem Entwurf dieses europäischen Einwanderungs- und Asylpaktes zitieren. Dort steht: Der Europäische Rat möchte eine bessere Regulierung der Einwanderung aus familiären Gründen, bei der sowohl die Aufnahmekapazitäten jedes Mitgliedslandes berücksichtigt werden sollen als auch die Integrationsfähigkeit der Betroffenen, welche insbesondere nach ihren Mitteln, ihren Unterkunftsbedingungen und ihrer Beherrschung der Sprache des Ziellandes bewertet wird. - Mit anderen Worten: Die französische EU-Präsidentschaft will exakt das, was wir im Zuwanderungsrecht geregelt haben.
Zu Recht sind die Erfolge unserer Integrationskurse lobend erwähnt worden, für die wir über 154 Millionen Euro ausgeben. Das hat in der Tat zu einer besseren Qualität geführt. Wir haben die Kostenerstattung für die Kursträger deutlich erhöht,
damit die Kurse schneller beginnen können, und nicht erst, wenn 20 Teilnehmer beisammen sind, und damit qualifizierteres Personal eingestellt werden kann. Wir haben das Angebot auf 900 Stunden ausgeweitet. Es gibt mehr Kurse für Frauen mit Kinderbetreuung, mehr Kurse für junge Leute in Verbindung mit Berufs- und Betriebspraktika. Wir haben - gerade für den ländlichen Raum ist das wichtig - eine umfassende Fahrtkostenerstattung vorgesehen.
Sicher, im Detail kann man immer noch etwas verbessern; da sind wir dran. Aber dass mit den Integrationskursen als Teil des Nationalen Integrationsplans ganz praktisch etwas für ein besseres Zusammenleben, für ein Miteinander von Ausländern und Deutschen in unserem Land geschehen ist, kann niemand ernsthaft bestreiten.
Lassen Sie mich etwas zum Thema Arbeitsmigration sagen, weil das hier angesprochen worden ist. Lieber Kollege Veit, ich habe vor wenigen Tagen in mehreren Zeitungen aus dem Rhein-Main-Gebiet gelesen, dass dort ein Autozulieferer einen Ingenieur mit chinesischen Sprachkenntnissen suchte. Das ist von einem Arbeitgeberverband zum Anlass genommen worden, wieder eine Änderung des Zuwanderungsgesetzes hinsichtlich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu fordern. Ich habe mir den Fall einmal genau angesehen. Was war das Problem? Das Problem war nicht, dass der Autozulieferer diesen chinesischen Ingenieur nicht bekommen hat. Er hat ihn bekommen, obwohl er weit weniger als die berühmten 84 000 Euro für Hochqualifizierte verdient. Nein, das Problem war, dass es zwei Monate gedauert hat, bis die zuständige Bundesagentur die Vorrangprüfung durchgeführt hat.
Darüber hat sich dieser Mittelständler zu Recht aufgeregt.
Lieber Kollege Bürsch, darum sage ich Ihnen: Wir brauchen kein Punktesystem und auch keine neuen Vorschriften hinsichtlich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Wir brauchen mehr Flexibilität der Bundesagentur, der Industrie- und Handelskammern sowie der Ausländerbehörden. Dann werden wir ausländische Fachkräfte nach Deutschland bekommen.
Der Aussage, dass wir aufpassen müssen, damit wir in Deutschland keine Talente vergeuden, stimme ich ausdrücklich zu; das ist ja hier angesprochen worden. Gerade etwa unter den Aussiedlern, die bei uns leben, gibt es eine Vielzahl von Menschen, die in einfachen Kursen die Qualifikationen erwerben könnten, die notwendig sind, damit sie in ihren hochqualifizierten Berufen, etwa als Arzt, in Deutschland arbeiten können.
Wir haben genug Taxifahrer in Großstädten, aber zu wenig Ärzte im ländlichen Raum. Durch eine bessere Nachqualifizierung und eine flexiblere Anerkennung von Abschlüssen können wir dafür sorgen, dass die Talente, die in unserem Land schlummern, besser genutzt werden. Das ist im Interesse aller.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin, ein Schlusswort. - Wir, besonders der Bundesinnenminister und die Staatsministerin Böhmer, haben der Integration neue Dynamik verliehen. Sicherlich ist noch viel zu tun; dass wir das Thema angepackt haben, kann aber niemand bestreiten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Dr. Lale Akgün für die SPD-Fraktion.
Dr. Lale Akgün (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland gleicht mehr und mehr einer Dame, die nicht wahrhaben will, dass sie älter wird. Um die Falten, die sich durch ihr Gesicht ziehen, nicht sehen zu müssen, putzt sie zuerst ihre Brille nicht mehr und verhängt dann auch noch die Spiegel. Realitätsverweigerung nennt man das.
Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006, über den wir heute diskutieren, anschaue, kann ich nur sagen: Wir betreiben gemeinsam kollektive Realitätsverweigerung. Unser Land wird älter, aber wir wollen es nicht wahrhaben. Wir haben eine niedrigere Geburtenrate, und immer weniger Menschen kommen als Zuwanderer zu uns. Beides führt zu einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung. Das heißt unterm Strich: Die alternde Dame nimmt auch noch kräftig ab, und zwar mehr als ihr lieb sein kann.
- Das ist eine Allegorie, Herr Kollege. Schauen Sie im Wörterbuch nach, was das ist.
- Erkläre es ihm nachher.
Dabei müsste die alte Dame, um im Bild zu bleiben, nur einen Blick in den Spiegel werfen, sprich: den Migrationsbericht, um zu erkennen, wie es um sie steht. Sie bräuchte eigentlich keine Angst zu haben; denn es gibt ein effektives Anti-Aging-Mittel: die gesteuerte Zuwanderung. Durch Zuwanderung halten wir nicht nur die Bevölkerungszahlen konstant, sondern verjüngen unsere Gesellschaft auch. Wir verpassen der alten Dame eine Frischzellenkur. Auch das sieht man an den Zahlen: Im Jahr 2006 waren knapp 75 Prozent der Zugewanderten unter 40 Jahre. Der Anteil der unter 40-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt nur 28 Prozent.
Tun wir also etwas dafür, dass Menschen aus aller Welt nach Deutschland kommen und hier dauerhaft bleiben und arbeiten, ja, hier gerne leben. Diesem wichtigen Ziel sollten wir unsere Integrationspolitik unterordnen. Wenn wir es versäumen, mehr Zuwanderer ins Land zu holen, wird sich die Erwerbsbevölkerung bis 2050 um ein Viertel reduzieren, was dramatische Folgen für unser Sozialsystem hätte. Rüdiger Veit hat das eben schon gesagt. Er hat aber auch gesagt, dass man das nicht oft genug wiederholen kann. Ich beschreibe hier kein Wolkenkuckucksheim, sondern die nackte Realität. Wir werden einen eklatanten Mangel an Arbeitskräften haben, vor allem an Akademikern. Diesem Problem sollte unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet sein statt dem Ehegattennachzug aus der Türkei, aus Thailand und Trinidad.
Ich bin sehr froh, dass der Migrationsbericht 2006 sehr deutlich macht, worauf es ankommt. An dieser Stelle möchte ich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für diesen ausgezeichneten Bericht ausdrücklich danken.
Damit haben wir eine hervorragende empirische Datengrundlage, die uns glasklar vor Augen führt, war wir tun müssen. Nun liegt es an uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit den Scheingefechten über die angebliche Bedrohung Deutschlands durch sogenannte anatolische Importbräute endlich aufzuhören.
Herr Grindel, Sie haben eben Applaus dafür bekommen, dass Sie gesagt haben, durch die Neuregelung des Familiennachzugs sei die Anzahl der sogenannten Zwangsehen zurückgegangen. Ich muss Ihnen leider sagen: Der Bericht ist aus dem Jahr 2006; da galt die Regelung noch gar nicht.
Wenn also die Anzahl der Ehen mit Partnern aus dem Ausland, vor allem aus der Türkei, rückläufig ist, dann ist das eine ganz normale Entwicklung und ein Zeichen für die immer stärker einsetzende Integration und nicht Ergebnis dessen, dass wir hier restriktive Regelungen durchgesetzt haben.
Es kommen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen auf uns zu. In wenigen Jahren werden wir in einer Fifty-fifty-Gesellschaft leben, also in einer Gesellschaft, in der die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Darauf sollten wir uns besser frühzeitig einstellen, damit der Schock nicht wieder über Nacht kommt, wie bei der Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Früh darum kümmern, so lautet die Devise; denn wer sich früh kümmert, hat Einfluss und Steuerungsmöglichkeiten.
Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir mehr Zuwanderung hin, und wie bekommen wir die Zuwanderung, die wir brauchen? Darin schwingt die Frage mit: Wie werden wir für potenzielle Zuwanderer attraktiv? Ich meine die hochqualifizierten Zuwanderer, die Ärzte und Ingenieure, aber auch die Facharbeiter und die niedriger qualifizierten Arbeitskräfte wie Handwerker und Pflegepersonal; auch sie werden in den nächsten Jahren fehlen.
Die Lösung ist eine Kombination aus Punktesystem und Engpasszuwanderung. Ein Punktesystem hatte bereits der Zuwanderungsrat unter Rita Süssmuth vorgeschlagen und damit Weitsicht bewiesen. Dazu bedarf es jedoch einer Zuwanderung, die Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel bei den Ingenieuren oder Lehrern, entgegensteuert. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Blue-Card-Initiative der Europäischen Kommission, die die Engpasszuwanderung regeln soll.
Das ist aber nicht alles. Wir brauchen auch - das ist schon erwähnt worden - eine Bildungsoffensive bei den noch nicht Qualifizierten. Außerdem müssen wir die stillen Reserven aktivieren. Das sind vor allem Aussiedler, die oftmals gut ausgebildeten Lehrer oder Ingenieure, die zurzeit zum Beispiel als Reinigungskräfte beschäftigt sind. Es ist doch evident, welch enormes Potenzial wir hier verschenken, erst recht, weil uns zugleich etwa 16 000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.
Sie kennen das Stichwort in diesem Zusammenhang: nachholende Integration. Nachholende Integration in einer Einwanderungsgesellschaft ist keine Kleinigkeit, sondern unabdingbares Muss.
Neue Feststellungen werfen neue Fragen auf. Welche Integrationspolitik braucht eine Fifty-fifty-Gesellschaft? Man kann vorab sagen: auf jeden Fall eine Integrationspolitik, die das Klein-Klein ablegt und sich stattdessen um Ganzheitliches bemüht. Mit dem großen Ganzen meine ich mehrere Dinge. Zunächst einmal meine ich eine Integrationspolitik, die das Gemeinsame aller hier lebenden Menschen in den Blick nimmt, statt immer wieder das Trennende zu schärfen. Glauben Sie mir, es ist wichtig, hier und jetzt Schluss damit zu machen, Menschen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in eine ethnische Schublade zu stecken.
Wenn wir zum Beispiel über Probleme von Menschen mit türkischem Hintergrund auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann interessiert doch weder die ethnische Herkunft noch der muslimische oder sonstige Glaube. Eine vernünftige Ursachenanalyse setzt bei der sozialen Lage an. Im Übrigen ist es völlig verfehlt, sich bei der Integrationspolitik ausschließlich auf die Türken als Gruppe zu fokussieren. Ein solcher Blick missachtet die Realitäten, weil er die Entwicklung der Zuwandererzahlen schlichtweg ignoriert. Der Migrationsbericht 2006 weist deutlich aus, dass der Wanderungssaldo der in Deutschland lebenden Türken im Jahr 2006 zum ersten Mal negativ war: minus 1 700 Personen.
Im Moment herrscht aber leider immer noch ein Klima vor, in dem Menschen in eine ethnische oder religiöse Ecke gestellt werden, in dem es nicht selbstverständlich ist, eine andere Hautfarbe zu haben, Russisch oder Arabisch als Muttersprache zu sprechen oder gar muslimischen Glaubens zu sein. Nein, unser Klima deklariert diese Eigenschaften im besten Falle als Exotik, im schlechteren Falle als etwas, das man bekämpfen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik hat dazu einen nicht geringen Beitrag geleistet. Aus diesem Grunde finde ich - bei allem Respekt für das Engagement der Bundesregierung und für Ihr persönliches Engagement, Herr Innenminister -, dass die ganze Gipfelei, die seit 2006 um sich greift, relativ sinnlos ist. Ein Integrationsgipfel bei der Kanzlerin, ein Islamgipfel beim Bundesinnenminister - durch all das suggeriert man den Zugewanderten, vor allem den Muslimen: Ihr seid so problematisch, dass wir uns gesondert um euch kümmern müssen. - Diese Entwicklung halte ich für den wahren Gipfel.
Eine moderne Integrationspolitik, die den Bedürfnissen unseres Landes Rechnung trägt, kann doch keine Sonderschulveranstaltung für die Sitzengebliebenen sein.
Sie muss eine Politik sein, die Chancengleichheit so weit wie möglich herstellt und auf das Gemeinsame statt auf das Trennende setzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sind wir in der Politik inzwischen etwas getrieben, auch aufgrund der Medienberichterstattung. Unsere Aufgabe ist aber, die Zuwanderung auf der Grundlage der Fakten zu gestalten. Dazu möchte ich Sie alle herzlich einladen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7705 und 16/6043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie Zusatzpunkt 7 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik
- Drucksache 16/9072 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategischen Partnerschaft der Europäischen Union mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet stärken
- Drucksache 16/9073 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima - Impulse für solidarische und gleichberechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika
- Drucksache 16/9074 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik durch eine intensive Umwelt- und Klimakooperation beleben
- Drucksache 16/8907 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung ziviler Friedensinitiativen und der sozialen, demokratischen und Menschenrechte ausrichten
- Drucksachen 16/5678, 16/8062 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Heike Hänsel
Ute Koczy
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen
- Drucksachen 16/5615, 16/9114 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Heike Hänsel
Ute Koczy
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksache 16/9056 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die Bundesregierung Herr Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor vielen Jahren war Lateinamerika in unseren Köpfen der Kontinent der Militärdiktaturen, der schweren Menschenrechtsverletzungen und der sozialen Ungleichheit. Viele, auch hier in Europa, haben lange Zeit für einen friedlichen Übergang zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gekämpft, darunter auch Stiftungen, Menschenrechtsorganisationen und vor allen Dingen die Kirchen. Wer sich heute, mit mehr als 30 Jahren Abstand zu den frühen 70er-Jahren, über die Entwicklung dieser Region informiert, der wird sagen müssen: Viele Länder Südamerikas sind auf ihrem Weg sehr weit vorangekommen. In vielen dieser Länder - davon habe ich mich überzeugen können - werden die Verbrechen, die unter Militärdiktaturen begangen wurden, inzwischen aufgearbeitet, in einigen Ländern auch gesühnt. Wir können feststellen, dass die aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Wahlergebnisse auf den Straßen überwiegend nicht mehr infrage gestellt und dass auch nicht mehr geputscht wird. Südamerika ist ein Kontinent im Aufbruch.
Ich habe mich ganz neu auf Südamerika konzentriert. Demnächst steht meine dritte Reise in diese Region an. Viele dieser Länder haben nicht nur ihre demokratischen Strukturen deutlich gestärkt, sondern können auch beeindruckende Wachstumsraten von überwiegend mehr als 6 Prozent und eine Beschleunigung ihrer industriellen Entwicklung vorweisen. All das verändert das Gesicht dieses Kontinents weitaus mehr, als es hierzulande oft wahrgenommen wird. Wer weiß zum Beispiel, dass einer der Marktführer beim Bau mittelgroßer Flugzeuge aus Brasilien kommt? Wer weiß, dass einer der weltweit größten Beton- und Zementhersteller aus Mexiko kommt?
Mit Blick auf solche Entwicklungen ist klar: Wo neue Märkte und neue Nachfrage entstehen, da erwächst auch ein Exportmarkt, der für uns relevant ist. Insofern haben wir allen Anlass, die wirtschaftliche Entwicklung, die in Mittel- und Südamerika im Augenblick im Gange ist, zu unterstützen und die globale Partnerschaft, um die wir uns bemühen, auszubauen.
Das wird auch die Botschaft sein, die von der Europäischen Union auf dem gemeinsamen Gipfel mit den lateinamerikanischen Staaten in wenigen Tagen in Lima ausgehen wird.
Es gibt aber durchaus auch gegenläufige Prozesse; das konnten wir durch die Medien wahrnehmen. Die Hungerproteste in Mexiko, Honduras und vor allen Dingen Haiti sind ein deutlicher Weckruf, der uns nicht vergessen lassen sollte, dass es neben den vielen Gewinnern der Globalisierung auch Verlierer gibt und dass manche Kosten der Globalisierung für die betroffenen Bevölkerungsgruppen dort in der Tat größer sind, als es unsere euphorische Zeichnung gelegentlich vermittelt.
Diese Krisensignale zeigen auch: Es wäre sicherlich nicht ausreichend, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen.
Politik ist gefordert, zumal internationale Politik, daneben natürlich eine faire Welthandelsordnung, aber auch nationale Politik. Mit Blick darauf können wir feststellen, dass in Ländern wie Mexiko und Brasilien jedenfalls das Bemühen besteht, die Kluft zwischen Arm und Reich auch aufgrund nationaler Maßnahmen zu verringern. In bescheidenem Maße trifft das nach meiner Kenntnis inzwischen auch für Panama zu.
Meine Damen und Herren, als Deutsche und als Europäer müssen wir dafür werben, dass die von mir angesprochenen Anstrengungen überall in Lateinamerika und auch in der Karibik ganz vorn auf der Agenda Platz finden. Nicht nur wir wollen verdeutlichen, sondern auch diese Staaten in Südamerika haben allen Anlass, zu zeigen, dass der Weg einer nationalen Politik zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich allemal richtiger und besser ist als die Rezepte von Hugo Chávez und anderen.
Wegen der Herausforderungen, die vor uns liegen, brauchen wir aus eigenem Interesse ein stabiles, ein langfristig denkendes Lateinamerika. Der Ressourcenreichtum und die Biodiversität Lateinamerikas spielen auch für uns eine zentrale Rolle; dies wird bei der internationalen Konferenz in Deutschland in der nächsten Woche sicherlich vielfach hervorgehoben werden. Zugleich ist diese Region, etwa mit Blick auf Brasilien und das Regenwaldgebiet, eine der verwundbarsten Regionen der Welt. Ich war deshalb froh, feststellen zu können, dass beides erfolgt: Einerseits wächst die Sensibilität für diese Fragen, andererseits stößt unsere Bereitschaft, unser Angebot zur Zusammenarbeit in diesen Fragen in den südamerikanischen Ländern auf Interesse und Unterstützung.
Nehmen Sie das Beispiel Peru. Dort hängt die gesamte Wasserversorgung im Grunde genommen an einem Gletschergebiet, von dem wir wegen der zugrunde zu legenden Annahmen zu den klimatischen Veränderungen wissen, dass es in 20 Jahren überwiegend nicht mehr vorhanden sein wird, während gleichzeitig aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Wasserbedarf in der gesamten Region extrem steigt.
Das zeigt: Nicht nur wir sind daran interessiert, unsere den Umweltbereich betreffenden Technologien zu exportieren; es gibt auch in dieser Region ein extrem hohes Interesse, daran zu partizipieren. Wir sollten zum Teilen von Know-how bereit sein und Unterstützung für entsprechende Kooperationen anbieten.
Man kann in diesen Wochen nicht auf Südamerika, auf Lateinamerika schauen, ohne den Blick auch auf Kuba zu richten; das wäre nicht richtig, auf jeden Fall wäre es nicht vollständig. Ich will hier wie an anderer Stelle sagen: Kuba ist auch mit seinem neuen Präsidenten Raúl Castro nicht über Nacht zu einer Demokratie geworden. Wer so etwas behauptet, liegt sicherlich falsch. Wir sollten die kleinen und vorsichtigen Schritte in Richtung auf eine Öffnung - nach der sich die Menschen auf Kuba so sehr sehnen - aber auch nicht kleinreden. Der vorsichtige Wandel auf Kuba bietet Chancen. Wir sollten diese Chancen im Sinne der Menschen, die sich nach Öffnung sehnen, nutzen. Was meine Person angeht, so will ich sagen: Wir diskutieren auf der europäischen Ebene zurzeit mit den Kollegen, welche Handlungsspielräume gegenwärtig bestehen und genutzt werden können.
Alles in allem haben wir eine Situation, in der sich eine Erneuerung der Partnerschaft mit den lateinamerikanischen Staaten lohnt: erstens wegen der Eigenentwicklung in Südamerika selbst, zweitens wegen der gemeinsamen Herausforderungen, denen wir nur mithilfe der südamerikanischen Staaten begegnen können, und drittens, weil wir als Europäische Union eine Form regionaler Kooperation entwickelt haben, an der in Südamerika Interesse besteht, seitens der Andengemeinschaft und seitens des Mercosur. Wir sind in den entsprechenden Vertragsverhandlungen leider noch nicht weit genug gekommen; aber wir bestärken die Kommission darin, diesen Weg weiterzugehen.
Ich plädiere für eine Partnerschaft mit Südamerika auf Augenhöhe. Machen wir etwas daraus!
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass sich der Außenminister für Lateinamerika interessiert und sich engagieren will. Wir werden ihn an dieser Ankündigung messen. Sein Amtsvorgänger hat sich sieben Jahre lang nicht die Bohne für Lateinamerika interessiert.
Lateinamerika ist für uns ein natürlicher Partner. Wer kommt einem als Erste in den Sinn, wenn es darum geht, die Gemeinschaft der aufgeklärten, rechtsstaatlichen Demokratien des Westens zu organisieren? Natürlich die meisten Länder Lateinamerikas. Das ist sicherlich noch ein weiter Weg, und wir müssen beharrlich dranbleiben. Deswegen liegt der Gedanke einer strategischen Partnerschaft nahe.
Der SPD-Vorsitzende hat diese Woche die Forderung erhoben, die EU solle auf Lateinamerika zugehen und mit Lateinamerika eine strategische Partnerschaft begründen. Genau das ist 1999 geschehen; seither haben wir eine strategische Partnerschaft EU-Lateinamerika. Darüber hinaus ist jedoch nichts geschehen; die Defizite sind da.
Wir sind in Lateinamerika verdammt schwach vertreten. In diese Lücke stoßen andere vor: die Vereinigten Staaten sowieso - sie haben es allerdings seit dem 11. September 2001 schwer -; aber auch China und Russland haben Lateinamerika mittlerweile entdeckt.
Im Hinblick auf Wirtschaft und Demokratie gibt es positive Entwicklungen - Sie haben sie zu Recht beschrieben -, die wir nicht unterschätzen dürfen. Es gibt aber auch Rückschläge, zum Beispiel die rückwärtsgewandten neuen Autokraten. Diese Caudillos geben uns, auch wenn sie demokratisch gewählt sind, großen Anlass zur Sorge. Noch mehr Sorgen macht mir allerdings, dass sich trotz der Öl- und Gasmilliarden, die verschiedene lateinamerikanische Länder Jahr für Jahr einnehmen, an der sozialen Schieflage nichts geändert hat, dass sie sogar zugenommen hat. Offensichtlich fühlen sich große Teile der Eliten nicht dafür verantwortlich, eine nachhaltige Entwicklung in Gang zu setzen, die Ölmilliarden zu nutzen, um endlich in Bildung, Forschung und Technologie, in Zukunftssicherung zu investieren. Ich sehe auch mit Sorge, dass Lateinamerika - übrigens der Halbkontinent, der als Erster, schon vor über 40 Jahren, zur kernwaffenfreien Zone erklärt worden ist - sehr wohl über ein Massenvernichtungsmittel verfügt, nämlich über Kokain. Wir haben keine Rezepte, damit klarzukommen. Es gibt also viel zu tun.
Ich glaube, die Europäer müssen sich überlegen, ob sie weiterhin eher als Entwicklungshilfegeber auftreten wollen oder ob eine strategische Partnerschaft nicht mehr erfordert. Ich meine das gemeinsame Diskutieren und Vereinbaren von Zielen auf der Grundlage abgestimmter Interessen und das gemeinsame Entwickeln von Strategien, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen. Das ist das, was Sie zum Schluss angesprochen haben: Partnerschaft auf Augenhöhe. Davon spüre ich gegenwärtig noch recht wenig. Es kann nicht sein, dass in gewissen zeitlichen Abständen große Gipfel stattfinden, während Lateinamerika bei uns ansonsten im Ressort Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt ist. Das ist zu wenig.
Es gibt große globale Themen, bei denen wir unsere Freunde in Lateinamerika mit in die Pflicht nehmen wollen. Die Abrüstung habe ich eben genannt. Es gibt noch andere, zum Beispiel im Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Wir sollten nicht nur mit Brasilien, einem BRIC-Land, sondern auch mit anderen Ländern darüber reden, wie wir große Weltprobleme in den Griff bekommen können.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir werden auch über etwas sprechen müssen, was uns und übrigens auch Investoren - aber bei Weitem nicht nur - besonders besorgt, die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika. Das steht wiederum in einem Zusammenhang mit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Ich habe sehr große Sorgen in Bezug auf Budgethilfen für Staaten, bei denen von Rechtssicherheit und Transparenz des Regierungshandelns nicht gesprochen werden kann. Es gibt gegenwärtig das recht krasse Beispiel Nicaragua. Ich finde, die Bundesregierung sollte da konsequent bleiben. Durch das Moratorium hinsichtlich der Budgethilfe sind wir in einer guten Ausgangsposition. Der Bericht des Bundesrechnungshofs für Nicaragua ist vernichtend. Folglich muss man sich selber treu bleiben.
Ich bitte darum, dass wir auch mit unseren Elitepartnern in Lateinamerika offener und klarer sprechen. Es reicht nicht aus, dass es sich mittlerweile erfreulich viele Menschen in Lateinamerika leisten können, ihre Kinder auf gute Privatschulen und anschließend zum Beispiel nach Miami oder auf gute amerikanische Ivy League Schools und Universitäten zu schicken. Wir müssen erreichen, dass das in Lateinamerika selbst für alle möglich wird. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Ich denke, hier müssen wir auch gegenüber unseren Freunden deutliche Erwartungen artikulieren.
Schließlich noch etwas zum Thema ?wirtschaftliche Zusammenarbeit?; das wird beim Gipfel sicherlich wieder eine große Rolle spielen. Gerade wir als Liberale haben eine Idealvorstellung davon, wie man den Welthandel organisieren kann. Deswegen wünschen wir uns so sehr einen Fortschritt bei den WTO-Verhandlungen. Wir werden aber immer wieder hingehalten; es passiert nichts.
Als gute Europäer sagen wir: Wir sind von unserem regionalen Integrationsmodell so überzeugt und begeistert, dass die anderen das jetzt auch so machen müssen. - Wir predigen dies gegenüber Mercosur, der Andengemeinschaft und anderen regionalen Zusammenschlüssen, übrigens nicht erst seit heute. Wir kommen aber nicht voran, weil die Bereitschaft wichtiger kongenialer Partner in Lateinamerika nicht vorhanden ist, die Form von Souveränitätsverzicht zugunsten einer regionalen Wirtschaftsintegration zu leisten, die wir uns vorstellen. Deswegen werden wir uns als drittbeste Lösung ernsthaft damit befassen müssen, ob man nicht zumindest mit einigen der Schlüsselländer bilaterale Handelsvereinbarungen treffen kann, weil wir ansonsten in Lateinamerika an Boden verlieren. Nicht nur die Vereinigten Staaten wollen an eine früher erfolgreiche Strategie zur Entwicklung von Freihandelszonen mit Lateinamerika anknüpfen; auch China ist auf diesem Gebiet außerordentlich aktiv. Selbst Russland ist auf dem Markt zu sehen. Die Europäer verstecken sich immer hinter ihren Idealvorstellungen von regionaler Wirtschaftsintegration im Sinne von Mercosur nach EU-Modell, die ich nachhaltig teile. Ich glaube aber, dass das auf lange Zeit nicht funktionieren wird. Deswegen sollten wir uns auch in der Handelspolitik flexibler zeigen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Eckart von Klaeden das Wort.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir befinden uns in Zeiten großer politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen. Die Haupttriebfeder für diese Umwälzungen ist die Globalisierung. Gerade in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Welt von morgen weniger euroatlantisch geprägt sein wird als heute. Die Konsequenz daraus ist: Wenn wir wollen, dass sich auch die zukünftige Weltordnung an den Prinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte orientiert - wenn wir also wollen, dass wir nach unseren Prinzipien auch in einer Weltordnung leben können, die nicht mehr so stark euroatlantisch geprägt sein wird -, dann müssen wir uns stärker nach verlässlichen Partnern umsehen als bisher. Dafür bietet sich Lateinamerika wegen seiner Geschichte, seiner Werte und seines Selbstverständnisses als Teil der westlichen Welt und der Gemeinschaft der Demokratien besonders an. Es gibt keine andere Entwicklungsregion, mit der wir, was unsere Prinzipien und Werte angeht, eine so große Übereinstimmung haben wie mit Lateinamerika.
Lateinamerika bringt mit seinen 36 Staaten in der internationalen Ordnung ein großes Gewicht auf die Waagschale. Da wir in diesen Tagen auch über 60 Jahre Israel diskutieren, weise ich darauf hin, dass ohne die Stimmen der lateinamerikanischen Staaten der Staat Israel mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Vereinten Nationen nicht anerkannt worden wäre.
Wir müssen unsere Partnerschaft mit Lateinamerika pflegen und ausbauen, und zwar vor allem vor dem Hintergrund - das hat der Kollege Hoyer schon angesprochen -, dass Deutschland und Europa dort zunehmend an Bedeutung zu verlieren scheinen, da mit China und anderen aufstrebenden asiatischen Staaten neue Partner bereitstehen, die zumindest aus wirtschaftlicher Sicht nicht weniger attraktiv sind als Europa. Der seit Jahren propagierten strategischen Partnerschaft müssen daher endlich konkrete und substanzielle politische Initiativen folgen.
Lateinamerika hat in den vergangenen Jahren eine tiefgreifende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderung erfahren. Unser Lateinamerikabild ist noch zu sehr von den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. Aber während in den 70er-Jahren noch autoritäre Regimes die politische Landschaft Lateinamerikas dominiert haben, werden mittlerweile fast alle Staaten außer Kuba von demokratisch gewählten Regierungen geführt.
Herr Minister, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir die kleinen Schritte, die Raúl Castro in Kuba unternimmt, nicht kleinreden sollten; denn dann wären sie ja nicht mehr zu erkennen. Es müssen daher noch wesentlich mehr Schritte hinzukommen, zum Beispiel die Freilassung politischer Gefangener. Gerade ist der weltberühmten Bloggerin Yoani Sánchez die Ausreise nach Spanien verweigert worden, die dort den renommierten Ortega-y-Gasset-Preis der Zeitung El País entgegennehmen sollte. Sie ist mit ihren Bloggerforen eine Hoffnung für die bürgerliche Gesellschaft, die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition in Kuba. Ich finde, wir alle sollten das Anliegen unterstützen, dass sie ausreisen darf und auf diese Weise ein Zeichen für das demokratische Kuba in Spanien setzen kann.
Heute wurde über die Agenturen verbreitet, dass Morales in Bolivien ein Referendum zu seiner Amtsenthebung akzeptiert. Auch Herrn Chávez sind bei seinem Referendum wegen seines autoritären und populistischen Kurses und wegen seiner offenen Sympathie für Terrorgruppen wie der FARC auch von der eigenen Bevölkerung deutliche Grenzen gesetzt worden.
- Ich weiß, dass sie mit ihnen sympathisieren und dass ihnen der Ausgang des Referendums nicht gefällt. Deswegen halte ich es für sinnvoll, das zu erwähnen.
Das Fehlen etablierter und stabiler Parteiensysteme und das zunehmende Wohlstandsgefälle sind gerade für die jungen Demokratien in Lateinamerika eine besondere Gefahr. Deswegen ist es unsere Aufgabe - wir haben die Möglichkeit -, diese Transformationsprozesse weiter zu unterstützen; gleichzeitig ist aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Prozesse schon erhebliche Erfolge zeigen. Ich habe das schon im Hinblick auf die demokratische Entwicklung festgestellt, aber es gilt auch für die wirtschaftliche Entwicklung.
Das neue Lateinamerika, dem wir uns zuwenden müssen, erzielt zum Beispiel seit Jahren deutlich höhere Wachstumsraten als wir. Unternehmen dieses neuen Lateinamerikas - die sogenannten Multilatinas - sind heute auf dem Weltmarkt zu einer Herausforderung als Konkurrenten und zu Partnern im Hochtechnologiebereich geworden. Ich erinnere zum Beispiel an den brasilianischen Flugzeugbauer Embraer. Lateinamerikas Reichtum an Bodenschätzen und Energieressourcen sowie sein landwirtschaftliches Potenzial haben die Region zu einem begehrten Partner in der Weltwirtschaft werden lassen. Gerade wenn wir uns die Struktur der chinesischen Wirtschaft anschauen, stellen wir fest, dass die lateinamerikanische und die chinesische Wirtschaft außerordentlich komplementär sind. China braucht wegen seines gigantischen Wirtschaftswachstums große Rohstoffmengen, und Lateinamerika ist langfristig in der Lage, sie zu liefern. Im Gegenzug kann China nahezu alle Güter produzieren, die in Lateinamerika nachgefragt werden.
Obwohl unsere Volkswirtschaften ähnlich komplementär sind, müssen wir feststellen, dass insbesondere die Agrarpolitik als ein Hindernis für eine vertiefte Kooperation zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika erscheint.
Ich glaube, dass die aktuelle Entwicklung auf den Nahrungsmittelmärkten die Möglichkeit bietet, dieses Hindernis nach und nach zu beseitigen. Gerade das Beispiel China zeigt, dass Lateinamerika nicht auf uns wartet. In Zukunft werden wir auf Lateinamerika mehr angewiesen sein als Lateinamerika auf uns.
Diese Herausforderung anzunehmen, erfordert Handeln auf drei Ebenen: erstens in Deutschland selbst, zweitens in unseren bilateralen Beziehungen zu den lateinamerikanischen Staaten und drittens in der Europäischen Union bei ihren multilateralen Bemühungen. Wir müssen also eine aktive und vor allem eine kontinuierliche Lateinamerikapolitik betreiben, die die Region wieder stärker in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt. Entwicklungspolitik sollte sich stärker an der Stabilisierung der fragilen demokratischen Systeme und an der Überwindung defizitärer Verwaltungsstrukturen orientieren sowie für eine Verbesserung der sozioökonomischen und politischen Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen sorgen, damit die demokratischen Strukturen gestärkt werden können.
Auf die vielfältigen Möglichkeiten der Kooperation mit Lateinamerika auf internationaler Ebene - sei es bei der Reform der Vereinten Nationen, sei es bei der Kooperation im Klimaschutz - kann ich leider nicht mehr zu sprechen kommen. Die Stichpunkte sind Ihnen aber sicherlich bekannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Hoyer, Lateinamerika ist mehr als eine Marktlücke. Lateinamerika ist ein Kontinent mit Millionen von Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen. Auch darum müsste es auf dem Gipfel in Lima in der nächsten Woche gehen.
Die politischen Rahmenbedingungen und die neuen Entwicklungen, vor deren Hintergrund dieser Gipfel stattfindet, sind entscheidend. Wir erleben, dass soziale Bewegungen in Lateinamerika es geschafft haben, den Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung auszubauen und ihre Folgen teilweise einzudämmen.
Das sind Hoffnungsträger, die wir unterstützen müssen. Diese sozialen Bewegungen haben dazu beigetragen, dass neue Regierungen in Lateinamerika an die Macht gekommen sind. Diese versuchen teilweise, neue Ansätze im Rahmen ihrer Regierungsprogramme umzusetzen, manchmal gut, manchmal schlechter.
Die Regierungen werden von den Bewegungen kritisch begleitet. Es gibt Aufbrüche. Sie sind ein Zeichen der Hoffnung, weil sie gegen die bisherige neoliberale Globalisierung stehen.
Die Bewegungen sind breit gefächert. Es gibt Millionen Landlose und indigene Bevölkerungen, die aufstehen, sich um den Regenwaldschutz bemühen und ein Recht auf Land einfordern. Es gibt Frauenorganisationen und Kleinbauern, die sich auf den Weg machen. All das ist Lateinamerika. Diese Menschen brauchen unsere Solidarität.
Für mich sind Länder wie Venezuela, Bolivien, Ecuador, Paraguay, Brasilien, Argentinien und Guatemala Hoffnungsträger. Wir müssen sie unterstützen. Wir dürfen nicht von oben herab sagen, welche Politik sie betreiben sollen. Die entscheidende Frage ist: Wie reagiert die Europäische Union auf die aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika? Was hat sie eigentlich anzubieten? Unterstützt sie diese Prozesse und versucht sie, diese zu befördern, oder boykottiert sie eher alternative Ansätze wie die Süd-Süd-Kooperation, die regionale Integration und die Entwicklung einer Bank des Südens als Alternative zu IWF und Weltbank?
Wir sehen ganz klar, dass die Europäische Union mit ihren Wirtschafts- und Freihandelsabkommen, die sie plant, diese Ausrichtung boykottieren will. Wir erleben, dass eine politische Strategie ausgearbeitet wird - das ist in der Lissabon-Strategie festgehalten -, Europa zur größten Wirtschaftsmacht und zum größten Wirtschaftsraum der Erde zu entwickeln. Der Anspruch eines globalen Europas wird doch formuliert. Es gibt aber auch dazu eine Gegenbewegung in der Europäischen Union. Auch hier stehen viele Menschen zum Beispiel gegen den EU-Vertrag und diese neoliberale Politik auf.
Diese Menschen in Lateinamerika und hier in der Europäischen Union müssen sich vernetzen und gemeinsam gegen diese Politik arbeiten. Sie werden sich - das ist interessant - nächste Woche auf einem alternativen Gipfel in Lima treffen und genau diese Forderungen formulieren. Sie haben bisher dazu nicht einmal die Möglichkeit. Die peruanische Regierung verhindert, dass sie sich legal treffen können. Ich fordere hier die Bundeskanzlerin, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt, auf, sich auch dafür einzusetzen, dass sich die Menschen dort treffen können und auf dem Alternativgipfel in Lima friedlich demonstrieren können.
Es gibt so viele hoffnungsvolle Prozesse in Lateinamerika. Es finden Verfassungsprozesse in Ecuador und in Bolivien statt. Herr Steinmeier, es ist eine Katastrophe, dass es keine massive Unterstützung für den Verfassungsprozess und den gewählten Präsidenten von Bolivien, Evo Morales, gibt. Er braucht unsere Unterstützung.
Von den dortigen Eliten wird eine Sabotagepolitik betrieben. Ich würde von Ihnen gerne einmal eine Stellungnahme zu den Abspaltungstendenzen der Ostprovinzen in Bolivien hören. Dazu muss es doch eine Haltung der Bundesregierung geben. Hier werden zukunftsvolle Prozesse massiv boykottiert. Wir fordern eine offensive Unterstützung der bolivianischen Politik.
Es gibt viele andere hoffnungsvolle Ansätze, die wir im Rahmen der Entwicklungspolitik besprochen haben. Ich nenne als Beispiel Ecuador. Ecuador will Kompensationszahlungen dafür, dass es kein Erdöl im Nationalpark Yasuní fördert. Wir müssen Ecuador dabei unterstützen. Das ist richtige Klimaschutzpolitik, im Gegensatz zu den neuen Abkommen mit Brasilien, durch die der Anbau von Agrarprodukten für Treibstoffe noch weiter ausgebaut wird. Solche Prozesse wie in Ecuador müssen wir massiv unterstützen. Diese kommen hier viel zu wenig zur Sprache, ebenso wie das, was die Menschen an der Basis entwickeln.
Schauen Sie sich Kolumbien an. Es gibt Friedensgemeinden in Kolumbien, in denen sich Menschen mit großem Mut zusammengeschlossen haben, um inmitten von Regionen des Krieges humanitäre, gewaltfreie Zonen zu entwickeln. Sie werden massiv von Paramilitärs, von der Armee und auch von der Guerilla angegriffen. Diese Friedensgemeinden brauchen Unterstützung, weil sie Hoffnungsträger für eine friedliche Entwicklung Kolumbiens sind,
aber nicht Präsident Uribe und seine Regierung, die immer tiefer im paramilitärischen Sumpf versinkt.
Mittlerweile gibt es sogar Untersuchungen gegen den Präsidenten Uribe. Herr Steinmeier, Sie müssen sich wirklich fragen lassen, wer Ihr Kooperationspartner für mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Lateinamerika ist.
Wir wollen eine Neuausrichtung der Kolumbienpolitik. Wir glauben, dass wir auf die zivilen friedenspolitischen Initiativen von unten setzen müssen und diese Menschen unterstützen müssen.
Ich habe ein ganz konkretes Anliegen: In meinem Wahlkreis in Tübingen wurden Patenschaften für diese Friedensgemeinden übernommen. Bürgerinnen und Bürger aus Tübingen haben mir gestern Abend eine Liste mit Unterschriften mitgegeben, weil sie wissen, dass ich nach Lateinamerika fahre. Sie fordern, dass die Bundesregierung offiziell die Friedensgemeinden in Kolumbien unterstützen soll.
Diese Unterschriftenliste würde ich gerne der Kanzlerin mitgeben. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber Kolumbien.
Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass der Außenminister an einem Punkt sehr recht hatte, nämlich in dem, dass Lateinamerika in einer sehr positiven Entwicklung ist. Für mich ist das am deutlichsten geworden, als Frau Bachelet in Chile zur Präsidentin gewählt wurde. Sie ist eine Person, die in den 70er-Jahren noch vor dem Putsch in Deutschland Asyl beantragen musste und es bekommen hat.
- In der DDR, das zu erwähnen, ist an der Stelle wichtig. - Was lehrt uns das? Das lehrt uns, dass wir in der Lateinamerikapolitik in Sachen Menschenrechte und Demokratie fest stehen müssen, aber dass wir uns vor einseitiger Parteinahme gegenüber Regimes hüten sollten, die uns scheinbar nahestehen.
Das gilt etwa mit Blick auf Herrn Uribe, der nun wahrlich kein großer Bündnispartner im Bereich der Menschenrechte ist.
Im Kampf gegen den Terrorismus möchte ich den, ehrlich gesagt, nicht an meiner Seite haben. Wir müssen uns natürlich nicht nur - Herr Hoyer hat darauf hingewiesen - mit dem Drogenanbau beschäftigen, sondern auch mit der Form von Drogenbekämpfungspolitik, die weite Teile der dortigen Ökosysteme zerstört.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Da mit Evo Morales zum ersten Mal ein Vertreter der Linken und der indigenen Völker gewählt worden ist, versuchen nun bestimmte Teile der bolivianischen Bevölkerung, ein Referendum durchzuführen, das im Kern auf die Spaltung des Landes zielt.
Es verfolgt ein bisschen das Motto: Wir wollen unsere Steuern behalten.
Was würden Sie sagen, wenn in Hamburg eine Volksabstimmung darüber erfolgen würde, dass alle Steuern in Hamburg bleiben? Dann würden die Umländer, auch die Niedersachsen, lieber Kollege von Klaeden, das nicht akzeptieren.
Die Ablehnung solcher Praktiken darf allerdings umgekehrt - und das sage ich ganz deutlich - auch nicht zum Abfeiern von anderen Regimes und anderen Richtungen führen. Ich bin sehr gespannt, was aus dem Prozess folgt, den Raúl Castro begonnen hat, und wie weit und wie mutig er ihn fortführen wird. Das darf aber kein Anlass sein, zu Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Reiseverbote und dergleichen zu schweigen.
Meine Damen und Herren, man muss auch Hugo Chávez nicht für die Inkarnation des Bösen halten - das kann man so oder so sehen -,
aber man sollte sich mit ihm auch nicht gemein machen. Ich habe etwas Lustiges gelesen. Unter der Überschrift ?Zu Gast bei Hugo Chávez? heißt es:
Am 24. Februar hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez die Abgeordnete Nele Hirsch in seiner TV-Show Aló Presidente empfangen.
Die 28-Jährige wurde in einem Airbus A 319 der Präsidentenflotte
- immerhin fliegt er nicht Boeing -
(weiße Ledersessel mit eingesticktem Wappen, Süßigkeiten in den Nationalfarben) und im Helikopter Typ Super Puma (beschützt von der präsidialen Eliteeinheit Kobra) eingeflogen. Der TV-Auftritt war der Auftakt einer einwöchigen Delegationsreise, an der auch ? Dorothée Menzner ? und Paul Schäfer teilnahmen.
Das Ganze stammt nicht aus der Bunten,
sondern aus der Zeitung Klar. Das ist das Organ der Linksfraktion.
Gnädige Frau, ich glaube, da haben Sie sich für Propaganda hergegeben,
und das ist das Gegenteil einer vernünftigen Partnerschaft mit Lateinamerika.
Wenn wir die Lateinamerikapolitik fortentwickeln wollen, dann müssen wir dies auf der Basis gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte tun. Nur auf dieser gemeinsamen Basis können wir drängende globale Probleme angehen.
Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht: Die Entwicklung Lateinamerikas in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie das Bekenntnis zu Multilateralismus sind gute Voraussetzungen.
In Lima werden wir über ein Thema reden, das auf der Tagesordnung steht, nämlich über die Frage, wie wir gemeinsam mit dem Klimawandel und der Bekämpfung von Armut umgehen. Dabei müssen wir natürlich festhalten: Diese beiden Themen gehören unmittelbar zusammen. Wir haben ein massives Interesse daran, dass die sensiblen Ökosysteme Lateinamerikas erhalten werden. Sie bieten nämlich nicht nur einen unvorstellbaren Artenreichtum, sondern sind auch für das globale Klima von zentraler Bedeutung. Sie sind allerdings einem massiven Nutzungsdruck ausgesetzt.
Wenn wir diese Ökosysteme erhalten wollen, dann müssen wir uns solchen Initiativen wie dem Angebot der Regierung Ecuadors öffnen. Ecuador bietet an, auf die Ausbeutung von Ölvorräten im Yasuni-Nationalpark zu verzichten. Da Ecuador dadurch Einnahmen entgehen, bedarf es zwar keines kompletten Ausgleichs,
aber die Europäer sollten sich im Gegenzug an einem fairen und gemeinsamen Interessenausgleich beteiligen. Wir sagen also: Ihr verzichtet auf die Reichtümer, die sich daraus ergeben können. Als Ausgleich für diesen Verzicht transferieren wir als diejenigen, die mitverantwortlich für den Klimawandel sind und die Masse des Öls nachfragen, Geld an euch für eine vernünftigere und nachhaltigere Entwicklung. Dies könnte wirklich ein Musterbeispiel dafür sein, was auf der Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in den nächsten Wochen in Bonn verhandelt wird.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Deutschland hat gerade im Bereich der Technologiezusammenarbeit zum Urwaldschutz etwas zu bieten. Das Projekt PPG7, das von Helmut Kohl und Angela Merkel begonnen wurde, von der Folgeregierung und der jetzigen Regierung fortgesetzt wurde, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man Fragen der Nutzung und des Schutzes des Urwaldes in Brasilien zusammenbringen kann.
Ebenso zählt für mich zur Partnerschaft auch, in bestimmten Punkten Klartext zu reden. Herr Hoyer, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Lateinamerika der erste Kontinent gewesen ist, der sich komplett zur nuklearfreien Zone erklärt hat. Wie passt es zu dieser Grundidee, wenn ausgerechnet der brasilianische Präsident, der Präsident eines Landes, das 80 Prozent seiner Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt, das gerade riesige Ölvorräte im Atlantik gefunden hat, das über Gasvorkommen verfügt, im Energiebereich also absolut autark ist und sogar Energie exportiert, fordert, Brasilien müsse unbedingt den nuklearen Brennstoffkreislauf von der Anreicherung bis zur Wiederaufbereitung beherrschen? Meine Damen und Herren, das hat nichts, aber auch gar nichts mit Energiepolitik zu tun, sondern hier steht der Verdacht der Proliferation im Raum. Deswegen sind wir, wie ich glaube, gut beraten, darauf zu drängen, dass das deutsch-brasilianische Atomabkommen endlich in ein Abkommen zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz überführt wird.
Gerade im Bereich der energetischen Zusammenarbeit liegen ja unglaubliche Chancen, zum einen für den Klimaschutz. So können wir durchaus noch etwas von Brasilien lernen: Unser Bundesumweltminister ist ja mit dem Projekt, 10 Prozent Bioethanol dem Benzin beizumischen, gescheitert; dagegen beträgt die Beimischungsrate in Brasilien heute schon 27 Prozent, und die Motoren vertragen das dort. Das scheinen die Brasilianer besser zu können als die Produzenten in Deutschland; allerdings stammen dort viele Autos von deutschen Automobilherstellern. Irgendetwas scheint da also nicht zu stimmen. Zum anderen kann man deutlich machen, dass die Erzeugung von Bioenergie und die Nutzung von erneuerbaren Energien auf der einen Seite große Risiken bergen - ich nenne den Nutzungsdruck, der zur Vernichtung von Primärwäldern führen kann -, auf der anderen Seite aber auch die Chance bieten, Armut zu überwinden. Das sieht man ja ganz deutlich am brasilianischen Biodieselprogramm.
Was sollen wir also tun? Wir müssen zu einem Zertifizierungssystem kommen, das sich nicht auf Biokraftstoffe beschränkt, sondern alle Agrarprodukte umfasst, also Lebensmittel, Nahrungsmittel und Treibstoffe.
Um das bei den WTO-Verhandlungen zu erreichen, müssen wir den Mut aufbringen, eines der Haupthindernisse hierfür abzuschaffen, nämlich die marktprotektionistischen Schutzzölle, die sich Europa immer noch gönnt.
Das ist nämlich nicht fair, wie wir mit denen hier umgehen. Es müssen also soziale und ökologische Standards verankert werden, und auf der Basis dieser sozialen und ökologischen Standards muss Freihandel ermöglicht werden. So sieht mein Verständnis von Partnerschaft aus.
Zum Abschluss - auch das gehört zu diesem Thema -: Wir müssen die Rolle Lateinamerikas in den globalen Systemen ernst nehmen. Ich finde, man kann nicht über Partnerschaft mit Lateinamerika sprechen und zugleich die Frage ausklammern, dass Lateinamerika bis heute im wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen, nämlich im Sicherheitsrat, nicht repräsentiert ist.
Hier besteht akuter und dringender Nachholbedarf. Partnerschaft zum gemeinsamen Vorteil - das muss die Grundlinie unserer Lateinamerikapolitik sein.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lateinamerika ist ein faszinierender Kontinent, in Anbetracht der Vielfalt der Natur vielleicht der schönste Kontinent. Er steht uns auch aufgrund vieler gemeinsamer kultureller Traditionen sehr nahe. Auch in Deutschland erfreuen sich viele an der Farbenpracht und der Lebensfreude, die wir oft auch unmittelbar durch die Menschen aus Lateinamerika, die bei uns leben, erfahren.
Es ist aber auch ein Kontinent mit großen Widersprüchen. Denn trotz des Reichtums und der Schönheit können nicht alle Menschen auf diesem Kontinent ohne Hunger und Armut leben, und das, obwohl viele Böden sehr fruchtbar sind, obwohl Rohstoffe vorhanden sind und obwohl viel Reichtum, auch finanzieller Reichtum, vorhanden ist, der sich allerdings in den Händen einiger weniger Menschen befindet. Genau das ist eines der Probleme: Nirgendwo sonst gibt es eine so große Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich.
Wir haben in den letzten Jahren viele Fortschritte in Richtung Demokratie gesehen. Ich sage ganz klar, dass an der Armut zu einem großen Teil auch die Industrieländer schuld sind, und zwar aufgrund des ungerechten Welthandelssystems. Das wurde schon erwähnt; ich komme später darauf zurück. Aber wahr ist auch, dass es - unabhängig von den äußeren Einflüssen und trotz Fortschritten in Richtung Demokratie - oft immer noch eine schlechte Regierungsführung, viel Korruption und eine ungenügende finanzielle Beteiligung der Eliten und Oberschichten in diesen Ländern gibt, die sich nicht genug um die armen Menschen kümmern.
Vor diesem Hintergrund setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika seit vielen Jahren die richtigen Schwerpunkte. Wir setzen uns für eine gute Regierungsführung ein. Wir unterstützen Länder bei Antikorruptionsmaßnahmen, bei der Einführung transparenter Ausschreibungsregeln im öffentlichen Beschaffungswesen, bei der Stärkung der Justiz- und Rechtssysteme oder auch bei einer effizienten Steuer- und Haushaltspolitik. Das ist ganz wichtig. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat neulich erst einen Kongress mit unseren lateinamerikanischen Partnern veranstaltet, um die Einführung von Steuersystemen zu unterstützen, durch die die Eliten in diesen Ländern durch höhere Zahlungen zu mehr Einnahmen beitragen, die für soziale Zwecke ausgegeben werden können, die zum Beispiel in Bildung oder den Aufbau sozialer Sicherungssysteme fließen können.
Wir stärken viele lokale Prozesse, damit auch benachteiligte Menschen oder Menschen aus finanziell schwachen Familien auf der kommunalen Ebene in der Lage sind, Haushaltspolitik vor Ort mit zu kontrollieren, sich an der Demokratie zu beteiligen und für ihre Interessen zu streiten.
Die Ergebnisse dieser Form der Entwicklungszusammenarbeit sind natürlich nicht so konkret messbar wie bei dem Bau einer Schule oder einer Trinkwasserversorgungseinrichtung. Aber die Tatsache, dass es in den letzten Jahren, vielleicht sogar im letzten Jahrzehnt, keine militärischen Putschversuche mehr gab und dass sich die Demokratie in allen Ländern - eigentlich bis auf Kuba; wir haben es gehört - durchgesetzt hat, ist auch ein Erfolg der deutschen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
Auch die Tatsache, dass bei den jüngsten Wahlen in vielen lateinamerikanischen Ländern endlich die soziale Frage die dominierende Rolle gespielt hat, ist zu einem Teil darauf zurückzuführen, dass wir das dort über unsere Durchführungsorganisationen und politischen Stiftungen immer wieder zum Thema gemacht haben und dass wir Oppositionspolitikern, Menschen aus der Zivilgesellschaft, Gewerkschaftern und anderen immer wieder die Chance gegeben haben, mit unseren politischen Stiftungen Dialoge zu führen, um so auch die parlamentarische Opposition zu stärken.
Ich glaube schon, dass wir dort eine sehr gute Arbeit geleistet haben. Messbare Erfolge sind an einigen Personalien erkennbar. Mittlerweile sind in einigen Regierungen prominente Führungspersönlichkeiten vertreten, die früher Mitarbeiter der GTZ oder der Friedrich-Ebert-Stiftung waren. Ich nenne nur den Generalstaatsanwalt Kolumbiens, Iguarán, der für die GTZ einmal ein Gutachten zum Justizsystem erstellt hat und deshalb in diese Position gekommen ist. Der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung in Ecuador, Alberto Acosta, war über zehn Jahre lang Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das sind Beispiele dafür, dass wir über die breitangelegte Art der Zusammenarbeit in diesen Ländern durchaus einen positiven Einfluss haben.
Ich möchte an der Stelle all denen, die dazu beigetragen haben, Dank aussprechen, aber auch denjenigen, die wir im Rahmen des - ein weiterer Schwerpunkt - zivilen Friedensdienstes in Länder Lateinamerikas schicken, wo sie durch Prävention, Konfliktbewältigung und Versöhnung einen unschätzbaren Dienst leisten und dabei an ihre psychischen und physischen Grenzen gehen. Ihnen sollten wir alle ein herzliches Dankeschön aussprechen.
Beim Stichwort ?ziviler Friedensdienst? fällt mir sofort Kolumbien ein. Frau Hänsel, Kolumbien ist schwerpunktmäßig ein Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Natürlich stärken wir nur die Kräfte, die für Menschenrechte eintreten. Wir wollen die Rechtsstaatlichkeit fördern und unterstützen deswegen das Justizsystem. Wir stärken natürlich auch die Friedensgemeinden.
Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet Sie von der Linkspartei - Herr Trittin hat eben zu Recht darauf hingewiesen - sich von Herrn Chávez hätscheln lassen und ihn im Gegenzug quasi als sozialen Friedensengel bezeichnen. Es handelt sich aber um einen Präsidenten, der die FARC direkt unterstützt. Es gibt fast erdrückende Beweise, dass Präsident Chávez der FARC 300 Millionen US-Dollar zukommen lässt und sie an Öleinnahmen Venezuelas beteiligen will. Er möchte ihr auch Waffen aus den Altbeständen der Armee liefern. Das wird von Interpol untersucht. Heute läuft die Meldung über den Ticker, dass es Anzeichen dafür gibt, dass das alles wahr ist.
Es ist wirklich ein Skandal, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, die FARC von der Terrorliste zu streichen. Da wird schon ein gewisses Muster deutlich. Die Organisation, die die meisten Morde, Entführungen und Bombenanschläge in Kolumbien verübt, ist die FARC. Aber Sie sind auf diesem Auge blind und preisen einen Präsidenten, der diese Terrororganisation unterstützt. Dies ist unglaubwürdig. Sie müssen schon Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten anprangern.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke?
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Ja.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Raabe, haben auch Sie vielleicht die Berichte von US-Wissenschaftlern gelesen, die den Computer des zweiten FARC-Kommandierenden, der getötet worden ist, untersucht haben und die die Aussagen der kolumbianischen Regierung bisher für nicht sehr belastbar halten? Es ist sehr viel übertrieben und spekuliert worden. Bis jetzt gibt es keine Ergebnisse von Interpol, die zeigen, dass das, worauf Sie sich berufen, den Tatsachen entspricht.
Glauben Sie nicht auch, dass es in Kolumbien eine friedliche Lösung dieses Konfliktes geben muss und dass es nicht möglich ist, diese Auseinandersetzung militärisch in irgendeiner Form zu gewinnen?
Wenn wir uns dafür einsetzen, dass die FARC von der Terrorliste gestrichen wird, dann tun wir dies nicht, um die FARC zu entlasten, sondern deswegen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Friedensverhandlungen und Friedensgespräche umfassend möglich werden, indem die FARC als Verhandlungspartner in der Europäischen Union auftreten kann.
Diese Perspektive müssen wir doch eröffnen.
Sie sprachen von den Friedensgemeinden. Natürlich bekommen sie Entwicklungsunterstützung. Aber wenn die kolumbianische Regierung öffentlich die Mitglieder der Friedensgemeinden und auch viele Menschenrechtsaktivisten in die Nähe von Terroristen rückt, dann wird dadurch der Erfolg dieser Arbeit gefährdet.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie sollten eine Frage stellen!
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Ich frage: Wie stehen Sie dazu, dass Präsident Uribe
- könnte ich bitte einmal ausreden? -
und viele Mitglieder der Regierung Kolumbiens Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Friedensgemeinden offiziell diffamieren und sie in die Nähe von Terroristen rücken? Ist das Friedenspolitik?
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Sehr geehrte Kollegin Hänsel, ich bin nicht der Pressesprecher von Herrn Uribe. Deswegen möchte ich nicht kommentieren, was Herr Uribe angeblich gesagt und was er nicht gesagt hat.
Ich habe schon dargelegt - diesen Punkt haben auch Sie angesprochen -, dass wir auf eine friedliche Lösung in Kolumbien setzen. Wir unterstützen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit seit vielen Jahren diese Prozesse; wir unterstützen auch die jetzige Regierung Kolumbiens auf diesem Weg. Natürlich ist der von der Regierung eingeschlagene Weg noch mit großen Mängeln behaftet. Aber so negativ, wie es oft geschildert wird, ist die Situation nicht.
Die Zahl der Morde und Entführungen ist zurückgegangen. Menschen können sich endlich wieder in den Großstädten und zwischen den Großstädten frei bewegen.
Sie sagen, man könne den Konflikt nicht militärisch lösen. Aber einem Staat muss es erlaubt sein, Polizeikräfte einzusetzen. Genau das macht Kolumbien. Es macht keinen Sinn, mit einer menschenverachtenden Terrororganisation, die Bomben legt und die die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt immer noch unter menschenunwürdigen Bedingungen fast wie ein Tier gefangen hält,
zu reden. Es macht keinen Sinn, dass sich Herr Uribe - wie Sie das fordern - mit denen zum Kaffeetrinken trifft. Das sind Kriminelle.
Wir haben damals den RAF-Terroristen auch nicht Bayern als neutrale Verhandlungszone angeboten.
Sie fordern von der kolumbianischen Regierung, einer Terrororganisation ein riesiges Gebiet zur Verfügung zu stellen - über das diese Terrorgruppe dann offiziell herrscht - und dann jahrzehntelang über Frieden zu verhandeln. Ich finde es richtig, dass eine Terrororganisation als Terrororganisation behandelt wird.
Aber wir prangern auch ganz entschieden alle Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung an. Wir fordern die kolumbianische Regierung auf, besser dagegen vorzugehen. Wir halten da beide Augen auf und sind wachsam.
Frau Hänsel, eines muss ich Ihnen schon noch sagen. Was die auf diesem Computer gespeicherten Daten angeht: Gerade heute, am 9. Mai - mein Büro hat mich soeben über eine entsprechende Tickermeldung informiert -, haben US-Wissenschaftler gesagt, nach Recherchen sei die Authentizität dieser Daten eigentlich bewiesen. Es ist ja nicht so, dass das Ganze nur eine Theorie ist. In Costa Rica wurden bereits 480 000 Dollar gefunden; es wurden auch 30 Kilogramm Uran gefunden. Die entscheidenden Hinweise waren auf diesem Computer gespeicherte Daten.
Mir macht das große Angst. 30 Prozent des Drogenschmuggels der FARC wird über die venezolanische Grenze abgewickelt. Warum sind sämtliche Terrorcamps der FARC denn nicht in Kolumbien, sondern an der Grenze Kolumbiens? Wer glaubt, Präsident Chávez unterstütze die FARC nicht, der täuscht sich; man muss das ganz einfach offen ansprechen, Frau Hänsel. Sie sind auf dem linken Auge blind, und das ist nicht lauter.
Was gute Regierungsführung angeht, geben wir keine Unterstützung im Rahmen einer unkonditionierten Budgethilfe. Herr Hoyer, ich möchte Ihnen noch einmal sagen - Sie haben das Beispiel Nicaragua genannt -: Wir haben aus den auch von Ihnen angesprochenen Gründen die Budgethilfe für Nicaragua mittlerweile gestoppt.
Wir werden auch in Zukunft natürlich nur denjenigen Budgethilfe geben, die die Bedingungen dafür erfüllen. Budgethilfe kann dann ein sinnvolles Instrument sein.
Ich glaube, dass der Wissenschaftsaustausch, den wir über den DAAD und über kulturelle Einrichtungen durchführen, ein wichtiger Beitrag ist, Demokratie und Menschenrechte zu stärken und vor Ort für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen.
Leider komme ich aus Zeitgründen nicht mehr dazu, auf Folgendes ausführlich einzugehen - es wurde schon oft gesagt; Sie kennen meine Position -: Natürlich müssen wir endlich unsere Märkte für Agrarprodukte der lateinamerikanischen Länder öffnen.
Wir dürfen da keinen Protektionismus betreiben und müssen endlich unsere Exportsubventionen und unsere handelsverzerrenden Subventionen abbauen. Wir müssen im Rahmen der WTO, der Welthandesrunde, endlich zu fairen Ergebnissen kommen. Dann können wir diesen Kontinent von außen und von innen auf dem guten Weg, auf dem er schon ist, deutlich weiter nach vorne bringen.
Ich bin zuversichtlich im Hinblick auf die Reise zum EU-Lateinamerika-Gipfel, die die Kanzlerin bald macht; ich werde sie begleiten können. Ich hoffe, dass die in dem Koalitionsantrag formulierten Schwerpunkte berücksichtigt werden und auch das Strategiepapier, das die SPD dazu neulich gemeinsam mit unserem Außenminister entwickelt hat. Er wird dieses Jahr wieder nach Lateinamerika reisen und dadurch zeigen, dass Lateinamerika für ihn wichtig ist. Wir sollten diesem Kontinent die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wir brauchen über Armut in Lateinamerika hoffentlich bald nicht mehr zu reden, weil sie dann überwunden sein wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion.
Dr. Karl Addicks (FDP):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode über die Beziehungen der EU zu Lateinamerika. Vor dem Gipfel in Lima werden jetzt wieder einmal wie damals in Wien die besonderen Beziehungen beschworen. Die Bundesregierung beteuert treuherzig, wie wichtig die Beziehungen der EU und Deutschlands zu Lateinamerika seien.
Ich darf an dieser Stelle einmal fragen: Was haben Sie seit 2006 eigentlich getan, um Ihren Beteuerungen und Ihren Worten Taten folgen zu lassen? Sie haben als Zeichen Ihrer besonderen Wertschätzung für Lateinamerika vier Länder von der Liste der Partnerländer gestrichen: Costa Rica, El Salvador, Paraguay und Chile. Keine andere Region war von so vielen Streichungen betroffen. Stattdessen haben Sie freundlicherweise die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit China um 10 Millionen Euro erhöht. Da frage ich mich schon: Was meinen Sie eigentlich mit ?besonderen Beziehungen der EU und Deutschlands zu Lateinamerika?? Wo sind eigentlich die vielbeschworenen Konzepte, die diese Partnerschaft einmal mit Leben füllen sollten?
Ein zentrales Thema auf diesem Gipfel wird wieder die Armutsbekämpfung sein. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang zwei Länder in Lateinamerika herauszugreifen, die mir für die Behandlung durch die Bundesregierung exemplarisch erscheinen.
Erstens: Bolivien. Das Land wird mit 52 Millionen Euro gefördert. Damit ist es das meistgeförderte Land der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Außerdem ist Bolivien am häufigsten entschuldet worden. Entschuldungen sind sicherlich ein Weg, um einem Land, das in der Sackgasse steckt, einen Neuanfang zu ermöglichen. Nur sollten die dadurch freiwerdenden Mittel tatsächlich für die Bekämpfung der Armutsursachen genutzt werden. In Hinblick darauf ist Bolivien leider ein absolutes Negativbeispiel.
Nach wie vor ist Bolivien eines der ärmsten Länder der Welt. Im Bertelsmann-Transformation-Index ist Bolivien von Platz 49 im Jahr 2006 auf Platz 74 zurückgefallen. Ich frage Sie: Halten Sie das für ein Zeichen von wirksamer Entwicklungszusammenarbeit?
Wenn die Regierung eines Landes die von uns in der Entwicklungszusammenarbeit aufgestellten Bedingungen einer Good Governance nicht erfüllt, wenn ein Land eine Entwicklung nimmt, die ganz klar undemokratisch und nicht rechtsstaatlich ist, müssen deutsche Leistungen infrage gestellt werden dürfen.
Gerade Bolivien ist hierfür ein gutes Beispiel. Die verkehrte Politik Boliviens hat mit den Verstaatlichungen der Erdöl- und Gasindustrie angefangen;
sie endet mit dem Versuch, dem Land ohne ausreichende Beteiligung der Bevölkerung eine neue Verfassung zu oktroyieren.
Man sieht die Konsequenzen: Das Land fängt an, in autonome Regionen zu zerfallen. Das ist der Erfolg der linken Politik von Herrn Morales.
Diese Entwicklungen bestätigen die in unserem Antrag geäußerten Befürchtungen in vollem Umfang. Wir haben in unserem Antrag bereits gefordert, dass die Bundesregierung ihren Einfluss geltend macht und den geplanten Verfassungsprozess entsprechend begleitet. Davon hat die Bundesregierung leider nichts umgesetzt.
Zweitens: Nicaragua. Das Land wurde heute schon mehrfach genannt. Nicaragua ist der Empfänger der zweithöchsten Leistungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Auch Nicaragua hat große Schuldenerlasse erhalten und hätte damit die Möglichkeit zu einem Neuanfang gehabt. Trotzdem ist Nicaragua seit Amtsantritt Ihres Freundes Ortega, seit 2007, in eine Abwärtsspirale sondergleichen gekommen. Die Bundesregierung hat deshalb zu Recht - mein Kollege Hoyer hat es erwähnt - die Budgethilfe für Nicaragua gestrichen. Trotzdem zahlt Deutschland über den Umweg Europa weiterhin Budgethilfe an Nicaragua. Ich frage Sie: Halten Sie das - gerade in einer Zeit, in der die Kohärenz der Entwicklungszusammenarbeit von Europa und den Nationalstaaten erörtert wird - für kohärente Politik? Welches Signal wollen Sie damit an die Regierung Ortega senden?
Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass die EU gegenüber Nicaragua mit einer Stimme spricht. Auch die EU muss gegenüber Staaten, die gemeinsame Werte fortgesetzt unterlaufen, konsequent handeln. Dafür brauchen wir jetzt eine entschlossene Bundesregierung, die ihr Gewicht in Europa nutzt, um in den beiderseitigen Beziehungen bessere Bedingungen für die Menschen vor Ort zu erreichen. In diesem Sinne hoffen wir auf eine ehrgeizige Politik der Bundesregierung, auf eine neue Lateinamerikapolitik.
Zum Schluss sollten wir alle die Führung der FARC in Kolumbien auffordern, endlich Frau Betancourt freizulassen. Es ist eine Schande, was mit dieser Frau dort gemacht wird. Ich würde mich über Applaus aus allen Fraktionen freuen.
Danke sehr.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Eduard Lintner, CDU/CSU-Fraktion.
Eduard Lintner (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! An der heutigen Debatte finde ich besonders positiv, dass sich - ich muss hinzufügen: endlich - alle Fraktionen offenbar sehr intensiv mit den Beziehungen Europas und Deutschlands zu Südamerika befasst haben.
Die große Zahl von Anträgen und die Art und Weise, wie darin Aufforderungen formuliert sind, zeigen, dass es ein gestiegenes Interesse gibt, das wir in Zukunft dynamisch nutzen sollten. Wir alle sind nämlich ein bisschen daran schuld, dass dieses Thema in der Vergangenheit nicht mit dem nötigen Gewicht versehen worden ist.
Es gibt, wenn ich es richtig gesehen habe, eine erfreuliche Übereinstimmung in wichtigen Punkten. Allerdings möchte ich da die Fraktion der Linken ausnehmen, weil ihr Antrag - das war Gegenstand der Erörterung - erkennbar darunter leidet, dass zentrale Aussagen zu dieser Thematik aus einem ideologischen Blickwinkel heraus getroffen werden.
- Nein, nein, Herr Kollege. - Damit verschließen Sie aber zwangsläufig - das ist gerade deutlich geworden - die Augen vor der Tatsache, dass die demokratische Legitimation mancher Machthaber und ihres Handelns sehr kritisch bewertet werden muss.
Bereits beim ersten Gipfeltreffen zwischen der EU und den lateinamerikanischen Staaten im Juli 1999 in Rio wurde festgelegt, dass man künftig eine strategische Partnerschaft pflegen wolle. Das ist schon vom Wort her ein ganz gewaltiges Vorhaben, wenn man sich die beiden Begriffe einmal inhaltlich vergegenwärtigt. Man muss selbstkritisch feststellen - auch das ist schon zum Ausdruck gekommen -, dass die konkrete Politik diesem hohen Anspruch in der Vergangenheit nicht gerecht geworden ist. Neue Dynamik ist deshalb in der Tat vonnöten. In diesem Zusammenhang wird immer mit Recht darauf hingewiesen, dass zwischen Europa und Lateinamerika vielfältige geschichtliche, kulturelle, wirtschaftliche oder auch gesellschaftliche Verbindungen bestehen - mehr als zu jedem anderen Kontinent, ausgenommen vielleicht Nordamerika.
Natürlich gibt es schon heute eine Vielzahl von Abkommen, Institutionen und Verbindungen, die zusammengenommen bereits eine breite Palette denkbarer Kooperationsfelder abdecken. Aber es war eben mehr ein Beharren auf dem Vorhandenen und kein dynamisches Drängen nach mehr und nach vorne. So stehen zum Beispiel die wichtigen vertraglichen Regelungen mit dem Mercosur immer noch aus; die Gründe dafür sind heute bereits genannt worden. Aber hier gibt es immerhin einen Hoffnungsschimmer; denn Frau Dr. Ferrero-Waldner - sie ist als EU-Kommissarin für diese Dinge zuständig - hat gestern auf einem lateinamerikanischen Kongress der CDU/CSU-Fraktion gesagt, dass die EU-Kommission derzeit prüft, ob jetzt Fortschritte möglich sind. Es wäre in der Tat ein ermutigendes Zeichen, wenn dieses schon lange versprochene Handelsabkommen endlich zustande käme. Dies wäre ein echtes Aufbruchsignal.
Ich will den Antrag mit dem Titel ?Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik?, zu dem ich speziell sprechen möchte, jetzt nicht in seinen Einzelheiten vortragen; dies kann ja nachgelesen werden. Ich finde, dass die dort aufgezeigten Ansatzpunkte für unsere Lateinamerikapolitik sehr richtig sind.
Da geht es zum Ersten natürlich um die Pflege und Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen. Deutschland ist daran maßgeblich beteiligt. Aber unser Anteil ist rückläufig. Es wäre wünschenswert, wenn sich künftig noch mehr kleine und mittelständische Unternehmen engagieren würden. Ich kann mir im Übrigen gut vorstellen, dass sich insbesondere das gesellschaftliche Engagement der großen Zahl der ansässigen deutschen Firmen - Südamerika ist dafür ein herausragendes Beispiel - etwa bei der beruflichen Ausbildung junger Menschen, im Kampf gegen die Armut und bei der Sicherung der Nachhaltigkeit in der Ressourcennutzung sowie beim Umweltschutz ausbauen lässt.
Ein zweiter Schwerpunkt sollte der Sektor Bildung sein - von den Schulen bis zu den Universitäten und Forschungseinrichtungen. Dabei dürfen wir durchaus eigene Interessen im Blick haben. Die Globalisierung zwingt uns, die Kooperationsfähigkeit mit einzelnen Ländern und Gesellschaften gezielt zu entwickeln und zu stärken. Auch dazu enthält unser Antrag konkrete Vorschläge.
Ein dritter Ansatzpunkt wäre: Die engen geschichtlichen und kulturellen Bezüge befähigen uns Europäer in besonderer Weise, den lateinamerikanischen Ländern zu helfen. Das ist jetzt nicht überheblich gemeint; aber gerade Deutschland hat reiche Erfahrungen zum Beispiel mit der Ausgestaltung und Effizienz der kommunalen Selbstverwaltung. Wir wissen um die Vorteile der Aufteilung von Zuständigkeiten gemäß den Prinzipien der Subsidiarität und des föderalen Staatsaufbaus. Wir können unsere jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer Demokratie sowie einer sozialverträglichen Programmatik von Parteien und ihrer konstruktiven Rolle im demokratischen Staat weitergeben.
Es muss den lateinamerikanischen Staaten gelingen, alle Teile der Bevölkerung am wachsenden Wohlstand und an den Bildungsmöglichkeiten des Landes zu beteiligen. Gerade auf diesem Gebiet scheinen die Eliten in vielen lateinamerikanischen Staaten bisher versagt zu haben. Anders sind die eruptiven Erfolge autoritärer Führer, die sie mit ihren populistischen Programmen haben, gar nicht zu erklären.
Ein vierter Ansatzpunkt ist der multilaterale Ansatz der lateinamerikanischen Staaten in ihrer Außenpolitik. Dazu ist schon vieles ausgeführt worden, sodass ich mich darauf nicht konzentrieren muss. Es gilt, die gemeinsamen Überzeugungen bei den vielfältigen Initiativen zu nutzen.
Ich kann nur hoffen, dass der heutige Tag für uns Anlass ist, die Dynamik, die sich in dieser Debatte gezeigt hat, die mit Sicherheit mit dem Besuch der Bundeskanzlerin in Zusammenhang steht, zu nutzen, und wir uns künftig öfter mit diesem wichtigen politischen Feld befassen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe auf der Besuchertribüne den Botschafter Boliviens. Ich freue mich, Exzellenz, dass Sie hier sind und die Diskussion in diesem Parlament verfolgen.
Ich finde, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein, diesen Gruß auszusprechen.
Zur Sache: Der eigentliche Hintergrund der Debatte ist doch, dass wir es in Lateinamerika mit einem sehr kräftigen politischen Wind nach links zu tun haben, und zwar in einer großen Zahl der Länder. Der Wind hat sich gedreht. Der Wind nach links ist so stark, dass er sogar die SPD erreicht und sie zu einem neuen Strategiepapier gebracht hat.
Ich habe das Strategiepapier der SPD, das viele vernünftige Punkte enthält, mit dem verglichen, was Willy Brandt zum Nord-Süd-Dialog geschrieben und geleistet hat. Da haben Sie noch großen Nachholbedarf.
Arbeiten Sie ruhig weiter. Der Wind geht nach links, und das finde ich sehr vernünftig.
- Der Wind treibt nach links.
Wenn man sich die Frage stellt, warum die Linke in Lateinamerika trotz ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit so viele Erfolge erreicht hat, kommt man nicht darum herum - Herr Lintner, Sie haben es mit anderen Worten gesagt -, über die Spur der Zerstörung zu sprechen, die der Neoliberalismus in Lateinamerika hinterlassen hat. Das war der Ausgangspunkt.
Ich habe jetzt leider nicht die Zeit, Ihnen im Einzelnen zu schildern, wie es in den Ländern aussieht, die sich dem neoliberalen Diktat gebeugt haben.
Ich war in einer Stadt nahe der Hauptstadt San Salvador, einer Stadt mit 100 000 Einwohnern: kein Strom, kein Wasser. Der einzige Brunnen ist privatisiert, man muss Wasser kaufen. Selbst der Friedhof ist privatisiert, sodass die Armen ihre Toten irgendwo verscharren müssen und nur die Reichen ihre Toten dort beerdigen können.
So ist das in vielen Ländern Lateinamerikas. Das ist einer der Hintergründe; da muss man Klartext sprechen.
Ich hoffe, dass die Zeit zu Ende geht, in der die USA Lateinamerika als ihren Hinterhof behandeln und misshandeln konnten. Wenn man sich die Frage stellt, warum es zu autoritären Regimen, zu Diktaturen gekommen ist, kommt man zu dem Schluss, dass die Machthaber in diesen Ländern alle nicht ohne Duldung bzw. Hilfe der USA an die Macht gekommen sind.
Wenn Sie hier nicht darüber reden wollen, wenn Sie das verschweigen wollen, ist das Ihr Problem.
Herr Außenminister, ich habe sehr interessiert zur Kenntnis genommen, was Sie zu Kuba gesagt haben. Kuba bewegt und entwickelt sich. Das ist eine interessante Entwicklung. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass sich die deutsche Kuba-Politik verändert, und zwar stärker, als es anderen Fraktionen in diesem Hause lieb ist. Sie wissen, dass eine Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba heute möglich ist. Eine solche Entwicklungszusammenarbeit wäre aber leichter, wenn Sie von diesem Pult aus auch gesagt hätten, dass die USA ihren Boykott und ihre Sanktionen gegen Kuba endlich aufzuheben haben
und die Europäische Union diesbezüglich öffentlichen Druck auf die USA ausüben wird.
Wenn Sie immer die Hälfte verschweigen, kommen Sie nicht weiter. Sie wissen genauso gut wie ich, dass sich die amerikanische Politik verändern muss.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass sich mit Paraguay eines der letzten diktatorisch geführten Länder durch Wahlen verändert hat. Ich freue mich über den neuen Präsidenten, Ex-Bischof Lugo, der aus der Befreiungstheologie kommt. Ich bin sehr gespannt, was sich in Paraguay entwickeln wird.
Ich habe ein ähnliches Gefühl wie Kollege Trittin: An der Seite von Uribe möchte ich, wenn es um Demokratisierung geht, nicht stehen. Dort stehe ich auch nicht.
- Nein, ich stehe auf einer ganz anderen Seite.
Auch in Kolumbien, wo noch Bürgerkrieg herrscht, wird sich die offene Wunde durch Verhandlungen und Demokratisierung schließen. Ich sage, weil es immer wieder angesprochen wird, von diesem Platz aus ganz deutlich an die FARC gerichtet: Geiseln zu nehmen, ist keine linke Politik.
Ich bin dagegen, dass Geiseln genommen werden. Ich finde es unverantwortlich, Menschenleben und die Freiheit von Menschen als Waffe in der Politik einzusetzen. Wenn die FARC auf eine sozialistische Kritik hört, kann ich ihr nur sagen: Lasst die Geiseln in Kolumbien sofort frei.
Das ist die Entscheidung, die wir fordern. Sie wollen es nicht hören; Sie sind auf diesem Auge blind. Es wäre eine sozialistische Politik, wenn man sich in diese Richtung verändern würde.
Ein letzter Gedanke - der Präsident macht mich darauf aufmerksam, dass meine Redezeit abgelaufen ist -: Ich habe mich sehr gefreut, dass viele Redner den Umstand, dass Lateinamerika eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen ist, positiv gewürdigt haben. Herr Außenminister, wenn es nicht nur bei Worten bleiben soll, muss man sich dafür einsetzen, dass auch Europa eine atomwaffenfreie Zone wird.
Dann können wir auch auf dieser Ebene eine Partnerschaft mit Lateinamerika eingehen, und zwar glaubwürdiger und besser, als wenn wir nur über die anderen reden, uns freuen und selber nichts tun.
Danke sehr.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Lothar Mark, SPD-Fraktion.
Lothar Mark (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Problem der Lateinamerikapolitik beginnt aus unserer Sicht eigentlich schon mit der Begrifflichkeit, die hier heute auch zutage kam. Wenn wir die Beziehungen zu Nordamerika betrachten, wird von den transatlantischen Beziehungen gesprochen, ohne daran zu denken, dass die Beziehungen zu Lateinamerika auch transatlantisch sind. Das wollte ich ganz besonders hervorheben; ich habe dazu bereits vor vielen Jahren eine provokative Vorlesung und ein Proseminar an der Uni in Mannheim gehalten mit dem Titel: Transatlantische Beziehungen: Europa - Lateinamerika.
Es ist schon sehr viel zu den jeweiligen Themenfeldern gesagt worden. Ich will diese nicht im Einzelnen wiederholen. Ich möchte aber auf einige Schwerpunkte eingehen.
Zunächst einmal ist immer wieder vom Wirtschaftswachstum in Lateinamerika gesprochen worden, das exorbitant hoch sei. Das ist richtig. Aber wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass dieses Wachstum nicht unbedingt mit Nachhaltigkeit, sozialen Auswirkungen und Entwicklungen für die jeweiligen Länder verbunden ist. Das kann man sehr gut an dem Beispiel Peru zeigen, das jährlich ein Wachstum zwischen 6 und 7 Prozent hat. Dies hängt aber in erster Linie mit der Ausfuhr von Kupfer als Rohstoff zusammen.
Wenn wir den Handel zwischen Europa und Lateinamerika betrachten, dann können wir feststellen, dass noch unendlich viele Möglichkeiten in fast allen Bereichen bestehen. Wenn wir uns den Handel zwischen Deutschland und Lateinamerika anschauen, dann müssen wir ernüchternd feststellen, dass der Anteil nur zwischen 2,2 und 2,3 Prozent liegt; also auch hier gibt es ungeahnte Möglichkeiten für eine Ausweitung. Als Vergleichszahl nenne ich sehr gerne den Handel mit der Schweiz: Er beträgt 3,8 bzw. 3,9 Prozent. Damit wird deutlich, was sich hinter diesen Dimensionen verbirgt.
Auch auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und darauf, dass die Europäische Union und Deutschland hier sehr viel tun können, wurde eingegangen. Ich will das im Einzelnen nicht wiederholen. Ich will auch nicht auf die Energie- und Klimapolitik eingehen; sie wurde bereits mehrfach angesprochen. In diesem Bereich bestehen für die Bundesrepublik Deutschland wirklich interessante Kooperationsmöglichkeiten. Eine solche Kooperation wäre zum beiderseitigen Vorteil.
Das Stichwort ?Ernährungssicherheit? ist schon gefallen. Von der Explosion der Lebensmittelpreise sind Lateinamerika und insbesondere Zentralamerika besonders heftig betroffen. In diesem Zusammenhang nenne ich eine Zahl - solche Dinge hört man in Deutschland sonst nicht so gern -: Nach UN-Angaben leiden in Lateinamerika 53 Millionen Menschen an Hunger, und 9 Millionen Kinder sind in Lateinamerika unterernährt. Das sollte für uns Ansporn sein, über verschiedene politische Entwicklungsprozesse erneut nachzudenken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die strategische Partnerschaft wurde mehrfach erwähnt, und ihre Wirksamkeit wurde bezweifelt. Es ist zutreffend, dass von Wien keine großen Impulse ausgegangen sind. Nichtsdestotrotz ist zutreffend, dass wir seit 1999 eine intensive strategische Partnerschaft mit dem gesamten lateinamerikanischen Raum und insbesondere mit Mexiko und Brasilien pflegen. Hier ist Deutschland, wie ich denke, an führender Position zu nennen. Gerade diese Bundesregierung mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier leistet im Rahmen dieser Zusammenarbeit permanent beste Arbeit.
Auf die Problematik der Sicherheitspartnerschaft hat Herr Dr. Hoyer hingewiesen; auch diesem Thema will ich mich nicht zuwenden, weil das, was dazu bisher gesagt wurde, richtig ist.
Was Mercosur betrifft, mache ich deutlich: Es ist kein Ruhmesblatt für die Europäische Union, dass sie es seit 1999 nicht geschafft hat, eine Partnerschaft mit Mercosur einzugehen. Allerdings muss ich auch sagen: Das liegt nicht nur an der Europäischen Union, sondern auch an Mercosur; denn die Mitgliedstaaten des Mercosur verfolgen unterschiedliche Interessen.
Dennoch muss man den Mut finden, die Probleme anzusprechen und auch einmal über den eigenen Schatten zu springen. Die Vorteile eines solchen Abkommens wären für beide Seiten enorm.
Die Verhandlungen mit SICA und der Andengemeinschaft sind ebenfalls schon thematisiert worden; auch das will ich nicht wiederholen. Ich mache nur darauf aufmerksam: Es ist unabdingbar, dass wir mit diesen Ländern bzw. regionalen Gemeinschaften Fortschritte erzielen. Denn es ist notwendig, dass die Andengemeinschaft neue Akzente setzt und zur Kenntnis nimmt, dass die Europäische Union sie als wichtigen Partner betrachtet.
Zu den Energiefragen und den kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik will ich mich nicht äußern. Ich möchte nur noch ganz kurz auf ein paar Länder eingehen; denn die Zeit schreitet sehr schnell voran.
Bolivien ist in einer schwierigen Situation und bedarf unser aller Aufmerksamkeit und - das betone ich ganz besonders - unser aller Unterstützung. Niemandem wäre gedient, wenn Bolivien auseinanderbrechen würde. Das Referendum, das gerade in Santa Cruz durchgeführt wurde, und die Referenden, die im Juni dieses Jahres noch stattfinden werden, sind widerrechtlich. Sie verstoßen gegen die Verfassung.
Deswegen möchte ich deutlich machen, dass wir die rechtmäßig gewählte Regierung unterstützen. Ich begrüße es, dass sich Evo Morales bereit erklärt hat, sich einem Referendum zu stellen. Auch wenn die Opposition dies im Senat durchgesetzt hat, muss man sagen: Immerhin ist er bereit, sich diesem Konflikt zu stellen.
Mit Blick auf Venezuela will ich darauf hinweisen, dass Hugo Chávez immer wieder als die dämonisierte Person angesehen wird.
In diesem Zusammenhang könnte man über vieles diskutieren. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass alle Schritte, die von ihm unternommen wurden, demokratisch abgesegnet und abgesichert waren.
Wenn es im Parlament in Venezuela keine oder fast keine Opposition gibt, ist dies nicht der Regierung anzulasten, sondern der Opposition, denn sie hat keine Kandidaten für die Wahl aufgestellt.
Es ist beispielhaft, wie die OAS und die Rio-Gruppe quasi die Lösung der in Lateinamerika bestehenden Schwierigkeiten mit Ecuador, Kolumbien und Venezuela in die Hand genommen haben, ohne dass es weiterhin große Probleme gab. Hinsichtlich der Computerfunde stehe ich allerdings im Gegensatz zu meinem Kollegen Sascha Raabe; denn der US-Geheimdienst verkündet - so war heute wieder zu lesen -, was alles in diesen Computern zu finden sei. Die OAS hat in der Vergangenheit ganz klar gesagt, dies sei nicht zutreffend. Meines Erachtens sind weder Kollege Raabe noch ich in der Lage, das zu beurteilen.
Lassen wir die Weltöffentlichkeit dies näher untersuchen, um dann zu weiteren Schritten zu kommen.
Meine Zeit hier ist ablaufen, sehe ich.
Ich bedaure dies sehr, weil ich gern noch einiges zu Kuba gesagt hätte.
Das muss ich dann eben auf die nächste Debatte verschieben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion.
Anette Hübinger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lateinamerika muss von Deutschland, aber auch von Europa neu entdeckt werden. Lateinamerika muss wieder einen Platz im Zentrum unseres Handelns einnehmen.
In den heute zu debattierenden Anträgen wird unser Gestaltungswille für eine neue Partnerschaft mit Lateinamerika aufgezeigt. Die Welt hat sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und seit Beginn der Globalisierung verändert. In vielen Ländern Lateinamerikas beobachten wir in den letzten Jahren einen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der uns in Europa und in Deutschland nicht gleichgültig sein darf und kann. Deutschland muss es ein Herzensanliegen sein, gemeinsam mit unseren lateinamerikanischen Partnern eine lebendige Wertegemeinschaft zu entwickeln. Unsere gemeinsamen kulturellen Wurzeln, unsere gemeinsamen Wertevorstellungen wie Freiheit, Chancengleichheit und Verantwortung sowie unsere demokratischen Überzeugungen sind eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Partnerschaft.
Heute ist es trotz dieser engen Bindungen eben nicht mehr selbstverständlich, dass Deutschland und Europa für Lateinamerika unweigerlich die wichtigsten Partner sind. Deshalb müssen wir bei den Menschen in Lateinamerika für unsere Werte werben, die wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung miteinander vereinen.
Für die Pflege unserer kulturellen Nähe und für das vertiefende Verständnis füreinander brauchen wir einen zielgerichteten Austausch in den Bereichen Kultur, Bildung und Wissenschaften. Der Austausch im universitären Bereich, eine intensivere Kooperation von Forschungseinrichtungen, aber auch die Auslandsschulen in Lateinamerika sind in diesem Zusammenhang wichtige Ansätze. Sie bilden eine wichtige menschliche Brücke zwischen diesen beiden Kontinenten. Dieser Austausch bietet die Chance, dass wir auf die großen globalen Fragen wie Klimawandel und Energiesicherheit gemeinsame Antworten suchen und finden.
Die größten Herausforderungen für viele Länder in Lateinamerika sind jedoch die Bewältigung des wachsenden sozialen Ungleichgewichts und der Kampf gegen die Armut. Trotz des guten Wirtschaftswachstums der letzten Jahre leben immer noch mehr als 200 Millionen Menschen - das sind 40 Prozent der Bevölkerung - von weniger als 2 Dollar pro Tag, und 80 Millionen Menschen erleiden täglich Hunger. Diese Kluft bei der Einkommensverteilung und im Wohlstandsniveau birgt gefährlichen sozialen Sprengstoff und gefährdet erzielte demokratische Transformationsgewinne. Fehlende oder schwache staatliche Institutionen geben immer wieder Raum für Menschenrechtsverletzungen, für Korruption und kriminelle Gewalt; dies führt zur steigenden Migration. Die Bekämpfung der Armut ist dabei der Schlüssel zur Demokratie. Es ist die Aufgabe der lateinamerikanischen Regierungen, diesen gewaltigen Herausforderungen konsequent zu begegnen.
Die Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit ist es, sie dabei zu begleiten. Deutschland hat ein elementares Interesse daran, dass der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika fortgesetzt und stabilisiert wird. Demokratische Wahlen führen nämlich nicht automatisch zu demokratischer Regierungsführung. Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung führt immer häufiger zu konfliktgeladenen Auseinandersetzungen.
Deshalb müssen wir unsere entwicklungspolitischen Instrumente auf die Stärkung von demokratischen Strukturen, von Good Governance und von sozialen Sicherungssystemen ausrichten. Dass die indigene Bevölkerung an diesen Prozessen teilhaben muss, erklärt sich von selbst.
Unzureichende gesellschaftliche und soziale Verantwortung der wirtschaftlichen Elite - wir haben heute mehrfach davon gehört - ist in vielen Teilen Lateinamerikas ein großes Problem. Zur Lösung können und müssen wir mehr auf die erfolgreiche Arbeit unserer politischen Stiftungen zurückgreifen. Wir müssen die Eliten darin bestärken, sozialstaatlich zu denken und Verantwortung zu übernehmen; bei der Bevölkerung müssen wir ein besseres Demokratieverständnis fördern.
Mit den linkspopulistischen Regierungen müssen wir einen kritischen Dialog führen, im Rahmen dessen wir für demokratische Grundprinzipien und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte werben.
Lateinamerika birgt eine der größten biologischen Schatzkammern der Welt, die jedoch durch kurzfristige Interessen höchst gefährdet ist. Deshalb steht der Umwelt- und Ressourcenschutz einschließlich des Tropenwaldschutzes in unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit an herausragender Stelle. Auch beim Gipfel in Lima in der nächsten Woche wird der Umweltschutz ein zentrales Thema sein. Die Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in den Umweltschutz ist von entscheidender Bedeutung: Diese Länder werden von den Folgen des Klimawandels am meisten bedroht; gerade sie können aber durch ihr künftiges Verhalten diesen Wandel positiv beeinflussen.
Deutschland verfügt im Umwelt- und Ressourcenschutz über viel Know-how und ist ein gefragter Partner. Das Instrument einer Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft sollte daher mehr einbezogen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Tropenwaldprogramm Brasiliens.
Angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln und der Ausweitung der Herstellung von Treibstoff aus Agrarprodukten müssen wir die Förderung der ländlichen Entwicklung und der Agrarforschung in den Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit rücken. Dazu gehören Ansätze zu einer umfassenden Landreform, der Aufbau von effizienten, mittelständischen Produktionsstrukturen, die Bereitstellung von Mikrofinanzierungen, aber auch Unterstützung beim Aufbau von Katastern und Flächennutzungsplänen.
Die ländliche Entwicklung dient nicht zuletzt der Eindämmung des Drogenanbaus und hilft den Menschen, aus der nur zu oft unfreiwilligen Kriminalität herauszukommen.
Der Erfolg der ländlichen Entwicklung hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, zu einem gerechten Welthandelssystem zu kommen. Die Zusage der EU, die Agrarexportsubventionen bis 2013 schrittweise auslaufen zu lassen, ist ein Schritt dorthin. Dennoch bedarf es auf multilateraler Ebene noch erheblicher Anstrengungen, wenn die Doha-Runde zu einer erfolgreichen Entwicklungsrunde werden soll.
Mit einem Anteil von 40 Prozent ist die EU der größte entwicklungspolitische Akteur in Lateinamerika. Sie hat einen erheblichen Beitrag geleistet, innenpolitische Reformen zu unterstützen, die zu dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Wachstum in vielen Ländern geführt haben. Wir müssen uns aber fragen, ob unser eigener Einsatz wirksam genug ist. Die eingeleiteten Reformen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit müssen konsequenter umgesetzt werden, um durch ein besseres Miteinander die Wirksamkeit zu erhöhen.
Die Menschen in den meisten Ländern Lateinamerikas stehen vor großen Herausforderungen. Wir in Deutschland und in Europa tragen für die Bewältigung dieser Probleme eine besondere Verantwortung. Mit unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass durch das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre auch die soziale Gerechtigkeit stärker berücksichtigt wird und letztendlich zu einer nachhaltigen Armutsbekämpfung beigetragen werden kann.
Ich meine, wir können uns glücklich schätzen, dass Lateinamerika und Deutschland über gemeinsame kulturelle Wurzeln und so viele gemeinsame Wertevorstellungen und Prägungen verfügen. Nutzen wir diese bei der Bewältigung der Probleme und globalen Herausforderungen zugunsten eines tieferen Verständnisses füreinander.
Unserer Bundeskanzlerin wünsche ich in der nächsten Woche in Lima ein gutes Gelingen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9072, 16/9073, 16/9074, 16/8907 und 16/9056 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung ziviler Friedensinitiativen und der sozialen, demokratischen und Menschenrechte ausrichten?.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8062, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5678 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel ?Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen?.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9114, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5615 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion der FDP angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 161. Sitzung - wird am
Dienstag, den 13. Mai 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]