Nach einer Einleitung zum gegenwärtigen Forschungsstand schildert Hitze chronologisch die Anfänge seines Protagonisten: Jugend in der oberschlesischen Provinz, Theologiestudium in Breslau und Graz, Diasporapfarrer in Bernau. Hier hatte Ulitzka seine erste Bewährungsprobe zu bestehen, indem er den sozial deklassierten katholischen Zuwanderern eine große Kirche sowie ein kirchliches Vereinsleben schuf.
Den Schwerpunkt bildet das mit 900 Seiten umfangreichste dritte Kapitel, das sich der politischen Tätigkeit Ulitzkas als Vorsitzender der oberschlesischen Zentrumspartei und als Reichstagsabgeordneter in der Weimarer Republik widmet. Hier wird deutlich, dass es sich bei der 1999 an der Universität Wuppertal als Dissertation angenommenen Studie um weitaus mehr als um eine herkömmliche Biographie handelt; sie ist ein Kompendium der oberschlesischen Geschichte.
Nach Oberschlesien war Ulitzka bereits 1910 zurückgekehrt, um eine Pfarrei in Ratibor zu übernehmen. In den Kapiteln IV bis VI schildert der Verfasser, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Lebensabschnitte in der NS-Zeit und nach 1945 bis zum Tod, der Ulitzka 1953 als Hausgeistlichen eines Ost-Berliner Krankenhauses ereilte. Ein vorzüglich ausgestatteter Anhang rundet den Band ab.
Ebenso wie durch ihren Umfang beeindruckt die Studie durch die Intention des Verfassers, Personen- und Strukturgeschichte zu einer Synthese zu verbinden. Der Leser erfährt Ulitzka als einfallsreich und zupackend, eloquent und selbstbewusst, aber auch voller Eitelkeit. Was diesen "Zentrumsprälaten" so interessant macht, ist seine Sensibilität für die Probleme der Zeit, gepaart mit "Einsatzwillen und vor allem Bekennermut": So trat er vor dem Ersten Weltkrieg in die Zentrumspartei ein, als ihr gerade die polnischen Wähler in Scharen davon liefen, um ihre politische Zukunft bei den polnischen Nationalisten zu suchen. 1918 begrüßte er die Ausrufung der Republik und gelangte an die Spitze der nunmehr als "Katholische Volkspartei" firmierenden oberschlesischen Sektion des alten schlesischen Zentrums.
Während der oberschlesischen Aufstände (1919-1921) und im Vorfeld der Volksabstimmung 1921 wurde er "durch die Zeitumstände förmlich aus dem Hintergrund auf die große oberschlesische Bühne geworfen". In seiner neuen Rolle als deutscher Gegenspieler des polnischen Patrioten Wojciech Korfanty war er unweigerlich Zielscheibe des Hasses polnischer Oberschlesier. Andererseits lag ihm als Seelsorger an einem friedlichen Zusammenleben von Deutschen und Polen besonders, da er selbst fließend polnisch sprach und dies auch in der Pastorale zu jeder Zeit kräftig einsetzte. Folglich wurde er von deutschnationalen Kreisen als Polenfreund angegriffen.
Zwischen beide Fronten dieses Hexenkessels geriet der "politische Prälat" insbesondere durch seine autonomistische Linie. Denn allein in der Eigenständigkeit Oberschlesiens - gleichwohl innerhalb des Deutschen Reiches - sah Ulitzka die Garantie für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Polen in der Region, - ein Plan, der sich nach der Teilung nur auf deutscher Seite in einer eigenständigen preußischen Provinz Oberschlesien realisieren ließ.
Zudem traf ihn die wachsende Opposition des katholischen Adels gegen seine Politik eines sozialen und republikanischen Oberschlesiens. Obgleich Ehrenbürger der Stadt Ratibor und kirchlicherseits durch Ernennung zum Päpstlichen Hausprälaten sowie zum Ehrendomherrn in Breslau geehrt, stand Ulitzka angesichts beträchtlich zurückgehender Zentrumsstimmen am Ende der Weimarer Zeit doch beschädigt da. Der erzwungene Rückzug in die politische Bedeutungslosigkeit kulminierte schließlich in der Ausweisung aus seiner Pfarrei und aus Schlesien 1939 und der Einlieferung in das KZ Dachau nach dem 20. Juli 1944.
Auch auf strukturgeschichtlicher Ebene erfährt man viel Neues über die Verhältnisse in Oberschlesien zwischen 1918 und 1933: Ob es die Relativierung der These von der Zentrumshochburg Oberschlesien ist, die in der bisherigen Forschung kaum wahrgenommene Bedeutung Ulitzkas als Kompromisskandidat für den Parteivorsitz im Zentrum auf Reichsebene 1928 oder die immense Relevanz der Oberschlesienfrage für die deutsche Innen- und Außenpolitik in der Weimarer Republik: Hitze versteht es kenntnisreich, internationale wie nationale Konstellationen mit der Geschichte Oberschlesiens zu verknüpfen und umschifft damit geschickt die Gefahr, im "Elfenbeinturm" der Regionalgeschichte steckenzubleiben.
Ein weiteres Ergebnis der Kärrnerarbeit des Autors ist noch hervorzuheben: Obwohl Ulitzka und das Zentrum zwischen den Weltkriegen für eine Revision der Teilung Oberschlesiens kämpften, unterschieden sie sich mehr als graduell vom Revanchismus der nationalen und völkischen Rechten. Das macht Hitze unmissverständlich deutlich und bricht eine Lanze für die Bewertung aus der Zeit heraus ohne den moralischen Zeigefinger der Gegenwart. Nicht zuletzt deshalb ist ihm ein in doppelter Hinsicht "starkes" Buch gelungen.
Guido Hitze
Carl Ulitzka (1873 - 1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen.
Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Band 40.
Droste Verlag, Düsseldorf 2002; 1.439 S., 64,- Euro