Grosser beschreibt das besondere Verhältnis der Franzosen zu ihrer Nationalgeschichte, die politische Verfassung der französischen Nation sowie ihre wesentlichen Institutionen und Organisationen. Weiter gibt er einige wesentliche Informationen über die Wirtschaftsentwicklung Frankreichs sowie über das, was man neuerdings die "Zivilgesellschaft" nennt. Im Kapitel "Welche Kultur für wen?" beschreibt Grosser die Besonderheiten des stark auf Paris konzentrierten, aber sich dezentralisierenden französischen Kulturlebens sowie die Schul- und Universitätspolitik; am Ende geht es um die französischen Außenbeziehungen, besonders um das Verhältnis zu Deutschland und das französische Handeln in Europa.
Ich bilde mir ein, ein passabler Kenner der französischen Innenpolitik zu sein. So befürchtete ich, mich bei der Lektüre von Grossers neuestem Buch zu langweilen. Ich wurde angenehm enttäuscht. Die lebendige Art, die französischen Besonderheiten zu schildern, die Grosser eignet; seine Methode, Geschichtliches heranzuziehen, wenn er etwa die Schwäche der französischen Gewerkschaften begründet oder wenn er die Ausweitung der Macht des französischen Präsidenten in der Praxis und gegen den Verfassungstext analysiert, ist mitreißend.
Der Rezensent gesteht, dass er das Buch in einem Zug gelesen hat; mit wachsendem Vergnügen und zunehmender Befriedigung. Es macht deutlich, welche Verarmung die sich modern nennende "vergleichende Politikwissenschaft" von heute darstellt. Grosser verfällt an keiner Stelle in diese langweilige Interpretationslitanei amerikanischer Provenienz. Und doch ist das Buch gespickt mit Fakten und guten Informationen. Dies ist ein Buch über Frankreich, geschrieben für die Deutschen! Es vergleicht, wo es für den deutschen Leser hilfreich ist zum Verstehen Frankreichs, und manchmal auch, um gewisse moralische Vorurteile zu relativieren.
Daneben und dabei werden kleine Spitzen verteilt, die von großer politischer Erfahrung und einem ebenso großen Engagement zeugen. Beispiel Einwohnerstatistik - Grosser: "Sicher ist, dass ‚les clandestins', die illegal Eingereisten und schwarz Arbeitenden, nicht dazugehören. Die Heuchelei ist dabei dieselbe wie in Deutschland. Wer würde die Weinlese im Languedoc oder im Elsass besorgen, wenn es nicht die Schwarzarbeit von Ausländern gäbe, die unterbezahlt werden können? Es ist ähnlich wie mit den politischen Illegalen in Deutschland: Wären die Grenzen offiziell offen, so müsste man die Zehntausende korrekt entlohnen und sie darüber hinaus sozialversichern."
Ob Grosser über die Feinheiten des französischen Pressewesens berichtet oder ob er (und dies ist unübersehbar sein mit dem meisten Herzblut geschriebener Gegenstand) das facettenreiche Zusammenwachsen Frankreichs und Deutschlands beschreibt, das Buch informiert blendend. Die Partikularitäten des französischen Bildungssystems werden ebenso einleuchtend dargestellt wie die Reserven Frankreichs gegenüber einer möglichen amerikanischen Hegemonie, die ja in Deutschland erst nach langem Blindsein einen außenpolitischen Partner gefunden haben.
Auch zur europäischen Einigung hat Grosser kritische Bemerkungen beizutragen. Zur Aufnahme Polens ins sich einigende Europa schreibt er: "Die deutsch-polnischen Beziehungen, die sich ständig verbessert hatten, sind 2004 von nichtöffentlicher Seite erneut vergiftet worden. Das von Erika Steinbach und Peter Glotz geplante Zentrum gegen Vertreibungen, das das polnische Leiden gewissermassen mit einem ‚die haben auch gelitten' abtat, sowie die ‚preussische' Forderung nach Entschädigung und Rückerstattung haben viel Porzellan zerschlagen. Auf französischer Seite war es der Präsident selbst, der Polen eine tiefe Kränkung zufügte, als er im Februar 2003 die Beitrittskandidaten, die sich in der Irak-Krise auf die Seite der USA und Grossbritanniens gestellt hatten, als ‚schlecht erzogen' und ‚etwas kindlich' bezeichnet hat."
So mischt das Buch in anregender Weise politische Kommentare und Informationen über den westlichen Nachbarn Deutschlands. Es redet über den weiterhin wichtigsten Bestandteil der europäischen Einigung, die deutsch-französische Freundschaft, und trägt, weil es das Verständnis vertiefen will und auch tut, zu seinem Haupt-Gegenstand bei: den guten Beziehungen zwischen den Deutschen und den Franzosen.
Alfred Grosser
Wie anders ist Frankreich.
Verlag C.H.Beck, München 2005; 240 S., 19.90 Euro
Professor Hereth war bis zu seiner Emeritierung Hochschullehrer an
der Bundeswehrhochschule in Hamburg; heute lebt er in
Aix-en-Provence.