Wieder ein Beitrag zur so genannten "Aufarbeitung der DDR-Geschichte". Ingrid Scheffler, Herausgeberin des Sammelbandes "Literatur im DDR-Hörfunk" problematisiert zwar die eigene Ausgangslage als westdeutsche Professorin, an die Bewertung der DDR-Rundfunk-Geschichte nach dem "Wertekanon" einer "westliche Sozialisation" heranzugehen, und plädiert dafür, "die Relativität der eigenen Verortung und normative Vorgaben als Tatsache zu akzeptieren und so auch Ergebnisse und Bewertungen vor diesem Hintergrund zu sehen". Aber in ihrer eigenen Untersuchung über den "Bitterfelder Weg" wie in dem von Patrick Conley über das "Radio-Feature" schlägt doch erkennbar die Verinnerlichung der ideologischen Vorgabe durch, die 1992 vom damaligen Außenminister Klaus Kinkel zur Orientierung aller "Aufarbeiter" gegeben wurde, nämlich die DDR in allen Bereichen "zu delegitimieren". Es darf also auch im DDR-Hörfunk nichts prinzipiell Neues und vor allem Richtiges gegeben haben.
Partiell wird anerkannt, dass aus der "Bitterfelder Weg"-Bewegung namhafte Berufsschriftsteller wie Erwin Strittmatter, Bernhard Seeger, Herbert Nachbar, Karl-Heinz Jacobs, Erik Neutsch hervorgegangen sind, dass die Werke schreibender Arbeiter im Hörfunk verschiedene Sendeformen bedienten, dass aus der Bewegung rund 20.000 Arbeitertheater mit eigenen international anerkannten Festspielen hervorgegangen sind und dass Lyrik-Lesungen zu beliebten Programmteilen im Hörfunk wurden. Doch dies steht immer unter dem Vorbehalt, in den Dienst der sozialistischen Ideologie genommen worden zu sein - als ob Analoges nicht auch für den "bürgerlichen" Hörfunk der Bundesrepublik gelten würde.
Wenn dem Aufruf zum "Bitterfelder Weg" in der DDR die Aufforderung zugrunde lag: "Greif zur Feder, Kumpel! Die deutsche Nationalkultur braucht dich!", so mag dieser Aufforderung ein messianisch anmutender Voluntarismus zugrunde gelegen haben. Aber es war doch auch Ausdruck einer kulturellen Emanzipation der werktätigen Massen, wie sie die frühen Repräsentanten der Arbeiterbewegung als essentiellen Bestandteil der angestrebten politischen Befreiung der Ausgebeuteten verstanden.
Der Eröffnungsbeitrag des Sammelbandes über Günter Kunerts frühe Beiträge in den 50er-Jahren, verfasst durch die beste Kennerin der Geschichte des DDR-Hörfunks, Ingrid Pietrzynski, stellt eine Fleißarbeit dar. Sie geht allen Sendeformen und Beiträgen nach, die Kunert einfallsreich, witzig und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der "Generallinie" der SED verfasste, als er noch an eine sinnvolle Mitwirkung an der Veränderung der Welt im Geiste Bertolt Brechts glaubte, von der er sich aber nach seiner "Bekehrung" gänzlich distanzierte und diese als Irrtum abtat.
Alles in allem: Ein Sammelband, der dem Untersuchungsgegenstand möglichst faktenhuberisch beizukommen versucht, ohne dabei ausreichend die zeitgleichen und thematisch einschlägigen Sendungen in der Bundesrepublik zum Vergleich heranzuziehen und ohne historische Kategorien der Bewertung zu berücksichtigen. Ganz und gar diametral stehen sich Erkenntnis- und Gebrauchswert gegenüber, denn der DDR-Hörfunk wurde radikal "abgewickelt" und in die westdeutschen Partikularitäten eingepasst, die mit solchen Vorleistungen, wie sie der DDR-Hörfunk auf dem Gebiet der Literaturvermittlung erbracht hat, überhaupt nichts an ihrem jeweiligen regionalen Trachtenhut haben.
Ingrid Scheffler (Hrsg.)
Literatur im DDR-Hörfunk. Günter Kunert - Bitterfelder Weg - Radio-Feature.
Jahrbuch Medien und Geschichte 2005.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2005; 311 S., 29 Euro