Damit gehört die Familie zu jenen 35 Prozent Armen in Indien, die nach Zahlen der Weltbank pro Tag weniger als einen Dollar zur Verfügung haben. Dabei geht es ihnen noch vergleichsweise gut. Ihre Hütte steht nicht in einem der berüchtigten Slums der Stadt, sondern in einem Wohnviertel der unteren Mittelklasse. Und direkt gegenüber liegt das Gemeindezentrum einer Organisation, die sich für die Rechte der so genannten Unberührbaren (Dalits) einsetzt. Dort erhalten ihre Kinder eine Ausbildung.
"Ich gehe in die sechste Klasse und mache einen Computerkurs", erzählt Renuka Gautam, die zwölfjährige Tochter, begeistert. Aber ihre Mutter schaut skeptisch. Sie weiß, dass ihre Tochter begabt ist. "Aber was soll schon werden aus den Kindern von Straßenkehrern", sagt sie. Die Familie Gautam ist aus ihrem Dorf im Bundesstaat Maharashtra nach Bombay gekommen - auf der Suche nach einem besseren Leben. Und als Unberührbare, die in ihrem Dorf weder den Brunnen benutzen noch ihre Kinder in Schulen schicken durften, haben sie es in der Großstadt, wo die Kastengrenzen verschwimmen, tatsächlich leichter.
Doch das ist nicht der einzige Grund für die Landflucht. Täglich strömen Tausende armer Bauern in die Megametropolen Indiens, weil sie auf dem Dorf ihre Familien nicht mehr ernähren können. Rund 28 Prozent der Bevölkerung leben schon heute in den Ballungsräumen. 34 indische Städte haben mehr als eine Million Einwohner. Und der Zug in die Metropolen reißt nicht ab. Allein die beiden größten indischen Städte, Bombay und Delhi, haben mit ihren Vororten inzwischen schätzungsweise 20 Millionen Einwohner. Auf der Liste der zehn größten Städte der Welt liegen sie damit auf den vorderen Plätzen.
Dabei ist das Bevölkerungswachstum nur einer der Gründe für die gigantischen Zahlen. Indiens Bevölkerungszahl überschritt offiziell am 11. Mai 2000 die Milliardengrenze. Das Land ist mit derzeit 1,11 Milliarden Einwohnern nach der Volksrepublik China der bevölkerungsreichste Staat der Erde. Und immer weniger Inder sehen in diesen Zahlen eine Gefahr. Seit Premierministerin Indira Gandhi in den 70er-Jahren mit Zwangssterilisationen unter Männern den Unmut der Bevölkerung auf sich zog, werden drakonische Maßnahmen wie die chinesische Ein-Kind-Politik von Regierung und Bevölkerung gleichermaßen als undemokratisch abgelehnt.
Mitte der 90er-Jahre verabschiedete sich die Regierung zudem auf Empfehlung der Weltbank davon, in der Familienplanung konkrete Ziele vorzugeben. Zugleich drängen vor allem Frauengruppen auf bessere Gesundheitsvorsorge für Mutter und Kind auf dem Land. So ist denn das indische Bevölkerungswachstum nicht Ausdruck einer höheren Geburtenrate, sondern der steigenden Lebensdauer, was vor allem auf eine verbesserte Gesundheitsvorsorge zurückzuführen ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung indischer Männer ist seit 1971 von 44 auf 63,6 Jahre gestiegen. Die Frauen werden heute durchschnittlich 65,2 Jahre alt. Damit gehört Indien zu den wenigen Ländern der Welt, in denen die Lebenserwartung von Männern und Frauen fast identisch ist. Zudem gehört es zu den Ländern, in denen es deutlich mehr Männer gibt: Auf 1.000 Männer kommen 933 Frauen. Der Grund sind patriarchalische Traditionen auf dem Land, die zur verstärkten Abtreibung weiblicher Föten führen. Denn für Mädchen müssen die Eltern bei der Hochzeit oft eine horrende Mitgift zahlen. Auch sind weitaus mehr Mädchen als Jungen unterernährt.
Statt von Überbevölkerung zu reden, zieht Indien es derzeit vor, sich als aufstrebende wirtschaftliche Supermacht zu feiern. So pries Finanzminister Palaniappan Chidambarm kürzlich das nach wie vor hohe Bevölkerungswachstum von 1,4 Prozent im Jahr als "demografische Chance". Denn, so der Minister, im Gegensatz zu den alternden Industrienationen im Westen wachse dabei vor allem die arbeitende Bevölkerung. 2002 waren 33 Prozent der indischen Bevölkerung unter 15 Jahre alt und nur fünf Prozent im Rentenalter.
Damit wird das Land nach einer neuen Studie der DB Research - dem Think Tank der Deutschen Bank - in den kommenden Jahren über 250 Millionen neue Arbeitskräfte verfügen. Innerhalb von zwei Jahren strömen in Indien so viele neue Arbeitnehmer auf den Markt wie die gesamte deutsche Arbeitsbevölkerung. Doch wie der Minister diese Menschen in Lohn und Brot bringen will, sagt Chidambarm nicht.
"Bevölkerungswachstum ist nicht die einzige Quelle für nachhaltiges Wachstum", warnt denn auch Jennifer Asuncion-Mund, Analystin bei DB Research und Autorin der zitierten Studie. "Die Qualität der Arbeit spielt eine entscheidende Rolle dabei, Produktionskapazitäten zu erhöhen." Für das Heer der unqualifizierten Bauern, das derzeit in die Städte strömt, besteht aus diesem Grund kaum Aussicht auf Beschäftigung.
Der indische Wirtschaftsboom, der dem Land in diesem Jahr nach Schätzungen ein Wachstum von mehr als acht Prozent bescheren wird, findet in anderen Sektoren statt: in der Informations- und Biotechnologie, beim Outsourcing von Dienstleistungen und immer stärker im Konsum der wachsenden Mittelschicht. Um diese Jobs zu ergattern, muss man qualifiziert sein. Die rund 40 Prozent Analphabeten im Land bleiben dabei außen vor. "Wer kein Geld hat, hat so gut wie keine Chance auf Bildung und damit keine Chance auf sozialen Aufstieg", sagt Jayati Ghosh, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi.
Und selbst in der aufstrebenden indischen Mittelschicht hat ein knallharter Konkurrenzkampf um die besten Schulen und Colleges eingesetzt. "Es ist so schwer geworden, einen Platz an einer guten Uni zu finden", sagt Reena Singh aus Delhi. Ihre Tochter will Architektur studieren, hat aber bisher keinen Studienplatz gefunden. "Es gibt ja jetzt überall Quoten für Angehörige der unteren Kasten. Da kann man noch so gut sein und bekommt trotzdem nichts", klagt die Mutter.
Dank des Quotensystems an öffentlichen Einrichtungen haben es in den vergangenen Jahrzehnten viele Angehörige benachteiligter Kasten zu lukrativen Regierungsjobs gebracht. Doch als Premierminister Manmohan Singh vor einigen Monaten vorschlug, auch die Wirtschaft solle Quotierungen einführen, brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Proteste der oberen Kasten zeigen, wie hart der Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg in der aufstrebenden Mittelschicht ist.
Glücklich ist, wer es so weit bringt wie Sonia Mundhra. Wie viele junge Frauen ist sie zum Arbeiten in die indische Hauptstadt gekommen. Doch anders als die Familie Gautam in Bombay hat sie eine Ausbildung als Buchhalterin. Damit kann sie von der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes profitieren. Die 21-Jährige aus Kalkutta hat Arbeit in einem Outsourcing-Büro in Delhi gefunden und verdient rund 400 Euro im Monat. Damit gehört sie nach indischer Definition zur mittleren Mittelklasse.
Und obwohl sich alle einig sind, dass diese rasant wächst, ist der Begriff reichlich unklar. Nach einer Erhebung des Nationalen Rats für Angewandte Wirtschaftsforschung ist die Zahl der Menschen, die in Indien zur Mittelklasse gehören, in den vergangenen drei Jahren um 17 Prozent auf mehr als 700 Millionen gestiegen. Und bis 2007 soll sie bis zu 24 Prozent zulegen. "Die Einkommen steigen wie nichts", freut sich Rajesh K. Shukla, Statistiker an der Behörde, "die Zukunft in Indien ist rosig."
Doch nach dieser Definition gehören alle Haushalte zur Mittelklasse, die mindestens 1.800 Dollar im Jahr zur Verfügung haben - also knapp 150 Dollar im Monat. So viel verdient, wenn sie Glück hat, eine Putzfrau in einem reichen Haushalt oder ein Rikschafahrer. Theoretisch kann man sich damit einen Fernseher oder einen Kühlschrank leisten und wird für die Konsumgüterindustrie interessant.
Doch die Zahlen haben einen Nachteil: Sie widersprechen dem Entwicklungsbericht der Weltbank, wonach in diesem Jahr 80,6 Prozent der Menschen in Indien weniger als zwei Dollar am Tag zur Verfügung haben. "Wir brauchen realistischere Methoden, um Armut zu messen", sagt Dilip D'Souza, Autor mehrerer Bücher über Entwicklungsfragen. "Der erste Schritt auf dem Weg zur Beseitigung der Armut ist die Kenntnis, wie viele Menschen in diesem Land arm sind. Die derzeitige Armutsgrenze dient nur dazu, die Regierung besser aussehen zu lassen."
Für die Konsumgüterindustrie ist diese Frage jedoch zweitrangig, solange Leute wie Sonia Mudhra ihr Geld mit vollen Händen ausgeben. Zwar teilt sie sich ihr winziges Zimmer in einem Wohnheim für junge Frauen, in dem nur zwei Betten und ein Kleiderschrank stehen, mit einer Freundin. Aber dafür hat die lebenslustige junge Frau umso mehr Geld für den Konsum zur Verfügung. "Ich habe ein Fixgehalt von 17.000 Rupien (rund 325 Euro) im Monat, dazu kommen meist noch etwa 4.000 Rupien Incentives und 3.000 Rupien Boni", sagt sie. Die monatliche Miete inklusive Strom und einer Mahlzeit liegt bei 4.000 Rupien. "Fahrtkos-ten ins Büro habe ich keine, die bezahlt die Firma, auch die Mahlzeiten während der Arbeit."
Damit kann sie über den Großteil ihres Einkommens verfügen. Nur 5.000 Rupien überweist sie monatlich an ihre Mutter in Kalkutta, damit diese das Geld für sie spart. "Ich komme aus einer Geschäftsfamilie. Meine Mutter will, dass ich einen Teil meines Gehalts anlege - und das ist ja auch vernünftig." 4.000 bis 5.000 Rupien im Monat gibt sie für Kleidung, Schuhe und Kosmetik aus. "Marken sind natürlich sehr wichtig." Bei der Kosmetik bevorzugt sie Produkte von L'Oreal und der indischen Firma Lakmé. Beim Friseur lässt sie etwa 1.000 Rupien im Monat fürs Schneiden und Färben, hinzukommen 100 bis 200 Rupien im Schönheitssalon, "wenn ich auf Partys gehe".
Außerdem hat sie eine hohe Telefonrechnung. "Ich komme auf etwa 2.000 Rupien Telefonkosten im Monat", sagt sie. Alle sechs bis sieben Monate kauft sie ein neues Handy. "Wenn man das alte in Zahlung gibt, kriegt man ein neues Handy für etwa 7.000 Rupien." Bei der Marke kommt für sie nur Nokia in Frage. Kleidung kauft sie am liebsten in den neuen modernen Warenhäusern "Shoppers Stop" und "Westside", die derzeit den indischen Einzelhandelsmarkt revolutionieren. Bei sportlicher Kleidung bevorzugt sie die Marken Peter England, Lee und Adidas. "Ich achte sehr auf Marken, aber wenn ich dieselbe Qualität billiger kriegen kann, verzichte ich darauf. Ich kaufe sehr viel im Großhandel ein, wo man die Sachen für die Hälfte bekommt." In ihrer Freizeit trägt sie deshalb oft No-name-Kleidung.
Das ist die aufstrebende Mittelklasse, von der zurzeit in Indien alle sprechen. Der Autor Gurcharan Das verspricht sich in seinem Buch "India Unbound" durch sie einen tief greifenden sozialen Wandel. "Die neue Mittelklasse ist voller Selbstbewusstsein und Energie und will etwas bewegen. Dabei ist sie pragmatisch und weitgehend moralfrei. Anders als die alte Bourgeoisie, die tolerant und säkular war, muss die neue Mittelkasse sich hochkämpfen und hat gelernt, sich in dem System zu bewegen." Als Resultat, so Das, hatten niemals zuvor in der Geschichte Indiens so viele Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg. "Das Leben der Mehrheit der Inder im 21. Jahrhundert wird freier und wohlhabender sein als das ihrer Eltern und Großeltern."
Doch wie viele Menschen dabei auf der Strecke bleiben, ist noch offen. Wenn Renuka Gautam aus Bombay einen guten Schulabschluss macht, kann sie vielleicht einen der für die unteren Kasten reservierten Plätze an einer Universität ergattern. Doch wenn es dafür nicht reicht, dann gibt es für sie kaum einen Ausweg aus der Wellblechhütte.