Jonathan Wrights Biografie über Gustav Stresemann basiert auf umfassendem Quellenstudium, legt Stresemanns Wirken objektiv und nicht ohne Sympathie dar, aber im Großen und Ganzen werden keine neuen Facetten Stresemanns erkennbar. Er schildert Stresemann als widerspruchsvollen Politiker, der noch im Kaiserreich als altdeutscher Imperialist von sich reden machte, im Ersten Weltkrieg bis zum Ende Durchhalteparolen von sich gab, annektionistische Kriegsziele befürwortete und erst nach 1919 zum Vernunftrepublikaner mutierte. Auch konnte er sich nur schwer von der Monarchie lösen. Dass Stresemann sich unter dem Eindruck von drohender Anarchie dem Liberalismus verschrieb, die Deutsche Volkspartei im Sinne seines demokratischen Liberalismus formte und eine Außenpolitik des Ausgleichs verfolgte, macht seine persönliche und politische Leistung aus.
Der Höhepunkt der deutschen Staatskrise 1923, die französisch-belgische Ruhrbesetzung, begleitet von Inflation, sowie gewaltsame Umsturzversuche prägten Stresemanns kurzes Wirken als Reichskanzler und stärkten ihn in der Überzeugung, zunächst die Republik im Innern zu stabilisieren. Die Abgrenzung gegenüber konservativen Nationalliberalen und gegenüber der DNVP, sowie eine kämpferische Opposition gegenüber der aufstrebenden NSDAP Ende der 20er-Jahre, waren für Stresemann unverzichtbar. Permanent wurde seine Außenpolitik, Wright zeigt das eindrucksvoll, von rechts in Frage gestellt, auch deshalb zeigte er sich aufgeschlossen gegenüber den Linksliberalen und der Sozialdemokratie, wo dessen Wandel vom neo-imperialen Kaisertreuen und Annektionisten zum Verständigungspolitiker auf zunehmenden Respekt stieß.
Trotz vieler Rückschläge und unerfüllter Wünsche war Stresemanns außenpolitische Bilanz 1929 eindrucksvoll: Er bewahrte 1923 Deutschland vor drohenden Zerfall im Zuge des Ruhrkampfes und brachte es auf den Weg der politischen Genesung. Der Dawesplan, die Räumung des Ruhrgebiets, die Verträge von Locarno, der Völkerbundseintritt, ein Netz von Handelsverträgen, der Youngplan und die Vereinbarung über die Räumung des Rheinlandes und nicht zuletzt die Aufnahme von Verhandlungen über das Saargebiet und die Aussicht auf weitere Fortschritte bei der deutsch-französischen Aussöhnung und sein Ansinnen, die USA nicht nur wirtschaftlich für Deutschlands Wohl einzubinden, führten dazu, dass Stresemann 1929 Deutschland geachtet repräsentierte. Durch geschickte Außenpolitik gelang ihm eine gewisse innenpolitische Konsolidierung: Seine Politik der friedlichen Revision des Versailler Vertrags bildete die Grundlage für das Entgegenkommen des Auslands, das allerdings hinter Stresemanns Erwartungen zurückblieb.
Stresemann galt als ehrgeizig und geschmeidig, er selbst verkörperte den neuen Typus des Berufspolitikers wie Max Weber ihn anschaulich geschildert hat. Der britische Botschafter Viscount d'Abernon, der sich später mit Stresemann freundschaftlich verbunden fühlte, hielt in seinem Tagebuch fest: "Stresemanns Fähigkeit, sich Feinde zu machen, war ganz außerordentlich (...) von ihm kann man nicht sagen, dass er die Vorteile seiner Mängel besaß, sondern dass es gerade seine guten Eigenschaften waren, geistige Beweglichkeit, Klarheit und Entschlossenheit, die ihm den unverdienten Ruf von Charakterfehlern einbrachten, von denen er vollkommen frei war."
Im Ausland, insbesondere in Polen und Frankreich, blieb Misstrauen gegenüber seiner Revisionspolitik. Stresemann war kein Verzichtspolitiker, aber aus unbedachten Äußerungen nach großer physischer Anstrengung, wurde ihm ein außenpolitischer Strick gedreht. Die unterschiedlichen innen- und außenpolitischen Adressaten seiner Politik zwangen ihn nicht selten zu einer gewissen Doppelzüngigkeit: Umso mehr war Stresemanns Politik in der erhitzten Atmosphäre von Niederlage, Demütigung und nationalen Phobien Missverständnissen ausgesetzt. Im Nachhinein verwundert es, dass er trotz schwerster Anfeindungen und körperlicher Leiden so lange und erfolgreich wirken konnte.
Hätte Stresemann den Niedergang der Weimarer Republik aufhalten können? Wright beschreibt eine Alternative, die die Republik hätte retten können: Hätte Stresemann sich zwischenzeitlich politisch zurückgezogen, gesundheitlich auskuriert, wäre dann erfolgreich in die Politik zurückgekehrt und wäre 1932 Reichspräsident geworden, wäre eine andere Entwicklung denkbar gewesen. Wir wissen es nicht, aber auch diese Spekulation verweist auf sein Vermächtnis als liberaler Demokrat, der für eine erneuerte Republik eintrat, für friedliche Revision und Ausgleich, der die geistige und kulturelle Bedeutung des deutschen Judentums achtete und der für Werte wie Anstand, Toleranz und Bescheidenheit stand. Er war ein liberaler Vollblutpolitiker, unprätentiös, humorvoll und mit Liebe zu Theater und Musik. Er verkörperte das liberale und zivilisierte Deutschland, das 1933 unterging.
Doch bleibt nach der Lektüre festzuhalten: Die große, packende Biografie dieses einzigartigen Staatsmannes fehlt weiter. Wright hat ein Buch über Stresemanns Politik, insbesondere über die Außenpolitik vorgelegt, aber keine Biografie. Stresemann als Person bleibt blass. Es ist wissenschaftliche Lektüre, bisweilen hölzern im Stil, konventionell im Aufbau und über Stresemanns politisches Wirken erfährt der Leser nichts wesentlich Neues.
Jonathan Wright: Gustav Stresemann 1978-1929. Weimars größter Staatsmann. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006; 672 S., 39,90 Euro.