Plenarprotokoll 17/228 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey sowie der Abgeordneten Wolfgang Wieland und Matthias Lietz Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung des Tagesordnungspunktes 8 c Nachträgliche Ausschussüberweisung Begrüßung des Präsidenten der Nationalversammlung der Sozialistischen Republik Vietnam, Herrn Nguyen Sinh Hung Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Eine starke Energieinfrastruktur für Deutschland b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze (Drucksache 17/12638) c) Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken (Drucksache 17/12214) d) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen (Drucksache 17/12518) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten (Drucksache 17/12681) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi Sigmar Gabriel (SPD) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) Klaus Breil (FDP) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Ulrich Kelber (SPD) Rolf Hempelmann (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Ulrich Kelber (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Jens Koeppen (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern (Drucksache 17/12682) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Birgit Homburger (FDP) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ernst Hinsken (CDU/CSU) Sören Bartol (SPD) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) Sören Bartol (SPD) Klaus Breil (FDP) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Wolfgang Tiefensee (SPD) Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Datenbankgrundbuchs (DaBaGG) (Drucksache 17/12635) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin (Finanzvermögen-Staatsvertrag) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung (Drucksache 17/12639) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes (Drucksache 17/12640) d) Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Petra Müller -(Aachen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Öffentlich-Private Partnerschaften - Potentiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen (Drucksache 17/12696) e) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung von Delfinen beenden (Drucksache 17/12657) f) Antrag der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bienen und -andere Insekten vor Neonicotinoiden schützen (Drucksache 17/12695) Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos (Drucksache 17/12679) b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Änderung des Pressefusionsrechtes (Drucksache 17/12680) c) Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung von wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicher-stellen (Drucksache 17/12690) d) Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Korruption im Gesundheitswesen strafbar machen (Drucksache 17/12693) e) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell (Drucksache 17/12697) Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem -Abkommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Korea über die Seeschifffahrt (Drucksachen 17/12336, 17/12574) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seeverkehrsrechtlicher und sonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht (Drucksachen 17/12348, 17/12594) c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem -Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks (Drucksachen 17/12343, 17/12595) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verordnung der Bundesregierung: Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1, 17/12728) e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verordnung der Bundesregierung: Einhundertzehnte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - (Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2, 17/12729) f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung über die Hinweispflichten des Handels beim Vertrieb bepfandeter Getränkeverpackungen (GvpHpV) (Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3, 17/12739) g)-m) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 546, 547, 548, 549, 550, 551 und 552 zu Petitionen (Drucksachen 17/12511, 17/12512, 17/12513, 17/12514, 17/12515, 17/12516, 17/12517) Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen (Drucksachen 17/7953, 17/8643) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Residenzpflicht abschaffen (Drucksachen 17/11356, 17/11725) Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn im Hinblick auf die Einhaltung europäischer Grundwerte Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) Gunther Krichbaum (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Joachim Spatz (FDP) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl Holmeier (CDU/CSU) Michael Roth (Heringen) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Kerstin Griese (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksache 17/12678) Dorothee Bär (CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ Christel Humme (SPD) Patrick Meinhardt (FDP) Markus Grübel (CDU/CSU) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010 (Drucksache 17/12683) Katja Kipping (DIE LINKE) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Katja Kipping (DIE LINKE) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Tagesordnungspunkt 7: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Drucksachen 17/6261, 17/12735) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen (Drucksachen 17/3646, 17/12735) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Strafrecht (Drucksachen 17/5774, 17/12735) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung (Drucksache 17/7233) c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Abschlussbericht des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" (Drucksache 17/8117) Marco Buschmann (FDP) Sonja Steffen (SPD) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michaela Noll (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur abschließenden Beendigung der verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften (Drucksache 17/12676) b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleiches Recht für Lebenspartnerschaft und Ehe beim Adoptionsrecht - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 jetzt umsetzen (Drucksache 17/12691) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts (Drucksachen 17/1429, 17/12731) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (Drucksache 17/12677) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ute Granold (CDU/CSU) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ute Granold (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Michael Kauch (FDP) Ute Granold (CDU/CSU) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Erika Steinbach (CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Johannes Kahrs (SPD) Erika Steinbach (CDU/CSU) Zur Geschäftsordnung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (... StrÄndG) (Drucksachen 17/9695, 17/12732) Jörg van Essen (FDP) Ingo Egloff (SPD) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine bessere Bildungssituation weltweit (Drucksachen 17/6484, 17/11492) Harald Leibrecht (FDP) Dr. Bärbel Kofler (SPD) Anette Hübinger (CDU/CSU) Niema Movassat (DIE LINKE) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung eines Altersgelds für freiwillig aus dem Bundesdienst ausscheidende Beamte, Richter und Soldaten (Drucksache 17/12479) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Frank Tempel (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 25 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe (Drucksache 17/12685) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen (Drucksache 17/12684) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe für die Opfer (Drucksache 17/12692) Uta Zapf (SPD) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Hans-Werner Ehrenberg (FDP) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes (Drucksachen 17/10422, 17/12722) Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Drucksache 17/10810) Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsordnung) (Drucksache 17/12670) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Ulrich Schneider, Kai Gehring, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Queere Jugendliche unterstützen (Drucksache 17/12562) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes (Drucksache 17/12619) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen (Drucksachen 17/11664, 17/12671) Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister BMVBS Sören Bartol (SPD) Petra Müller (Aachen) (FDP) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 18: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten (Drucksache 17/12634) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz (Drucksache 17/11691) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat (Drucksachen 17/11576, 17/12242) Peter Beyer (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) Bijan Djir-Sarai (FDP) Stefan Liebich (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung (Drucksache 17/12637) Mechthild Heil (CDU/CSU) Marco Wanderwitz (CDU/CSU) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Caren Lay (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Durch eine neue Investi-tionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene (Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988, 17/8386) Ulrich Lange (CDU/CSU) Reinhold Sendker (CDU/CSU) Sören Bartol (SPD) Werner Simmling (FDP) Sabine Leidig (DIE LINKE) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (Drucksache 17/12578) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Tagesordnungspunkt 23: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale Stelle zur Verhütung von Folter stärken (Drucksachen 17/11207, 17/12730) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhütung von Folter - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter (Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377, 17/9802 Nr. 5, 17/10085) Frank Heinrich (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Marina Schuster (FDP) Katrin Werner (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Professorenbesoldungsneuregelungsgesetz) (Drucksachen 17/12455, 17/12662) Tankred Schipanski (CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung (Drucksache 17/12095) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) Mechthild Rawert (SPD) Lars Lindemann (FDP) Harald Weinberg (DIE LINKE) Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen (Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4, 17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238 Nr. 1.4, 17/12738) Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl ausrichten (Drucksache 17/12395) Michael Frieser (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Dagdelen (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und Jörn Wunderlich (alle DIE LINKE): zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Tagesordnungspunkt 7a) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes (Tagesordnungspunkt 13) Helmut Brandt (CDU/CSU) Kirsten Lühmann (SPD) Manuel Höferlin (FDP) Steffen Bockhahn (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Tagesordnungspunkt 14) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD) Gisela Piltz (FDP) Jan Korte (DIE LINKE) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: - Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsordnung) (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Bernhard Kaster (CDU/CSU) Christian Lange (Backnang) (SPD) Sonja Steffen (SPD) Jörg van Essen (FDP) Raju Sharma (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Queere Jugendliche unterstützen (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Christel Humme (SPD) Michael Kauch (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: - Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren - Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) Dirk Becker (SPD) Judith Skudelny (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU Inhaltsverzeichnis 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Beginn: 9.01 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst davon in Kenntnis setzen, dass am 4. März der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Thomas Kossendey, seinen 65. Geburtstag und der Kollege Wolfgang Wieland am 9. März den gleichen Geburtstag gefeiert hat. (Beifall) Am 12. März hat der Kollege Matthias Lietz seinen 60. Geburtstag begangen. Ihnen allen wünsche ich auch auf diesem Wege im Namen des ganzen Hauses alles Gute für die nächsten Jahre. (Beifall) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die -Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Verhalten von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundesrat beim Fiskalpakt (siehe 227. Sitzung) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten - Drucksache 17/12681 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 34 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos - Drucksache 17/12679 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD -eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Änderung des Pressefusions-rechtes - Drucksache 17/12680 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung von wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicherstellen - Drucksache 17/12690 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Korruption im Gesundheitswesen strafbar machen - Drucksache 17/12693 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell - Drucksache 17/12697 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Ergänzung zu TOP 35 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen - Drucksachen 17/7953, 17/8643 - Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel) Christel Humme Nicole Bracht-Bendt Jörn Wunderlich Monika Lazar b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Residenzpflicht abschaffen - Drucksachen 17/11356, 17/11725 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ulla Jelpke Josef Philip Winkler ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn im Hinblick auf die Einhaltung europäischer Grundwerte ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts - Drucksachen 17/1429, 17/12731 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts - Drucksache 17/12677 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen - Drucksache 17/12684 - ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe für die Opfer - Drucksache 17/12692 - ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen - Drucksachen 17/11664, 17/12671 - Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Finanzstabilität sichern - Regulierung systemrelevanter Finanzinstitute und des internationalen Schattenbankensystems - Drucksache 17/12686 - ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte: Erpressungspotenzial verringern - Geschäfts- und Investmentbanking trennen - Drucksache 17/12687 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt - Drucksachen 17/9983, 17/12733 - Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Uta Zapf Dr. Rainer Stinner Jan van Aken Marieluise Beck (Bremen) ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Bundesregierung zur Durchsetzung des Leistungsprinzips bei exorbitanten Managergehältern Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 8 c soll abgesetzt werden. Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 29. November 2012 (211. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts - Drucksache 17/11468 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Ich frage, ob irgendjemand gegen irgendeinen dieser veränderten Tagesordnungspunkte Einwände hat? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Eine starke Energieinfrastruktur für Deutschland b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze - Drucksache 17/12638 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken - Drucksache 17/12214 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen - Drucksache 17/12518 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten - Drucksache 17/12681 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir haben in Deutschland eine starke Volkswirtschaft, einen starken Mittelstand mit einem starken industriellen Kern. Es ist diese Struktur, die Wachstum möglich macht, die Beschäftigung sichert und damit für den Wohlstand in unserem Lande steht. Weil wir das wissen, kämpft diese Regierungskoalition genau für diese Struktur. Das gilt insbesondere in dem wichtigen Bereich der Energiepolitik. Es gibt fünf Felder - Kraftwerke, neue Netze, natürlich erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energieforschung -, in denen es sich besonders lohnt, genau für diese Struktur zu kämpfen. Die Leitlinien, die für eine kluge Energiepolitik immer gelten, sind zum Ersten eine umweltfreundliche Erzeugung, zum Zweiten das wichtige Thema Versorgungssicherheit und zum Dritten die Bezahlbarkeit von Energie, und zwar nicht nur für Unternehmen, sondern für Menschen und private Haushalte gleichermaßen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Aspekt der Umweltverträglichkeit - ich finde, daran kann man zwei Jahre nach der Katastrophe von -Fukushima erinnern - ist der eigentliche Grund für unseren gemeinsamen Beschluss, aus der Kernenergie auszusteigen. Er wurde hier im Deutschen Bundestag gefasst. Er ist getragen von einer breiten Mehrheit im Bundesrat und in der Gesellschaft. Anders als die frühere rot-grüne Bundesregierung haben wir uns nicht darauf beschränkt, einfach nur den Ausstieg zu beschließen und danach die Hände in den Schoß zu legen, so wie Sie es sehr selbstzufrieden getan haben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Wir haben gewusst: Wir müssen alles dafür tun, dass das Ziel, bis zum Jahr 2022 auszusteigen, auch erreicht werden kann. Sie haben sich nach Ihrem Beschluss zurückgelehnt. Wir haben die Hände in die Hand genommen (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: "Die Hände in die Hand genommen"! Bravo!) - die Dinge in die Hand genommen - und haben angefangen, die Energiepolitik in allen wichtigen Feldern, gerade im Bereich der Energieinfrastruktur, umzusetzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der erste Bereich ist der Bereich der neuen Netze. Wir haben dafür die notwendigen Gesetze beschlossen, zum Beispiel das Netzausbaubeschleunigungsgesetz. Unser Ziel ist es, die bisherigen Planungs- und Bauzeiten von derzeit bis zu zehn Jahren auf vier Jahre zu verkürzen. Ein Teil dieser Gesetze beinhaltet die Vorgabe, einen Netzentwicklungsplan auf den Weg zu bringen, der die Strukturen, aber auch die weiteren Maßnahmen für den Netzausbau in Deutschland festlegt. Genau das ist in enorm kurzer Zeit gelungen. Man darf nicht vergessen: Bisher gab es einen solchen Netzentwicklungsplan nicht. Man musste ihn also im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts heraus definieren, um zu sehen, wie die neuen Netzstrukturen in Deutschland aussehen sollen. Der Netzentwicklungsplan liegt jetzt vor. Wir wissen, dass 2 900 Kilometer ertüchtigt oder im Bestand erneuert werden müssen. Es gibt weitere 2 800 Kilometer, die tatsächlich neu gebaut werden müssen. Es ist gut, dass wir diesen Netzentwicklungsplan haben. Entscheidend ist aber auch das Umsetzen dieses Netzentwicklungsplans; denn wir haben sehr frühzeitig - schon bei der -Gesetzgebung - gesagt: Wenn wir in Deutschland Industriepolitik betreiben wollen, bedeutet dies das Durchsetzen, das Umsetzen von Infrastrukturmaßnahmen. Wenn Sie in Deutschland Infrastrukturmaßnahmen umsetzen wollen, brauchen Sie die Akzeptanz, das Verständnis der Bevölkerung. Deswegen wurde sehr früh ein Konsultationsverfahren eröffnet, damit die betroffenen Menschen vor Ort und die betroffenen Kommunen Stellung nehmen konnten. Diese wurden von den Übertragungsnetzbetreibern einbezogen und später auch von der Bundesnetzagentur. Es gab in diesem einjährigen Verfahren über 3 300 Einwendungen von Privatpersonen. Alle konnten in den Diskussionsprozess einfließen. Es ist quasi revolutionär für die Bundesnetzagentur, dass die Behörde die Anliegen nicht nur in Form von schriftlichen Stellungnahmen behandelt hat, sondern sie ist in die Fläche gegangen, sie hat mit den betroffenen Kommunen und den betroffenen Menschen gesprochen. In Stuttgart zum Beispiel wird das, was im Schlichtungsverfahren vereinbart wurde, immer noch nicht umgesetzt, weil man nicht bereit ist, dafür das notwendige Geld zur Verfügung zu stellen. Da weiß man, was man an dieser Bundesregierung hat; denn wir sprechen mit den Menschen, um Infrastrukturprojekte umzusetzen. So sieht richtige Bürgerbeteiligung aus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Rolf Hempelmann [SPD]: Dann sprechen Sie einmal mit den europäischen Nachbarn!) Als Folge des Netzentwicklungsplans diskutieren wir heute gemeinsam in erster Lesung das Bundesbedarfsplangesetz. Dabei geht es nicht nur darum, wie die neuen Trassenverläufe aussehen sollen, sondern wir müssen uns konkret überlegen, wie wir die Voraussetzung dafür schaffen, dass Projekttrassen, zum Beispiel für die Erdverkabelung, entstehen können. Wir sehen auch eine Instanzenwegverkürzung vor, das heißt, dass man sich mit einer Klage direkt an das Bundesverwaltungsgericht wenden kann, das dann endgültig entscheidet. Damit können wir die Geschwindigkeit im Bereich Netzausbau erreichen, die wir uns vorgenommen haben, ebendiese vier Jahre. Was noch viel entscheidender ist: Wir arbeiten hervorragend mit den Bundesländern zusammen. Das ist keine Selbstverständlichkeit; denn derzeit ist es so, dass sich mindestens 8 von 16 Bundesländern autonom versorgen möchten, weitere möchten sich in Bezug auf erneuerbare Energien nicht nur autonom versorgen, sondern sie sogar exportieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Blödsinn!) - Das ist Blödsinn, wenn 16 Bundesländer nur jeweils an sich denken und nicht an die gemeinsame Umsetzung dieser Energiewende. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie erzählen, das ist Blödsinn! - Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Wir sagen Ihnen: Der Erfolg wird nur möglich sein, wenn alle 16 Bundesländer, der Bund und Europa bei dem wichtigen Thema Netzausbau zusammenstehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rolf Hempelmann [SPD]: Hören Sie sich das in Brüssel einmal an!) Deswegen schaffen wir mit dem Bundesbedarfsplangesetz die Voraussetzung dafür, dass erstmalig auch die großen und raumbedeutsamen Strecken, die mehrere Länder übergreifen, in die Planungszuständigkeit des Bundes, der Bundesnetzagentur übergehen können. Bisher haben wir immer gesehen: Dort, wo zwei Ländergrenzen aneinanderstoßen, kommt es zu Schwierigkeiten, kommt es zu Verzögerungen. Das muss geändert werden. Deswegen hoffen wir sehr, dass der Bundesrat bereit ist, auch wenn es um die konkreten Strecken geht, wenn es auf die einzelnen Maßnahmen ankommt, seine Zusage einzuhalten und die Zuständigkeiten von den einzelnen Ländern auf den Bund zu übertragen. Sonst wird es schwierig mit der Verkürzung von Bau- und Planungszeiten bei dem wichtigen Netzausbau in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mindestens genauso wichtig wie die großen Fernübertragungsnetze ist das Verteilnetz. Wir diskutieren darüber im Rahmen der Netzplattform in meinem Ministerium, aber auch in anderen Gremien. Wir überlegen: Wie muss ein solches Verteilnetz eigentlich aussehen? Wir werden ungefähr die gleiche Anzahl an Kilometern brauchen, nur um das Verteilnetz zu ertüchtigen und zu modernisieren. (Rolf Hempelmann [SPD]: Wesentlich mehr!) Hier geht es nicht nur darum, Produktion und Verbrauch räumlich zusammenzubringen, sondern Sie müssen Produktion und Verbrauch auch zeitlich zusammenbringen. Deswegen brauchen wir nicht nur Verteilnetze mit vielen Tausend Kilometern, sondern wir brauchen auch intelligente Netze (Caren Marks [SPD]: Wir brauchen einen intelligenten Minister! - Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: Das war aber ein intelligenter Spruch! Wow!) - manche Netze sind intelligenter als manche Zwischenrufe -, (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Caren Marks [SPD]: Versenkt!) die in der Lage sind, Produktion und Verbrauch zusammenzubringen. Wenn wir die beiden Dinge zusammenbringen wollen, dann brauchen wir nicht nur die Netze, sondern dann müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, wie der Markt für den konventionellen Kraftwerksbereich aussieht. (Rolf Hempelmann [SPD]: Warum macht ihr es nicht?) Ich will hier für die Bundesregierung und die Regierungskoalition sehr klar sagen: Wenn wir aus der Nutzung der Kernenergie aussteigen, werden wir, auch wenn wir auf den stärkeren Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien setzen, auch in Zukunft konventionelle Kraftwerke brauchen, Gaskraftwerke genauso wie Kohlekraftwerke. (Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Wenn die Grünen beschließen, dass man gerne auf Kohlekraftwerke verzichten möchte, dann ist das den Menschen gegenüber schlichtweg unehrlich; denn irgendwo muss der Strom für die Menschen und die Unternehmen ja herkommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht doch gar keiner mehr!) Dass wir für Versorgungssicherheit stehen, haben wir bei der Winterregelung gezeigt, die Sie im Bundestag im Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes beschlossen haben. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nicht! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die Koalition beschlossen!) Natürlich wissen wir, dass all die Maßnahmen, die darin enthalten sind, nicht vollumfänglich die Schönheit der sozialen Marktwirtschaft widerspiegeln. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Marktwirtschaft pur!) Aber bei der Abwägung zwischen der Versorgungs-sicherheit auf der einen Seite und der Schönheit mancher Instrumente auf der anderen Seite war und ist es immer richtig, sich für die Versorgungssicherheit der Menschen und Unternehmen gleichermaßen zu entscheiden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen Ähnliches auch bei der Marktstruktur im Bereich der konventionellen Kraftwerke. Allein auf den Strom und nicht auf die Erzeugung zu achten, wird auf Dauer nicht mehr funktionieren. Trotzdem warne ich davor, zu glauben, dass man nur Kapazitätsmärkte fordern müsse und schon wäre das Problem gelöst. "Kapazitätsmärkte" ist ein schönes Wort dafür, dass man das Vorhalten von Kraftwerken mit dem Geld der Stromkunden in Deutschland subventionieren will. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn?) Wenn Sie ein Problem, das durch die Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien, also durch ein Subventionsgesetz entstanden ist, durch eine weitere Subvention lösen wollen, dann handeln Sie entgegen dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Das kann nicht die alleinige Lösung für das zukünftige Marktdesign in Deutschland sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist doch, wie teuer es wird! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was Sie machen, ist die teuerste Lösung!) Wenn Sie ein solches Marktdesign auf den Weg bringen wollen, gerade für konventionelle Kraftwerke, dann müssen Sie auch an die Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien herangehen; denn beides gehört -zusammen, die konventionelle Energieerzeugung in Deutschland und die Erzeugung durch die Nutzung erneuerbarer Energien. Das bisherige Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien ist ein Gesetz, das eigentlich nicht zur sozialen Marktwirtschaft passt. So, wie es momentan aufgebaut ist, ist es ein planwirtschaftliches Gesetz. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Da klatscht nicht einmal einer von Ihnen!) Es ist damals entstanden, als man eine Nischenbranche größer machen wollte. Das war absolut gerechtfertigt; jetzt aber haben wir ein Gesetz, das sich mit einem Markt befasst, der längst nicht mehr einem Nischenmarkt entspricht, sondern einen Marktanteil von 25 oder 35 Prozent hat. Deswegen dürfen Sie ein solches Gesetz nicht länger zulassen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Wo sind eure Vorschläge? - Sigmar Gabriel [SPD]: Diagnose können wir selber! Machen Sie ein neues Gesetz!) Das ist ein Gesetz, mit dem der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, den Preis für jede einzelne Erzeugungsart auf den Cent genau festlegt. (Rolf Hempelmann [SPD]: Machen Sie einen Vorschlag! - Sigmar Gabriel [SPD]: Legen Sie mal ein neues vor!) Das ist Planwirtschaft und führt natürlich auch zu all den Verzerrungen und zu Ineffizienzen, die die Planwirtschaft mit sich bringt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rolf Hempelmann [SPD]: Machen Sie doch einmal einen konkreten Vorschlag! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie blockieren doch alles!) - Frau Höhn, gerade Sie haben doch dieses Gesetz auf den Weg gebracht. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es verschlechtert!) Es ist doch Ihre Verantwortung, dass wir momentan - mit all den Verzerrungen - in der Planwirtschaft leben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Sie sich ein Windrad in den Hintergarten stellen - egal ob Sie einen Netzanschluss haben oder nicht -, bekommen Sie bis zu 95 Prozent Ihrer Kosten vergütet. Was ist das für ein Geschäftsmodell? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie die Netze nicht gebaut haben! Herzlichen Glückwunsch!) Frau Höhn, stellen Sie sich vor, unser Wirtschaftsausschussvorsitzender Herr Hinsken - er ist Bäcker - würde ständig Brötchen produzieren, die er nicht verkaufen müsste, und er würde trotzdem 95 Prozent der Kosten als Vergütung bekommen. Was für ein großartiges Geschäftsmodell wäre das? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen Sie doch Netze! Das ist Ihre Verantwortung!) Es hat nur zwei Nachteile: Erstens. Die Menschen in Deutschland müssten es bezahlen. Zweitens. Es wäre kein zur sozialen Marktwirtschaft passendes Modell, und deswegen verzichtet Herr Hinsken auf ein solches Modell. Das Gleiche gilt auch für die Energiepolitik in Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wer regiert denn hier, verdammt noch mal? Sie regieren hier!) - Herr Steinmeier, wir regieren, und es wird - damit wir das auch gleich geklärt haben - auch nach der nächsten Bundestagswahl so bleiben. (Beifall bei der FDP - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das mit Sicherheit nicht! - Sigmar Gabriel [SPD]: Da klatscht nur noch die FDP!) Deswegen brauchen wir ein anderes Modell, ein Mengenmodell, mit dem endlich die unterschiedlichen Erzeugungsarten - so, wie es sich für die soziale Marktwirtschaft gehört - in einen Wettbewerb miteinander gestellt werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch an zu regieren!) Sonst wird Energie am Ende nicht mehr bezahlbar sein. Wir erleben gerade die Diskussion über eine EEG-Umlage in Höhe von 5,277 Cent, die vielleicht bis zum Ende des Jahres sogar noch auf 6 Cent die Kilowattstunde ansteigen wird. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Altmaier erzählt 7 Cent!) Ich finde, diese Zahlen zeigen eines sehr deutlich: Wir müssen schon jetzt - nicht zum Zweck der Integration von konventionellem Markt und dem Bereich der erneuerbaren Energien, sondern gerade im Interesse der Bezahlbarkeit von Energie für den Mittelstand, aber auch für private Haushalte - an einer grundlegenden Reform des Gesetzes zur Förderung Erneuerbarer Energien arbeiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Energiepreise sind das Entscheidende für unseren Mittelstand und unseren industriellen Kern. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legen Sie doch etwas vor!) Die deutsche Wirtschaft steht in einem internationalen Wettbewerb mit günstigen Energiepreisen in Europa, mehr aber noch außerhalb Europas. Wir sprechen über Strompreise für Industrieunternehmen von 10 bis 15 Cent die Kilowattstunde hier in Deutschland und in Europa. Wir sprechen, was beispielsweise die USA angeht, über Strompreise im Bereich von 2 bis 5 Cent die Kilowattstunde. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! Das entspricht doch nicht den Fakten! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn!) Wenn künftig viele Unternehmen in Deutschland Investitionsentscheidungen zulasten des Standortes Deutschland bzw. Europa treffen, indem sie in die USA gehen, wäre das gerade für unseren industriellen Kern fatal; denn wir brauchen die gesamte Bandbreite einer industriellen Wertschöpfungskette. Das betrifft chemische Grundstoffe, Stahl und Aluminium genauso wie Hightechprodukte. Deswegen ist es notwendig, dass die Bezahlbarkeit von Energie als prioritäre Aufgabe der Wirtschaftspolitik anerkannt wird. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie treiben die Preise hoch! - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist nicht zu fassen! Sie kriegen nichts zustande! - Rolf Hempelmann [SPD]: Große Schnauze!) - Auch von Ihnen, Frau Höhn. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ihnen: Die Unternehmen werden sich sehr genau ansehen, wie Politiker aus Nordrhein-Westfalen agieren, wenn es darum geht, für die Bezahlbarkeit von Energie zu kämpfen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das müssen Sie dem Altmaier mal sagen und der Frau Merkel!) Daran hängen hier Hunderttausende Arbeitsplätze. Sie zeigen, dass Sie kein Interesse an den Arbeitsplätzen in Deutschland haben. Das ist doch das wahre Gesicht von Roten, Grünen und Linken in Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie mal dem Altmaier Bescheid, der die Industrie gerade kaputt macht! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie gefährden die Arbeitsplätze! - Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) - Die Opposition zeigt - das spüren wir - ihr schlechtes Gewissen, indem sie umso lauter schreit. (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Sie haben den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie beschlossen (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ach! Sie nicht?) und nichts für unser Land bzw. für neue Netze getan. Auch für neue Kraftwerke und den Bereich der erneuerbaren Energien haben Sie nichts getan - und schon gar nichts für Energieforschung und Energieeffizienz. Im Gegenteil, bei Energieeffizienz halten Sie es bis heute nicht für nötig, etwas für die Menschen zu tun. Sie blockieren nach wie vor Gesetze im Bundesrat, bei denen es darum geht, Energieeffizienz für die Menschen durchzusetzen. Das ist doch Ihr Gesicht, wenn es um Energieversorgung in Deutschland geht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie für Energieeffizienz? - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Laiendarsteller!) Ich halte also fest: Diese Regierungskoalition hält sich an die drei energiepolitischen Grundsätze (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht zuhören! Nichts reden! Nichts tun!) Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit in den fünf wesentlichen Feldern Netzausbau, Kraftwerksausbau, erneuerbare Energien, Energieforschung und Energieeffizienz. (Zuruf von der SPD: Dann fangen Sie mal an!) Viele Unternehmen aus dem Ausland beneiden uns um unsere starke Volkswirtschaft. Sie haben sich zu Anfang die Frage gestellt: Kann Deutschland den Ausstieg bis zum Jahre 2022 schaffen? Wenn man sich jetzt die Pläne ansieht, wenn man die Dinge erklärt, wenn man die Vorbereitung erkennt, dann weiß man: Wenn es einer schaffen kann, dann ist das unser Land. Diese Regierungskoalition steht und kämpft dafür, dass genau das gelingen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt die geballte Energie!) Sigmar Gabriel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man eben bei der Rede des Kollegen Rösler eine Sekunde die Augen geschlossen und sich überlegt hätte, wer da eigentlich redet, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) dann hätte man den Eindruck haben können, dass da ein Oppositionspolitiker die aktuelle Regierung beschimpft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Rösler, ich bin nicht sicher, ob Sie es wissen, aber für all die Probleme, die Sie eben diagnostiziert haben, sind Sie und Ihr Kollege Brüderle seit fast vier Jahren zuständig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Übrigens, als Sie gesagt haben, dass Sie wieder in der Regierung sein werden, hat nur die FDP geklatscht, die CDU/CSU wohl vorsichtshalber nicht. Die Kollegen in der CDU/CSU ahnen, was bei den Wahlen herauskommen wird. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gabriel, Sie werden es nicht sein!) Sie können das übrigens heute in der Süddeutschen Zeitung nachlesen. Sie haben sich ja selber für Ihre Arbeit so gelobt und eben hier versucht, den Schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Dabei sitzt der Schwarze Peter bei Ihnen ganz in der Nähe am Kabinettstisch. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Er hat heute auf die Frage der Süddeutschen Zeitung, was er von Ihrer Arbeit hält, geantwortet - ich lese es einmal vor -: "Ich urteile grundsätzlich nicht über die Arbeit befreundeter Kabinettskollegen." (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist ja einmal ein richtiges Lob. So stellt man sich Freundschaften bei Ihnen vor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Rösler, ich will einmal versuchen, auf ein paar der Probleme, die Sie, wie ich finde, treffend beschrieben haben, einzugehen - Sie haben sie zwar jetzt beschrieben, aber Sie haben dreieinhalb Jahre nichts getan, um sie zu lösen - und darauf hinzuweisen, was Sie eigentlich hätten tun müssen. Wie sieht eigentlich der Stand des Ausbaus der Netze in der Realität aus, nachdem Sie und Ihr Vorgänger Herr Brüderle hier dem Parlament mehrfach große Ankündigungen gemacht haben? Sie haben Beschleunigungsgesetze eingebracht, Sie haben gesagt, dass Sie den Netzausbau richtig in den Griff bekommen wollen. Das ist das Versprechen Ihres Kollegen Brüderle - man ist sich bei Ihnen immer nicht so sicher, ob er gerade Nachfolger oder Vorgänger ist - und auch Ihr Versprechen gewesen. Ich sage Ihnen: Das Energieleitungsausbaugesetz von 2009 hat die wichtigsten Strecken für den Netzausbau per Gesetz begründet. Von 2009 bis heute, Herr Rösler, sind ganze 12 Prozent von Ihnen realisiert worden: 214 Kilometer von 1 834 Kilometern, die Sie bauen müssen. Keines der damals benannten Pilotvorhaben für die Erdverkabelung in der Gleichstromtechnik, um die durch Windkraft im Norden erzeugte Energie zu den Lastschwerpunkten in den Süden zu bringen, haben Sie in Ihrer Regierungszeit bis heute umgesetzt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16 der 24 Vorhaben von damals sind im Zeitverzug; dieser beträgt ein bis sieben Jahre. Herr Rösler, damit Sie es nicht völlig verdrängen, erinnere ich Sie daran: Der dafür verantwortliche Minister sind Sie und nicht Vorgängerregierungen, die übrigens diesen irren Weg des Ausstiegs nicht gewählt haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wären Sie beim rot-grünen Energieumstieg geblieben, hätten Sie diese Probleme nie in dieser Art auf den Tisch bekommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie scheinen ja völlig verdrängt zu haben, was Sie da angerichtet haben. Sie haben doch in das Herz-Kreislauf-System der deutschen Wirtschaft - das haben Sie eben zu Recht so genannt; es ist das Herz-Kreislauf-System der deutschen Wirtschaft - eingegriffen. Sie haben in den letzten dreieinhalb Jahren zweimal am offenen Herzen operiert. Aber Ihr Ärzteteam - einschließlich der Chefärztin, die gerade hinausgegangen ist - hat bei diesen Operationen wechselnde Diagnosen gestellt und wechselnde Therapievorstellungen gehabt. Dass der Patient noch lebt, liegt nicht an der Kunst Ihres Ärzteteams, sondern an der guten Konstitution des Patienten. Sie haben ihn allerdings fast ans Ende gebracht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Wir sind nicht diejenigen gewesen, die erst beschlossen haben, 14 Jahre länger an der Atomenergie festzuhalten, und dann gesagt haben: Nun aber schneller raus! (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: So ist es!) Wir haben übrigens auch keinen Prozess verloren, wie Sie ihn gerade wegen der illegalen Stilllegung von Atommeilern verlieren. (Zuruf von der SPD: Genau!) Wo im Bundeshaushalt findet man eigentlich die 15 Milliarden Euro, die Sie an Regressforderungen der Energiekonzerne wegen Ihrer damaligen Kumpanei mit ihnen zu erwarten haben? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die waren dann nämlich enttäuscht. Die Rechnung für die Kumpanei mit diesen Konzernen müssen jetzt die Steuerzahler bezahlen. Das ist das Ergebnis Ihres Atomausstiegs von vor zweieinhalb Jahren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zurück zum Netzausbau. 12 Prozent wurden bisher realisiert. Wenn die Bundesregierung beim Netzausbau in diesem Tempo weitermacht, Herr Rösler, dann wird die Energiewende tatsächlich ein Jahrhundertprojekt; das kann man wohl sagen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Zwischen der Realität beim Netzausbau in Deutschland und dem, was Sie hier erklären, gibt es einen Riesenunterschied. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, nach dem bis 2022 auf einer Strecke von insgesamt 2 800 Kilometern neue Leitungen gebaut werden sollen; das entspricht der Entfernung zwischen Stockholm und Madrid. Bei Beibehaltung Ihres bisherigen Schneckentempos - bisher wurden, wie gesagt, erst 12 Prozent realisiert - werden diese Leitungen nicht bis 2022 fertig sein, sondern frühestens 2060. Mit anderen Worten: Sie legen einen Netzausbauplan vor, von dem Sie schon heute wissen, dass er mit Ihrer Regierungskunst nie und nimmer realisiert werden wird. Was haben Sie eigentlich die letzten dreieinhalb Jahre getan, damit das Nord-Süd-Gefälle, dass der Windstrom im Norden produziert, aber an den Lastschwerpunkten im Süden und Westen gebraucht wird, endlich abgebaut wird? Das Gegenteil ist eingetreten: Dieses Gefälle verschärft sich von Jahr zu Jahr. Inzwischen produzieren wir, weil die Netze verstopft sind, Wegwerfstrom. Wir bezahlen ihn, aber wir können ihn nicht nutzen. Bezahlen müssen das die Steuerzahler, die Stromkunden und all diejenigen, die da zur Kasse gebeten werden. Das, Herr Rösler, ist Ihre Verantwortung. Sie sind derjenige, der das zulässt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Und Sie verhindern!) - Wir verhindern gar nichts, Herr Kollege. Sie legen doch noch nicht einmal einen Plan vor, wie man das machen soll. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich werde Ihnen gleich erzählen, was Sie alles verhindern!) - Ich verstehe ja, dass Sie den armen Kerl jetzt verteidigen müssen. Aber ich habe ihn nicht gebeten - ausgerechnet ihn! -, hier eine Regierungserklärung zu seinem eigenen Versagen während seiner Regierungszeit abzugeben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie versagen komplett, was die Steuerungskompetenz angeht. Sie sagen hier: Die 16 Bundesländer können nicht machen, was sie wollen. - Da haben Sie recht. Aber sagen Sie einmal: Was tun Sie eigentlich, um mit Ländern, Kommunen, der Energiewirtschaft und Stadtwerken den geplanten Netzausbau oder eine Kopplung des Netzausbaus und des Ausbaus der Nutzung erneuerbarer Energien hinzubekommen? Bis heute gar nichts! Sie beschreiben die Probleme richtig. Aber Sie sind der Minister, der dafür da ist, sie zu lösen. Das machen Sie seit dreieinhalb Jahren nicht. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Oh, Sie sind ja noch im Stimmbruch! - Rolf Hempelmann [SPD]: Der braucht seine volle Kraft an der FDP-Front!) Kurz vor der Bundestagswahl kommen Sie hierher und erklären, was man alles machen muss. Wissen Sie, es gibt ein altes Sprichwort für Leute wie Sie. Es lautet: Am Abend werden die Faulen fleißig. Das beschreibt, was Sie machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Rösler, nun können Sie ja sagen: Na ja, es ist doch klar, dass die Opposition über mich schimpfen muss; das ist ein altes Spiel im Parlament. - Deshalb lese ich Ihnen einmal vor, was außerhalb Ihrer eigenen Wirklichkeit, außerhalb dieses Parlaments über Sie, Ihre Regierung und die Kanzlerin gedacht wird. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Herr Kerber, meint - ich zitiere -: Es fehlen eindeutige Verantwortlichkeiten. Der Konkurrenzkampf innerhalb der Bundesregierung muss aufhören. Wir brauchen den Aufbau eines "Kontrollzentrums Energiestrategie Deutschland". Der Vorsitzende der Energiegewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, erklärte vor wenigen Wochen: Es fehlt der Bundesregierung an Koordination und Entscheidungen. Wenn das so weitergeht wie bisher, dann wird das nichts mit der Energiewende. Vor wenigen Tagen wurde der Unternehmer Ulrich Grillo, zugleich der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, gefragt, wie er das Management der Energiewende durch die Bundesregierung -bewertet - hören Sie gut zu, Herr Rösler! -, und die -Antwort von Herrn Grillo lautete: "Es gibt kein Management." (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Rösler, sagen Sie das auch Ihrer Kanzlerin; denn auch sie ist damit gemeint. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft die Kanzlerin die Energiewende zur Chefsache erklärt hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beherrscht sie die Chefsache nicht, oder Sie, Herr Rösler, lassen nicht zu, dass das Ganze geführt wird. Ich könnte zwar noch mehrere ähnliche Zitate vortragen, aber ich beende diese Aufzählung mit einem Kommentar aus der Passauer Neuen Presse von der letzten Woche. Unter der Überschrift "Verlorenes Jahr" fasst der Kommentator das wie folgt zusammen: Für das Gelingen der Energiewende wird 2013 ein weitgehend verlorenes Jahr werden. Leider hat er recht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) Alle, aber auch ausnahmslos alle, Herr Rösler, die in Deutschland etwas von Energiepolitik verstehen, sagen, dass diese Regierung ein Totalausfall ist hinsichtlich einer Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und bezahlbare Preise während der Energiewende sicherstellen soll. Meine Damen und Herren, wie sieht das aus mit der Chefsache der Bundeskanzlerin, dem neuen Strommarktdesign? Fehlanzeige. Wie sieht das aus mit dem von der Ethik-Kommission zum Ausstieg aus der Atomenergie dringend geforderten Aufbau eines Kapazitätsmarktes, vor allem mit Gaskraftwerken? Fehlanzeige. Sie erklären hier, die Bundesländer sollten nicht machen, was sie wollen. Was macht Ihr Koalitionspartner, die CSU? Ministerpräsident Seehofer hat als Erster erklärt, sein Land, Bayern, würde energieautark. (Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Wenn man an den Industriestandort Deutschland denkt, muss man sagen: Die sind völlig verrückt geworden. - Und was passiert? Gar nichts passiert. Im Gegenteil, anstatt dass neue Gaskraftwerke gebaut werden - dafür sind Sie übrigens verantwortlich -, werden in Deutschland neue Gaskraftwerke stillgelegt, und wir stehen an den Tagen, an denen die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, vor massiven Problemen mit der Versorgungssicherheit und der Stabilität im Netz. Genau das bewirkt Ihre Politik. (Beifall bei der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann sollten Sie auch sagen: Wer soll das bezahlen?) - Na, hören Sie einmal zu: Sie sind dafür verantwortlich, das sicherzustellen. In normalen Jahren braucht es zehn technische Eingriffe, um das Netz stabil zu halten. Jetzt haben wir 900 gehabt. Das verschweigen Sie hier. Sie sind sich über die Dimension Ihrer Aufgabe überhaupt nicht im Klaren - oder jedenfalls Ihr Minister nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das geht ja noch weiter: Sie jammern zwar über steigende Strompreise - zu Recht übrigens -, aber gleichzeitig verhindern Sie, dass Effizienzmaßnahmen den Stromkunden helfen, ihren Stromverbrauch zu senken und Geld zu sparen. Warum verhindern Sie das eigentlich? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie stehen in Europa auf der Bremse, wenn es um Energieeffizienz geht. Sie verhindern - gemeinsam mit Ihrer Bundesregierung und anderen -, dass der europäische Emissionshandel wieder in Gang kommt. Ihrem Finanzminister fehlen jetzt 1 bis 2 Milliarden Euro im Haushalt, um Maßnahmen zur Energieeinsparung zu finanzieren. Sie erklären öffentlich, wie schlimm das ist, aber Sie helfen keinem einzigen Verbraucher. Vielmehr stoppen Sie die Programme, weil Sie die Mittel dafür nicht mehr haben, weil Sie den Emissionshandel durch Ihr Verhalten in Europa ruiniert haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steigende Strompreise, steigende Versorgungsunsicherheit, das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nicht etwa die Schuld von Rot-Grün oder irgendwelcher Außerirdischer. Sie sind Minister, auch wenn Sie es manchmal nicht glauben können. Wir würden es ja auch gerne anders sehen; (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das dauert noch!) aber es ist nun einmal so. Dann müssen Sie einmal arbeiten in diesem Land. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie müssen übrigens nicht einmal für irgendetwas kämpfen: Über alles, was wir hier bereden, besteht doch Einvernehmen. Aber Sie setzen nichts um. Bei der Umsetzung der Energiewende sind Sie ein Totalversager; das ist das eigentliche Problem in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt kommt - alle Achtung! - die Strompreisbremse. Kurz vor Toresschluss erklären Sie: Keine Sorge! Wir bremsen die Strompreise. - (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Und wer behindert das?) Wie wollen Sie das eigentlich machen? Obwohl die steigenden Strompreise nach Ihren eigenen Aussagen und nach Aussagen Ihres Ministeriums praktisch nichts mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu tun haben - selbst wenn kein einziges Windrad mehr gebaut würde, würden aktuell die Strompreise steigen -, wollen Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien und damit die Energiewende selbst stoppen; das ist Ihr Vorschlag. Damit nicht genug: Sie beherrschen das kleine Einmaleins eines Wirtschaftsministers nicht, das da lautet: Wir brauchen Investitionssicherheit und keine ständigen Veränderungen der Rahmenbedingungen. - Ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister schlägt, gemeinsam mit seinem Kabinettskollegen Altmaier, vor, in be-stehende Verträge einzugreifen. Ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister schlägt vor, dass die im internationalen Wettbewerb stehende Rohstoffindustrie in Deutschland - von Aluminium über Stahl zu Kupfer - jetzt höhere Strompreise zahlen soll. Und so etwas fordert ein FDP-Bundeswirtschaftsminister! (Thomas Oppermann [SPD]: Unglaublich! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Industrie-feind!) Was Sie da vorschlagen, ist doch irre. Weil Sie offenbar von allen guten Geistern verlassen sind, wollen Sie das jetzt im Schweinsgalopp durchsetzen. Sie müssen wirklich, Entschuldigung, nicht mehr ganz bei Trost sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Keine dieser Maßnahmen, Herr Rösler, behebt die Ursachen steigender Strompreise. Nichts von dem, was Sie vorschlagen, hält länger als bis zum Wahlabend, 18.01 Uhr. Und jede dieser Maßnahmen verunsichert sämtliche Investoren. Herr Rösler, Unberechenbarkeit wird zum Markenzeichen Ihrer Energiepolitik. Das ist das, was die Investoren in Deutschland von Ihnen lernen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie, wie wir auch, Sorgen wegen steigender Strompreise haben: Warum verdienen Sie in der Bundesregierung dann noch heimlich mit? Aufgrund steigender EEG-Umlage haben Sie nämlich bis zu 1 Milliarde Euro Mehreinnahmen über die Mehrwertsteuer. Warum geben Sie nicht wenigstens das, was Sie über steigende Strompreise sozusagen für Ihren Haushalt abkassieren, an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurück? Warum machen Sie das eigentlich nicht? (Beifall bei der SPD) Sie können übrigens mit uns reden, wenn Sie nicht generell 1 000 Kilowattstunden stromsteuerfrei stellen wollen, sondern Ermäßigungen lieber an bestimmte Gruppen geben wollen, zum Beispiel an Familien, Niedrigverdiener oder BAföG-Empfänger. Das alles können wir machen. Sie können aber doch nicht mitkassieren und gleichzeitig öffentlich darüber jammern, dass die Strompreise steigen. (Beifall bei der SPD) Ich finde es wirklich eine erbärmliche Bilanz, die wir hier vorgestellt bekommen. Das alles wird dann auch noch mit großen Zielen beschrieben. Es wird Zeit, dass in der Bundesregierung einmal Ordnung geschaffen wird. Sie müssen erstens aufhören, über Kompetenzen zu streiten. Zweitens brauchen wir wirklich auch im Rahmen der Energiewende eine Gerechtigkeitswende; denn sinkende Börsenstrompreise werden nicht an die Verbraucher weitergegeben, sondern nur an die Großindustrie, und die von CDU/CSU und FDP massiv ausgeweiteten Ausnahmen bei der Stromsteuer - weit über die Rohstoffindustrie hinaus - führen dazu, dass der Rest höhere Strompreise zahlt. Daneben verdienen an Windparks und Solardächern immer mehr Grundstücks- und Hauseigentümer, während die Mieter die Zeche zahlen. Es ist völlig klar, was zu tun ist. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wer verhindert denn, dass wir etwas ändern?) - Entschuldigung, wir machen Ihnen doch Vorschläge. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich bin ja gleich dran!) Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen den Verbrauchern das zurückgeben. Stimmen Sie doch zu, dass wir endlich ein neues Strommarktdesign machen! (Beifall bei der SPD) Schaffen Sie einen Kapazitätsmarkt! Sorgen Sie dafür, dass wir endlich zu einer Koppelung zwischen Netzausbau und Ausbau der erneuerbaren Energien kommen! Das sind Vorschläge, für die Sie hier im Haus eine breite Mehrheit bekommen würden. Sie müssen es aber umsetzen, Herr Kollege. Es gibt kein Erkenntnisproblem, wir haben kein Diagnoseproblem, sondern wir haben ein massives Umsetzungsproblem. Es gibt böse Zungen, die sagen, Herr Rösler als alter Freund der Atomenergie habe gar kein Interesse daran, dass das am Ende funktioniert. Ich glaube, das ist nicht so. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie die Energiewende wirklich wollen. Offensichtlich ist aber: Parteien, die jahrzehntelang sozusagen auf die "Bruttoregistertonnenmentalität" der Atomenergie gesetzt haben, scheint die Fantasie dafür zu fehlen, sich vorzustellen, wie das Ganze intelligent hin zu mehr Dezentralität umgebaut werden kann, sodass ein möglichst hoher Anteil erneuerbarer Energie erreicht wird. Sie sind in Ihrem alten Denken verhaftet, und das führte dazu, dass Sie, als Sie sich hier hingestellt haben und beschrieben haben, was fehlt, Ihr eigenes Versagen beschrieben haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Nationalversammlung der Sozialistischen Republik Vietnam, Herr Dr. Nguyen Sinh Hung, mit seiner Delegation Platz genommen. Ihn möchte ich im Namen aller Mitglieder des Bundestages herzlich begrüßen. (Beifall) Sie haben in den letzten Tagen nicht nur in Berlin viele politische Gespräche geführt. Wir wünschen Ihnen für die weiteren Reformanstrengungen in Ihrem eigenen Land viel Erfolg. (Beifall) Vielen Dank. Nun hat der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass unsere vietnamesischen Freunde heute hier sind. Wir möchten noch auf vielen Gebieten mit ihnen zusammenarbeiten. Eine ganze Reihe von Punkten haben der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesaußenminister in Vietnam ja schon angeschoben. Gott sei Dank wird auch in Bälde das Deutsche Haus gebaut. Darüber freuen wir uns. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Thomas Oppermann [SPD]: Der Teil der Rede war in Ordnung!) Herr Kollege Gabriel, Freundschaft in der SPD erkennt man schon daran, dass Ihr Kanzlerkandidat bei der Rede seines Parteivorsitzenden nicht im Deutschen Bundestag war. Daran lässt sich ablesen, wie sich die Situation darstellt. Ich würde an Ihrer Stelle nicht über andere lästern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Schauen Sie mal nach vorne hin! Der leere Stuhl! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Frau Merkel? - Thomas Oppermann [SPD]: Die soll mal kommen! - Weitere Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Merkel auch nicht!) - Die Bundeskanzlerin war bei der Rede des Bundeswirtschaftsministers anwesend. Die Bundeskanzlerin hat auch noch ein paar Dinge zu tun, die sie das eine oder andere Mal daran hindern können, im Plenum zu sein. Aber wenn Ihr eigener Kanzlerkandidat es noch nicht einmal für nötig hält, bei der Rede seines Parteivorsitzenden anwesend zu sein, dann ist das bezeichnend dafür, was er von ihm hält, nämlich genauso viel wie ich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Thomas Oppermann [SPD]: Mehr haben Sie hier nicht zu sagen? Ist das Ihr Ernst? Ist das alles, was Sie hier zu sagen haben?) Herr Kollege, Sie haben eben über das Thema Energieeffizienz gesprochen. Energieeffizienz ist mit Sicherheit eine der besten Möglichkeiten, in Deutschland Energie einzusparen. Da sind wir uns einig. Insofern frage ich mich, warum Ihre Mehrheit im Bundesrat seit mehreren Monaten 1,5 Milliarden Euro blockiert, (Thomas Oppermann [SPD]: Das läuft doch inzwischen! Das haben wir doch geklärt! Sie sind nicht auf dem neuesten Stand!) die wir in die Sanierung von Häusern stecken wollen, um sie energieeffizienter zu machen. Das ist doch scheinheilig, was Sie hier machen. Sie haben doch gar nicht das Recht, darüber zu reden, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, solche Dinge umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit!) Diese Scheinheiligkeit, die Sie hier permanent an den Tag legen, geht mir ziemlich auf den Geist. Sie wissen ganz genau, warum diverse Ausbaumaßnahmen nicht vorgenommen werden. Sie wissen ganz genau, dass Sie sie vor Ort verhindert haben. Das ist mehr als traurig. In all den Ländern, in denen wir Ausbaumaßnahmen vorhaben, sitzen Sie zum großen Teil mit in der Regierung. Und das ist der Grund, warum es nicht vorangeht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sigmar Gabriel [SPD]: Nennen Sie doch einmal ein Beispiel! - Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie sonst keine Ausreden?) Meine Damen und Herren, Gott sei Dank ist die Stromversorgung in Deutschland zuverlässig. Sie funktioniert. Laut der Bundesnetzagentur - und auch das sollten Sie wissen, Herr Gabriel; Lesen bildet - ist es im letzten Jahr insgesamt zu nur rund 15 Minuten Stromunterbrechung in Deutschland gekommen. Wir sind damit Weltspitze. Es gibt kein einziges Land, in dem es so wenige Stromunterbrechungen gab wie bei uns. In den USA waren es bis zu 500 Minuten, in Frankreich immerhin bis zu 100 Minuten. Die Qualität der Stromversorgung ist gut, und das ist in einem so hoch industrialisierten Land wie unserem auch notwendig. Die Chipindustrie in Deutschland könnte nicht funktionieren, wenn es eine solch gute Stromversorgung nicht gäbe. Wir wissen aber auch ganz genau, dass aufgrund der Maßnahme, die wir mit vollem Herzen ergriffen haben - ich meine den Ausstieg aus der Kernenergie und das Abschalten diverser Anlagen -, (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mit vollem Herzen? Das ist ja wohl eine Lachnummer! - Sigmar Gabriel [SPD]: Herr Fuchs, das war Ihr Herzensprojekt?) jetzt eine Kompensation her muss. Es nützt uns überhaupt nichts, darüber zu diskutieren, dass im Jahre (Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben damals das Gegenteil behauptet!) 2020 der Anteil von erneuerbaren Energien bis zu 57 Prozent betragen kann, wenn wir nicht gleichzeitig sicherstellen, dass permanent Strom zur Verfügung steht. Denn es ist dummerweise so, dass der Wind nicht immer weht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich habe mir einmal beispielhaft von der Bundesnetzagentur das Diagramm eines Tages ausdrucken lassen, das ich Ihnen gerne zeige. Hier sehen Sie den geringen Beitrag der erneuerbaren Energien zur Lastdeckung am 13. Februar 2013. Die kleine Fläche unten - das können Sie sogar von Ihren Sitzen aus sehen - zeigt den Anteil der erneuerbaren Energien. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sehen Sie einmal, wie viel wir noch zu tun haben!) Die große Fläche darüber stellt den Anteil konventioneller Energie dar, die erzeugt werden musste, weil dieser Tag ein wunderschöner grauer Wintertag war, der Himmel voller Wolken und windstill. Es herrschte eine typische Inversionswetterlage, und diese Inversionswetterlage hatten wir in den letzten sechs Wochen leider permanent. Das zeigt, dass wir nach wie vor einen vernünftigen Kraftwerkspark brauchen, der in dem Moment anspringt, (Rolf Hempelmann [SPD]: Den macht ihr doch kaputt!) in dem keine erneuerbare Energie produziert wird. Die einzige grundlastfähige erneuerbare Energie, die es überhaupt gibt, ist die Biomasse. Alles andere ist nicht machbar. Und machen wir uns bitte auch nichts vor: Wir können noch so viel darüber reden, aber in diesem Land haben wir keine Speicherkapazitäten. Eine Ausnahme sind die paar Stauseen, die wir haben, und die wenigen Möglichkeiten, mit Hochdruckwasserspeichern zu arbeiten. Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang einmal raten, nach Baden-Württemberg zu fahren; dort tragen Sie Regierungsverantwortung. Fahren Sie doch einmal in den Hotzenwald, und schauen Sie sich an, was Ihre Kollegen dort machen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahren Sie mal in die Eifel!) Ihre Kollegen verhindern dort seit langer Zeit den Bau eines großen Pumpspeicherwerkes, das uns bei der Sicherstellung der Versorgung helfen könnte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn an der Spitze dieser Bürgerinitiative?) - Das ist doch Ihre Gegend. Das müssten Sie eigentlich am besten wissen. Dann sage ich Ihnen auch: Wir müssen beim Netzausbau genau so weitermachen. Wer den Netzausbau will, der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundesländern umgesetzt wird: Der muss für die Thüringer Strombrücke sorgen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn in Thüringen an der Macht?) Der muss auch in allen anderen Bereichen dafür sorgen, dass es vorangeht. Das sollten wir schon gemeinsam tun. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Fuchs, darf Ihnen der Kollege Krischer eine Frage stellen? Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Aber selbstverständlich. (Rainer Brüderle [FDP]: Oh, jetzt kommt was Feines!) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Fuchs, Sie haben gerade über Pumpspeicherkraftwerke gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Firma Trianel ein Pumpspeicherkraftwerk in der Eifel plant, Ihre Parteifreunde aber nicht bereit sind, ein ergebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, Ihre Bürgermeister und Landräte den Bau dieses Pumpspeicherkraftwerks verhindern, ein Mitglied dieser Bundesregierung, in dessen Wahlkreis das geplante Pumpspeicherkraftwerk liegt, nicht bereit ist, einen Aufruf zu unterzeichnen, wenigstens ein ergebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, weil man sich dem Populismus vor Ort anheimgibt und sich nicht traut, das Kreuz gerade zu machen, um diese wichtige Maßnahme für die Energiewende zu realisieren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich frage Sie: Ist Ihnen das bekannt? Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ich weiß, dass dieses Pumpspeicherkraftwerk geplant wird. Wir warten jetzt als Allererstes eine vernünftige Planung ab, die mit Ihrer Landesregierung erst einmal abzustimmen ist. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) - Herr Krischer, jetzt hören Sie bitte genauso zu, wie ich Ihnen staunend zugehört habe. - Ihre Landesregierung in Rheinland-Pfalz hat beschlossen, autark zu werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich komme aus Nordrhein-Westfalen!) Eben wurde gesagt: Das wollen wir gar nicht. Wir wollen nicht 16 verschiedene Energieversorgungen. Im entsprechenden Koalitionsvertrag steht - ich empfehle Ihnen das Lesen dieses Koalitionsvertrages -, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beantworten Sie bitte die Frage!) dass bis zum Jahre 2030 Rheinland-Pfalz autark sein soll, und zwar mit einer Stromversorgung ausschließlich aus erneuerbaren Energien. Gleichzeitig soll Rheinland-Pfalz bei ausschließlicher Versorgung mit erneuerbaren Energien auch noch zum Stromexporteur werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage!) Wir haben in Rheinland-Pfalz keine Möglichkeit, Energie sinnvoll zu speichern. Das Trianel-Projekt wird dieses Problem nie lösen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verspargelung der Landschaft, Zerstörung von Landschaftsschutzgebieten - all das verursachen Sie. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verspargelung der Landschaft? Aha, Sie wollen Energie verhindern! Sehr schön!) Es wird höchste Zeit, dass wir gemeinsam in diesem Hohen Hause bereit sind, den Leitungsausbau stärker zu unterstützen. Wir haben dazu jetzt die nötigen Gesetze. Wir haben über den Netzentwicklungsplan entsprechende Möglichkeiten geschaffen. Wir haben auch eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen. Gott sei Dank haben wir beschlossen, dass es - Herr Bundesminister Rösler hat es eben gesagt - nur noch eine einzügige Gerichtsbarkeit gibt. Das ist notwendig, damit wir überhaupt so schnell wie möglich die Netze ausbauen. (Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Wenn wir das nicht tun, dann funktioniert die ganze Energiewende nicht; denn was nützen uns die schönsten Offshorewindanlagen, wenn der Strom nicht dahin kommt, wo er gebraucht wird? Also, sorgen Sie an allererster Stelle in den Bundesländern, in denen Sie Verantwortung tragen, dafür, dass auch dort der Netzausbau so schnell wie möglich umgesetzt wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich sage Ihnen eines: Es ist völlig richtig, dass die Bundeskanzlerin in diesem Zusammenhang die Ministerpräsidenten eingeladen hat. Diese haben genauso viel Verantwortung dafür zu tragen, dass die Energiewende funktioniert. Sie funktioniert nur dann, wenn das gemeinsam geschieht, und zwar in allen Bereichen dieses Landes. Wenn nicht jeder an seiner Stelle seine Arbeit macht - ich habe das Gefühl, Sie glauben, wir könnten das hier alleine machen, ohne dass die Bundesländer mithelfen -, (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Rolf Hempelmann [SPD]: Das Gefühl habe ich gerade nicht!) dann funktioniert das nicht. Eine solche Aufgabenteilung kann in unserem Land einfach nicht funktionieren. Meine Damen und Herren, es wird Zeit, dass die Bundesländer das begreifen und ihre Blockadehaltung im Bundesrat aufgeben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dietmar Bartsch nun das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst freue ich mich, Herr Fuchs, dass Sie die Genossen der KP so freundlich begrüßt haben. Das ist wirklich sehr nett. Ich will mich dem ausdrücklich anschließen. (Beifall bei der LINKEN - Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu Herrn Rösler. Herr Rösler, ich glaube, Sie waren noch zu sehr im Parteitagsmodus der FDP. Sie haben auf Ihrem Parteitag die schöne Geschichte von Brüderle und Schwesterchen erzählt, die im Märchen sehr gut ausgeht. So wie Sie allerdings an die Energiewende herangehen, wird dieses Märchen leider nicht gut ausgehen. Sie regieren seit vier Jahren. Wer sich die Ergebnisse anschaut, das, was Sie gerade auch bei dem heutigen Thema vorzulegen haben, sieht, dass das wirklich mehr als dürftig ist. Sie haben insgesamt dazu beigetragen, dass es bei den Menschen und Unternehmen in diesem Land Verunsicherung gibt. Es wundert mich schon sehr, dass Herr Fuchs auf einmal als Kämpfer für den Atomausstieg dasteht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich habe das ein bisschen anders in Erinnerung: Da gab es ein "Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln". All das ist schon sehr eigenartig. Was wir heute in erster Lesung behandeln, hat mit einem verantwortungsbewussten Beitrag zur Energiewende sehr wenig zu tun. Man fragt sich sowieso immer: Ist das die Bundesregierung? Ich habe gerade gehört, dass Herr Altmaier und Herr Rösler gar nicht mehr zusammen in den Umweltausschuss gehen, weil sie sich dort wahrscheinlich beharken würden. Das ist also wirklich sehr wenig Bundesregierung. Im Kern handelt es sich schlicht und ergreifend um einen Gesetzentwurf, durch den die Profite der Energiemonopolisten und die Profite der Netzbetreiber weiter abgesichert werden sollen. Denen ist es im Übrigen völlig egal, welcher ökologische und welcher soziale Preis für welche Energie bezahlt werden muss, die transportiert wird. Versorgungssicherheit übersetzt Schwarz-Gelb letztlich mit Profitsicherheit. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich wissen auch wir: Energietransport braucht moderne Netze. Da muss etwas geschehen. Aber wer die Energiewende wirklich will, der muss dafür einen Plan haben, auch was die Netze betrifft. Dabei muss das Thema Energieverbrauchssenkung natürlich eine wichtige Rolle spielen. Dann kommt man aber im Ergebnis zu der Erkenntnis, so viel Netz wie nötig, und nicht, so viel Netz wie möglich. (Beifall bei der LINKEN) In dem Gesetzentwurf geht es um Rechtswegeverkürzung und die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Das alles ist durchaus sinnvoll, aber löst letztlich kein grundsätzliches Problem. Die Bundesregierung hat eben keinen Plan, was die Energiewende betrifft. Sie reden hier davon, dass man sich mit den 16 Ländern ins Benehmen setzen muss. Aber es geht natürlich nicht, dass die Bundesregierung ansagt und die Länder zu folgen haben. Warum haben Sie eigentlich nicht die Bundesratsstellungnahme vom Februar bei Ihrem Gesetzentwurf in irgendeiner Weise beachtet? Es gab auch eine Stellungnahme auf Initiative des Bundeslandes der Bundeskanzlerin, das zufälligerweise auch meines ist, nämlich Mecklenburg-Vorpommern. Ist es Ignoranz oder handwerkliche Schluderei, dass Sie das einfach nicht beachten? Es darf nicht heißen: "Die Bundesregierung sagt an, und die Länder haben zu machen", sondern das muss gemeinsam umgesetzt werden. Sie müssen sich von diesem hohen Ross herunterbegeben. (Beifall bei der LINKEN) Mit diesem Gesetzentwurf lassen sich die schweren politischen Fehler bei der Planung und Durchsetzung der Energiewendepolitik nicht korrigieren. So stärkt man nicht das dringend notwendige Vertrauen in die Energiewende, und man organisiert sich auch keine Unterstützung bei der Bevölkerung. Es gibt eher eine ganz große Verunsicherung. Die wahren Innovationsfeinde sitzen auf der Regierungsbank. Was ist denn innovativ daran, eines der größten Zukunftsprojekte in Deutschland, den Umbau der Stromerzeugung, zwar politisch auszurufen, aber dann einfach zu hoffen, dass die notwendige Infrastruktur sich quasi von alleine plant und baut? Was ist innovativ daran, den großen Energiekonzernen in weiten Teilen diese Planung zu überlassen, die schon betriebswirtschaftlich keinen Grund sehen, die alten Kraftwerke der Konkurrenz regenerativer Energien auszusetzen? Was ist innovativ daran, die Netzplanung an den Bedürfnissen dieser Konzerne und ihrer Lobbygruppen auszurichten, obwohl technisch eine dezentralere Stromerzeugung in effektiven Einheiten vor Ort, bürgernah, kostengünstig und flächen-deckend möglich ist? (Beifall bei der LINKEN) Sie haben auch über Bürgerbeteiligung und Bürger-interessen geredet. Ich habe einmal nachgelesen, was in Ihrem Gesetzentwurf zu Ziel und Problemstellung steht. Das kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor. Was das Thema Bezahlbarkeit angeht, will ich auf eines aufmerksam machen: Auf Seite 16 ist von einem "Anstieg der Netzentgelte auf Übertragungsnetzebene und damit auch der Strompreise" die Rede. Das ist offensichtlich ehrlich. Sie gehen davon aus, dass die Strompreise steigen. Das ist letztlich ein Offenbarungseid in Ihrem eigenen Gesetzentwurf, dass Sie hier nichts tun wollen und die Bürgerinnen und Bürger diejenigen sein sollen, die letztlich die Energiewende bezahlen. Das kann nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) Ich will auf eines hinweisen: Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass es eine unabhängige Netzgesellschaft geben soll. Das ist ein vernünftiger Ansatz. Das will die Linke auch. Wir wollen eine in öffentlicher Hand befindliche Netzgesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Was ist in den vier Jahren passiert? Gar nichts ist passiert. Sie haben nichts in diese Richtung gemacht. Darum ist das, was sowohl SPD als auch Grüne vorschlagen, durchaus vernünftig. Wir wollen, dass alles, was öffentliche Daseinsvorsorge betrifft, in öffentlicher Hand ist. Das betrifft nicht nur die Bereiche Wohnen, Gesundheit und Bildung, sondern auch die Energienetze. Das schreiben Sie zwar in Ihrem Koalitionsvertrag, aber Sie brechen ihn ein weiteres Mal. Die Energiewendepolitik muss letztlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die Frage ist: Wollen wir dezentrale Energieversorgung in Bürgerhand, oder erhalten wir die Macht der großen Vier? Es geht dabei nicht an, zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen die Energiewende bezahlen. Es muss vielmehr darum gehen, zu rekommunalisieren und auch die Neuvergabe von Netzkonzessionen durchzusetzen sowie vieles andere mehr. Deswegen sage ich ganz klar und eindeutig: Die Energiewende ist bei dieser Koalition in schlechten Händen und in falschen Händen. Statt einer Politik, mit der Vertrauen zurückgewonnen werden kann, (Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]) betreiben Sie eine Politik, der alles zuzutrauen ist. Statt den Menschen Sicherheit zu geben, dass sie morgen noch Strom, Wasser und Gas bezahlen können, sorgen Sie sich um die Profite der Energiemonopolisten und der Netzbetreiber. Diese Politik, meine Damen und Herren, muss im Herbst abgewählt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Breil für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Die Latte liegt niedrig nach Fuchs und Rösler, Herr Breil! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist Ihre Stunde, Herr Breil!) Klaus Breil (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Latte liegt hoch. (Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein, niedrig!) Aber ich habe viel Sport in meinem Leben gemacht. Ich bemühe mich immer, auch die Höhen zu erreichen. Herr Dr. Bartsch, eine Bemerkung vorab: Die Energiewende ist bei dieser christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich. (Beifall bei der FDP - Rolf Hempelmann [SPD]: Gut, dass das wenigstens einer glaubt!) "Ja zum Netzausbau. Damit die Energiewende gelingt." Das ist der Titel, unter dem die Bundesregierung mit ihrer Informationsinitiative den Bürgerinnen und Bürgern bundesweit die Dringlichkeit des Netzausbaus in Deutschland näherbringt; denn nur mit neuen Stromleitungen können wir erneuerbare Energien überall -nutzen. Doch diese Kampagne in Zeitungen sowie an Hauswänden und Bushaltestellen ist nur das Sichtbare, sozusagen das, was nach außen passiert. Tatsächlich aber haben die Bundesregierung sowie die christlich-liberale Koalition schon eine ganze Reihe von Gesetzen für den schnelleren Ausbau unserer Stromautobahnen beschlossen und damit zur Erreichung des Zieldreiecks Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit beigetragen. Gestatten Sie mir einen kleinen Exkurs. Einige von uns haben gestern an der Veranstaltung der AmCham, der amerikanischen Handelskammer, teilgenommen. Dort hat der CEO einer europäischen Tochtergesellschaft eines großen amerikanischen Grundstoffproduzenten der Chemieindustrie ausgeführt, welche Investitionen die Unternehmen für die Zukunft planen. Wenn wir nicht darauf achten, dass die Energiepreise in Deutschland bezahlbar bleiben, dann gehen an uns mittelfristig und langfristig wichtige Investitionen vorbei. Deshalb muss das EEG dringend reformiert werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zurück zu den Netzen. Wir sind mit dem Netzaus-baubeschleunigungsgesetz einen großen Schritt hin zu kompakteren Planungs- und Genehmigungsverfahren gegangen. Meine Damen und Herren von der Opposition, Rot-Grün hat zwar das EEG auf den Weg gebracht, aber die spätere Entfaltung völlig unterschätzt und für den Netzausbau nichts getan. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rolf Hempelmann [SPD]: Klaus, jetzt hast du die Latte gerissen!) Das holen wir nun nach. Erst wir haben im Energiewirtschaftsgesetz ein neues, strukturiertes und nachvoll-ziehbares Verfahren zur Planung des Netzausbaubedarfs eingeführt. Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze, über das wir heute in erster Lesung beraten, ist Teil davon. Insgesamt öffnen wir den Prozess der Netzplanung durch zahlreiche Beteiligungsmöglichkeiten einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist unser oberster Grundsatz. Auf Grundlage der angesprochenen Gesetze haben die vier Übertragungsnetzbetreiber schon Mitte des letzten Jahres den Netzausbaubedarf errechnet. Die Ergebnisse haben scheinbar reflexartig zu viel Kritik aus den Reihen der Opposition geführt. (Rolf Hempelmann [SPD]: Es geht nichts über gesunde Reflexe!) An dieser Stelle sei mir noch ein deutlicher Hinweis in Richtung Opposition erlaubt: Aus Ihren Reihen sprechen noch immer ein paar Unbelehrbare im Energiebereich von Konzernen, auch bei den Übertragungsnetzbetreibern, und sie suggerieren damit der Öffentlichkeit, dass diese Unternehmen nur daran interessiert seien, Atom- und Kohlestrom zu transportieren, und dass sie nur dafür so viele Netze und Leitungen bräuchten. (Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt aber mal konkrete Tatsachen!) Zu den Fakten: Das Übertragungsnetz mit 50 Hertz gehört zu 40 Prozent dem australischen Infrastrukturfonds IFM; 60 Prozent gehören einem niederländischen Netzbetreiber. Das Übertragungsnetz von Amprion gehört unter der Führung der Commerzbank mehreren Unternehmen aus der Versicherungsbranche. Das Übertragungsnetz von TenneT gehört der deutschen Tochter eines niederländischen Staatsunternehmens. Das Übertragungsnetz von TransnetBW ist eine 100-prozentige Tochter von EnBW, dessen Hauptanteilseigner das rot-grün geführte Baden-Württemberg ist. Meine Damen und Herren von der Opposition, sind das für Sie nicht Hinweise genug, dass dort in den Unternehmen keine Lobbyisten alter Energiestrukturen mehr sitzen und Sie mit Ihrem notorischen Misstrauen gegenüber Unternehmen vollkommen falsch liegen? (Beifall des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] - Rolf Hempelmann [SPD]: Es geht um Kapitalkraft!) Oder machen Sie das ebenso mit Absicht wie Claudia Roth, die der Öffentlichkeit am Montag weismachen wollte, dass 16 000 Menschen an den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima starben? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wird jetzt der Atomausstieg wieder relativiert? - Rainer Brüderle [FDP]: Unmöglich!) Frau Roth, Sie haben damit in den sozialen Netzwerken nicht nur einen Shitstorm - Frau Präsidentin, Sie erlauben mir bitte diesen Ausdruck -, sondern einen Tsunami ausgelöst. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist geschmacklos!) Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Argument, dass die Übertragungsnetzbetreiber absichtlich den Netzbedarf zu hoch veranschlagen, um die Energiewende teuer zu machen, ist ein Musterbeispiel für Ihren systematischen Populismus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht um Baurecht. Baurecht ist Ländersache, und Ihre Freunde in den Landesregierungen sind dringend aufgerufen, konstruktiv hier mitzuwirken, dass es schneller geht. (Beifall bei der FDP) Ich möchte auf den Ablauf des jetzt etablierten strukturierten Verfahrens zum Netzausbau zurückkommen. Der von den Übertragungsnetzbetreibern berechnete Netzausbaubedarf wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als 2 100 Akteure nahmen zum NEP 2012 ausführlich Stellung. Dann überprüfte die Bundesnetzagentur gemeinsam mit Wissenschaftlern die Plausibilität der Ergebnisse und lud zu weiteren Konsultationen. Insgesamt kamen bei dem Konsultationsverfahren weit über 5 000 Stellung-nahmen zusammen; diese wurden ausgewertet. Letztes Jahr, Ende November, lag der Netzentwicklungsplan 2012, kurz: NEP 2012, vor. Er wurde der Bundesregierung als Entwurf für einen Bundesbedarfsplan präsentiert. Als Vorhaben des Bundesbedarfsplans definieren wir in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf solche Vorhaben, für die die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der vordringliche Bedarf bestehen. Wir verkürzen außerdem im Interesse der zügigen Umsetzung des Energiekonzepts der Bundesregierung (Rolf Hempelmann [SPD]: Welches Energiekonzept? - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das für 2010, oder was?) mit dem heute zu beratenden Gesetz zur Beschleunigung der Realisierung der Vorhaben den Rechtsweg, ohne die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden. Dabei wird die Transparenz des Verfahrens natürlich vollständig beibehalten. Das Bundesverwaltungsgericht wird zukünftig als erste und letzte Instanz für Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf Vorhaben des Bundesbedarfsplans zuständig sein. Meine Damen und Herren, mit dem Bundesbedarfsplangesetz gehen wir den letzten legislativen Schritt für einen strukturierten, schnellen und vor allem kontinuierlichen Netzausbau mit umfassender Bürgerbeteiligung; ich wiederhole: im Interesse der zügigen Umsetzung des Energiekonzepts der Bundesregierung. (Rolf Hempelmann [SPD]: Und in dem Tempo wie bisher?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Klaus Breil (FDP): Ich komme zum Schluss. - "Kontinuierlich" sage ich deswegen, da gerade erst Anfang März der Entwurf für den NEP 2013 sowie der Offshorenetzentwicklungsplan, der sogenannte ONEP, von den Übertragungsnetzbetreibern vorgelegt wurde. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben ein seltsames Schauspiel erlebt. Diese Regierung hat wie keine andere Regierung zuvor Planungsunsicherheit geschaffen. (Horst Meierhofer [FDP]: Dosenpfand!) Denn Sie sind dafür verantwortlich: rein in die Atomkraft, raus aus der Atomkraft. Die Laufzeitverlängerung war eine absolute Fehlentscheidung, was die Energiewende angeht. Diese Bundesregierung gefährdet in unserem Land Arbeitsplätze im Bereich der Energiewende, die Riesenchancen bietet. Schwarz-Gelb vergeigt die Energiewende. Schwarz-Gelb gefährdet Arbeitsplätze in diesem Land. Herr Rösler, das haben Sie mit dieser Rede nicht wiedergutmachen können. Sie haben gezeigt, dass Sie es nicht können. Das wissen wir nun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Netzausbaus vorgelegt. In der Funktion als Wirtschaftsminister sind Sie zwar noch nicht so lange im Amt. Aber der neue Spitzenkandidat der FDP war zuvor für das Wirtschaftsministerium verantwortlich. Im Koalitionsvertrag haben Sie festgeschrieben, dass der Netzausbau eine wichtige Sache ist. Herr Brüderle hat gesagt, das habe höchste Priorität. Herr Rösler, Sie haben versprochen, dass Sie liefern wollen. Was haben Sie aber geliefert? Sie selbst sagen, 2 900 Kilometer Netz müssten ertüchtigt werden, 2 800 Kilometer müssten neu gebaut werden. Sie haben aber noch nicht einmal 300 Kilometer geschafft. Sie haben nicht nur nicht geliefert; Sie haben auch noch Schrott geliefert, Herr Rösler. An diesen Fakten und an nicht mehr und nicht weniger werden Sie gemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Was Sie abgeliefert haben, führt zu einem dramatischen Debakel. Die Windparks sind bis heute nicht angeschlossen. Das hat gravierende Folgen. Denn dadurch werden Haftungskosten fällig. Was machen Sie aber? Anstatt das Problem zu lösen, wälzen Sie diese Haftungskosten, die tendenziell steigen, auf die Bevölkerung ab. Damit sind Sie verantwortlich für Energiepreissteigerungen, die die Bevölkerung treffen, Herr Rösler. Sie haben die Strompreise für die Bevölkerung nach oben getrieben, weil Sie keine richtige Politik betreiben und weil Sie nicht dafür sorgen, dass die Windkraftanlagen angeschlossen werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Horst Meierhofer [FDP]: Ich hoffe, Sie sind katholisch, dass Sie beichten können!) Wenn Sie etwas machen, dann machen Sie das Falsche. Schauen wir uns einmal das Erneuerbare-Energien-Gesetz an. Hierzu hat der Kollege Altmaier einen Vorschlag vorgelegt. Er hat gesagt, dass wir etwas ändern müssen, weil die Kosten zu hoch sind. Herr Rösler, in einem Vermerk aus Ihrem Ministerium steht zu den vorgeschlagenen Änderungen von Herrn Altmaier: Das bedeutet den faktischen Ausbaustopp für Neuanlagen. - Damit hat Ihr Ministerium recht. Anstatt das abzumildern, weil Sie eigentlich erneuerbare Energien fördern müssten, legen Sie noch einen drauf, machen noch mehr Ausbaustopp und sagen, dass das ein Weg ist, mit dem Sie einverstanden sind. Herr Fuchs hat sich vorhin versprochen. Es ist nett, dass Sie hin und wieder ehrlich sind, Herr Fuchs. Sie haben sich gegen eine Verspargelung der Landschaft ausgesprochen. Das ist aber genau die Wirkung der Vorschläge, die hier gemacht worden sind. Bei der Windkraft sollen 40 Millionen Euro eingespart werden. Das sind gerade einmal 3 Cent pro Monat für einen Drei- bis Vierpersonenhaushalt. Wegen 40 Millionen Euro im Jahr wollen Altmaier und Rösler die Windkraft im Süden stoppen. Damit gefährdet diese Regierung massiv Arbeitsplätze im Süden. Das ist nicht in Ordnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das nächste Opfer sind die Windkraftanlagen auf dem Meer. Diese geplanten Windkraftanlagen werden nicht gebaut werden. EnBW beispielsweise hat klar gesagt, die geplanten Windkraftprojekte im Meer nicht umzusetzen. Zunächst einmal haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz die Photovoltaikindustrie kaputtgemacht. Jetzt versuchen Sie auch noch, die Windkraftindustrie kaputtzumachen. Herr Rösler, das ist ein schlechtes Zeugnis für einen Wirtschaftsminister. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie die Windkraft kaputtmachen, zerstören Sie Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen. Das wissen Sie sehr genau. Daher lassen Sie endlich von der Politik ab, Arbeitsplätze in diesem Land zu vernichten! Das ist nicht die Aufgabe des Wirtschaftsministers. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was habt ihr denn gemacht? Überall Arbeitsplätze vernichtet!) Sie feiern einen Bundesnetzplan. Dann verhindern Sie, dass Windparks, die an diese Netze angeschlossen werden sollen, gebaut werden können. Das heißt, es werden Netze ins Nirgendwo gebaut, und am Ende zahlen wieder die Verbraucherinnen und Verbraucher die Zeche. So geht es nicht. Der nächste Punkt betrifft die Energieeffizienz. Diese Bundesregierung ist der größte Blockierer, was Energieeffizienz angeht. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein! Frau Kraft!) Nie zuvor sind die Ziele der EU so blockiert worden, wie es diese Bundesregierung macht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben die Einführung von Energiemanagementsystemen verhindert. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass die wenigen Gelder, die wir noch im Energie- und Klimafonds haben - 90 Millionen Euro -, nicht in den Bereich Energieeffizienz abfließen, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Am Ende sagen Sie: Okay, wir reißen das Ziel der EU, bis 2020 20 Prozent Energie einzusparen. Wir machen es wie beim Reichtums- und Armutsbericht und schönen die Zahlen; dann wird das Ganze schon hinkommen. - Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie die Realität schönen, sondern werden Sie für diese Realität verantwortlich machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der nächste Punkt ist der Klimaschutz. Da ist es wirklich so, dass diese Bundesregierung an einem Strick zieht, aber jeder an einem anderen Ende. Da kommt nichts voran. Die Folge dessen ist, dass der CO2-Ausstoß in Deutschland 2012 - nicht 2011, als die Atomkraftwerke abgeschaltet worden sind - wegen des wenig ambitionierten Klimaschutzes erstmals wieder gestiegen ist. Jetzt laufen Kohlekraftwerke, und die modernsten Gaskraftwerke liegen still. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die Folge der erneuerbaren Energien!) Das ist eine Fehlpolitik Ihrer Regierung. Sie haben zu verantworten, dass im Klimaschutz nichts mehr passiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie bremsen den Ausbau der erneuerbaren Energien. Sie blockieren die Steigerung der Energieeffizienz. Sie betreiben beim Klimaschutz eine Totalverweigerung. Sie entlasten die Industrie und schieben damit den Verbrauchern die Kosten zu. Es gibt einen Satz - wir konnten ihn vor kurzem hören -, der Ihre Politik insgesamt beschreibt. Der Kollege Brüderle hat auf dem Parteitag gesagt - das passt, wie ich finde, genau auf die Politik dieser Bundesregierung und der FDP -: "Wir lassen nicht diese Fuzzis ... unser Land regieren." Genau richtig: Diese Fuzzis, die die Energiewende vergeigen, lassen wir dieses Land nicht regieren, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Höhn. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir ändern das. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich habe mir gerade überlegt, was denn draußen in der geschätzten Öffentlichkeit gedacht wird, wenn wir uns hier gegenseitig die Schuld zuweisen. Ich bin auch dafür bekannt, dass ich mich ganz gern in die eine oder andere politische Rauferei einmische und dies auch mit großer Freude und Leidenschaft tue. Aber das, was wir hier tun, nämlich weit weg von Lösungen zu diskutieren, ist etwas, das draußen sicher irritiert. Wenn es dann irgendwann abstrus wird, dann wird es, glaube ich, noch schlimmer. Frau Höhn, Sie sprechen hier von "Arbeitsplatzvernichtung". (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Ich will betonen: Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten wir 5,5 Millionen Arbeitslose, jetzt annähernd die Hälfte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Man muss doch einmal sagen, wie da die Welt aussieht. Man kann uns viel vorhalten. Aber uns und dem Wirtschaftsminister vorzuhalten, wir würden "Arbeitsplatzvernichtung" betreiben, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, tun Sie! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch!) verkennt doch die Tatsachen und ist so weit weg von der Realität, dass einem gar nichts einfällt, was man dazu sagen soll. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren, dass wir bei allem Wahlkampfgeplänkel einfach mal feststellen - das ist das Einfachste -: Dieses Projekt ist nicht trivial; es ist ein schwieriges Projekt, wenn man so will, ein Generationenprojekt. Ein Beispiel, das Sie gebracht haben, eignet sich ganz gut, um dies aufzuzeigen: die Offshoreanbindung. Sie machen es sich leicht und sagen: Ihr habt da um die Frage der Haftung und was auch immer gerungen. Sie sagen weiter, angeblich sei es schiefgegangen - ich bestreite das -, und jetzt müsse man teuer dafür zahlen, dass es einen Verzug bei der Anbindung der Offshoreparks gibt. Die Realität sieht momentan aber ganz anders aus. Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie mit den Akteuren! Aktuell gibt es folgende Situation: Wir bauen Leitungen, aber die anderen Akteure kommen ihrem Versprechen, Windräder aufzustellen, nicht nach, weil sie nicht über die entsprechenden Kapazitäten verfügen. Wir werden also in Zukunft Plattformen im Meer haben, aber keine Windräder darauf. Ich sage das deshalb, meine Damen und Herren, weil ich zeigen will, dass die Realität viel komplizierter ist als die einfache, platte Diskussion, die wir leider Gottes hier im Deutschen Bundestag führen. Ich weise auch darauf hin, dass wir immer gesagt haben: Das Ganze wird nicht nur kompliziert, sondern auch teuer. - Ich gebe für meinen Teil offen zu, dass ich damals für die Laufzeitverlängerung war, weil ich der festen Überzeugung war: Wir brauchen die Laufzeitverlängerung, weil wir Zeit und Geld für den Ausbau der erneuerbaren Energien benötigen. Nun hat Fukushima die Sachlage geändert. Man war dann an dem Punkt, dass man demokratisch entscheiden musste: Wir schlagen einen anderen Weg ein. - Das war eine demokratische Entscheidung. Die hat aber doch an unserer Motivation, uns mit dem Kostenthema zu beschäftigen, nichts geändert. Mir tut es heute noch in der Seele weh, dass man sich hier teilweise als Atomkraftlobbyist beschimpfen lassen musste. Das ärgert mich, das sage ich Ihnen ganz offen. Uns ist es immer um die Wirtschaft gegangen, also um die Frage: Wie finanzieren wir denn das Ganze? Natürlich fallen auch mir massenweise Vorwürfe ein. Ich könnte sagen: Sie - die Grünen als Erste - haben so getan, als ginge das alles zum Nulltarif. Ich nehme an, dass viele von Ihnen alte Club-of-Rome-Vorhersagen im Kopf hatten, die besagten, dass die fossilen Brennstoffe einmal so teuer würden, dass die erneuerbaren Energien wettbewerbsfähig sind. Ich könnte auch sagen: Sie haben den Sprengsatz an das EEG dadurch gelegt, dass Sie mit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den Markt gegangen sind, was jetzt riesige Kosten verursacht, die wir als Rucksack mit uns herumschleppen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Rolf Hempelmann [SPD]: In Ihrer Zeit sind die Mengen an Photovoltaikenergie explodiert!) Aber das ist Schnee von gestern. Wir müssen uns doch jetzt damit beschäftigen, wie die ganze Geschichte weitergehen kann. Ich sage Ihnen auch: Man kann inhaltlich zu der Strompreisbremse von Peter Altmaier und Herrn Rösler stehen, wie man will. (Rolf Hempelmann [SPD]: Das war jetzt eine harte Kritik!) Aber zumindest sind doch auf Ihrer Seite ein paar Kollegen aufgewacht. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Aussage?) Die SPD hat plötzlich gemerkt: Es geht um ein soziales Problem. Herr Gabriel hat zu meiner großen Überraschung und Freude jetzt angesprochen, dass es auch um ein industriepolitisches Problem geht. Klar! Aber, Herr Gabriel, Sie haben es zugelassen, dass der Herr Trittin durch die Lande zieht und sagt - teilweise mit verlogenen Argumenten -, wir hätten da ungerechtfertigte Befreiungen ausgesprochen und würden die Industrie begünstigen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie doch! - Sigmar Gabriel [SPD]: Das sage auch ich!) Ich bitte Sie dringend, dieses industriepolitische Thema auch einmal bei den Grünen zu verankern. (Sigmar Gabriel [SPD]: Hähnchenmastanlagen sind keine Industrie! - Susanne -Kieckbusch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Arbeitsplätze und Mittelstand!) Sie haben heute hier eine Lösung angeboten: die Mehrwertsteuer auf die EEG-Umlage abzuschaffen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein!) - So habe ich es verstanden. Sie haben gesagt: Reden wir an der Stelle über die Mehrwertsteuer. (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein!) - Doch. (Rolf Hempelmann [SPD]: Zuhören!) Sie haben an der Stelle klipp und klar von der Mehrwertsteuer gesprochen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Lesen Sie es einfach einmal nach!) Das ist ein Punkt, bei dem ich mich frage, wie die Länder darauf reagieren werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie kassieren nämlich knapp die Hälfte der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Auch wenn man sie, was noch europapolitisch ginge, auf einen niedrigeren Satz reduzieren würde, weiß ich doch, was die Länder am Schluss von dem halten, was Sie hier predigen - das ist doch bei der Stromsteuer dieselbe Thematik -: nämlich gar nichts. Der Kollege Fuchs hat deutlich darauf hingewiesen, wie groß die Freude und Spendabilität auf Ihrer Seite war, als es darum ging, bei der Energieeffizienz Steuervorteile bzw. Steueranreize zu schaffen. Da war bei Ihnen nichts zu holen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Wir wollten uns doch keine gegenseitigen Vorwürfe machen!) Ich sage es Ihnen ganz offen: Das wird bei diesem Thema wohl genauso sein. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich will jetzt nicht über die Strompreisbremse sprechen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie es doch! - Rolf Hempelmann [SPD]: Das wäre zu peinlich!) weil wir hier ja über Infrastruktur reden. Das ist nämlich das, was jetzt auf der Tagesordnung steht. Ich will Ihnen aber auch sagen: Wir vonseiten der CSU werden natürlich dafür sorgen, dass es keine Eingriffe in Bestands-anlagen geben wird, weil wir bei diesem Thema Verlässlichkeit brauchen. So viel kann man an der Stelle sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Bravo!) Aber es ist ja ein Verhandlungsangebot des Ministers gewesen, und über das muss man natürlich reden und diskutieren. Das parlamentarische Verfahren ist so, wie es ist. Nun war Bayern hier mehrfach Thema, und ein CSU-Abgeordneter vertritt natürlich zuallererst seine Heimat, also Bayern. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Man kann natürlich sagen, dass es in Bayern immer einen gewissen Separatismus gibt. Das mag man vielleicht so sehen wollen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Das ist in Ordnung!) - Herr Gabriel, da fallen mir genügend Gründe ein, zum Beispiel dass es den Bayern langsam stinkt, wenn sie den Rest der Republik finanzieren müssen. (Zurufe von der SPD: Oh!) Aber dass man uns dann noch gewissermaßen juvenile Autarkiefantasien unterstellt, das halte ich schon für eigentümlich. (Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist ein Zitat von Herrn Seehofer!) Was hat denn der bayerische Ministerpräsident gesagt? Er hat gesagt: Wir brauchen natürlich Wertschöpfung im Land: im Bereich der erneuerbaren Energien, aber natürlich auch im Bereich der Gaskraftanlagen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Bravo!) Das brauchen wir: Wertschöpfung im Land. Ich bitte, zumindest wenn es um die erneuerbaren Energien geht, diejenigen, die etwas davon verstehen, anzuerkennen, dass wir einen gewissen regionalen Ausgleich brauchen. Es macht doch keinen Sinn, im Norden die Stromproduktion zu konzentrieren und uns dann mühsam zu überlegen, wie man den Strom dorthin bringt, wo er gebraucht wird, nämlich im Süden. Das ist doch nicht das eigentliche Anliegen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Ich für meinen Teil weiß aufgrund der Historie, dass Bayern diesen wirtschaftlichen Aufstieg einer Entscheidung in den 1960er- und 1970er-Jahren verdankt. (Sigmar Gabriel [SPD]: Dem Länderfinanzausgleich!) - Dem Länderfinanzausgleich auch. Aber das, was wir mal bekommen haben, zahlen wir jetzt zurück, und zwar komplett, in einem Jahr. (Sigmar Gabriel [SPD]: Ist doch in Ordnung! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Täter-Opfer-Ausgleich!) Das Ganze ist der Tatsache geschuldet, dass kluge Politik entschieden hat - übrigens hat dies auch die SPD entschieden -, dass wir im Süden eine eigene Energieversorgung brauchen. Nun kann man darüber diskutieren, ob es damals richtig war, auf die Kernenergie zu setzen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Die Diskussion haben wir, glaube ich, abgeschlossen!) Das ist Schnee von gestern. Jetzt aber müssen wir Überlegungen zur Wertschöpfung vor Ort, also im Süden, anstellen und darüber, wie es uns gelingt, über die Netze den Strom von Norden nach Süden zu transportieren. Das ist doch eine zentrale Fragestellung. Sie zu behandeln, haben wir wenig Zeit; schließlich werden Grafenrheinfeld 2015 und Gundremmingen Block B 2017 abgeschaltet. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie im Süden Windkraftanlagen bauen und diese nicht blockieren!) Wissen Sie, was das letztendlich bedeutet? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber zulassen? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja, gern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Nüßlein ist doch unterkomplex!) Ulrich Kelber (SPD): Wir reden ja über Versorgungssicherheit. Gerade in dem Augenblick, als ich mich zu meiner Zwischenfrage meldete, haben Sie Grafenrheinfeld erwähnt. Gestern bekamen wir aus Sachsen-Anhalt und Thüringen die Meldung, dass dort in 2012 die im Hinblick auf die Abschaltung von Grafenrheinfeld notwendige Verstärkung der Netze abgeschlossen wurde. Können Sie mir die Frage beantworten, warum man bei diesem in mehreren Bundesländern gleichzeitig begonnenen Projekt in zwei Bundesländern bereits fertig ist, während in Bayern seitens der Bayerischen Staatsregierung noch nicht einmal das Genehmigungsverfahren gestartet wurde? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich kann Ihnen an dieser Stelle keine Fragen für die Bayerische Staatsregierung beantworten; das wissen Sie genau. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch aus Bayern! Haben Sie doch gerade gesagt! - Rolf Hempelmann [SPD]: Das interessiert Sie auch nicht richtig!) Aber Sie können sich, was den Freistaat angeht, darauf verlassen, dass hier von den richtigen Leuten die bayerischen Interessen so vertreten werden, dass dieses Problem gelöst sein wird, bis wir den Strom aus dem Norden brauchen. An uns wird das sicher nicht scheitern. Sie wissen sehr genau - da wird es kein Problem geben -, dass wir in Bayern die Durchsetzungskraft haben, die Ihnen in anderen Ländern in großem Maße fehlt. Ich kann mit Blick auf meine Redezeit leider nicht mehr all das aufzählen, was für den Netzausbau gemacht wurde. (Ulrich Kelber [SPD]: Das haben wir gerade gemerkt!) - Ich muss es Ihnen auch nicht vorlesen, weil Sie es ja wissen. Sie bestreiten vorsätzlich, es zu wissen. Sie tun so, als ob wir da in Verzug wären, weil es Ihnen um Wahlkampferfolge geht. (Rolf Hempelmann [SPD]: Das sehen nicht nur wir so! Das stellen alle fest!) Dem Thema wird das nicht gerecht. Eigentlich müssten Sie anerkennen, dass wir im Plan sind, dass wir Bauzeiten beschleunigen, dass wir Pläne vorantreiben und Abstimmungen vornehmen. Das Ganze geht letztendlich voran. Eigentlich müssten Sie Respekt vor dieser Bundesregierung haben. Diesen Respekt werden Ihnen demnächst die Wähler wieder einflößen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eine peinliche Rede!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Rolf Hempelmann hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rolf Hempelmann (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist schon länger klar, dass in dieser Kernzeit ein energiepolitisches Thema, von der Opposition aufgesetzt, diskutiert werden soll. Vor einigen Tagen erreichte uns die Nachricht, dass der Wirtschaftsminister eine Regierungserklärung dazu abgeben will. Ich habe das erst gar nicht glauben wollen und habe gedacht: Mensch, hat er jetzt, nachdem der niedersächsische CDU-Wähler ihm praktisch die Wiederwahl als FDP-Vorsitzender gesichert hat, die Kraft gewonnen, hier ein umfassendes Geständnis abzulegen? (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt! Regierungsgeständnis! - Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie sind ein richtiger Scherzkeks!) Es wäre ja an der Zeit, und er würde so eine Basis dafür schaffen, dass es dann wirklich vorangehen kann. Aber nein, er war wie immer: Vollmundig hat er behauptet, dass a) alles das, was zurzeit tatsächlich falsch läuft, natürlich in der Verantwortung der Opposition liege und dass b) ansonsten die Regierung voll auf Kurs und äußerst erfolgreich sei. Lieber Herr Rösler, vielleicht sollten Sie doch wenigstens einmal versuchen, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Ich war in der letzten Woche in Brüssel. An dem Tag, als ich in Brüssel war, erklärte das OLG Düsseldorf Ihre Netzentgeltverordnung für verfassungswidrig. Mit dieser Netzentgeltverordnung entlasten Sie nach Auffassung des Gerichtes einen Kreis von Unternehmen, der diese Entlastung nicht verdient. Das OLG hat nicht grundsätzlich Entlastungen kritisiert, sondern die Art und Weise, wie Sie damit umgehen. Am gleichen Tag hat in Brüssel die Europäische Kommission ein Verfahren gegen diese Netzentgeltverordnung aus den gleichen Gründen eröffnet. Sie können doch niemandem vormachen, dass Sie eine erfolgreiche Politik für die deutsche Industrie machen, wenn Sie mit Ihren Konzepten gegen die Wand laufen. Sie laufen damit im Übrigen auch Gefahr, dass Sie dann, wenn das Hauptverfahren in der Sache offiziell eröffnet wird, überhaupt keine Entlastungen mehr vornehmen dürfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Also, Herr Minister, ein bisschen mehr Selbstkritik ist angesagt. Ihr Haus arbeitet übrigens schon an einer Novelle dieser Netzentgeltverordnung. Wenn diese in eine Richtung geht, die von Düsseldorf und Brüssel eingefordert worden ist, dann werden wir einer Lösung nicht im Wege stehen, um zu verhindern, dass gerade die Unternehmen, die zu Recht Entlastungen bekommen sollen, nicht in die Verlegenheit kommen, ganz auf diese Entlastungen verzichten zu müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder betonen Sie und betont auch dieser Minister, Sie würden anpacken, Sie würden machen - im Gegensatz zu denen, die vor Ihnen regierten. Die Institute sagen etwas anderes. McKinsey stellt fest: Wenn die Energiepolitik dieser Bundesregierung so weitergeht, dann werden die Ziele für 2020 beim Netzausbau, bei der Offshorewindenergie, aber auch bei der Verringerung des Stromverbrauchs nicht erreicht. - Das ist das Zeugnis eines unabhängigen und renommierten Institutes. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Auch andere Stimmen sind hier schon zitiert worden. Herr Oettinger, den wir letzte Woche besucht haben, sagt: Es gibt zu keinem wichtigen energiepolitischen Thema eine abgestimmte Position dieser Bundesregierung. Es gibt immer mindestens zwei Positionen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Recht hat er! - Sigmar Gabriel [SPD]: Mindestens!) Damit kann aber weder er in Brüssel umgehen noch kann Deutschland in irgendeiner Art und Weise auf Brüsseler Entscheidungen Einfluss nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie nicht unseren Forderungen folgen, die da lauten: Wir brauchen endlich eine Stimme. Wir brauchen endlich ein Energieministerium, zumindest aber jemanden, der den Hut auf hat - möglicherweise im Kanzleramt - und dafür sorgt, dass Deutschland in Fragen der Energiepolitik in Brüssel mit einer Stimme vertreten ist. Dieser muss auch dafür sorgen, dass das, was Sie gerade gefordert haben, gemacht wird, nämlich dass zwischen den Ressorts, aber auch zwischen Bund und Ländern koordiniert wird. Sie machen einfach einen Gipfel und meinen, die Sache sei damit erledigt. Dann sagen Sie hier vollmundig, es kann nicht sein, dass 17 energiepolitische Konzepte nebeneinander laufen. Verflixt noch einmal, dann machen Sie Ihren Job! Koordinieren Sie, und sorgen Sie dafür, dass es ein gemeinsames Konzept zwischen Bund und Ländern gibt! Bisher gibt es überhaupt kein Energiekonzept. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bisher gibt es nur Ihr Konzept aus dem Jahr 2010. Das ist aber ein Laufzeitverlängerungskonzept. Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in unserer Regierungszeit den Netzausbau nicht vorangebracht, dann sage ich Ihnen: Die großen Konzerne RWE und Eon sind mittlerweile weiter als Sie. Diese haben begriffen, dass sie im Jahr 2000 einen Fehler gemacht haben, als sie die Wurst - Laufzeitverlängerung -, die Sie ihnen hingehalten haben, ergriffen haben, obwohl sie vorher Verträge unterschrieben hatten und obwohl wir ein Gesetz zum Atomausstieg und zum Ausbau der erneuerbaren Energien gemacht hatten. Diese Unternehmen wissen heute, dass Ihr Angebot und die Tatsache, dass sie auf Ihr Angebot eingegangen sind, dafür gesorgt haben, dass wir zehn Jahre verloren haben. Zehn Jahre gab es keinen Systemumbau, weil die Akteure, die die Atomkraftwerke betrieben, damals auch die Netze betrieben. Die Netze waren aber die Schlüsselstelle. Der Netzausbau wurde von ihnen nicht vorangetrieben, der Speicherausbau wurde nicht vorangetrieben und auch nicht die Flexibilisierung der Nachfrage. Das wäre geschehen, wenn sie das gemacht hätten, was sie von der Politik sonst immer fordern, nämlich Rahmenbedingungen, die einmal von einer Bundesregierung mit Einverständnis der Wirtschaft gesetzt worden sind, anzuerkennen und beizubehalten. Die Wirtschaft hat begriffen: Sie haben gegen Ihre eigenen Prinzipien verstoßen, als Sie damals Ihren Vertrag aufgekündigt und sozusagen Volatilität in der Politik eingefordert hatten. Die hat das begriffen, Sie hingegen immer noch nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben es nicht begriffen und versuchen heute, denen einen Vorwurf zu machen, die schon damals die richtige Politik gemacht haben: Atomausstieg und Ausbau der Erneuerbaren. Selbstverständlich war uns klar, dass wir dann auch den Umbau des gesamten Systems durchführen müssen. Das haben Sie damals verhindert, und Sie verhindern das durch Ihre Untätigkeit auch jetzt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Rolf Hempelmann (SPD): Ihr Vorwurf uns gegenüber ist durchschaubar. Die Menschen lesen Zeitung. Sie wissen, wer alles gegen Sie klagt. Sie wissen, welche Entschädigungszahlungen Sie verursachen. Sie wissen, wie sehr Sie den Strom in Deutschland mit Ihrer Politik verteuern. Sie wissen, dass wir eine neuere, eine bessere Energiepolitik brauchen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Horst Meierhofer (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt heben Sie das bayerische Niveau!) Selbstverständlich sollten wir ein gemeinsames Ziel haben. Philipp Rösler hat eingangs darauf hingewiesen - seitdem leider fast keiner mehr -, wie wichtig das Thema bezahlbare, umweltverträgliche und vor allem sichere Energieversorgung ist. Um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, benötigen wir logischerweise den Netzausbau. Frau Höhn, uns ist es in den letzten Jahren gelungen, einen Anteil erneuerbarer Energien von über 25 Prozent in den Markt zu integrieren. Zu Ihrer Zeit wurden pro Jahr 800 Megawatt durch Photovoltaik erzeugt; in den letzten drei Jahren, in denen wir die Verantwortung getragen haben, gab es Anlagen, die jeweils 7 000 bis 7 500 Megawatt erzeugen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie für die Kosten auch verantwortlich, Herr Meierhofer!) Daran erkennt man, wie weit bei Ihnen Wunsch und Wirklichkeit auseinanderdriften und wie wenig Sie während der Zeit, als Sie Verantwortung getragen haben, für den Ausbau der Erneuerbaren getan haben. (Beifall bei der FDP) Jetzt beschweren Sie sich darüber, dass bei uns zu wenig passiert. Daran sieht man schon, wie absurd das Ganze ist. Es ist eine Tatsache, dass das gemeinsame Ziel, Atomkraftwerke abzuschalten, auch zu einer Umstellung des Netzausbaus führt. Das sollte auch Ihnen klar sein. Das ist keine neue Nachricht. Sie haben schon einmal einen Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen. Nur, leider haben Sie im Gleichzug nichts für den weiteren Ausbau der Netze getan. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren tragen die Grünen keine Verantwortung! Das ist eine lange Zeit!) Sie haben sich von Interessengruppen und Bürgerinitiativen feiern lassen. Jetzt lässt sich der Kollege Gabriel von der Bürgerinitiative gegen die 380-kV-Leitung im Werra-Meißner-Kreis feiern. (Sigmar Gabriel [SPD]: Deswegen brauchen wir die Erdkabel!) Auch der Kollege Trittin ist auf der Homepage dieser Bürgerinitiative zu sehen. Sie präsentieren sich als stolze Brüder, als Unterstützer der tollen Forderung, an neuralgischen Stellen keine Freileitungen zu verlegen. Auch daran sieht man, dass Anspruch und Wirklichkeit extrem auseinanderdriften. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass sich gerade die beiden Exumweltminister dafür hergeben, ist höchst beschämend. Das ist das Allerletzte. (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Wir haben in den Jahren 2000, 2002, 2005 wie auch im Jahr 2013 die gleichen Ziele gehabt, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die gleichen Ziele gehabt? - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Sie wollten die Atomkraft verlängern! Das ist doch völlig gaga hier! Herr Meierhofer! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zickzack!) und Sie beschweren sich darüber, dass in den letzten drei Jahren nichts passiert ist. Ich erkläre Ihnen jetzt einmal, was in den letzten drei Jahren passiert ist. Schauen Sie sich einfach mal an, was im Monitoringbericht der Bundesnetzagentur steht. Sie werden feststellen, dass zum einen mehr gebaut worden ist, als Herr Gabriel behauptet hat. Wahrscheinlich hatte er alte Zahlen.15 Prozent haben wir mittlerweile und nicht mehr 12 Prozent. (Sigmar Gabriel [SPD]: Donnerwetter!) Zum anderen haben wir bei der Thüringer Strombrücke riesige Schwierigkeiten. Das ist das größte Problem. Wir haben gerade darüber geredet. Herr Kelber hat leider etwas Falsches gesagt. Auf Thüringer Seite sind 27 Kilometer nicht fertiggestellt. Sie können das im EnLAG-Bericht nachlesen. Es ist nicht so, dass es an Bayern liegt, sondern es liegt an Thüringen, Herr Kelber. Man baut von Norden nach Süden. Da im Norden noch 27 Kilometer fehlen, kann bei uns am Anschluss an Marktredwitz nicht weitergebaut werden. Sie schustern Sachverhalte zusammen, die nicht zusammengehören. (Ulrich Kelber [SPD]: Herr Meierhofer, Sie reden über ein anderes Projekt! Das ist unseriös, was Sie gerade machen!) Auf der eben beschriebenen Stromtrasse hatten wir es im letzten Jahr in 790 Stunden mit einer angespannten Netzsituation zu tun. Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus, daran etwas zu ändern? In Mecklenburg-Vorpommern Richtung Polen gab es 280 Stunden Netzanspannungen, wo in der Vergangenheit alles relativ problemlos abgelaufen ist. Durch die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien, vor allem aus Windenergie, entsteht ein extremes Problem, das wir in der Vergangenheit leider nicht gelöst haben. Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen. 2005 - damals war noch Rot-Grün an der Regierung, Gott sei Dank ist das lange her - (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie seit acht Jahren verantwortlich!) richtete die FDP eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Wir haben gefragt, wie das mit dem Netzausbau weitergehen soll. Ich lese Ihnen die Antwort vor, die - das kann man sagen - wenigstens ehrlich war: Die Bundesregierung besitzt keine eigenen Kompetenzen, um Einfluss auf die geplanten konkreten Netzausbauvorhaben zu nehmen. Das war Ihre Wahrheit. Sie haben gesagt: Wir haben keinen Einfluss, wir als Bundesregierung können nichts tun. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das sagt Ihre Bundesregierung heute!) Das ist zwar erfrischend ehrlich, aber es zeigt natürlich Ihre völlige Unfähigkeit. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das sagt Herr Rösler bis heute! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ganzen Jahre waren die Länder schwarz-gelb!) Das zeigt, dass Sie nichts dafür getan haben, damit die Kompetenzen an den Bund herangeführt werden. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo waren denn die Länder? Schwarz-Gelb war doch dran in der Zeit!) Das ist im Jahr 2009 das erste Mal passiert. Die Minister haben sich mit den Ländern zusammengesetzt, um durch das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz, durch das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, und jetzt durch die Bedarfsplanung den Netzausbau zu beschleunigen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Die Sprechbeschleunigung ist schon bewundernswert! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren gibt es CSU- und FDP-Wirtschaftsminister! Seit acht Jahren!) Nichts dergleichen gab es zu Ihrer Zeit. Trotzdem tun Sie so, als wären Sie elf Jahre lang aktiv gewesen. Das gilt vor allem für die SPD, die auch in der Zeit der Großen Koalition in allen Bereichen, in denen es hätte vorwärtsgehen können, blockiert hat. Nichts haben Sie in der Vergangenheit gemacht. Jetzt dürfen wir die Scherben wegräumen, die Sie über eine verdammt lange Zeit produziert und uns hinterlassen haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren räumen Sie Scherben auf?) Und jetzt dieser Katzenjammer! Es ist wirklich in höchstem Maße lächerlich, wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie einen ernsthaften Beitrag geleistet. Nicht die Spur davon! Ich habe es ja gesagt: Wir haben das EnLAG im Jahr 2009, das NABEG im Jahr 2011 und das Energiewirtschaftsgesetz, EnWG, im Jahr 2011 verabschiedet, und jetzt legen wir den Entwurf eines Bedarfsplanungsgesetzes vor. Und Sie sagen, wir machen nichts? Was haben Sie denn an Gesetzen vorzuweisen? Wie ist es mit dem Thema Geschwindigkeit? Erst jetzt können wir schneller vorgehen und definieren, welche Strecken die wichtigsten sind. Nicht einmal dazu waren Sie in der Vergangenheit in der Lage. Jetzt aber fordern Sie - das ist Ihr großer Wunsch - eine Netz AG. Sie haben nicht für Beschleunigung gesorgt, verlangen von uns aber, eine Netz AG einzurichten, (Rolf Hempelmann [SPD]: Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag!) und das in einer Zeit, in der wir versuchen müssen, den Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft durch Strombrücken und Stromtrassen wie die eben genannte Thüringer Strombrücke zu erreichen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat es denn versaubeutelt? Sie!) Für all das haben Sie keine Vorlage geliefert. Jetzt fordern Sie aber auch noch eine Netz AG. In der Theorie ist das eine ganz schöne Idee - das haben wir auch gefordert -, aber jetzt geht es darum, dass wir möglichst schnell Netze bauen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal der CSU!) Wir können jetzt doch nicht über eine Netz AG debattieren. Sobald irgendwo in Deutschland eine Freilandleitung verlegt werden soll, fordern Sie, verehrter Herr Gabriel, überall in Deutschland unterirdische Kabel zu verlegen, obwohl man weiß, dass die Prozesse dann deutlich länger dauern, obwohl man weiß, dass das deutlich teurer ist, und obwohl man weiß, dass die Forschung dazu noch gar nicht abgeschlossen ist. In so einer Zeit - das Kraftwerk Grafenrheinfeld wird abgeschaltet; der Kollege Nüßlein hat es gesagt - kann ich das nicht fordern, sondern muss schnell sein. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nicht schnell! In acht Jahren 300 Kilometer! Echt schnell!) Es ist absurd, nichts dergleichen zu tun. Jetzt komme ich zu einer aus meiner Sicht besonders schönen Geschichte. Es geht um die Antwort auf eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2005, die ich anspreche, weil die Grünen hier besonders viel in Bezug auf die Forschung fordern. Die Bundesregierung sagte: Aus diesen Gesprächen - mit Wirtschaft und Wissenschaft - hat sich kein spezifischer Förderbedarf bei der Forschung und Entwicklung von Elektroenergieübertragungsanlagen ergeben. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005! Acht Jahre!) Wundert es Sie, dass wir jetzt noch nicht so weit sind, wie wir gerne wären? Wundert es Sie, dass wir nach elf Jahren Stillstand noch nicht so weit sind, wie wir es gerne wären? Merken Sie, dass der Knoten geplatzt ist, seitdem Sie keine Verantwortung mehr tragen und nur noch ein bisschen daherschwafeln? (Beifall bei der FDP) Ich glaube, jeder andere Mensch sollte das erkennen können. Herr Krischer, Sie fordern HGÜ-Leitungen, obwohl Sie selbst nichts dafür getan haben. Darüber muss ich mich wirklich amüsieren. Zum Abschluss habe ich noch ein nettes, kleines Bonmot aus dem Jahr 2008 vom geschätzten Kollegen Gabriel. Ich zitiere: Bis vor kurzem unterstützte auch Umweltminister Gabriel den Regierungskurs, 850 Kilometer Freileitungen zu errichten und dies durch ein neues Gesetz zu beschleunigen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Ja!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Horst Meierhofer (FDP): Ich bin gleich fertig. Doch zur Überraschung von Glos - damals Wirtschaftsminister - hat der SPD-Politiker den bisherigen Konsens nun aufgekündigt. Zitat Gabriel: "Ich halte es nicht für realistisch, dass wir im bisher vorgesehenen Umfang 850 km Freileitungen neu bauen", (Sigmar Gabriel [SPD]: Deswegen brauchen wir Erdkabel, Herr Kollege!) schreibt Gabriel in einem Thesenpapier ... Mit solchen Aussagen kann man natürlich bei Bürgerinitiativen landen. Dass Sie die Energiewende nicht können, ist durch Ihre Aussagen wirklich bewiesen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Kelber. Ulrich Kelber (SPD): Herr Kollege Meierhofer, Sie haben an zwei Stellen auf uns Bezug genommen, zum einen beim Thema Netz AG und zum anderen beim Thema Thüringen. Zur Netz AG habe ich den Vorschlag: Lesen Sie sich unseren Antrag dazu einmal durch, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Sie schauen zum Beispiel tatenlos zu, dass einer der Übertragungsnetzbetreiber zu dem wichtigen Streckenbau seit über drei Jahren erklärt, dass er für diese Aufgaben keine ausreichenden finanziellen Kapazitäten hat. Es ist, glaube ich, keine gute Lösung, auf Vorschläge, wie man das ändern kann, nur zu sagen: Wir machen lieber so weiter wie bisher. Beim Thema Thüringen haben Sie, um es nett zu sagen, zwei Projekte miteinander verwechselt. Es gibt einmal die sogenannte Thüringer Strombrücke, eine neue 380-kV-Leitung, und dann gibt es noch das Projekt, durch Neubeseilung mit Hochtemperaturseilen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern stärker miteinander zu verbinden. Dieses Projekt ist von den beiden Übertragungsnetzbetreibern 50 Hertz und TenneT gleichzeitig beantragt worden. 50 Hertz hat diese Woche als Beispiel dafür, dass sie vorankommen, mitgeteilt - das hätten Sie lesen können -, dass sie ihren Teil in 2012 fertiggestellt haben. Das heißt also: Sachsen-Anhalt: beantragt, genehmigt und gebaut; Thüringen: beantragt, genehmigt und gebaut; Bayern: beantragt, aber noch nicht einmal entschieden, welche Behörde am Ende für die Genehmigung zuständig ist. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!) Das ist der entscheidende Unterschied. Ich glaube, der Wirtschaftsminister in Bayern stammt aus Ihrer Partei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Meierhofer zur Beantwortung, bitte. Horst Meierhofer (FDP): Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Zum Ersten: Herr Kelber, Sie selbst haben darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, zu einem Konsens zwischen den Netzbetreibern - das sind 50 Hertz, Amprion und TenneT - zu kommen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Immer sind die anderen schuld!) Wenn ich in dieser Phase dafür sorge, dass sich die drei erst einmal in einer Netz AG verschmelzen bzw. dass sie zusammengeführt werden, dann wäre das in einer Zeit, die keine Veränderungen bringt, wünschenswert. Schon vorhin habe ich gesagt, dass auch die FDP sich das wünscht. Wir müssen jetzt aber vorwärtskommen. Da hilft uns das Gefasel aus Oppositionskreisen darüber, was alles wünschenswert wäre, nichts, sondern jetzt muss gebaut werden. Dazu bringt Ihre Idee leider überhaupt nichts. (Beifall bei der FDP) Deswegen ist das realitätsfremd. Weiter ist es - "verlogen" ist wahrscheinlich unparlamentarisch - zumindest nicht aufrichtig, wenn man betont, dass man es tut. Mein lieber Herr Kelber, zweitens ist es nicht besonders aufrichtig, während der Rede von Herrn Nüßlein den Eindruck zu erwecken, (Ulrich Kelber [SPD]: Ich habe von Sachsen-Anhalt gesprochen! - Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) die Strombrücke würde deswegen nicht funktionieren, weil in Bayern nicht genehmigt wird. Ich freue mich über HGÜ-Leitungen, Herr Heil. Die Thüringer Strombrücke ist unser Problem bzw. ein Engpass. Sie muss bis zum Jahr 2015 fertig sein, weil ansonsten Bayern - wenn durch die Abschaltung von Grafenrheinfeld 2 Gigawatt vom Netz gehen - nicht erreicht werden kann. Genau darum geht es im Moment. Die Thüringer Strombrücke ist aber nicht fertig; da können Sie über Forschungsprojekte, die parallel dazu laufen, reden, wie Sie wollen. Ich würde mich freuen, wenn wir das alles hätten. Wir nehmen Priorisierungen vor. Im Bedarfsplan haben wir nämlich festgelegt, was wann gebaut werden soll. Bei Ihnen wurde erst einmal überhaupt nichts gebaut, da wurde alles gleichzeitig geplant. Das Ergebnis war: Es wurde während der elf Jahre SPD-Verantwortung überhaupt nichts gebaut. Das sind leider die Fakten. Deswegen sind wir jetzt in der brenzligen Lage, Ihren Scherbenhaufen aufkehren zu müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein bisschen Weiterbildung wäre auch mal gut!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt erteile ich dem Kollegen Ralph Lenkert das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Heute geht es um den Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der Name ist sperrig, und dahinter stecken knallharte Profitinteressen. Wie erkläre ich Ihnen, was ich meine? (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das wird nicht möglich sein!) Wie würde das bei Dagobert Duck sein? Nehmen wir an, Dagobert besitzt Grundstücke. Eines liegt 80 Kilometer in der Prärie, und zum zweiten führt nur ein Pfad. Da gerade Steinmangel herrscht, will Dagobert mit Steinbrüchen "Schotter" machen. Von den Steinbrüchen auf seinem Land müssen die Steine über neue Straßen transportiert werden. Also verlangt Duck vom Minister Zaster für den Straßenbau. Der Minister gehorcht, plant Straßen, den Zaster holt er sich von den Bewohnern Entenhausens. Damit Dagobert stets Steine mit Profit verkaufen kann, (Volker Kauder [CDU/CSU]: In der Zeit der DDR haben die gar nicht Dagobert Duck lesen dürfen!) bestimmt der Minister, dass alle Bürger auch noch Lkw und Sprit bezahlen. Alle? Nein, die Freunde des Ministers bekommen zwar viele Steine, aber für Straßen und Lkw bezahlen sie nicht. Haben Sie es verstanden? Ich kläre Sie auf: Dagobert Duck steht für die Energiekonzerne, die Steine sind der Strom. Die Steinbrüche sind Offshorewindparks und Kraftwerke. Straßen sind Stromleitungen. Die Einwohner von Entenhausen sind wir Stromkunden, die Ministerfreunde sind die Energiekonzerne bzw. energieintensiven Unternehmen. Herr Rösler, haben Sie sich erkannt? Ich habe Ihnen diesen Comic erzählt, weil es genau so läuft. (Beifall bei der LINKEN) Sinngemäß steht im Entwurf: "Standorte für konventionelle Kraftwerke" und EEG-Anlagen "werden in der Regel unabhängig" vom vorhandenen Stromnetz "ausgewählt". "Gegenwärtig sind eine Vielzahl konventioneller Kraftwerke ... im Bau bzw. in der Planung, die nicht zwingend in der Nähe der Verbrauchszentren einspeisen werden." Das heißt, es braucht mehr Stromtrassen. Die Folge sind steigende Strompreise für die Stromkunden. Klartext: Die 380-kV-Leitungen werden nicht nur für Windräder, sondern auch für neue Kohlekraftwerke - wie die von Vattenfall in Jänschwalde und von der -MIBRAG in Profen - gebaut. Die bestehenden Stromleitungen können dann den gesamten Kohle- und Windstrom nicht mehr nach Süden transportieren. Deshalb sagt man den Thüringerinnen und Thüringern: Ihr wollt doch die Energiewende, und Bayern braucht den Windstrom aus dem Norden, also akzeptiert Leitungen. Entschuldigung, aber der Kohlestrom aus Jänschwalde und Profen soll auch über diese Leitung fließen. Die Thüringerinnen und Thüringer zahlen 7,1 Cent Netzentgelt je Kilowattstunde. In Bayern zahlt man nur 5 Cent. Warum? Ein Kraftwerk speist im Norden 1 Million Kilowattstunden ins Netz. Genau für diese Strommenge wird gezahlt - logisch. Durch Netzverluste, 3 Prozent auf 100 Kilometer, kommen in Bayern nur 850 000 Kilowattstunden an. Nur für diese Strommenge wird von den Bayern gezahlt - logisch. Die 150 000 Kilo-wattstunden Transportverlust bezahlt der Netzbetreiber - logisch. Er legt dies auf uns Thüringer um, weil das Netz durch Thüringen geht - logisch. Logisch? Wir verdienen nichts am Strom, unsere Landschaft wird verbaut, und wir müssen dafür noch zahlen. Das ist ungerecht. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb fordert die Linke einheitliche Netzentgelte für ganz Deutschland. Das wäre logisch. (Beifall bei der LINKEN) Nach unserem Konzept beginnt die Energiewende mit einem Bedarfsplan für den Stromverbrauch. Danach erfolgt eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Planung zur größtenteils regionalen Stromerzeugung und Speicherung. Erst dann erfolgt eine Netzbedarfsplanung. Warum folgt die Regierung nicht dieser einfachen Logik, sondern schaut nur auf den Netzausbau? Es geht um viel Geld. 10 Milliarden Euro kostet der Netzausbau nach dem vorliegenden Regierungsplan. Verdienen werden Baufirmen, Projektanten und die Investoren, die die Netze ausbauen lassen. Sagenhafte 9 Prozent Rendite gibt es für die investierten 10 Milliarden Euro. 900 Millionen Euro müssen Bürgerinnen und Bürger, kleine und mittelständische Unternehmen Jahr für Jahr nur für die Renditegarantie abdrücken. Diese Unverschämtheit lehnt die Linke ab. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt einen Weg, diese Abzocke zu beenden: Die Netze müssen entprivatisiert werden. Eine Vergesellschaftung der Netze zusammen mit einem Stromverbrauchsplan, dem Stromerzeugungsplan und dem dann notwendigen Netzausbauplan sichert die ökologische Energiewende mit sozialen Strompreisen, ohne uns Stromkunden zu rupfen. Füllen Sie nicht die Geldspeicher der Spekulanten, sondern folgen Sie unseren Vorschlägen! Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Oliver Krischer das Wort. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Herrn Rösler zuhört, dann fragt man sich schon, in welchem Paralleluniversum dieser Mensch lebt; denn mit der Realität hat das, was wir hier von ihm gehört haben, gar nichts zu tun. Gestern im Umweltausschuss hat er noch eins draufgesetzt. Dort hat er gesagt: Europaweit wird Deutschland wegen seines Netzausbaus beneidet. (Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) Was ist das für ein Unsinn? Wir haben in den letzten Jahren 268 Kilometer von 1 800 Kilometern gebaut. Das sind gerade einmal 15 Prozent. Das ist die Hürde, unter der Sie hergelaufen sind. Das ist unglaublich. Das ist kein Erfolg, sondern Versagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie kommen hier jetzt immer mit dem Argument, dafür wäre Rot-Grün verantwortlich. Ich sage Ihnen: Seit acht Jahren gibt es CSU- und FDP-Wirtschaftsminister. Sie tragen die Verantwortung dafür. In acht Jahren hätten Sie das alles machen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man nachfragt, wie weit wir mit der Umsetzung der Projekte aus dem Energieleitungsausbaugesetz sind, ist diese Bundesregierung, ist dieser Wirtschaftsminister nicht einmal in der Lage, im Detail zu sagen, wie es um diese Projekte steht. Das ist doch ein Zeichen dafür, wie Sie mit diesem Thema umgehen. Wenn man in den Medien nachschaut, wozu sich dieser Minister beim Thema Netzausbau geäußert hat, dann stößt man immer wieder auf ein und dieselbe Nachricht: Rösler greift die Umweltverbände an, fordert den Abbau von Naturschutzbestimmungen und Umweltrechten, um den Netzausbau voranzubringen. Man fragt sich: Was plant diese Bundesregierung eigentlich? Als Antwort bekommt man: Es gibt gar kein Problem mit dem Naturschutz, es gibt gar kein Problem mit den Umweltverbänden. Ich sage Ihnen: Der einzige Sinn dieser Aktion ist, die Hoheit über die Stammtische zu gewinnen. Nichts anderes war von diesem Wirtschaftsminister zu hören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Kollege, jetzt bin ich neugierig, was Sie uns zu sagen haben!) Jetzt legen Sie hier den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vor. Diesen Gesetzentwurf hätten Sie schon vor zwei, drei Jahren vorlegen können. Doch damals haben Sie sich mit Laufzeitverlängerungen beschäftigt, statt sich um den Netzausbau zu kümmern. Jetzt, am Ende dieser Legislaturperiode, feiern Sie das als Großtat. Davon wird aber nicht eine einzige Leitung gebaut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: Sie machen die gleichen Fehler, die Sie schon beim EnLAG gemacht haben. Sie sagen zum Beispiel, die Erdverkabelung solle nur auf einer einzigen Pilottrasse möglich sein. Genau das ist beim Energieleitungsausbaugesetz das Problem. Sie haben es bis heute nicht geschafft, auch nur eine Pilotstrecke hinzubekommen. Wir brauchen die Erdverkabelung aber, um Akzeptanz zu schaffen; denn gegen den Willen der Menschen werden Sie den Netzausbau nicht durchsetzen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Judith Skudelny [FDP]: Und wie wollen Sie die Netzkosten im Griff behalten? - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Achtmal so teuer, Herr Krischer!) Ich sage Ihnen: 2 000 der 3 000 Einwendungen, die es gegeben hat, kommen aus dem schönen Ort Meerbusch-Osterath. Da hat es ein Planungsdesaster gegeben. Ich wundere mich, dass die Kollegen von der CDU und der FDP, die sich vor Ort lauthals äußern, jetzt bei dieser Debatte nicht dabei sind. Vor Ort sprechen sich Vertreter Ihrer Koalition nämlich öffentlich gegen dieses Gesetz aus und sagen, dass sie es ablehnen werden. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nee! Ehrlich?) Sie haben, was dieses Gesetz betrifft, nicht aus dem Desaster von Meerbusch-Osterath gelernt. Sie haben das, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossen hat, nicht aufgegriffen, nämlich dass man Planungen mit Standortalternativen durchführen und die Menschen mitnehmen muss. Dazu gibt es wegweisende, richtige Beschlüsse des Bundesrates. Die Bundesregierung hat sie aber zurückgewiesen. Sie werden mit diesem Gesetzentwurf nicht durchkommen. Er wird ein Papiertiger bleiben. Wenn Sie das, was der Bundesrat richtigerweise beschlossen hat, nicht aufgreifen, wird der Netzausbau ein genauso großes Desaster bleiben, wie er es in der Vergangenheit war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Horst Meierhofer [FDP]: Lesen Sie den Gesetzentwurf lieber erst mal!) Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen Netzausbau auf allen Spannungsebenen. Eine dezentrale Energiewende braucht den Netzausbau und den Ausgleich der Schwankungen. Aber Sie müssen die Menschen mitnehmen und sie einbinden. Es hilft nichts, wenn Sie den Klageweg verkürzen. Da fühlen sich die Menschen übergangen. (Judith Skudelny [FDP]: Wie in Baden-Württemberg! Ich sage nur: neun Windräder in einem Jahr!) Das führt am Ende wieder zu Ausgrenzung. Sie müssen die Menschen einbinden, aber das haben Sie nicht verstanden. So werden Sie mit dem Netzausbau auch weiter scheitern. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Hempelmann [SPD] - Judith Skudelny [FDP]: Sie haben aus Ihrer Verantwortung wirklich nicht gelernt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Andreas Lämmel das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man diese Debatte verfolgt hat, ist eines klar geworden: Die Kollegen von SPD und Grünen versuchen, hier im Plenum Wahlkampf zu machen (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch die Regierungserklärung auf die Tagesordnung gesetzt!) und dadurch ihr schlechtes Gewissen zu übertünchen, (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) das sie natürlich haben müssen, wenn sie in sich gehen und darüber nachdenken, warum wir in der Situation sind, in der wir sind. Herr Gabriel verwechselt das Plenum des Deutschen Bundestages mit dem Marktplatz in Wolfenbüttel, wo er hin und wieder eine schwungvolle Wahlkampfrede hält. (Sigmar Gabriel [SPD]: Herr Kollege, nichts gegen Wolfenbüttel!) Frau Höhn versucht, mit schrillen Tönen die Argumente zu verdecken. Sie wollen einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir vor zwei Jahren hier im Plenum mit großer Mehrheit die Energiewende beschlossen haben. (Rolf Hempelmann [SPD]: Nein! Den Atomausstieg haben Sie da endlich mit beschlossen!) Meine Damen und Herren, das war doch kein anderer Beschluss als der, den Sie schon vor vielen Jahren getroffen haben, als Sie den Atomausstieg beschlossen haben. Das war nichts Neues. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie dieses Argument anführen. Ich will auf die Vergangenheit zu sprechen kommen. Unter Rot-Grün wurde der erste entsprechende Beschluss gefasst. Es wurde aber nichts getan. Vielmehr ließ man die Sache laufen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Ja, ja! Es wird durch ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger!) Energieforschung - sehen Sie sich einmal die Haushalte vergangener Zeiten an, Herr Hempelmann; Sie selbst wissen das ganz genau - fand überhaupt nicht mehr statt. Die Mittel für die Energieforschung wurden unter Rot-Grün auf null gesetzt. (Rolf Hempelmann [SPD]: Die Energieforschung ist nur ein wichtiger Aspekt!) Dann kam die Zeit der Großen Koalition. Da ging es natürlich auch um den Energieleitungsausbau, weil er schon damals ein großes Problem war. (Rolf Hempelmann [SPD]: Ja, klar!) Wir hatten die Idee, den Energieleitungsausbau zu beschleunigen. Dann fand die Diskussion über das EnLAG statt. Die Große Koalition wollte das sehr bewährte In-frastrukturbeschleunigungsgesetz, welches wir in Ostdeutschland genutzt haben, um die Infrastruktur auszubauen, für den Energieleitungsausbau nutzen. Was war die Folge? Obwohl Herr Gabriel damals Umweltminister war, ist das Vorhaben, die Beschleunigung des Energieleitungsausbaus schon 2009 in Gang zu setzen, am Widerstand der SPD gescheitert. Deswegen musste dann 2011 das NABEG hier im Deutschen Bundestag beschlossen werden. Es war eine logische Folge, noch einmal den Versuch zu machen, mit konkreten Projekten den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Da sind auch die berühmten vier Kabeltrassen aufgeführt. Herr Krischer, ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier aufregen, dass in dem Bedarfsplan jetzt nur eine Trasse enthalten ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erdkabel!) Es gibt noch keine einzige Trasse von diesen vier Erd-kabelprojekten, die im NABEG festgeschrieben sind. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie es nicht realisiert kriegen!) - Ach, erzählen Sie doch nicht solchen Unfug! Sie wissen doch selbst ganz genau: Erdkabelleitungen baut nicht der Staat - die Planung erfolgt vor Ort, die Genehmigung erfolgt vor Ort. (Rolf Hempelmann [SPD]: Warum machen Sie dann uns den Vorwurf?) Sie stehen immer an der Spitze der Bewegung, wenn es gegen den Ausbau von Infrastruktur geht. Dann müssen Sie sich nicht wundern, dass die Projekte vor Ort nicht vorankommen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wundern uns nur über Sie!) Aber dafür können Sie nicht uns die Schuld zuschieben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) An der Spitze der Bewegung, wenn es gegen irgendetwas geht, stehen Sie. Deswegen muss man doch ganz klar sagen: Wenn man diese Erdkabelprojekte weiter betreiben will, dann muss man erst einmal Erfahrungen sammeln (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kriegen Sie nicht hin!) und schauen: Wie ist denn die wirtschaftliche Situation? Wie ist denn die ökologische Situation? Das fordern Sie doch immer. Sie wissen ganz genau, dass diese Erdkabelprojekte große Probleme aufwerfen. Wir wollen eben nicht in die Situation kommen wie beim Offshoreausbau, wo Sie mit Brachialgewalt eine Riesenmenge an Offshoreprojekten zu generieren versuchen, von denen wir weder wissen, ob sie technisch wirklich umsetzbar sind, noch, ob sich die Kosten in den Griff kriegen lassen, und für die wir auch die Anschlüsse gar nicht haben. Genau diese Fehler wollen wir nicht noch einmal machen, indem wir die Erdverkabelung sozusagen freigeben. Wir wollen zunächst Erfahrungen sammeln und schauen, ob sich diese Projekte bewähren. Da kann Rot-Grün in Niedersachsen jetzt mutig vo-rangehen und endlich die Trassen genehmigen und sie bauen lassen. Dann können wir weiter über dieses Thema reden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das ja nicht hingekriegt!) Scheinheiligkeit, Herr Krischer, haben wir von Ihrer Seite schon die ganzen Jahre erlebt; das ist bei diesem Thema nicht anders. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn bisher in Niedersachsen regiert? - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn hier scheinheilig?) Das vorliegende Gesetz ist ein wohltuend kurzes Gesetz, ein Gesetz, das jeder Bürger unseres Landes verstehen kann: weil auf drei Seiten beschrieben ist, um was es geht. Ich würde mir manches Gesetz wünschen, das genauso konkret ausformuliert ist und bei dem man genau nachvollziehen kann, um was es geht. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde ich mir auch wünschen bei dieser Bundesregierung!) - Wenn die Grünen an der Macht sind, dann werden die Gesetze immer dicker, immer unverständlicher: weil sie versuchen, alles in das Gesetz zu packen. Wir stehen für klare Gesetze und vor allen Dingen für Gesetze, die umsetzbar sind, Herr Krischer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten acht Jahre Zeit, das anders zu machen! - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren regieren Sie!) Interessant bei der ganzen Diskussion ist auch, dass die Anträge, die die Opposition gestellt hat, überhaupt nicht besprochen worden sind. Das zeigt schon: Sie wollen keine sachliche Debatte, Sie wollen nicht einmal über Ihre Anträge diskutieren. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat denn Kollege Krischer eben gemacht?) Das Einzige, was Sie wollen, ist eine Bühne für Wahlkampf. (Rolf Hempelmann [SPD]: So etwas haben wir gar nicht nötig!) Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie das so weiterbetreiben wollen, dann können Sie das natürlich tun; aber man kommt damit nicht durch. Die Grundlage für den Anstieg der Strompreise - die hohe EEG-Umlage - haben Sie doch gelegt, (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD] - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um Stromleitungen! Jetzt kommen Sie mit der EEG-Umlage!) und Sie haben die ganzen Jahre alles behindert, was das Ziel hatte, den Ausbau der erneuerbaren Energien in einem wirtschaftlichen Rahmen zu halten. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lämmel, Sie widersprechen sich im selben Satz!) Dazu gehört der Ausbau der Stromleitungen. Man muss sich nämlich einmal realistischerweise überlegen, wo welche erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollen. Wenn Sie einmal im stillen Kämmerlein über das nachdenken, was Sie hier politisch angestellt haben, werden Sie erkennen, dass es eben nicht so weitergehen kann, dass überall dort eine Windmühle gebaut werden kann, wo jemand diese Intention hat, und einfach der Netzbetreiber dafür verantwortlich gemacht wird, diese Windmühle an das Stromnetz anzuschließen. Genauso ist es bei den Photovoltaikanlagen: Es bringt doch nichts, wenn, nur damit das Ausbauziel erfüllt wird, in düsteren Ecken, in Wäldern Photovoltaikanlagen aufgebaut werden. Wir brauchen beim Ausbau der erneuerbaren Energien Wirtschaftlichkeit. Auch beim Ausbau der Energieleitungen brauchen wir wirtschaft-liche Lösungen. Ich finde, dass der vorgelegte Gesetzentwurf genau in diese Richtung geht. Sie haben jetzt die Möglichkeit, dieser Sache mit großer Mehrheit zuzustimmen. Damit können Sie vor allen Dingen vor Ort beweisen, dass Sie wirklich für den Netzausbau stehen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Ihren Leuten in Meerbusch-Osterath!) Heute steht ja unter Tagesordnungspunkt 4 noch ein weiterer Antrag der SPD auf der Tagesordnung, sodass wir im Anschluss über solche Dinge noch einmal vertieft diskutieren können. Die Linke geht noch ein bisschen schärfer vor. Sie erzählt Comicgeschichten. Aber gut, damit transportiert sie sich selbst ins Aus. Das ist aber nichts Neues. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich war davon ausgegangen, dass sich zumindest die SPD ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen will und es hier nicht sozusagen zu einer Theaterveranstaltung verkommen lässt. (Rolf Hempelmann [SPD]: Ihre Energiepolitik ist nicht mehr komisch!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Jens Koeppen das Wort für die CDU/CSU. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Jens Koeppen (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist und bleibt die Energiewende das wichtigste Projekt nicht nur in dieser Legislaturperiode, sondern sogar in dieser Generation, weil wir unseren Kindern zum ersten Mal eine saubere und moderne Energieversorgung übergeben können. Dazu müssen wir aber noch große Herausforderungen bewältigen. Deswegen ist es bei aller Emotion zu schade, die Energiewende zum Spielball in einem Wahlkampf zu machen. Wir müssen uns fragen: Wie kann diese Energiewende gelingen? (Rolf Hempelmann [SPD]: Hättet ihr einmal auf die Regierungserklärung verzichtet!) - Auch Herr Hempelmann sollte sich das fragen. - Was sind die wichtigsten Bausteine? Hier hat jeder seine Prioritäten und auch Vorlieben. Für den einen geht es um die Energie an sich, um Wind- und Sonnenenergie, Biomasse und Geothermie. Für andere geht es um alte und neue Speichertechnologien und die Elektromobilität. Für mich persönlich kommen der Wasserstoff und die Brennstoffzelle bei der ganzen Diskussion ein wenig zu kurz. Intelligente und bedarfsorientierte Systeme, Verbrauchsmanagement, Forschung und Entwicklung, Gebäudesanierung, EEG, Zertifikatehandel, Netzausbau: Das alles wurde heute besprochen. Die einen wollen ganz große Reformen, die anderen wollen das am liebsten gar nicht anfassen. Meine Damen und Herren, in diesem System gibt es sehr viele Botschaften. Das System ist sehr komplex und neigt dazu, undurchsichtig und unverständlich zu werden. Bei all den benannten Bausteinen kommt es aber nicht auf das Maximale, sondern auf einen vernünftigen und harmonischen Mix aus allem und die Akzeptanz der Menschen für diese Energiewende mit einer gewissen Kostenübersicht an. (Beifall des Abg. Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]) Das alles gilt natürlich insbesondere für die Energie-infrastruktur. Leistungsfähige Energienetze sind natürlich die Grundvoraussetzung, um Energie überhaupt transportieren zu können. Ich bin Elektrotechniker und erzähle Ihnen hiermit nichts Neues: Wenn es keine Leitungen gibt, dann werden Sie aus Ihrer Steckdose zu Hause auch keinen Strom bekommen können. Dass wir zusätzliche Übertragungskapazitäten brauchen, ist auch völlig unstrittig. Es wird natürlich über die genaue Anzahl an Kilometern diskutiert. Das wird aber wahrscheinlich gar nicht die entscheidende Frage sein. Dass wir einen Ausbaubedarf haben und dass der Ausbau maßvoll sein muss, ist jedem klar. Dass wir unser jetziges Netz ertüchtigen müssen, ist wahrscheinlich auch jedem klar. Wir sollten aber die Kriterien und Bedingungen diskutieren, unter denen wir diesen Netzausbau gestalten. Für mich sind dabei drei Punkte besonders wichtig: Erstens. Die Akzeptanz. Wenn wir die Leute ordentlich informieren - das sollte anders aussehen als heute in den eineinhalb Stunden hier - und sie auf dem Weg der Energiewende mitnehmen, dann haben wir den ersten Teil erreicht. Zweitens. Dieser Ausbau muss zügig vorangehen. Das heißt, wir brauchen keine Klagewellen, sondern wir müssen diese Klagewellen vermeiden. Drittens. Die Kosten des Netzausbaus müssen so gestaltet werden, dass sie für die Menschen auch bezahlbar sind und dass Energie vor allen Dingen kein Luxusgut wird. Hier können wir natürlich sehr schnell Konsens herstellen. Ich will mich auf zwei Punkte dieser Botschaft konzentrieren, nämlich erstens auf die Instanzenverkürzung und zweitens auf die Kosten und die Erdkabel. Zur Kürzung des Instanzenzuges bis zur endgültigen Gerichtsentscheidung. Es wird damit gerechnet, dass wir die Dauer der Gerichtsverfahren von zehn Jahren auf vier Jahre verkürzen können. Das ist eine enorme Zeitersparnis. Bei Ihnen, Herr Krischer, kam das eben so rüber, als ob wir den Anwohnern Rechte nehmen würden. Ich sehe das völlig anders. Ich sehe das so, dass wir eine Privilegierung der Klagenden herbeiführen. Denn selbst wenn die letzte Instanz die einzige Instanz ist, die entscheidet, entscheidet sie nicht anders. Es macht also keinen Unterschied, dass die zwei gerichtlichen Instanzen vor ihr bereits Entscheidungen getroffen haben. Sie entscheidet schneller, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht! Das lag nur länger da! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) und die Beklagte und die Klagenden bekommen mehr Rechtssicherheit. Das ist ganz klar. Darüber hinaus erwähne ich die psychische Belastung der Menschen, Herr Krischer, welche daraus resultiert, dass sie über viele Jahre sozusagen von einer Instanz zur nächsten gestoßen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es lag nur länger beim Bundesverwaltungsgericht!) und mit sehr vielen Klagen, sehr vielen Terminen und sehr vielen Schriftstücken konfrontiert werden. Betonen möchte ich auch, dass ein Prozess von In-stanz zu Instanz kostenintensiver wird. Denn jedes Gerichtsverfahren ist natürlich teuer. (Rolf Hempelmann [SPD]: Das merken Sie ja die ganze Zeit!) Insofern ist eine einzige zuständige Instanz (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ergebnisse können ganz teuer werden für die Bundesregierung!) mit weniger Kosten verbunden, und deswegen befürworten wir das. Meine Damen und Herren, ich möchte auf die 380 000-Volt-Erdverkabelung zurückkommen. In diesem Zusammenhang wird hier sehr viel über das Für und Wider diskutiert. Ich möchte nicht auf alle Punkte eingehen. Wir sind keine Gegner von Erdkabelleitungen. Allerdings müssen wir schauen, welcher der bessere Weg ist. Ich kann die Forderung des Bundesrates, alle Erdkabelprojekte in diesen Plan hineinzuschreiben - das heißt, die Leute vor Ort sollen darüber entscheiden, ob Projekte mit Erdverkabelung verwirklicht werden sollen -, überhaupt nicht verstehen. Das ist eine Mentalität nach dem Motto "Aus den Augen, aus dem Sinn". Auf diese Weise vergraben Sie die Probleme nicht, sondern sie tauchen woanders auf. Sie beruhigen damit zwar die Bürger und sammeln vielleicht hier und da ein paar Sympathien, aber das sind vermeintliche Vorteile, die Sie genießen. Wissenschaftler und Techniker weisen eindeutig darauf hin, dass sich die Kosten auf das Sechs- bis Zwanzigfache - das gilt für Tunnelanlagen - belaufen. Das Verlegen einer 1 Kilometer langen 380 000-Volt-Verkabelung kostet momentan 1 Million Euro. Wenn dieser Kilometer dann 6 Millionen oder 20 Millionen Euro kostet, muss doch auch die Frage gestattet sein, wer diese Kosten letztendlich tragen soll. Diese Frage müssen wir beantworten. Es geht nicht, dass wir einfach sagen, dass die Kosten auf die Netzkosten umgelegt werden, welche dann wiederum die Bürger zu tragen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Darüber hinaus liegt die Nutzungsdauer von Erdkabeln bei 40 Jahren. Die Nutzungsdauer von Freileitungen liegt bei 80 Jahren und mehr. Bei Erdkabeln muss alle 700 Meter - die Kabeltrommel ist schließlich endlich - ein Muffenbauwerk errichtet werden, wahrscheinlich auch in Biosphärenreservaten. Also, es wird alle 700 Meter ein großes Muffenbauwerk auf den Schneisen stehen. Es wird zu größeren Wartungskosten und längeren Reparaturzeiten kommen, und wenn etwas ausfällt, werden daraus sehr große Stromausfallzeiten resultieren, die deutlich länger als die bei Freileitungen sind. (Ulrich Kelber [SPD]: Wie groß ist denn so ein Muffenbauwerk?) Auch die ökologischen Eingriffe dürfen wir nicht vergessen. Denn sie sind enorm schwerwiegend. Eine Erdverkabelung bedingt eine Trassenführung in Betonwannen, was eine hundertprozentige Versiegelung bedeutet. Darüber hinaus müssen Öltransformatoren aufgestellt werden, um die Kompensation auszugleichen. Es kommt zu hohen Bodentemperaturen, und auf der gesamten Schneise kann nichts mehr angebaut werden. Des Weiteren müssen Wartungswege neben der Trasse angelegt und der Boden komplett ausgetauscht werden. All diese schwerwiegenden ökologischen Eingriffe darf man nicht vergessen. Hierüber müssen wir aufklären, und wir sollten Alternativen finden und letztendlich die Vorteile von Freileitungen - natürlich sehen Erdverkabelungen im Landschaftsbild besser aus - hervorheben. Bei allen notwendigen Maßnahmen im Rahmen dieser Energiewende müssen wir in neuen Strukturen denken. Erzeugung und Verbrauch müssen natürlich so dezentral wie möglich erfolgen. Wenn Strom knapp wird, soll er teurer vergütet werden als dann, wenn er stark verfügbar ist. Denn das Prinzip "Produce and forget" - das bedeutet, dass Strom immer dann erzeugt wird, wenn es möglich ist, und nicht dann, wenn er gebraucht wird -, das jetzt im verkrusteten EEG enthalten ist, macht Unternehmer satt und träge. Wir müssen schauen, dass wir von der Renditeversorgung zur Energieversorgung kommen. Wir brauchen ein Technologieeinführungsprogramm. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir in den nächsten Wochen und Jahren weiter eine gute Diskussion führen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/12638, 17/12214, 17/12518 und 17/12681 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern - Drucksache 17/12682 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Hierzu ist es verabredet, anderthalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hubertus Heil. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben diesen Antrag eingebracht, weil wir uns Gedanken über die Frage machen, wie wir es schaffen, dass Deutschland wirtschaftlich erfolgreich bleibt. Ohne Frage: Deutschland ist derzeit im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften in Europa ein extrem erfolgreiches Land. Wir sind Exportvizeweltmeister. Die Ursachen dafür liegen zum Beispiel darin, dass wir vor zehn Jahren den Mut zu politischen Veränderungen hatten, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo sind die eigentlich geblieben?) die notwendig waren, die zum Teil schmerzhaft waren, die nicht in jedem Detail richtig waren, aber die mitgeholfen haben, dass Deutschland vor der Krise 2008 -besser aufgestellt war als andere Volkswirtschaften in Europa. (Beifall bei der SPD) Der wesentliche Grund aber, warum Deutschland im Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften bis dato besser durch die Krise gekommen ist, ist die Tatsache, dass wir nach wie vor eine Industrienation sind, dass wir eine breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den Grundstoffindustrien über den industriellen Mittelstand bis hin zu den kleinen Hightechunternehmen in diesem Land. Das ist keine Banalität, weil wir uns noch sehr gut erinnern können, meine Damen und Herren von der FDP, wie Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor zehn Jahren über Industrie in Deutschland gesprochen haben. Sie haben damals geglaubt, die Zukunft liege allein bei Dienstleistungen: Gemeint waren Finanzdienstleistungen. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Quatsch!) Ihr Herr Westerwelle hat uns damals empfohlen, den Irrweg Irlands zu gehen und stärker auf Finanzzockereien zu setzen. Wir sind Gott sei Dank diesen Weg nicht gegangen, sondern wir haben unsere industrielle Basis erhalten und erneuert. (Beifall bei der SPD) Im Jahr 1998 betrug der industrielle Anteil Deutschlands an seiner Wirtschaft 24 Prozent. Großbritannien hatte einen gleich hohen Anteil. Heute liegt der Wert in Großbritannien bei 14 Prozent. Wir müssen etwas dafür tun, damit wir ein erfolgreiches Wirtschaftsland bleiben. Doch die Sorge, die wir haben, ist, dass Sie sich in den letzten drei Jahren, seit Schwarz-Gelb dieses Land regiert, auf guter Konjunktur, auf dem Mut von Vorgängerregierungen, auf dem industriellen Fortschritt von Unternehmen und Gewerkschaften einfach ausgeruht haben und dass wir in der Gefahr sind, den Vorsprung, den wir uns in Deutschland mühsam erarbeitet haben, wieder zu verlieren. Der Attentismus, das Chaos dieser Bundesregierung, das Zuwarten im Bereich der Wirtschafts- und Industriepolitik - im Bereich der Energiepolitik eben wortreich beschrieben -, ist das eigentliche Standort-risiko für Deutschland, für die Zukunft des Wohlstands und für die Arbeitsplätze in unserem Land. Es sind vier große Herausforderungen, vor denen Sie sich im Moment wegducken und auf die Sie keine Antworten haben. Da ist beispielsweise der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaft, der mittlerweile am Arbeitsmarkt ankommt. Die Politik, die Sie machen, führt dazu, dass wir in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt geradezu hineingetrieben werden. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend qualifizierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sorgen Sie dafür, dass Menschen durch prekäre Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt werden. Das kann sich Deutschland wirtschaftlich nicht leisten. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt, die Menschen in Arbeit bringt und sie nicht durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse abhängt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört der gesetzliche Mindestlohn. Dazu gehört gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeit- und Leiharbeit. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wenn wir über Fachkräftesicherung sprechen, dann müssen wir uns auch über die Potenziale in unserem Land Gedanken machen. Das Wichtigste dabei ist, dafür zu sorgen, dass die Frauenerwerbsbeteiligung, auch was Vollzeitarbeit betrifft, in diesem Land endlich auf europäisches Niveau kommt. Sie führen ein idiotisches Betreuungsgeld ein, das Frauen vom Arbeitsmarkt fernhalten soll. Das ist das Gegenteil von Fachkräfte-sicherung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für junge Männer und Frauen, damit die Potenziale genutzt werden können. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass nicht weiterhin 60 000 junge Menschen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen, dass 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung dastehen. Der Standortvorteil Deutschlands hat mit der guten dualen Ausbildung in diesem Land zu tun. Das bescheinigen uns inzwischen sogar amerikanische Präsidenten. Wir müssen sie erhalten und modernisieren, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass junge Menschen ausbildungsfähig sind. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulen und auch frühkindliche Förderung in Deutschland. Sie machen das Gegenteil, und das ist wirtschaftlicher Unsinn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die zweite große Herausforderung neben der Frage von Demografie und ihrer Auswirkung auf den Arbeitsmarkt ist und bleibt die Internationalisierung. Hierbei muss die Frage angesprochen werden, welche Regeln wir auf den internationalen Finanzmärkten haben. Es gibt jetzt viel Gerede vor der Wahl und Papiere von Herrn Schäuble, die sich endlich auch einmal mit dem Thema Trennbanken beschäftigen. (Birgit Homburger [FDP]: Über was reden Sie hier eigentlich? Davon steht gar nichts drin!) Ich sage Ihnen: Wir brauchen im Interesse der Realwirtschaft und auch der industriellen Basis dieses Landes die Spielregeln auf den Finanzmärkten. Wir wollen dafür sorgen, dass in Deutschland in Realwirtschaft statt in Zockerei investiert wird. Dafür müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die dritte große Herausforderung neben dem veränderten Altersaufbau und der Internationalisierung ist die Tatsache, dass wir wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in diesem Land haben und brauchen, um erfolgreich sein zu können. Deutschland wird nicht mit den niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Produkten, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig sein. Wenn man das in Deutschland erhalten will, dann muss man dafür sorgen, dass auch der industrielle Mittelstand in diesem Land stärker an Forschung und Entwicklung partizipieren kann. Sie haben im Koalitionsvertrag dem Mittelstand steuerliche Forschungsförderung versprochen. In den Ankündigungsreden höre ich, dass Sie das wieder versprechen. Nur gehalten haben Sie es nicht. Wo ist denn Ihr Konzept für steuerliche Forschungsförderung in dieser Legislaturperiode? Wir werden das nach der Wahl ändern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die größte Herausforderung neben der Demografie für die deutsche Wirtschaft und für unser Land wird die Frage sein, wie wir mit dem Thema Ressourcenknappheit und Energiewende seriös umgehen. Darüber ist heute Morgen diskutiert worden. Ich will eine Begebenheit von gestern schildern. Ich war auf einer Veranstaltung des Bundesverbands der Deutschen Industrie, der unverdächtig ist, eine Vorfeldorganisation der SPD zu sein. Dort war ein Vertreter Ihrer Regierungsfraktion - es war, glaube ich, der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion -, der Wert darauf legte, dass er mit der Energiepolitik seiner eigenen Bundesregierung wenig zu tun hat. Er sprach davon, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion streng genommen eine Nichtregierungsorganisation sei. Ich kann nur sagen: In der Energiepolitik merkt man, dass Sie eine Nichtregierungsorganisation sind. Denn Tatsache ist, dass aufgrund Ihres Vorgehens - das Zerstören der Planungs- und Investitionssicherheit in vielen Bereichen und das Vergurken der Energiewende - mittlerweile aus einer industriellen Chance, die die Energiewende dem Grunde nach ist, ein wirtschaftliches und soziales Risiko für dieses Land geworden ist. Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf die Verbände, mit denen Sie sonst immer so dicke sind. Das, was Sie im Bereich Energiepolitik fabrizieren, ist etwas, das uns zurückwerfen kann. Wenn man sich international ein bisschen umtut und weiß, dass es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch im Fernen Osten und in Nordamerika aus unterschiedlichen Gründen sehr gute Standortbedingungen für eine Reindustrialisierung gibt - zum Beispiel durch die Shale-Gas-Revolution in Nordamerika, weil dort die Energiepreise mutmaßlich sehr niedrig sein werden -, und dass diese Länder demografisch anders aufgestellt sind als wir, dann kann man in Deutschland die Energiewende nicht so vergurken, wie Sie das machen. Sie haben eine Energiewende versprochen, die sauber, sicher und bezahlbar sein soll. Heute erleben wir Unsicherheit bei der Versorgung und steigende Preise. Was das Stichwort "sauber" betrifft, kann man nur sagen: Sie sind nicht sauber im Arbeiten, was die Energiewende betrifft. Deshalb müssen wir auch da den Schalter umlegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion - es ist ein interessanter Zufall, dass das am zehnten Jahrestag der Agenda 2010 ist - einen Vorschlag für die nächsten zehn Jahre gemacht. Vor zehn Jahren standen wir vor ganz anderen Problemen am Arbeitsmarkt in Deutschland, als es heute Gott sei Dank der Fall ist. Die Aufgaben der letzten zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre. Aber wie wir mit dem veränderten Altersaufbau, Stichpunkt Fachkräftesicherung, und der fortschreitenden Internationalisierung der Bändigung der Finanzmärkte im Interesse von Realwirtschaft umgehen, wie wir die Energiewende zum Erfolg führen und wie wir dafür sorgen, dass Deutschland eine starke, wissensbasierte und erfolgreiche Industrienation bleibt: Das sind die Aufgaben, denen wir uns stellen müssen. Denn Sie haben in den letzten Jahren dafür gesorgt - dabei rede ich jetzt nicht mehr von Schwarz-Gelb, sondern die Merkel-Regierung hat dafür gesorgt -, dass wir den Vorsprung, den wir uns mühsam erarbeitet haben, wieder gefährden. Ich sage Ihnen: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit, das sind für uns Sozialdemokraten keine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Die Art und Weise, wie Sie das Ganze laufen lassen bzw. verschludern und sich auf den Lorbeeren der Vorgängerregierungen ausruhen, ist ein Standortrisiko. Deshalb brauchen wir im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland einen Regierungswechsel im Herbst dieses Jahres. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das reden Sie sich alles selbst ein!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein jetzt das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie das richtige Manuskript mitgenommen?) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Nachdem Sie dieses Thema erneut angesprochen haben, kann ich Ihnen nicht ersparen, im Zusammenhang mit Ihrem Antrag noch ein paar Sätze zum Thema Energie zu sagen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!) Ich will an dieser Stelle ein bisschen ausholen und Ihnen zunächst versichern - das meine ich so, wie ich es sage -, dass ich mich über den vorliegenden SPD-Antrag freue; denn in diesem Antrag stehen viele richtige und wichtige Sachverhalte. Das meiste ist aber überholt und erfüllt. Das heißt, Sie fordern Maßnahmen, die wir sehr wohl umsetzen. Der Kollege Heil hat gerade insbesondere auf das Thema Fachkräftemangel abgehoben. Unser Fachkräftekonzept zielt in der Tat zuallererst auf Ausbildung und Weiterbildung ab. Der Kollege Heil hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das duale System uns innerhalb und auch außerhalb Europas wettbewerbsfähig hält. Dieses duale System kann man nicht nur nicht hoch genug loben, sondern man muss es auch nach vorne bringen. Ich weise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Bildung Ländersache ist. Ich erkenne deutlich, dass es hier gewaltige Unterschiede gibt. Im Bildungsbereich geht es dort am besten, wo die Union regiert. Dort kommen wir am sichersten voran. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber überall dort, wo Rot und Grün ihr Unwesen treiben, gibt es die Ihnen sehr wohl bekannten Schwierigkeiten. Wenn man das duale System lobt, dann sollte man auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, einer Zwangsakademisierung Vorschub zu leisten. Jedes Mal, wenn wir - zu Recht - über Chancengleichheit diskutieren, stelle ich eine einseitige Betonung einer Akademisierung fest. Es wird viel zu wenig darüber gesprochen, was man dafür tun kann, dass unser wunderbares duales System so gut bleibt, wie es ist. Das halte ich für ganz wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir für Chancengleichheit sorgen wollen, dann müssen wir unser Augenmerk auch auf das Handwerk richten, das bei der Ausbildung eines erheblichen Teils der Lehrlinge durch Meister Großartiges leistet. Wir brauchen natürlich auch die Zuwanderung qualifizierter, guter Leute; das ist ganz klar. Aber wir machen das anders, als Sie von der Opposition das machen wollen. Wir wollen nicht einfach die Schleusen öffnen bzw. die Tore aufreißen, sondern sehr differenziert vorgehen. Vor diesem Hintergrund ist das richtig, was der Bundesinnenminister in letzter Zeit in den Vordergrund gestellt hat. Wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! Jetzt kommt die Nummer wieder!) Wir haben angesichts der Freizügigkeit gegenüber Rumänien und Bulgarien große Bedenken. Dafür, dass das dosiert, gesteuert und wohlüberlegt geschieht, ist ein Unionsinnenminister sicherlich ein Garant. Ich will nicht näher auf das eingehen, was Sie zur Energiepolitik und insbesondere zu den Energienetzen gesagt haben; denn darüber haben wir eben umfassend diskutiert. Nur so viel: Wenn Sie uns nicht glauben, dass die Beschleunigung des Netzausbaus zu schaffen ist und dass wir die Motoren dabei sind, dann bitte ich Sie, das wenigstens dem Sachverständigenrat zu glauben; denn dieser würdigt, was dazu in den letzten Monaten beschlossen worden ist. Im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau lassen Sie sich in Ihrem Antrag breit und lang über die vorhandenen Defizite aus. Ich weise darauf hin, dass auch dieses Thema nicht einfach zu bearbeiten ist; denn es geht darum, im Rahmen des Wettbewerbs auch den ländlichen Raum zu erschließen. Der wirtschaftliche Schaden wäre immens, wenn es an dieser Stelle nicht voranginge. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass das von uns novellierte Telekommunikationsgesetz einen entscheidenden Beitrag dazu leisten wird, dass der Ausbau kostengünstig und in der Konsequenz auch flächendeckend gelingt. Ich finde auch spannend, was Sie zum Thema Verkehr gesagt haben. Die Ausweitung der Lkw-Maut 2012 auf ausgewählte vier- und mehrstreifige Bundesstraßen - Sie fordern noch eine weitere Ausweitung - stärkt aus meiner Sicht den Finanzierungskreislauf des Verkehrsträgers Straße. Wir haben für dieses Jahr dank des Bundesverkehrsministers, der da sehr vorausschauend ist, zusätzlich 750 Millionen Euro für den Neu- und Ausbau unseres Straßensystems eingeplant. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei mir wird nichts gebaut! Alles nach Bayern, oder was?) - 750 Millionen Euro zusätzlich! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das ist etwas, was ich auch angesichts unserer Thematik - davon abstrahieren Sie bei Ihren Forderungen - ganz klar unterstreichen möchte. Uns geht es um zwei Dinge: investieren auf der einen Seite und Haushalte konsolidieren auf der anderen Seite. Bei Ihnen gibt es einen anderen Gleichklang, und der heißt: investieren auf der einen Seite und abkassieren auf der anderen Seite. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dummes Zeug ist das!) Das ist das, was in Ihrem Parteiprogramm für die nächste Legislaturperiode angekündigt ist, falls Sie dafür eine Mehrheit bekommen. Ich kann mir das beim allerbesten Willen aber nicht vorstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe Ihnen einleitend gesagt: Mich freut dieser Antrag. Mich freut er auch noch aus einem anderen Grund, weil Sie darin nämlich neunmal den Begriff "Wachstum" verwenden, und zwar in einem positiven Sinne. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lieber schrumpfen, oder was?) Nun freut mich das aus einem bestimmten Grund. Ich bin auch Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Da sieht das, was die SPD an der Stelle vorträgt, komischerweise ganz anders aus. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch mit Soße!) Da tun Sie so, als ob wir einem falschen Wachstumsbegriff, ja geradezu einer Wachstumsgläubigkeit anhängen würden, was aber falsch ist. Noch viel spannender ist: Die Opposition verkauft in dieser Enquete-Kommission als Erfolg, dass man uns habe beibringen müssen, dass Wachstum kein Ziel sei, sondern maximal ein Weg, um Wohlstand zu erreichen. Sie formulieren in Ihrem Antrag jetzt aber ganz anders. Sie schreiben, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand und Wachstum seien Ziel der Politik. Ich finde das nicht schlimm - das ist Wortklauberei, sage ich Ihnen an der Stelle ganz offen -, aber ich wundere mich, dass Sie sich mit Ihren Kollegen nicht abgestimmt haben. Die lassen sich in der Enquete-Kommission von den ganz Linken und den Grünen in Geiselhaft nehmen, die wachstumsskeptisch wie immer sagen: (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nein! Herr Nüßlein!) Das alles brauchen wir nicht mehr. Man muss mit Blick auf die Ökologie - das sind alte "Club of Rome"-Fantasien, sage ich Ihnen - das Wachstum deckeln, beschränken; das alles ist des Teufels. Insofern geht an die SPD: Willkommen im Klub! Ich freue mich, dass Sie wieder auf der richtigen Spur sind und dass Sie sich jetzt mit uns gemeinsam dafür einsetzen wollen, dass uns in dieser Republik Wachstum gelingt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich halte das auch vor folgendem Hintergrund für entscheidend: Man muss wissen, dass Verteilen schwieriger ist, wenn ein Kuchen nicht größer wird; wenn er größer wird, gibt es ganz andere Verteilungsmöglichkeiten. Ich nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass Sie sich auch darüber Gedanken gemacht haben, wie man das Ganze verteilt. Ich nehme aber ebenfalls zur Kenntnis, dass große Teile der SPD mit der Agenda 2010 hadern. Ich bin froh, dass das beim Kollegen Heil offenkundig nicht so ist, aber ich vermisse schon die Jubiläumsfeiern zum zehnjährigen Bestehen der Agenda 2010; ich vermisse echt die Festlichkeiten an der Stelle. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommen Sie in die Ebert-Stiftung! Haben Sie keine Einladung bekommen? - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Heute Mittag dürfen Sie jubeln!) Dadurch, dass wir aufgrund der Bundesratsmehrheit damals auf diese ganze Geschichte Einfluss nehmen konnten, hat sich einiges in diesem Land bewegt. Ich bestreite ganz und gar nicht, dass ein Teil dessen, was uns in der Republik insgesamt geglückt ist, mit guten Unternehmern und fleißigen Arbeitnehmern, darauf zurückzuführen ist, dass Bundeskanzler Schröder seinerzeit im Rahmen der Agenda 2010 einen guten Weg eingeschlagen hat, nämlich einen Weg, den man von unserer Seite hat begleiten können. Da sind viele Dinge deckungsgleich. Es ist bei der Agenda 2010 so wie bei Ihrem Antrag: Immer dann, wenn Sie auf unserer Linie sind, sind Sie auf der rechten Spur. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will noch etwas dazu sagen, was uns unterscheidet - ich habe das vorhin schon einmal angedeutet -: Wir verfolgen mit der qualitativen Konsolidierung der Haushalte ein Konzept für ein nachhaltiges Wachstum. Es geht uns also nicht um Konjunkturimpulse auf Pump, wie es sich die linke Seite immer vorstellt. Danach müsse der Staat den Bürgern das Geld abknöpfen und wisse genau, wie er es investieren soll. Das ist Quatsch, meine Damen und Herren. Das geht regelmäßig schief, das Abkassieren nicht. Das können Sie - das wissen alle Bürgerinnen und Bürger -, das bekommen Sie gut hin. Dadurch kann man aber natürlich kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum generieren. Deshalb warne ich nachdrücklich vor dem, was bei Ihnen allen angekündigt wird, nämlich vor substanziellen Steuererhöhungen. Dabei geht es nicht nur um Ertragsteuern, sondern auch um Eingriffe in die Substanz, um Substanzsteuern. Herr Heil, sich dann hier hinzustellen und so zu tun, als stehe man auf der Seite des Mittelstandes, das ist schon unverfroren. (Zuruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich kann mir nicht vorstellen, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum dadurch generiert wird, dass man unabhängig von der Gewinnsituation des Mittelstandes in die Substanz der Betriebe eingreift, dass man über Erbschaft- und Vermögensteuer Geld kassiert. Sie erzählen ja, man würde damit Wirtschaftswachstum organisieren. Das ist komplett Schwachsinn, meine Damen und Herren. Diese Rechnung wird niemals aufgehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Klaus Barthel [SPD]: Da hält sich die Begeisterung in Grenzen!) Sämtliche Kritik, die seit heute Morgen 9 Uhr von der linken Seite des Hauses an der Koalition geäußert worden ist, muss sich an den Ergebnissen messen lassen. Ich sage es noch einmal: Sie haben aufgehört mit 5,5 Millionen Arbeitslosen. Das war Ihre Bilanz. Jetzt sind wir fast bei der Hälfte dieser Zahl Arbeitsloser. Dies zumindest ein bisschen anzuerkennen, wäre eine gute Sache. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind Ihre Reformen? - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Arbeitsvolumen ist nicht gestiegen!) - Liebe Kollegin Andreae, dieses Ergebnis ist jedenfalls nicht den Anträgen zu verdanken, die Sie stellen, sondern einer klugen Regierungspolitik, die wir nach der Bundestagswahl werden fortsetzen können. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da klatscht nicht mal der Kauder!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die SPD hat recht, wenn sie sagt, dass wir dringend Zukunftsinvestitionen benötigen. Aber was müsste die erste Zukunftsinvestition sein? Wir müssen die Binnenwirtschaft stärken. Wir müssen sie schon deshalb stärken, weil alle anderen Fraktionen zusammen den Export dadurch ruinieren, dass sie Südeuropa auf absolut desaströse Weise sozial ungerecht gestalten und damit dafür sorgen, dass dort die Kaufkraft abnimmt. Das führt dazu, dass unsere Exporte dorthin nachlassen werden. Es gibt nur eine Antwort darauf - das Ungleichgewicht muss sowieso überwunden werden -, nämlich dass wir eine stärkere Binnenwirtschaft brauchen. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen: Diesbezüglich lag die Agenda 2010 falsch. Herr Nüßlein, ich stimme Ihnen überhaupt nicht zu: Die SPD hat den Jahrestag gefeiert wie verrückt. Aber ich finde das völlig falsch, weil die Agenda 2010 der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundes-republik Deutschland war. (Beifall bei der LINKEN) Sie können gar nicht leugnen, dass die Armut dramatisch zugenommen hat. Sie können nicht leugnen, dass der Reichtum dramatisch zugenommen hat. (Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) 23 Prozent aller Beschäftigten sind heute prekär beschäftigt. Das ist etwas, was sich lohnt, worauf Sie stolz sein wollen? "Prekär beschäftigt" heißt: Es sind Aufstockerinnen und Aufstocker, es sind Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter; sie sind im Niedriglohnsektor bzw. in -Minijobs beschäftigt. Hinzu kommen die befristet Beschäftigten. Diese zählen gar nicht zu den prekär Beschäftigten. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir waren auch dabei!) - Ich spreche von Grünen und SPD. Union und FDP haben dabei aber mitgemacht und das noch verschlimmert. Darüber wollen wir gar nicht streiten. (Beifall bei der LINKEN) Von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes bis zum 35. Lebensjahr haben 52 Prozent ein befristetes Arbeitsverhältnis. Dann kommt die Union und sagt ihnen, sie sollen Familien gründen und mehr Kinder bekommen. Ja, wie denn? Wie soll denn jemand mit einem Halbjahresvertrag eine Perspektive haben? Davon kann niemand ausgehen. So bekommen Sie niemals eine gute Familienpolitik zustande. Das garantiere ich Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt kommt immer das Argument - auch von Ihnen wieder, Herr Nüßlein -, dass die Arbeitslosenzahlen so sehr zurückgegangen sind. Nehmen Sie bitte eine Tatsache zur Kenntnis: Wir haben jetzt dasselbe Volumen an Arbeitsstunden wie vor Beginn der Agenda 2010; es hat sich nichts geändert. Der einzige Unterschied ist, dass aus einer Vollzeitarbeitsstelle drei Drittelstellen geworden sind. Damit verbessern Sie die Statistik, aber nicht die Lage der Leute, im Gegenteil: Sie wird nur prekärer. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage heute, da wir einen neuen Papst haben: Wenn Franziskus die Agenda 2010 kennen würde, wäre er strikt dagegen; er stünde an unserer Seite. Das will ich Ihnen bloß mal sagen; Sie können darüber nachdenken. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Gregor I. von den Linken! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich dachte, du wolltest Papst werden! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Ich wollte, dass Sie mal Reaktion zeigen. Ich will Ihnen noch sagen: Wenn die Reichen mehr Geld haben - das muss die CDU/CSU mal zur Kenntnis nehmen -, dann spekulieren sie mehr. Wenn Arme, Geringverdienende oder durchschnittlich Verdienende mehr Geld haben, dann kaufen sie mehr Waren und nehmen mehr Dienstleistungen in Anspruch. Der Binnenwirtschaft können Sie nicht mit mehr Reichtum, sondern nur mit mehr sozialer Gerechtigkeit helfen. (Beifall bei der LINKEN) Ich führe Ihnen noch einmal die Unterschiede vor Augen. Zwischen 1992 und 2012 ist das Geldvermögen in Deutschland von 4,6 Billionen Euro auf 10 Billionen Euro gestiegen; es hat sich also mehr als verdoppelt. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das sagen Sie jetzt zum vierten Mal in diesem Plenum!) 0,6 Prozent der Haushalte besitzen davon knapp 20 Prozent, nämlich 1,9 Billionen Euro. Die unteren 50 Prozent der Haushalte - das ist auch interessant - besaßen 1998 4 Prozent des Geldvermögens und besitzen heute nur noch 1 Prozent des Geldvermögens. Auch das ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Warum korrigieren Sie das nicht und fangen nicht an, ganz anders politisch zu agieren und darüber nachzudenken, wie wir diesbezüglich zu einer anderen Gesellschaft kommen? (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir die Binnenwirtschaft stärken wollen, brauchen wir gerechte, höhere Löhne, Renten und Sozialleistungen. Aber wir müssen endlich auch den Steuerbauch überwinden; das sage ich Ihnen von der FDP, weil auch Sie das fordern. Es ist wirklich wahr - das möchte ich den Leuten sagen -: Der Verlauf unseres Einkommensteuertarifs ist nicht linear, sondern hat einen Bauch, und zwar bei der Mittelschicht der Gesellschaft, also den Facharbeiterinnen und Facharbeitern, den Meisterinnen und Meistern, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern, den Polizistinnen und Polizisten und vielen Selbstständigen. Sie alle müssen sehr viel mehr Steuern zahlen, als es gerecht ist. Deshalb muss dieser Steuerbauch weg. Warum ist der Steuerbauch da? (Zuruf von der CDU/CSU: Weil die von der SPD nicht mitmachen wollten!) Weil der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist. Sie wollen den Steuerbauch beseitigen - so weit sind wir einverstanden -, aber ohne Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Das geht nicht; denn es bedeutet, die Kommunen noch mehr pleite zu machen. Sie können sich jetzt schon kaum Investitionen in Schulen und Kindertagesstätten, in Kultur und Jugend leisten. Das geht nicht. Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen einen Ausgleich, einen höheren Spitzensteuersatz, und dann können wir endlich den Bauch bei der Mittelschicht beseitigen, der tatsächlich überwunden werden muss. (Beifall bei der LINKEN) Dann haben die auch mehr Netto vom Brutto. Also: Was müssen wir machen? Wir brauchen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde. Wir würden auch einem geringeren Mindestlohn zustimmen, aber er wäre falsch. Ich sage Ihnen noch einmal: Wir brauchen in Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen statt prekärer Beschäftigung gute Arbeit, höhere Renten und höhere Sozialleistungen. Das wäre die wichtigste Investition für unsere Binnenwirtschaft und damit für unsere Zukunft. Sie haben recht: Wir brauchen auch Investitionen im Energiebereich. Die erneuerbaren Energien müssen gefördert werden. Bis zum Jahre 2020 muss ihr Anteil von 25 Prozent auf 50 Prozent steigen. Was macht die Bundesregierung jetzt? Sie stellen die Förderung ein. Abenteuerlicherweise begründen Sie das auch noch mit den Strompreisen, Herr Altmaier. (Birgit Homburger [FDP]: Ach! So ein Schwachsinn!) Das ist der völlig falsche Weg. Wenn wir die erneuerbaren Energien endlich angemessen fördern und trotzdem Strompreise haben wollen, die sich die Leute leisten können, müssen wir sieben Schritte machen: Erstens. Wir brauchen, auch wenn es Ihnen nicht gefällt, eine Strompreisaufsicht; anders geht es nicht. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen die Abzocke durch die vier Konzerne beenden. Zweitens. Wir brauchen eine Senkung der Stromsteuer in dem Umfange, in dem wir eine Steuer für die erneuerbaren Energien erheben. Drittens. Die Privilegierung der Industrie muss, von wenigen Ausnahmen abgesehen, abgebaut werden. Es ist nicht hinnehmbar: Die Unternehmen mit dem höchsten Stromverbrauch müssen am wenigsten bezahlen. (Beifall bei der LINKEN) Viertens. Wir brauchen einen Sockeltarif für die Bürgerinnen und Bürger. Das wäre eine soziale Maßnahme. Wir sagen: Pro Haushalt gibt es jährlich 300 Kilowattstunden kostenfrei, zusätzlich 200 Kilowattstunden pro Person. Das bedeutet: Ein Einpersonenhaushalt erhielte 500 Kilowattstunden - sagen wir es einmal so - gebührenfrei, wenn auch nicht kostenfrei. Ein Zweipersonenhaushalt erhielte 700 Kilowattstunden gebührenfrei, und so ginge es immer weiter. Das wäre sinnvoll. Fünftens. Wir brauchen eine Abwrackprämie. Wer ein stromfressendes Haushaltsgerät verschrottet und ein neues Gerät mit hoher Energieeffizienz - Kühlschrank, Waschmaschine, Spülmaschine - erwirbt, sollte diese Abwrackprämie bekommen. Das reizt. Das hilft übrigens auch der Wirtschaft, und gleichzeitig macht es die Strompreise bezahlbar. Sechstens. Der Bund muss meines Erachtens für die Gebäudesanierung 3,5 Milliarden Euro bereitstellen. Siebtens. Es ist ja wichtig, die Gebäude zu sanieren - auch eine wichtige Investition -, aber wenn wir das Geld zur Verfügung stellen, müssen wir den Vermietern, die dieses Geld nehmen, verbieten, die Mieten zu steigern. Das ist nämlich das Entscheidende, damit das Ganze sozialverträglich wird. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie eine nachhaltige, ökologische Umgestaltung wollen und sie nicht sozialverträglich machen, dann erben Sie Blockierer, und zwar gerade in den armen Schichten der Bevölkerung. Es muss sozial sein, damit wir diese Schichten mitnehmen und für den ökologischen Umbau gewinnen können. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen natürlich auch in die Infrastruktur investieren, zum Beispiel in Verkehrswege, aber nicht in so etwas Sinnloses und wahnsinnig Teures wie Stuttgart 21, sondern in die Schieneninfrastruktur, in den Nah- und Fernverkehr, in Fahrwege, in Bahnhöfe für U-, Stadt- und Straßenbahnen, in Omnibusse und - ich sage es auch im Interesse der Grünen - in sichere Radwege. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht nur wegen uns!) - Nein, aber auch Ihretwegen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut!) Wir brauchen außerdem ganz dringend Investitionen im Bildungsbereich - ich bitte Sie! -, und zwar für die Schulgebäude, für die Ausrüstung, aber auch für die Qualifizierung und die Anzahl des Personals. Da muss investiert werden. Ich möchte Chancengleichheit für Kinder bei der Bildung. Davon sind wir meilenweit entfernt, übrigens gerade auch in Bayern, weil dort die Kinder schon nach der vierten Klasse getrennt werden. Das ist nichts anderes als soziale Ausgrenzung. Das geschieht in vielen anderen Bundesländern auch. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Trotzdem haben wir das beste Bildungssystem!) Wir brauchen auch Investitionen in Fachhochschulen und in Universitäten, überhaupt wieder in Forschung und Wissenschaft, die vernachlässigt werden, aber vor allem in Kindertagesstätten. Ab 1. August 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Und was führen Sie ein? Ein Betreuungsgeld, damit die Eltern ihre Kinder nicht in Kindertageseinrichtungen schicken. Ich bitte Sie! Dort lernen die Kinder soziales Verhalten. Dazu brauchen wir qualifiziertes Personal; das ist wichtig. Natürlich müssen Kindertagesstätten genauso wie Schulen ein gebührenfreies, vollwertiges und gesundes Mittagessen anbieten. (Beifall bei der LINKEN) Das Deutsche Institut für Urbanistik hat übrigens festgestellt, dass wir bis zum Jahre 2020 Investitionen von 704 Milliarden Euro benötigen. Jetzt kommt ein Punkt, der mich auch erstaunt hat: Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Höhe der deutschen Investitionen innerhalb der EU am untersten Rand liegt. Nicht dieses reiche Deutschland investiert mehr als Länder wie Spanien etc., nein, weniger. Ja, sagen Sie mal! Wo leben wir denn hier eigentlich? Herr Rösler, da müssten selbst Sie erschreckt und erstaunt sein. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Aber auf jeden Fall!) Ich kann nur sagen: Das geht nicht. Wenn wir nur den EU-Durchschnitt erreichen wollen, müssten wir 30 Milliarden Euro pro Jahr investieren. Aber die reichen gar nicht aus. Wie gesagt, das Institut für Urbanistik hat festgestellt: Wir brauchen 704 Milliarden Euro für Verkehr, für Wasser, für Abwasser, für Kitas, für Schulen. Genau da muss investiert werden. Wir haben gesagt: Wir brauchen gute Arbeit und gerechte Löhne. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal - Mindestlohn ist klar -: Leiharbeit möchte ich überwinden. Aber wenn Sie sie nicht überwinden, führen Sie doch endlich nicht nur den gleichen Lohn für die Leih-arbeiterinnen und Leiharbeiter wie für die Stammbelegschaft ein, sondern einen Zuschlag von 10 Prozent wie in Frankreich. Dieser Zuschlag ist mir wichtig. Es muss für das Unternehmen teurer sein, eine Leiharbeiterin oder einen Leiharbeiter zu beschäftigen. Außerdem verdienen die Leute dieses Geld. Dann wird es nämlich zur Ausnahme und nicht Schritt für Schritt zur Selbstverständlichkeit, wie es leider in unserer Gesellschaft geworden ist. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie noch mal, was das alles kostet, was Sie hier gefordert haben!) - Ja, passen Sie auf. Wir müssen die Befristung verbieten, wenn sie ohne sachlichen Grund erfolgt, wenigstens das. Ich bin es leid, dass die Leute fast nur noch befristete Verträge erhalten. Fast alle Neueinstellungen erfolgen inzwischen befristet und damit ja auch ohne Kündigungsschutz. (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt gar nicht! Er hat keine Ahnung!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Sie wollen doch nicht sagen, dass meine Redezeit schon um ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die ist schon quasi mehr als um. Ich sage das nicht, aber die Uhr. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ja, ich höre ja auch auf. Ich hätte Ihnen noch so viel erklärt, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er möchte noch mehr verteilen! Sagen Sie das doch!) wie das Ganze zu finanzieren ist. Aber wissen Sie: Der Redner vor mir hatte auch elf Minuten, und die dauerten so viel länger als meine. Daran müssen wir mal was ändern. Ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Birgit Homburger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Birgit Homburger (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts des Antrages, den wir heute diskutieren, war ich doch einigermaßen verwundert, Herr Heil, über die Rede, die Sie hier abgeliefert haben. Ich habe den Eindruck: Das war die Rede, die Sie jede Woche hier halten - einmal aus der Schublade gekramt und wieder runtergeleiert. Jedenfalls steht nichts von dem, was Sie hier erzählt haben, in Ihrem Antrag. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: Sie haben ihn nicht gelesen!) Insofern, verehrter Herr Heil, rate ich Ihnen dringend, diesen Antrag einmal zu lesen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe ihn mit geschrieben!) Ich habe mir diese Mühe gemacht, und ich kann nur sagen: Das scheint die Zusammenfassung der derzeitigen wirtschaftspolitischen Forderungen und Kernpositionen der SPD zu sein. Wenn das alles ist, dann gute Nacht, Deutschland! (Beifall bei der FDP) Wenn ich mir anschaue, über was alles Sie nicht reden in Ihrem Antrag mit dem großen Titel "Deutschland 2020", dann stelle ich fest: Sie reden beispielsweise nicht über Grundvoraussetzungen für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, nicht über den Arbeitsmarkt, auch was die Bedeutung von Arbeitskosten angeht. Auch das Stichwort "Haushaltskonsolidierung" sucht man erfolglos in diesem Antrag. Über die Bedeutung von Steuern für die weitere wirtschaftliche Entwicklung reden Sie ebenfalls nicht. Das ist auch besser so; denn wer 30 Milliarden Euro Steuererhöhungen fordert, der kann eben nicht über diese Rahmenbedingungen sprechen, die für die Wirtschaft nur bedeuten, dass es für sie schwieriger wird und nicht besser. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde es ganz besonders apart, dass Sie sich hier hingestellt und wieder mal die Agenda 2010 für sich reklamiert haben. Klar, das können Sie natürlich; aber Sie reklamieren die Erfolge, die wir derzeit in der Wirtschaftspolitik und am Arbeitsmarkt haben, für sich und für die Agenda 2010. Sehr geehrter Herr Heil, ich möchte, dass Sie sich endlich einmal die Mühe machen, sich die geschichtliche Wahrheit nicht nur anzuschauen, sondern vielleicht auch vorzutragen. Sie verschweigen nämlich, dass Rot-Grün, nachdem Sie 1998 die Regierung übernommen haben, als Erstes eines gemacht hat: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir haben 16 Jahre Reformstau abgebaut!) Sie haben all die Reformmaßnahmen, die wir, Schwarz-Gelb, 1996/97 durchgeführt haben, rückgängig gemacht, (Dr. Martin Schwanholz [SPD]: Sie haben ein marodes Land hinterlassen! 1998 war Deutschland am Ende!) um sie Jahre später mit der Agenda 2010 wieder einzuführen. Das ist keine bemerkenswerte Leistung, sondern es ist eine bemerkenswerte Einsicht, die Sie mit der Agenda 2010 gezeigt haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt feiern Sie die Agenda 2010 in großen Festakten. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Feiern sie jetzt, oder feiern sie nicht? Sie müssen sich mal entscheiden!) Aber in Ihrem Programm schleifen Sie die Agenda 2010. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Korrigieren!) Ihre wirtschaftliche Position ist inkonsistent, und das, was Sie hier in der Wirtschaftspolitik abliefern, ist an Schizophrenie nicht mehr zu überbieten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kein Wunder, dass Sie als FDP was auf die Mütze bekommen!) Das geht bei der Verkehrsinfrastruktur weiter. Natürlich ist es wichtig, dass wir in die Verkehrsinfrastruktur investieren, und das tun wir auch im Rahmen der Möglichkeiten, die der Haushalt bietet. (Sören Bartol [SPD]: Wo denn? - Weitere -Zurufe von der SPD) - Sie brauchen gar nicht so zu tun. - Ich will Ihnen nur einmal sagen: Sie haben in der Vergangenheit, egal in welcher Regierung Sie waren, in die Verkehrswege weniger investiert als das, was jetzt von uns investiert wird. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!) Unser Investitionsrahmenplan sieht vor, dass in den nächsten Haushalten das Niveau von 10 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen erhalten wird. 2013 wirkt zusätzlich ein Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II, das weitere 750 Millionen Euro umfasst. Wenn Sie, die SPD, in der Verantwortung sind, dann kürzen Sie die Verkehrsinvestitionen, und wenn Sie in der Opposition sind, dann fordern Sie gemeinsam mit den Grünen üppige Aufstockungen, ohne irgendeine Antwort auf die Frage zu geben, wie Sie das finanzieren wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: Was? Quatsch! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo haben Sie denn das aufgeschnappt? Auf dem FDP-Parteitag, oder was?) Dann kommen Sie daher und fordern in Ihrem Antrag auch noch ein Investitionspaket zur Finanzierung der kommunalen Verkehrsinfrastruktur. (Zuruf von der SPD: Gute Idee!) Sie vergessen, dass es immer noch eine Investitionshilfe vom Bund gibt, obwohl man in der Föderalismuskommission II eine Entflechtung beschlossen hat, und zwar mit Ihren Stimmen. Trotzdem gibt es bis zum Jahr 2019 Mittel: 1,4 Milliarden Euro jährlich Kompensationszahlungen, (Sören Bartol [SPD]: Sie haben es nur um ein Jahr verlängert! Erzählen Sie doch nicht so was!) 330 Millionen Euro Bundesmittel und Regionalisierungsmittel für den ÖPNV in Höhe von 7 Milliarden Euro. (Sören Bartol [SPD]: Das ist auch noch falsch! Falsch! Falsch!) Das ist das, was der Bund für die Kommunen zahlt. Jetzt gehen Sie her und erklären in Ihrem Antrag, Sie wollten noch mehr. Ich sage Ihnen eines: So kann man nicht miteinander arbeiten. Sie interessieren sich nur für eines: Geld abholen und Geld abzocken, wo es gerade geht. Da ist Ihnen der Bund recht. Wenn es beim Bund nichts zu holen gibt, dann bei den Bürgerinnen und Bürgern durch Steuererhöhungen. Das ist Ihre Politik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: 1 Milliarde Euro an Hoteliers jedes Jahr! Das ist eure Lieblingsklientel!) Sie schwadronieren darüber, dass man die industrielle Basis und den Mittelstand nicht schwächen dürfe. So steht es in Ihrem Antrag. Wunderbar! Was fällt Ihnen als Lösung ein? Sie wollen die Lkw-Maut auf alle Bundes-, Landes- und Kommunalstraßen ausweiten. Das ist eine wirtschaftliche Katastrophe für die Logistik, das Transportgewerbe und das Handwerk. Wenn man dazu die Vorstellungen der Grünen von einer Logistikabgabe in Höhe von 2 Milliarden Euro jährlich und einer Ausweitung und Erhöhung der Lkw-Maut auf alle Lkw über 3,5 Tonnen addiert, kann man nur sagen: Bei Logistik, Transport und Handwerk gehen mit Rot-Grün die Lichter aus. Das jedenfalls werden wir verhindern, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Recht hat sie! - Sören Bartol [SPD]: Sie werden von den Leuten eh nicht mehr gewählt!) Ein anderes Thema: EEG. Herr Gysi, es war interessant, was Sie dazu gesagt haben. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie nicht irgendwann anfangen, die Übersubven-tionierung zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher, die wir im EEG haben, zu reduzieren, dann wird es nicht funktionieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) Deshalb haben wir eine Reform des EEG vorgeschlagen, weil Energie bezahlbar bleiben muss. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen das doch abschaffen!) Das, was Sie auf der linken Seite des Plenums machen, ist eines: schamlose Klientelwirtschaft. Das muss man Ihnen irgendwann auch mal sagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Lachen bei der SPD - Sören Bartol [SPD]: Das sagt die Hotelpartei! 1 Milliarde für Hoteliers! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die FDP kann man nicht kaufen, aber mieten kann man die FDP! - Gegenruf des Abg. Klaus Breil [FDP]: Mieten kann man den Steinbrück!) Dann fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche Investitionen für Forschung. Sie können das natürlich gerne fordern. Aber ich frage Sie, Herr Heil: Warum haben Sie dies in Ihrer Regierungszeit eigentlich nicht gemacht? Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!) hat in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden Euro mehr in Forschung und Bildung investiert. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist die steuer-liche Forschungsförderung geblieben?) Das ist eine klare Schwerpunktsetzung. Wir stellen per anno 14 Milliarden Euro Mittel für Forschung und Entwicklung zur Verfügung. Das ist der höchste Betrag, den wir in diesem Land je zur Verfügung gestellt haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn die steuerliche Forschungsförderung?) Das haben wir umgesetzt in der Hightech-Strategie, in der Innovationsstrategie, in einer Zusammenarbeit mit Universitäten, um Forschungserfolge in Innovationen umzusetzen. Jetzt wollen Sie noch mehr Geld. Meine Damen und Herren, wir haben es gemacht. Sie reden nur davon, und wenn Sie regieren, machen Sie das Gegenteil. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie stellen sich hier hin und reden darüber, dass es in den USA Preisminderungen bei der Energie durch eine Revolution bei der Schiefergasförderung gebe. Ja, Herr im Himmel: Was machen Sie eigentlich in Deutschland? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert denn hier?) Sie betonen die Risiken. Über die Chancen habe ich Sie an dieser Stelle noch nie reden hören. Also erwecken Sie nicht den Eindruck, als wenn Sie diese Technologie unterstützen wollten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist die Position der Bundesregierung dazu?) Sie wollen eine Initiative zur Schaffung von Technikverständnis auf den Weg bringen. Auch das ist ganz bemerkenswert, Herr Heil. In Hannover, wo Sie gerade die Regierung gebildet haben, haben SPD und Grüne beschlossen, dass das Projekt HannoverGEN beendet wird. Das heißt, das Projekt - ein prämiertes Modell der Initiative "Deutschland - Land der Ideen" -, bei dem beispielsweise Schüler durch molekularbiologische Experimente an das Thema Biotechnologie herangeführt werden, um Chancen und Risiken zu diskutieren, schaffen Sie ab. Sie reden auf Bundesebene das eine, aber in den Ländern, in denen Sie regieren, machen Sie das Gegenteil. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: Es ist gut, dass Sie bald nirgendwo regieren!) Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird in Ihrem Antrag und der Debatte deutlich: Es gibt einen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün. (Martin Dörmann [SPD]: Das ist der erste wahre Satz!) Das ist ein klares Bild: Wir wollen eine Stabilitätsunion, Sie wollen eine Schuldenunion; wir wollen die Haushaltskonsolidierung, Sie wollen Mehrausgaben; wir wollen Leistungsgerechtigkeit, Sie wollen Steuererhöhungen; wir wollen Wettbewerb im Energiebereich, Sie wollen klientelorientierte Planwirtschaft; wir wollen sozialen Aufstieg durch bessere Bildung, das, was Sie durch Einheitsschulen in den Ländern machen, bedeutet Bildungsabstieg. Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe von der FDP: Bravo! - Super! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war Frau Brüderle!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat für Bündnis 90/Die Grünen Kerstin Andreae das Wort. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es gibt große Unterschiede zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün, und das ist gut so. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Wir werden die nächsten Wochen und Monate dazu nutzen, diese deutlich zu machen. Der große Unterschied besteht vor allem darin, dass Sie Besitzstände und Zugangsbarrieren wahren, dass Sie sich nicht trauen, Altes zu hinterfragen, dass Sie nicht nach vorne gehen, dass Sie keinen Mut zur Veränderung haben, sondern dass Sie beharren und abwarten. Das ist der große Unterschied. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie ruhen sich auf den Taten von Vorgängerregierungen aus. Sie leben von der Hand in den Mund. (Dr. Florian Toncar [FDP]: Phrasen über -Phrasen!) Wir werden bei den Haushaltsberatungen demnächst deutlich aufzeigen, dass Sie von der Hand in den Mund leben, dass Sie nur noch kurzfristig und nicht mehr langfristig in die Zukunft denken und sich nicht mehr trauen, voranzugehen. Ja, wir sind ein starker Industriestandort, aber was waren die relevanten Weichenstellungen der letzten Jahre, des letzten Jahrzehnts, damit wir dieser relevante Industriestandort werden? Ja, wir haben vor zehn Jahren verkrustete Strukturen aufgebrochen. Das war richtig so. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Es ist auch richtig, sich heute zu fragen: Wo gab es Fehlentwicklungen? Die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist eine Fehlentwicklung, die wir nicht hinnehmen können. Wir brauchen den Mindestlohn, um hier gegenzusteuern. Es war richtig, verkrustete Strukturen aufzubrechen, Besitzstände zu hinterfragen. Da muss keiner in die Furche gehen, da muss sich keiner verstecken. Man muss den Mut haben, zu sagen: Was muss verändert werden, damit es noch besser wird, damit wir weiter vorankommen? Grüne und SPD tun das. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben mit mutiger Industriepolitik die richtigen Weichen gestellt, (Klaus Breil [FDP]: Mutige Industriepolitik? Das ist doch wohl ein Scherz!) zum Beispiel mit der Ökosteuer. Ich kann mich noch gut erinnern: Als die FDP in der Opposition war, wollte sie immer die Ökosteuer abschaffen; das war ihr Schlagwort. (Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]) - Da würde ich nicht klatschen. - In dem Moment, wo Sie regiert haben, haben Sie das Thema nicht mehr angefasst, weil Sie zum einen wussten, dass Sie die Einnahmen brauchen, und zum anderen, weil Sie erkannt -haben, dass das Prinzip, Ressourcen, Rohstoffe und Energie teuer und Arbeit billiger zu machen, grundsätzlich ein richtiges Prinzip ist. Das haben wir durch die Einführung der Ökosteuer umgesetzt. An diesem Punkt müssten Sie weiterentwickeln. Das wäre kluge und vernünftige Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir das große industriepolitische Projekt der letzten Dekade angefasst. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sollten doch nichts anfassen! Sie sollen was machen!) Wo sind denn die Jobs geschaffen worden? Wo gab es Wertschöpfung? Wo sind die Zukunftsmärkte im Bereich Umwelttechnologie? Im Bereich erneuerbare Energien und Energietechnologie! Dort gibt es Wertschöpfung, dort sind die Jobs. Heute Morgen haben wir die Debatte hier verfolgt. Der Wirtschaftsminister hat über das EEG geredet und hat über Planwirtschaft fabuliert. Wie war denn die Situation? Vier große Energieversorgungsunternehmen haben sich den Energiemarkt in Deutschland aufgeteilt. Ist das Wettbewerb gewesen? Nein! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was hat das mit Wettbewerb zu tun, wenn 100 Prozent subventioniert sind? So ein Quatsch!) Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist Wettbewerb geschaffen worden. Kleine Unternehmen und Stadtwerke sind eingestiegen. Das war Wettbewerbspolitik. Das hat Zukunft geschaffen; das hat Jobs geschaffen. Deswegen ist das Fabulieren von Wirtschaftsminister Rösler über Planwirtschaft der totale Blödsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Da dreht sich ja Ihre Universität um in Freiburg, wenn man so was erzählt!) Was müssen Sie machen? Sie müssen Investitions-sicherheit schaffen. Wir reden immer noch über das EEG; gerade wurde angedeutet: Eigentlich muss man es abschaffen. - Die vier EEG-Novellen der letzten zwei Jahre haben doch nur zu Planungsunsicherheit bei den Investoren und zu Unklarheit bei den Handwerkern geführt, weil keiner wusste, wie es weiterging. Alles hat gestockt. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wenn wir die Vergütungssätze von damals hätten, dann wären wir pleite!) Letztlich haben Sie die Hand auf die Solarbranche gelegt, anstatt zu sagen: Wir entwickeln weiter, wir gehen den Weg vernünftig weiter. Sie haben keinen Plan vorgelegt. Sie haben sich als Sargnagel der Solarbranche erwiesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen Innovationssicherheit schaffen. Sie müssen Innovationen voranbringen. Wenn wir das alle wollen, dann lassen Sie uns doch gemeinsam die steuerliche Forschungsförderung beschließen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ja, dann macht doch mal! Im Koalitionsvertrag steht: Die wollen es. - Wir wollen es auch. Ich sage: Das könnten wir tun. Wir wären jederzeit dabei. Sie müssen Prioritäten setzen. In diesem Zusammenhang komme ich noch auf die Verkehrsinfrastruktur zu sprechen. Bundeskanzlerin Merkel hat vor der baden-württembergischen Wahl Stuttgart 21 zur Richtungsentscheidung gemacht. Sie haben die Wahl verloren. Sie haben die Grünen damals als Dagegen-Partei bezeichnet. Ja, wir sind dagegen, das Geld der Steuerzahler für ein Projekt aus dem Fenster zu werfen, das einen negativen Kosten-Nutzen-Faktor hat, für ein Projekt, das sich wirtschaftlich nicht mehr rechnet. Das ist kein grünes Projekt, und das wird kein grünes Projekt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Frage lautet doch: Wie sieht moderne Infrastruktur der Zukunft aus, und wo setzen wir die Prioritäten? Das große Drama steht uns ja noch bevor: Der Bundesverkehrswegeplan wird noch vorgelegt. Am schlimmsten ist es immer, wenn über Bundesverkehrswegepläne in Wahljahren diskutiert wird. Es liegt eine bayerische Vorschlagsliste vor. Wenn wir die Kosten für diese Projekte aufsummieren, stellen wir fest, dass dadurch alle Gelder, die überhaupt für Verkehrsprojekte zur Verfügung stehen, aufgefressen würden. In Wahlkampfzeiten wird jedem alles versprochen. Nein, Sie müssen den Mut haben, voranzugehen, Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen. Wer das vorbildlich macht, ist die baden-württembergische grün-rote Landesregierung. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha, ha, ha!) Sie hat gesagt: Wir schauen uns an, was wir bezahlen können. - So muss es sein. (Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Abg. Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es tut mir leid, meine Stimme ist weg. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es bedauerlich, dass verschiedene Kollegen, insbesondere von der linken Seite des Hauses, das Rednerpult hier im Deutschen Bundestag mit der Parteitagsbühne verwechseln. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist der Sache nicht dienlich. Die Bürger, die unsere Debatte verfolgen, erwarten Antworten auf bestimmte Zukunftsfragen, denen sich die heutige Debatte widmet. Das Thema ist viel zu ernst, als dass man hier nur draufschlagen könnte, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Deshalb möchte ich sagen: Herr Bundesminister Rösler, Ihre Ausführungen waren wohltuend und richtungsweisend. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Das war überzeugend. Das ist der richtige Weg in die Zukunft. Dieser Weg sollte auch in Zukunft von uns gegangen werden. (Mechthild Rawert [SPD]: Mit Sicherheit nicht!) Ein altes Sprichwort lautet: Wer nicht innoviert, der verliert. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Innoviert? Was ist denn "innoviert"?) Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind das Land der Innovationen. Dafür haben wir, dafür hat diese Regierung die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen. Zu Beginn dieses Jahres können wir alle zusammen mit Stolz feststellen: Deutschland hat die wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft Europas. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unser Land ist das einzige Industrieland, das heute deutlich weniger Arbeitslose hat als vor Ausbruch der Finanzkrise. Wir bleiben der Stabilitätsanker Europas. Das lassen wir uns auch von Ihnen von der linken Seite dieses Hauses nicht nehmen. Für diese hervorragenden Erfolge zeichnet diese Regierung, die sich seit drei Jahren im Amt befindet, verantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese positive Entwicklung ist aber auch ein Verdienst der Wirtschaft, insbesondere der mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer sowie deren Mitarbeiter. (Rolf Hempelmann [SPD]: Die sind auch alle so begeistert!) Mit Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und vernünftigen Rahmenbedingungen haben wir die schwere Rezession überwunden und für neues Wachstum gesorgt. Ohne Zweifel - auch das möchte ich sagen, Herr Kollege Heil - wurden die Grundlagen dafür bereits in der Großen Koalition gelegt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und davor!) Sie haben zumindest mitgeholfen. Damals war ein gewisses Verständnis vorhanden. Damals hat man gewusst, dass man etwas machen muss. Wenn das heute noch so wäre, wären Sie sicherlich ein Stück weit besser. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Rolf Hempelmann [SPD]: Wir sind eigentlich weiter!) Besonders anerkennen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze ihrer Beschäftigten über Kurzarbeit auch in schwierigen Zeiten erhalten haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Olaf Scholz!) An dieser Stelle ist auch zu sagen: Gerade was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt - das wurde heute schon mehrmals gesagt -, dürfen wir uns glücklich schätzen, ein duales Berufsausbildungssystem zu haben, das den jungen Menschen die Möglichkeit gibt, für das spätere Leben zu lernen, was sie dringend zu lernen haben, damit wir genügend Fachkräfte haben, damit wir positiv in die Zukunft blicken können und damit all die Aufgaben bewältigt werden können, die in dieser schnelllebigen Zeit vermehrt auf uns zukommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Rolf Hempelmann [SPD]: Das habt ihr aber nicht in dieser Legislaturperiode gemacht!) Gerade die deutsche Volkswirtschaft mit ihrer Innovationskraft schneidet im globalen Wettbewerb sehr erfolgreich ab. Unsere Wertschöpfung beruht überwiegend auf forschungsintensiven Produkten und Dienstleistungen. Das Geheimnis des Erfolges ist: Auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung setzen wir konsequent weiter auf Zukunftsinvestitionen, auf Bildung und Forschung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie versuchen mit Ihrem Antrag, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Auch Sie fordern jetzt Zukunftsinvestitionen für die deutsche Wirtschaft. Mit Ihrem Antrag "Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern" wollen Sie doch nur verdecken, dass Sie wirtschaftspolitisch völlig ins Hintertreffen geraten sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der erste Satz Ihres Antrags lautet - da sind Sie durchaus selbstkritisch -: Wir brauchen wieder ein klares Bild von Deutschlands Zukunft. Was soll denn das heißen? Das haben wir doch. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) Wir geben Ihnen gerne Nachhilfeunterricht, wenn Sie das benötigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich schätze viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen. Sie sind auf der Höhe der Zeit und wissen, worauf es ankommt. Ein Großteil ist aber scheinbar noch nicht so weit. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!) Es ist schade, dass Sie sich mit Ihrem aktuellen Wahlprogramm von dem verabschiedet haben, was Sie noch während der Zeit der Konjunkturpakete vertreten haben. All das, was Sie fordern, machen wir schon lange. Meistens waren Sie dagegen. Sie schreiben zum Beispiel: Technologische Leistungsfähigkeit der Industrie sichern - Innovationen fördern und den Mittelstand stärken (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!) Wir handeln doch längst. Der Haushalt 2013 des Bundesforschungsministeriums ist gegenüber dem Vorjahr um 6,2 Prozent auf insgesamt 13,7 Milliarden Euro gestiegen. Fakt ist: Von 2010 bis 2013 wurden insgesamt sogar 13,3 Milliarden Euro zusätzlich bereitgestellt. Wir haben Wort gehalten und sogar noch draufgelegt. Das ist in Zeiten der Euro-Krise auch international ein viel beachtetes Signal. Wir haben versprochen, die Innova-tionsausgaben der deutschen Wirtschaft 2012 auf ein -Rekordniveau zu bringen. Fakt ist: Wir haben mit 138 Milliarden Euro ein Rekordniveau erreicht. In diesem Jahr könnte sogar die Schwelle von 140 Milliarden Euro geknackt werden. Wir wollen, dass Deutschland gut durch die Krise kommt. In diesem Zusammenhang möchte ich einen weiteren Fakt besonders herausarbeiten: Knapp 34 000 Unternehmen forschen und entwickeln kontinuierlich. 1 200 davon sind sogar Weltmarktführer. Darauf müssen wir weiter aufbauen. Die Hightech-Strategie zielt in besonderem Maße auf den innovativen Mittelstand. Hier ist Fakt: Die Projektförderung der Hightech-Strategie wird rund 2,3 Milliarden Euro erhalten. Gegenüber 2009 ist das eine Steigerung von rund 24 Prozent, gegenüber 2005 sogar um rund 90 Prozent. Wir wollen eine Steigerung der Investitionen für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes anpeilen. Hier ist Fakt: Mit 2,9 Prozent hat Deutschland das EU-Ziel von 3 Prozent nahezu erreicht. - Das sind doch Zahlen, die sich sehen lassen können. Darauf sind wir stolz. Auch Sie sollten stolz sein; denn hier geht es um die gesamte Bundesrepublik Deutschland und nicht um parteitaktische Hin- und Herschiebereien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die kleinen und mittleren Unternehmer haben ihre Zukunftsinvestitionen in FuE überproportional um 9,1 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro erhöht. Auch das kann sich sehen lassen. Unsere Politik wirkt. Das möchten wir gerade auch über diese Debatte der Öffentlichkeit vermitteln. So wollen wir erreichen, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, unseren Weg mitzugehen, damit wir so gut bleiben wie in den letzten Jahren. Ich möchte auf das verweisen, was mein alter Lehrmeister und Freund Michael Glos einmal gesagt hat: Der liebe Gott hat den Menschen die Augen nach vorne gesetzt. Deshalb blicken wir nach vorn. - Dabei setzen wir uns ehrgeizige Ziele. Wir wollen bis 2020 in den Rankings zur Spitzengruppe der technologie- und innova-tionsfreundlichsten Länder weltweit gehören. Wir wollen bis 2020 die Zahl der forschenden Unternehmen auf 40 000 und die Zahl der innovativen Unternehmen auf 140 000 erhöhen. (Klaus Barthel [SPD]: Planwirtschaft!) Wir wollen unsere Spitzenstellung als Weltmeister von Technologieexporten halten und weiter ausbauen. Bewusst haben wir dazu das Bundeswirtschaftsministerium zur Speerspitze der Innovationsförderung ausgebaut. Bundesminister Rösler weiß das zu nutzen. Das muss, meine ich, erwähnt werden. (Sören Bartol [SPD]: Wo ist denn der -Minister?) Gerade kam der Zwischenruf vom Arbeiterführer der SPD, von Herrn Barthel, das, was ich hier vortrage, sei Planwirtschaft. Dazu muss ich sagen: Er versteht unter Planwirtschaft etwas ganz anderes als ich. Ich bin nicht bereit, seinen Weg mitzugehen, den er hier oftmals meint vertreten zu müssen. Damit ist er schon des Öfteren auf die Schnauze gefallen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Schwerpunkt ist das "Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand". Die Mittel dafür steigen gegenüber 2012 noch einmal an, und zwar auf mehr als 500 Millionen Euro. Den neuen Ländern sollen 40 Prozent dieser Mittel zugutekommen. Für die Unterstützung der Forschungsinfrastruktur für den Mittelstand stehen fast 200 Millionen Euro zur Verfügung. Ich weiß, dass Zahlen ermüdend sind. Aber diese Zahlen sind wichtig. Wir sollten glücklich und froh darüber sein, dass hier ein Haushalt aufgelegt wurde, der solche Zahlen enthält. Dadurch wird der Innovations-standort Bundesrepublik Deutschland weiter nach vorne gebracht. Mit insgesamt 83 Millionen Euro werden innovative Unternehmensgründungen unterstützt. Auch das ist Politik für die Zukunft. Sie von der SPD fordern den Ausbau der Energie-infrastruktur für die Energiewende. Wir haben auf den Weg gebracht, was unter Rot-Grün leider liegen geblieben ist. Deutschland übernimmt bei der Energiewende eine Vorreiterrolle für alle Industrienationen. Hier betreten wir Neuland. Ihnen von den Grünen möchte ich sagen: Sie fordern immer wieder den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie; aber wenn es darauf ankommt, etwas dafür zu tun, sind Sie dagegen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch gut so!) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Deshalb muss ich darauf verweisen, dass wir uns grundsätzlich von Ihnen unterscheiden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott sei Dank!) Wir gestalten die Zukunft und überprüfen, was sich machen lässt und was möglich ist. Wir wollen die Menschen, die Wirtschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesem Weg mitnehmen und weiterhin insbesondere auf den Mittelstand und auf Innovation setzen; - Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege! Ernst Hinsken (CDU/CSU): - denn das hat uns weitergebracht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sören Bartol (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gysi, der neue Papst hat es wirklich nicht verdient, dass er gleich am Anfang seiner Regentschaft von der Linkspartei vereinnahmt wird. Ich finde, das ist schon ein starkes Stück. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Liebe Frau Homburger - ich wollte eigentlich sagen: Frau Brüderle -, das, was Sie gerade gemacht haben, ist ebenfalls ein starkes Stück. Ab und zu reicht es, sich an den Fakten abzuarbeiten. Ihre Partei hat es geschafft, dem Etat durch die Hoteliersteuer 5 Milliarden Euro zu entziehen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ach, komm!) Sie aber stellen sich jetzt hier hin und sagen, dass Geld fehlt. Sie betreiben wirklich reine Klientelpolitik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage Ihnen: Unsere Klientel sind die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Ich finde, genau so sollte es sein. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Es sind aber nicht so viele, wie Sie glauben!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Zukunfts-investitionen, die für eine starke Wirtschaft und für Beschäftigung wichtig sind, gehört ganz entscheidend die Infrastruktur. Deutschland ist ein Land mit einer hervorragenden Infrastruktur; das ist auch gut. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Seit letztem Donnerstag ist der Nord-Ostsee-Kanal für große Schiffe gesperrt. Der Grund: Minister Ramsauer hat die Mittel für die Schleusen gekürzt. Der Bundestag hat schon vor mehreren Jahren 300 Millionen Euro für neue Schleusenkammern freigegeben. Aber es musste erst zu einer Sperrung kommen, bis Minister Ramsauer die Ausschreibung nun endlich fertig hat. (Beifall bei der SPD - Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister: Hören Sie auf, zu lügen!) Schlimmer noch sieht es bei den Autobahnbrücken aus. 302 Brücken sind laut Verkehrsinvestitionsbericht so marode, dass ihre Vollsperrung droht. Was dies bedeutet, ließ sich bis vorige Woche in Leverkusen besichtigen. Die dortige Rheinbrücke war wegen Baufälligkeit drei Monate lang für Lkw gesperrt. 13 000 Lastwagen mussten täglich einen 20 Kilometer weiten Umweg fahren; sie verstopften den Kölner Ring. Das macht zusammen einen Umweg von circa 20 Millionen Kilometern. Oder anders ausgedrückt: Es fielen ungefähr 20 Millionen Euro höhere Transportkosten an, für Ford, für -Lanxess, für Bayer und andere. Das zeigt doch, dass es diese Bundesregierung - der verantwortliche Minister sitzt ja dort - überhaupt nicht schafft, die Verkehrsinfrastruktur zu sichern. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kann man in Deutschland keine Verkehrspolitik betreiben, und so kann man vor allen Dingen keine Industriepolitik betreiben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sören Bartol (SPD): Des Kollegen Vogel? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ja. Sören Bartol (SPD): Sehr gern. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Sören Bartol (SPD): Aber die Uhr müssten Sie anhalten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das ist schon passiert. Sören Bartol (SPD): Sehr schön. Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Kollege Bartol, eine ganz kurze Frage: Könnten Sie aufzählen, welche Verkehrsminister zwischen 1998 und 2009 im Amt waren, und sagen, welcher Fraktion sie angehört haben? (Rolf Hempelmann [SPD]: Das müssten Sie doch eigentlich selber wissen! - Dr. Florian Toncar [FDP]: Das ist unmöglich! Das waren so viele! - Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sören Bartol (SPD): Das ist relativ einfach: Die Sozialdemokratie hat die Verkehrspolitik der letzten Jahre in diesem Land erfolgreich gestaltet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Lieber Kollege Vogel, wir waren aber nicht diejenigen, die einen Finanzierungskreislauf geschaffen haben, bei dem es heißt: "Straße finanziert Straße", sondern wir haben gesagt: Alle Verkehrsträger in diesem Lande sind wichtig, und alle Verkehrsträger brauchen eine Finanzierung. Da wir gerade über den Nord-Ostsee-Kanal reden, muss ich Ihnen sagen: Dass Sie versuchen, das, was dort geschehen ist, uns in die Schuhe zu schieben, ist ein Witz. Wer hat sich denn im Landtagswahlkampf hingestellt und einen Spatenstich gemacht, aber seitdem nichts getan? Wer ist denn derjenige, der die WSV-Reform so durchgeführt hat, dass sie am Ende völlig vermurkst war, und nun die gesamte Verwaltung völlig durcheinanderbringt? (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt zählen Sie doch erst mal die Minister auf! Das will der Kollege doch hören!) In der kurzen Zeit, in der Minister Ramsauer die Verantwortung trägt, haben Sie eine sehr schlechte Verkehrs-politik gemacht. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Komm, komm!) Sie haben immer wieder Ankündigungen gemacht, gleichzeitig aber Geld verloren. Ich glaube, das zeigt, wer in diesem Lande die Verantwortung für die derzeitige Situation trägt. (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist einer der besten Verkehrsminister der letzten Jahrzehnte!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Scheuer? Sören Bartol (SPD): Ja. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das nicht ein Staatssekretär? - Gustav Herzog [SPD]: Herr Staatssekretär! Ah!) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle fest, (Gustav Herzog [SPD]: Nein, nicht feststellen! Fragen!) dass Kollege Bartol die Frage des Kollegen Vogel, wer im genannten Zeitraum aufseiten der SPD Verkehrs-minister war, nicht beantworten kann. Ich möchte ihm auf die Sprünge helfen und mich dabei auf die Finanz-titel beziehen. Meine erste Frage lautet: Wer hat es in den letzten Jahren geschafft, mehr Mittel für die Infrastruktur bereitzustellen? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, mein Gott! Mehr Asphalt ist doch kein Gewinn! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer beraubt die Bahn?) Zweitens. Können Sie Auskunft darüber geben, in welchem Umfang die Mittel für Brücken unter Bundesminister Ramsauer in den letzten Jahren gestiegen sind? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern! Nur in Bayern, sonst nirgendwo! NRW kriegt gar nichts!) Drittens. Wenn man sich die Diskussionen im Verkehrsausschuss vor Augen führt, muss man sagen: Sie nutzen die Plattform hier zwar für Parteitagsreden, Herr Kollege Bartol. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So was soll ein Staatssekretär sein? Schämen Sie sich! - Mechthild Rawert [SPD]: Frage!) Mich würde aber viel mehr interessieren, in welchem Umfang Bundesminister Ramsauer Mittelumschichtungen vom Neubau hin zum Erhalt vorgenommen hat; sie sind nämlich beträchtlich. Weil die Kollegin Andreae meine Frage vorhin nicht mehr zugelassen hat: Könnten Sie mir sagen, wann die Verträge zu Stuttgart 21 unterschrieben wurden bzw. in wessen Amtszeit und unter welcher Regierungskoalition dies geschehen ist? (Gustav Herzog [SPD]: Wer war denn damals Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Sie Schlaumeier?) Sören Bartol (SPD): Lieber Herr Staatssekretär Scheuer, ich freue mich, dass die Bundesregierung ein bisschen reparlamentarisiert wird und Sie in dieser Debatte sogar eine Frage stellen. Ich glaube, Herr Scheuer, dass es nicht immer nur darum geht, wer am Ende das meiste Geld wie und wo investiert hat. Vielmehr haben Sie es versäumt, vernünftige Prioritäten zu setzen und eine verkehrspolitische Konzeption zu entwickeln. Das Einzige, was Sie und Ihr Minister können, ist, zu sagen: Wir kommen aus Bayern; Bayern muss es gut gehen, und nach Bayern muss das Geld fließen. (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ach, Herr Kollege, warum antworten Sie mir nicht einfach?) Schauen Sie sich nur einmal an, welche Prioritäten Sie in den letzten Jahren gesetzt haben; das ist relativ einfach. Ich finde, eine Bundesregierung, ein verantwortlicher Minister und ein Staatssekretär - als solcher sind Sie in der Mitverantwortung -, die von der Bahn eine Zwangsdividende (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Was Sie hier behaupten, ist Unfug!) von über 500 Millionen Euro nehmen und zulassen, dass das meiste davon einfach im allgemeinen Haushalt verschwindet, brauchen mit uns über Verkehrspolitik überhaupt nicht zu reden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Beck. - Bitte schön. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, würden Sie die Auffassung teilen, dass ein Verkehrsminister dem Wohle des gesamten deutschen Volkes verpflichtet ist? Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die außerordentlich ungleiche Verteilung der Verkehrsmittel, von der vor allen Dingen das Land Bayern profitiert und bei der das Land Nordrhein-Westfalen faktisch leer ausgeht, obwohl es das bevölkerungsreichste und größte Land der Bundesrepublik Deutschland ist? Sören Bartol (SPD): Lieber Kollege Beck, das ist einer der größten Skandale. Ich frage mich immer: Was wäre, wenn ein Verkehrsminister von einer anderen Volkspartei seine Wiederwahl in den Vorstand dieser Volkspartei damit zu erkaufen versuchte, dass er in seinem Bundesland landauf, landab Ortsumgehungen verspricht - und dies sogar in großen überregionalen Zeitungen nachzulesen ist -, dann aber nichts passiert? (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist ja echt lächerlich! Was Sie da erzählen, ist Unfug! Das ist unanständig bis zum Anschlag!) Ich sage Ihnen, Herr Ramsauer: Hätte jemand von uns gemacht, was Sie gemacht haben, dann wäre er schon dreimal zurückgetreten. Insofern kann ich das nur unterstützen: Die Verkehrsmittel sind extrem ungleich verteilt. Das ist eine klare Klientelpolitik. Aber von dieser Koalition sind wir nichts anderes gewohnt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Enttäuschend, Kollege Bartol!) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über weitere Zwischenfragen. Als Industrie- und Exportland sind wir zwingend auf eine gute Infrastruktur angewiesen. Schlaglöcher, marode Brücken, gesperrte Kanäle zeigen doch: Wir leben längst von der Substanz. Allein für die Instandhaltung von Schienen, Straßen und Wasserstraßen fehlen über 3 Milliarden Euro. Diese Zahl stammt nicht von mir, sondern von einer Kommission der Verkehrsministerkonferenz, die von einem ehemaligen CDU-Minister geleitet wurde. Bei Strom und Telekommunikation sieht es kaum besser aus: Der Ausbau der Stromnetze kommt, weil es der Regierung vor allen Dingen an Koordination fehlt, nicht voran, und das Fehlen von Stromleitungen behindert immer mehr die Energiewende. Auch bei den Internet-anschlüssen hat die Bundesregierung ihr Ziel, bis Ende 2010 eine flächendeckende Breitbandgrundversorgung zu schaffen, verfehlt. Nach wie vor sind viele ländliche Regionen von schnellen Internetverbindungen abgeschnitten. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Ist das eigentlich Ihre Politik für ländliche Räume? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!) Was Deutschland braucht und wofür wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen, ist eine aktive Infrastrukturpolitik. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Kommen Sie mal schauen, wie das in Bayern läuft!) In unserem Projekt "Infrastrukturkonsens" haben wir die Grundlagen dafür gelegt. Der Bund muss mehr Geld in die Infrastruktur investieren; aber es braucht vor allen Dingen die richtigen Prioritäten. Eine Prioritätensetzung à la Ramsauer heißt - das hatten wir gerade schon -: Bayern zuerst, während im Norden und im Westen die Verkehrswege verrotten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht sein. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen ein nationales Verkehrswegeprogramm, durch das Engpässe beseitigt werden, und zwar in ganz Deutschland. Wir brauchen auch eine deutliche Aufstockung der Mittel für den Erhalt der Verkehrswege, zum Beispiel des Nord-Ostsee-Kanals. Ebenso brauchen wir Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben. Deshalb sind Lärmschutz und Bürgerbeteiligung so wichtig. Am Ende geht es auch um die Lebensqualität der Menschen. (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auch da: Bayern!) Bei all dem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP, versagen Sie kläglich, Sie kommen einfach nicht voran. Es ist immer noch eine Frage des Wohnortes, ob man eine schnelle Internetverbindung hat. Ich sage Ihnen: Wenn es der Wettbewerb an dieser Stelle nicht richtet, eine flächendeckende Versorgung aufzubauen, dann brauchen wir am Ende eben eine gesetzliche Verpflichtung zum Universaldienst. Ich glaube, dafür müssen wir alle gemeinsam sorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Lethargie und Ihre Konzeptlosigkeit schaden der deutschen Wirtschaft. Deutschland braucht eine Infrastrukturpolitik, mit der die Bundesregierung ihre bzw. der Staat seine Aufgaben endlich wieder erfüllt. Ansonsten werden wir die Substanz, die wir haben, niemals erhalten können. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Scheuer. Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei so vielen Unwahrheiten bin ich herausgefordert, zum Mittel der Kurzintervention zu greifen. Herr Kollege Bartol, wir haben in unserer Amtszeit alle Programme, alle Investitionen streng nach Länderquote verteilt. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Komisch, alles geht nach Bayern!) Die meisten Zusatzmittel - der erste Platz ist unangefochten - sind nach Nordrhein-Westfalen geflossen. An zweiter Stelle liegen Baden-Württemberg und Bayern gleichauf. - Übrigens, Herr Kollege Beck, wenn Sie keine Ahnung von Verkehrspolitik haben, dann stellen Sie keine Zwischenfragen dazu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie sich die nackten Zahlen anschauen, dann wird Ihnen das klar. Wo gibt es denn die meisten Bürgerinitiativen für Ortsumfahrungen? In Baden-Württemberg. Es geht hier um Demokratie, und das müssen auch die Kolleginnen und Kollegen der Grünen hinnehmen. Wenn wir in Baden-Württemberg bei einer Verkehrsfreigabe sind, sagt der grüne Verkehrsminister stets: Das ist eine sinnvolle Straße; es gibt aber viele Straßen, die nicht sinnvoll sind. (Dr. Florian Toncar [FDP]: Genau so ist es!) Genau da gibt es aber sehr viele Bürgerinitiativen, Bürgerinnen und Bürger, die für die Infrastruktur aufstehen. Mein Dank geht an diese Bürgerinnen und Bürger. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie keine Redezeit abbekommen, oder was ist das Problem?) Wir müssen das an Versagen abarbeiten, was Sie planerisch und auch vom Verfahren her nicht umsetzen können. Unlängst habe ich einen Tunnel freigegeben, der mit Bundesgeld errichtet worden ist. Wie ist die Lage? Die Auftragsverwaltung vor Ort kann die Ein- und Ausfahrten des Tunnels nicht managen. Wir müssen ständig auf die Auftragsverwaltungen einwirken, vor allem auf die von Rot und Grün, damit die Infrastruktur, in die wir Bundesgeld investiert haben, genutzt werden kann. Nun zu den Zusatzmitteln. Wir haben in den letzten zwei Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro und von 750 Millionen Euro bekommen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo sind die denn?) Mein Dank geht hier an die SPD-Fraktion, die im Haushaltsausschuss neben der Koalition für diese Zusatzmittel gestimmt hat. Danke dafür! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wissen Sie, wo die teuersten Projekte sind? Die sind nicht in Bayern, sondern beispielsweise in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, beispielsweise die Schiersteiner Brücke etc. Herr Kollege Bartol, hören Sie also auf mit der Lüge, dass wir die Bundesmittel bevorzugt an Bayern verteilen. Den meisten Bedarf gibt es im Süden. Das trifft genauso Baden-Württemberg. Wir verteilen diese Mittel - das geben alle unsere Verlautbarungen auf die zahlreichen Anfragen, die Sie stellen, wieder; Sie müssen sie eben auch einmal lesen - gemäß der Länderquote. Hören Sie auf, die deutsche Bevölkerung mit solchen unsäglichen Unwahrheiten zu veräppeln! Das ist nicht der parlamentarische Stil, den ich normalerweise von Ihnen gewöhnt bin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oberlehrer!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Bartol, Sie haben das Wort. Sören Bartol (SPD): Lieber Kollege Scheuer, gleich zu Beginn so viel zu den Fakten: Mir ist neu, dass die Schiersteiner Brücke in Nordrhein-Westfalen liegt. Das würde ich an Ihrer Stelle vielleicht noch einmal nachgucken. - Aber ganz im Ernst: Ich glaube, wir müssen aufpassen, wie wir das hier austragen. Ich erinnere mich an Ihren Parteitag, auf dem es knapp war für Minister Ramsauer; er wäre fast nicht wiedergewählt worden. Er ist deshalb herumgezogen, hat mit den Delegierten, mit einflussreichen Größen, gesprochen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Waren Sie -dabei?) - das kann man doch alles nachlesen - (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich war dabei! Das war nicht so! Lügen Sie nicht so!) und dann einfach ein bisschen versprochen. Ich finde, das kann man nicht machen. Das ist nicht in Ordnung; das muss man doch einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Das hat mit einer echten verkehrspolitischen Prioritätensetzung nichts zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) So viel zum Stil. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sagen Sie nichts zum Stil! Ihren Stil haben wir ja gesehen!) Kollege Scheuer, Ihr Minister gibt mittlerweile Pressemitteilungen heraus, die vor Parteipolitik geradezu triefen. Nach der verlorenen Landtagswahl in Niedersachsen hat er versucht, die neue Regierung zu treiben, indem er sagte: Wenn ihr nicht akzeptiert, dass es für den Ausbau der A 7 ein ÖPP-Projekt geben wird, dann nehmen wir euch die Mittel weg und investieren sie woanders. - Den Gipfel der Bodenlosigkeit hat er sich bei Stuttgart 21 geleistet. Fazit ist, dass die Fahrpreise der Bahn steigen werden. Lieber Kollege Scheuer, zu der Art und Weise, wie hier Verkehrspolitik betrieben wird, muss ich sagen: So ein schlechtes Management und so einen schlechten Minister habe ich in den elf Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, noch nicht erlebt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Klaus Breil (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartol, was erzählen Sie eigentlich für einen Unsinn mit "Bayern zuerst"? Schauen Sie sich doch einmal die Verkehrssituation im Süden von Bayern an, beispielsweise in der Region, aus der ich komme, dem Wahlkreis Weilheim. Herr Barthel, der hinter Ihnen sitzt, kann Ihnen das bestätigen. Dann sehen Sie, was "Bayern zuerst" bedeutet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Klaus Barthel [SPD]: Nur Ankündigungen, und dann wird der Tunnel wieder zugemacht!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den Antrag der SPD-Fraktion wurde von den Wirtschaftspolitikern all das gepackt, was es nicht mehr in das Wahlprogramm der SPD geschafft hat. Ich habe das zum Anlass genommen und mir zusätzlich zum heutigen Antrag das diese Woche vorgestellte SPD-Wahlprogramm durchgesehen. Dabei teile ich im Kern die Analyse der großen Herausforderung der Energiewende. Dennoch habe ich ein paar Ungereimtheiten entdeckt, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist nett!) Meine Damen und Herren, die Überschrift des Energiekapitels im SPD-Wahlprogramm lautet "Sichere und bezahlbare Energie". Beim Umweltschutz - habe ich das richtig verstanden? - darf sich der Wunschkoalitionspartner austoben. Ich erlaube mir dazu nur einen Halbsatz: "Die Geister, die ich rief ..." Die Genossen schreiben in ihrem Antrag: Trotz der substanziellen Stärke unserer Wirtschaft - für dieses Kompliment an die christlich-liberale Regierung vielen herzlichen Dank - drohen die Wachstumskräfte immer weiter zu erlahmen. In der Energiepolitik geraten Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit der Energieversorgung in Gefahr. Dann frage ich Sie: Wie passt das damit zusammen, dass Sie in Ihrem Wahlprogramm eine höhere Brennstoffsteuer für Kernkraftwerke fordern? Im Klartext heißt das, Sie verteuern knapp ein Fünftel der Stromenergieerzeugung in Deutschland. Keine drei Zeilen darüber soll es dem Programm nach das Ziel sein, "die Belastungen sowohl für den einfachen Stromkunden als auch für die in Deutschland produzierende Industrie so gering wie möglich zu halten". Herr Heil, diesen Widerspruch müssen Sie mir einmal erklären. (Rolf Hempelmann [SPD]: Haben Sie schon mal was von Basic Ordering Agreements gehört?) Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich stundenlang fortführen. Abschließend möchte ich noch sagen, dass wir große Teile Ihrer Forderungen aus dem Antrag bereits umgesetzt haben, zum Beispiel die Verbesserungen beim KWK-Gesetz, die Verordnung zu abschaltbaren Lasten oder die Koordinierung der Energiepolitik zwischen Bund, Ländern, Kommunen unter Einbindung von Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. Dies geschah im Rahmen von Initiativen der Bundesregierung, manchmal - das muss ich zugeben - unter Beteiligung der Opposition. Wir haben den Beirat der Bundesnetzagentur, das Kraftwerksforum, die Plattform "Zukunftsfähige Energienetze" plus Beirat, das EEG-Dialogforum, die Mittelstandinitiative Energiewende und das 6. Energieforschungsprogramm. Zuletzt beantworten Sie mir bitte noch eine Frage, Herr Heil. Weshalb erkennen Sie im Wahlprogramm plötzlich an, dass von den Bauaufträgen zur energetischen Gebäudesanierung vor allem örtliche Handwerksbetriebe aus dem Mittelstand profitieren, und lassen dennoch die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibung dieser Maßnahmen im Bundesrat scheitern? Das bleibt mir und sicherlich auch den Wählern sowie den kleinen und mittelständischen Unternehmern ein Rätsel. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartol, bei aller inhaltlichen Sympathie für Ihre Aussagen - sie waren alle richtig -, muss ich Ihnen doch sagen, dass Sie an einer Stelle einen Fehler gemacht haben. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nicht nur an einer!) Der Papst hat heute nicht seine Regenschaft, sondern sein Pontifikat begonnen. Ich glaube, das muss klargestellt werden. (Heiterkeit - Sören Bartol [SPD]: Ich bin halt evangelisch! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gibt nur einen Martin Luther!) Meine Damen und Herren, was alle Päpste dieser Welt nicht geschafft haben, hat diese Bundesregierung geschafft. Sie hat in der Energiewirtschaft eines bewirkt: einen absoluten Stillstand. Noch nie war es in Deutschland so, dass Sie fragen können, wen Sie wollen - vom kleinen PV-Anlagenbauer bis zum Großkraftwerkshersteller -, und Ihnen jeder antworten wird, dass nichts mehr investiert wird. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die Sie hier machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Pontifex heißt Brückenbauer! Darum ist er auch auf die Brücken gekommen!) Ich sage Ihnen: Ich hätte es in diesem Land nicht für möglich gehalten, dass eine Bundesregierung rückwirkend in Verträge und bestehende Zusagen eingreifen will. Das verursacht Kollateralschäden, die über die erneuerbaren Energien und die Energiewirtschaft weit hi-nausgehen. Das wird uns noch an vielen Stellen einholen. Ich hoffe: Es ist bald klar, dass das aus der Welt geschafft wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will jetzt hier gar nicht über die Erneuerbare-Ausbau-Bremse reden, gar nicht über das Quotenmodell, (Birgit Homburger [FDP]: Das ist kein Quotenmodell!) das die FDP favorisiert und das gerade im zuständigen Ausschuss des Bundesrates, von Sachsen eingebracht, mit 15 Stimmen zu 1 Stimme versenkt worden ist, was zeigt, wie wenig überzeugend Ihre Konzepte bei den eigenen Parteifreunden in den Landesregierungen wirken. Darüber will ich nicht reden. Ich will nicht darüber reden, dass Sie 80 Prozent der Windenergieleistung im Binnenland abwürgen wollen und damit alles kaputtmachen würden. Ich möchte etwas aufgreifen, was Sie selbst in Ihrem Koalitionsvertrag stehen haben. Da steht nämlich: Sie wollen eine Deutsche Netz AG gründen. - Nur: Wir sind am Ende der Legislaturperiode. Sie haben bei dem Thema überhaupt nichts gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie haben alle Chancen verstreichen lassen, wo die Gelegenheit gewesen wäre, diese Idee umzusetzen. Als RWE und Eon ihre Netze verkauft haben, da haben Sie die Chance verstreichen lassen. Das ist das Ergebnis einer FDP-geführten Politik, Privat vor Staat, die diese Chancen kaputtgemacht hat. Wir haben im Herbst zum Thema Offshorenetzanbindung einen Vorschlag dahin gehend gemacht, dass der Bund, anstatt die privaten Verbraucher zu belasten, hier einsteigt und dass dies der Beginn einer Deutschen Netzgesellschaft ist. Ich freue mich, dass die Sozialdemokraten diese Idee aufgegriffen haben und jetzt in ihrem Antrag ein ähnliches Konzept vorschlagen. Ich freue mich, dass die CSU diese Idee aufgegriffen hat. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben mit Freude nach Wildbad Kreuth geschaut und festgestellt, dass Sie dort tatsächlich etwas in Richtung Deutsche Netz AG beschlossen haben. Ich frage die Union: Wie lange wollen Sie sich eigentlich noch von der FDP bei diesem Thema am Nasenring durch die Arena ziehen lassen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) wenn hier 96 Prozent des Parlaments bei diesem Thema einer Meinung sind? Packen Sie das endlich an! (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben aber lange gebraucht, bis Sie die Wichtigkeit von Wildbad Kreuth erkannt haben!) Genauso ist es beim Thema Energieeffizienz. Die Bundeskanzlerin hat 2007 ausgerufen: Deutschland soll Energieeffizienzweltmeister werden. - Was wir konkret erleben, ist Folgendes: Erst blockieren Sie die Richtlinie in Brüssel und drehen erst in letzter Minute auf politischen Druck hin bei. Jetzt geht es an die Umsetzung. Was passiert im zuständigen Wirtschaftsministerium? Dort hat man nichts Besseres zu tun, als mit Taschenspielertricks zu versuchen, dass Deutschland nichts mehr machen muss. Da werden plötzlich Mehrwertsteuern, Netzentgelte, die Lkw-Maut und was weiß ich sonst noch alles zu Energieeffizienzmaßnahmen erklärt, nur um sagen zu können: Auf diesem Gebiet müssen wir nichts mehr tun. - Das geht nicht. Sie verschenken hier die Chancen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sagen: Wir brauchen endlich einen Energieeffi-zienzfonds. Wir brauchen Anreizsysteme, so wie es sie in Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und in vielen Staaten der USA, sogar in Texas, gibt. Das Einzige, was Ihr Minister dazu sagt, ist: Sozialismus und Planwirtschaft! - Ich sage nur: Texas - Hort des Sozialismus und der Planwirtschaft. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist absurd, was Sie vertreten. Packen Sie das Thema Energieeffizienz endlich an! Das ist eine Chance für die deutsche Wirtschaft. Damit können Sie Energie einsparen. Damit schützen Sie das Klima. Damit generieren Sie Wertschöpfung hier im Land. Das ist ein Erfolgsmodell, ein Exportartikel für die deutsche Wirtschaft. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Krischer, Sie müssen einmal eine neue Platte auflegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir hatten vorhin eine große Diskussion zum Thema Energie. Anlass war der Tagesordnungspunkt 3 mit vielen Anträgen zum Thema Energie. Offensichtlich haben Sie gar nicht gemerkt, dass wir eine neue Debatte angefangen haben, dass es nämlich um den SPD-Antrag ging. Lassen Sie sich einmal eine neue Rede schreiben. Dann können Sie ja noch einmal Redezeit beantragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat er doch bei seiner ersten Rede alles vergessen!) Bei der Durchsicht der Tagesordnung des Plenums für diese Woche - das war sehr interessant - stand auf einmal ein Antrag auf der Tagesordnung, "Deutschland 2020", den es überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich dachte: Das ist bestimmt spannend. - Aber die SPD war erst am Dienstagabend in der Lage, den Antrag überhaupt zu verteilen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen Sie auch ständig! - Rolf Hempelmann [SPD]: Wie oft passiert das bei euch!) Der Titel des Antrags ist auch interessant: "Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft" - darin stimmen wir völlig überein. "Infrastruktur modernisieren" - toll! Aber das haben wir von Ihnen noch nie gehört. "Energiewende gestalten" - auch bei diesem Argument stimmen wir hundertprozentig überein. Gleiches gilt für "Innovationen fördern". Also dachte ich mir: Das ist ja toll; die SPD hat einen völlig neuen Kurs eingeschlagen, (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) und man kann heute möglicherweise völlig neue Töne hören. Aber das war leider eine blanke Fehlannahme. Die Enttäuschung war groß, als ich den Antrag durchgesehen habe. Vieles ist schon angesprochen worden. Ich will nur auf einige Aspekte eingehen. Ein Punkt ist der Breitbandausbau. Ich kann mich erinnern, dass wir in der Großen Koalition gemeinsam die Breitbandinitiative beschlossen haben - das werden Sie wohl nicht in Abrede stellen - und dass wir beim Breitbandausbau in Deutschland gewaltige Fortschritte gemacht haben. Darüber, dass trotzdem noch Probleme bestehen und dass wir auch im Beirat der Bundesnetzagentur immer wieder darüber diskutieren, wie wir noch schneller vorankommen können, ohne dass wir Milliarden an staatlichem Geld für den Breitbandausbau einsetzen müssen, besteht, glaube ich, Einigkeit. Dass der Ausbau des mobilen Internets in Deutschland eine einmalige Erfolgsgeschichte ist - nirgendwo in Europa und in der Welt hat es in kürzester Zeit eine fast flächendeckende Erschließung mit mobilem Internet gegeben -, kann man in Ihrem Antrag nicht nachlesen. Ich kann auch darin keinen Vorschlag erkennen. Was ist denn Ihre Strategie, um die Flächendeckung schneller zu erreichen? Darüber lohnte es sich doch, zu reden, statt mit Plattitüden irgendwas festzustellen. Dann kommt das Thema Innovation, meine Damen und Herren. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dörmann? Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Selbstverständlich gern. Martin Dörmann (SPD): Lieber Kollege Lämmel, da Sie das Thema Breitbandausbau angesprochen haben, über das wir uns hier schon mehrfach unterhalten haben, frage ich Sie: Bestätigen Sie mir, dass wir vor wenigen Monaten einen sehr umfassenden Antrag der SPD-Bundestagsfraktion genau zum Thema Breitbandausbau diskutiert haben, wobei wir unser Konzept sehr detailliert dargestellt haben? Unser Konzept sieht so aus, dass wir erstens eine flächen-deckende Breitbandversorgung nicht für fast jeden Haushalt, sondern für jeden Haushalt sicherstellen möchten. Das wollen wir durch eine Universaldienstverpflichtung gesetzlich absichern. Wir setzen aber darüber hinaus bei höheren Bandbreiten auf zusätzliche private Investitionen und wollen die Rahmenbedingungen hierfür verbessern, damit der Wettbewerb tatsächlich zum Ergebnis führt. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht auch zuzugestehen, dass wir immer noch nicht das Ziel erreicht haben, das wir eigentlich in der Breitbandstrategie festgelegt haben, nämlich bis 2010 eine wirklich flächendeckende Versorgung in 100 Prozent der Haushalte hinzubekommen, und dass im Zweiten Monitoringbericht zur Breitbandstrategie des Bundes die von der Bundesregierung selbst beauftragten Gutachter festgestellt haben, dass auch das zweite Ziel, nämlich bis 2014 75 Prozent der Haushalte mit mindestens 50 Megabit zu versorgen, gefährdet ist, wenn keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden? Haben Sie den Bericht gelesen, und bestätigen Sie diesen Befund? Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Zum ersten Punkt, dem Antrag, den wir im Plenum diskutiert haben - das können Sie alles im Protokoll nachlesen -, ist zu sagen: Wir haben mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes genau darauf reagiert. Genau die Punkte, die Sie in Ihren Anträgen nennen, sind im Prinzip im Gesetz enthalten. Dass die Gutachter sagen, das Ziel für 2014 sei gefährdet, heißt nicht, dass das nicht stattfindet. (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) Ich kann auch behaupten, irgendwelche Ziele bis 2016 sind gefährdet, und ein Gutachten schreiben, Herr Hempelmann. Sie wissen selbst, wie das mit Gutachten ist. Darüber brauchen wir uns nicht auszutauschen. Wir setzen unsere Energie dafür ein, dass wir in dem Bereich vorankommen und die Maßnahmen, die im Telekommunikationsgesetz stehen, umgesetzt werden, und dass wir die Initiative, die wir gemeinsam beschlossen haben, genau in den Etappen umsetzen, wie sie auf dem Papier stehen. Das Zweite ist das Thema Innovationen im Mittelstand und in der Wirtschaft. Das ist ein sehr wichtiges Feld. Komischerweise findet sich in dem Antrag der SPD gar kein Hinweis darauf, dass die Ausgaben für Forschung, Technologie und Innovationen in Deutschland einen absoluten Höchststand erreicht haben. Wenn Sie sich zum Beispiel das erfolgreichste Programm ansehen, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, dann müssen Sie feststellen, meine Damen und Herren, dass wir so viele Anträge wie noch nie bewilligt haben. (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Da sind wir Spitze!) Nachdem im Konjunkturpaket II das Programm für ganz Deutschland geöffnet worden ist, hat sich das explosionsartig entwickelt. Das ignorieren Sie einfach. Sie wollen der christlich-liberalen Koalition nicht einen einzigen Erfolg gönnen und versuchen, mit Plattitüden alles negativ darzustellen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist die -steuerliche Forschungsförderung?) - Dazu wollte ich gerade kommen, Herr Heil. Wie Sie wissen, ist das auch unser Lieblingsthema. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann machen Sie mal!) Sie haben es in der rot-grünen Koalition nicht geschafft. Wir haben es in der Großen Koalition auch noch nicht geschafft. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wieder nicht!) Aber wir werden es in der christlich-liberalen Koalition schaffen; darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In dieser Legislaturperiode?) Wenn nicht, dann machen wir das spätestens zu Beginn der nächsten Legislaturperiode, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann sind Sie nicht mehr an der Regierung!) und zwar in der bestehenden Konstellation. Dann lässt sich folgende pikante Formulierung in Ihrem Antrag finden: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... mit den Ländern einen Investitionspakt für die kommunale Verkehrsinfrastruktur zu schließen, bei dem die Länder weiterhin Investitionsmittel für die kommunale Verkehrsinfrastruktur erhalten und sich im Gegenzug verpflichten, die Gelder zweckgebunden zu verwenden; Das ist wirklich unglaublich. Sie schreiben im Antrag extra fest, dass sich die Länder verpflichten, das Geld, das sie vom Bund bekommen, zweckgebunden zu verwenden. Ich weiß, worauf Sie dabei zielen. Das zielt auf Nordrhein-Westfalen. Frau Kraft hat es vom Verfassungsgericht praktisch schriftlich bekommen, dass ihre Haushalte nicht verfassungsgemäß sind, (Rolf Hempelmann [SPD]: Eigentlich der schwarz-gelbe Haushalt!) da die Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen Höhen erreicht, die mit der Verfassung nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Des Weiteren zielt Ihre Formulierung auf Berlin, wo Herr Wowereit schon seit Jahrzehnten eine ähnliche Politik betreibt wie Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen. Berlin ist das höchst verschuldete Land und erhält die meisten Mittel aus dem Länderfinanzausgleich. Sie schreiben diesen Passus in Ihren Antrag, weil in den Ländern, in denen Sie regieren, Mittel zweckentfremdet werden. Daran, dass Sie das in Ihren Antrag schreiben müssen, kann man sehen, wie weit es mit Ihrer Politik gekommen ist. (Rolf Hempelmann [SPD]: Interessante -Interpretation!) In Ihrem Antrag steht nicht, dass die christlich-liberale Koalition die Kommunen um 50 Milliarden Euro bei den Ausgaben für die Grundsicherung im Alter entlastet und dass dieses Geld auf kommunaler Ebene verwendet werden kann, um zum Beispiel Infrastrukturprojekte voranzubringen. In Ihrem Antrag steht des Weiteren der schöne und interessante Satz: "Wir benötigen einen neuen gesellschaftlichen Konsens," wenn es um Infrastrukturprojekte geht. Da bin ich wirklich gespannt. Ich erlebe, dass überall dort, wo Aktionen gegen Infrastrukturprojekte stattfinden - egal ob es sich um Straßen, Brücken, Stromleitungen oder andere Infrastrukturprojekte handelt -, (Rolf Hempelmann [SPD]: Zum Beispiel CDU-Bürgermeister!) zumeist SPD und Grüne an der Spitze stehen und den Widerstand organisieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Ich möchte gerne wissen, was Ihr neuer Konsens für In-frastrukturprojekte beinhaltet. Darüber sollten wir reden. Es gibt eine andere interessante Formulierung in Ihrem Antrag. Sie fordern die Bundesregierung auf, "eine Initiative zur Schaffung von mehr Technikverständnis auf den Weg zu bringen". Wie Sie wissen, komme ich aus Ostdeutschland, und ich brauche keine neue Initiative. Aber dort, wo Sie seit 30 Jahren Schul- und Bildungspolitik betreiben, braucht man eine solche Initiative, weil Sie einer ganzen Generation junger Leute Technikfeindlichkeit suggeriert und vermittelt haben: Technik ist etwas Schlechtes. Wir brauchen nur weiche Standortfaktoren. Wir brauchen für die Entwicklung des Landes nichts mehr zu tun. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer hat Ihnen diesen Unsinn aufgeschrieben?) Die Fehler, die Sie gemacht haben, gestehen Sie genau mit dieser Formulierung ein. Ich bin gespannt, wie diese Initiative aussehen soll. Ein weiterer Punkt Ihres Antrags, der sehr wichtig ist und dem ich zustimme - die entscheidende Frage ist allerdings, welche Lösung dabei angestrebt wird -, ist die Forderung, "die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen zu gewährleisten". Toll! Was ich von Ihnen ständig höre, ist aber das genaue Gegenteil. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) Sie wollen die Privilegien der stromintensiven Industrie und die Netzentgelte abschaffen. (Hubertus Heil (Peine) (SPD): Quatsch! Das war der Altmaier, Mann! Nichts anderes höre ich seit Wochen aus Ihren Reihen. Nichtsdestotrotz schreiben Sie einen solchen Satz eiskalt in Ihren Antrag. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich hatte gar nicht!) - Herr Heil, Ihre Rede, die Sie heute früh gehalten haben, lag sicherlich schon fertig in der Schublade. (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) - Genau. Deshalb fiel Ihnen auch nichts zum Antrag Ihrer Fraktion ein. Sie kennen den Inhalt wahrscheinlich gar nicht. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag, "die Rohstoffgewinnung im Inland zu erleichtern". Toll! Da bin ich gespannt. Ich werde diesen Satz immer wieder vortragen, um Sie daran zu erinnern, dass Sie das zwar fordern, aber nicht leben. Frau Andreae, jetzt muss ich zu Ihrem Beitrag kommen, weil Sie hier im Plenum im Zusammenhang mit dem EEG wirklich eine große Unwahrheit verbreitet haben. Wir sind immer dafür, die Einführung neuer Technologien zu befördern, aber es kann nicht darum gehen, nur Masse zu befördern, nur Fläche zu befördern, ohne Effizienz zu bewirken. Das EEG ist ein Gesetz, das ausschließlich Masse befördert. Nun haben Sie hier am Pult behauptet, dass die christlich-liberale Koalition in den letzten Jahren für die Schwierigkeiten der Solarindustrie in Deutschland verantwortlich sei. (Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie wissen doch genau, dass das eine glatte Lüge ist. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Wir haben mit dem Geld der deutschen Stromverbraucher, der privaten Verbraucher genauso wie der Industrie, dafür gesorgt, dass in Asien, vor allem in China, ein enormer Arbeitsplatzaufbau stattgefunden hat. Wenn Ihr Argument stimmen würde, dann müsste der Markt für Solartechnik in Deutschland im Prinzip zusammengebrochen sein. Das ist aber gerade nicht der Fall, -sondern er hat Höchststände. Wenn die deutsche Solar-industrie offensichtlich nicht in der Lage ist, sich im Wettbewerb zu behaupten, dann können Sie doch nicht sagen: "Das ist eine Folge der Politik", sondern dann müssen Sie einmal nachfragen: Wieso kann die deutsche Solarwirtschaft nicht gegen die Konkurrenz, vor allen Dingen die asiatische, ankommen? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert? Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Ja. - Das müssen Sie den Leuten schon erklären! Sie haben vier EEG-Novellen blockiert. Genau dort wollten wir regulierend eingreifen, um diese Fehlsteuerung zu vermeiden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön, Herr Lenkert. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Vielen Dank. - Herr Kollege Lämmel, Sie sagten gerade, dass es keinen Arbeitsplatzabbau in der Solarbranche gebe. Diese Äußerung können Sie gern in Frankfurt an der Oder wiederholen. Diese Äußerung können Sie gern in meinem Wahlkreis wiederholen, wo Schott Solar geschlossen hat; fast 300 Leute sind entlassen worden. Da ging es um die Modulproduktion, nicht um die Installation auf Dächern. Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ihnen sagen, dass die Bundesregierung durch die Verunsicherung an dieser Stelle dafür gesorgt hat, dass Kreditlinien solcher Firmen gekündigt wurden, dass die Bundesregierung keine Maßnahmen ergriffen hat, um einen Ausgleich zu schaffen, nachdem die Volksrepublik China ihren Solarfirmen zinslose Kredite mit sehr langen Laufzeiten zur Verfügung gestellt hat und damit die Finanzierung im Prinzip zu null zu haben war - das ist nach den Richtlinien der Welthandelsorganisation übrigens keine Wettbewerbsverzerrung -, dass sie also nichts dagegen unternommen hat. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, es habe keine Auswirkungen auf Arbeitsplätze in der Bundesrepublik gegeben, dann gehen Sie nach Sachsen-Anhalt, dann gehen Sie nach Thüringen und erklären es bitte den Leuten dort und erklären Sie mir hier jetzt auch, wie Sie diese Äußerung rechtfertigen! (Beifall bei der LINKEN) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Kollege, offensichtlich haben Sie verstopfte Gehörgänge oder so etwas. Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass es nicht zu Arbeitsplatzabbau gekommen ist. Es ist völlig aus der Luft gegriffen, was Sie hier behaupten. Ich brauche jetzt nicht auf Ihre Frage eingehen, weil das jeglicher Grundlage entbehrt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es kommt also zum Arbeitsplatzabbau! Noch schöner!) Ich komme noch einmal zum Antrag der SPD. Die Zusammenfassung des Ganzen lautet: Ihr Antrag ist praktisch ein buntes Gemisch aus allen Themen. Es sind einige Punkte enthalten, die durchaus diskussionswürdig sind, aber 80 Prozent dessen, was Sie in dem Antrag schreiben, machen wir schon. Deswegen brauchen wir den Antrag gar nicht, und deswegen ist das aus meiner Sicht auch kein Konzept 2020. In ein Konzept 2020 müsste man etwas Neues hineinschreiben und dürfte nicht all das aufführen, was wir bisher schon machen. Insofern war es zwar schön, die Zeit mit Ihnen hier zu verbringen, aber das war in der Sache eigentlich nicht förderlich. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Wolfgang Tiefensee (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrauensschwund insbesondere der deutschen Wirtschaft gegenüber der Regierung ist mit Händen zu greifen. (Zuruf von der FDP: Die wählen doch alle SPD!) Es sind Konfusion, Konzeptlosigkeit, Flickschusterei zu beobachten, was mittlerweile der deutschen Wirtschaft und demzufolge der gesamten Gesellschaft wehtut. Das müssen wir beenden. (Beifall bei der SPD) Ich möchte das an ein paar Themen deutlich machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie in dem Antrag finden. Deutschland 2020 ist ein Prozess, den wir in den vergangenen Monaten und Jahren eingeleitet haben und der sich auf ganz unterschiedliche Themen bezieht, Herr Lämmel. In der heutigen Diskussion geht es um drei wesentliche Schwerpunkte, nämlich um die Infrastruktur, um die Energiewende und um die Innovation. Ich möchte mich in meinen Ausführungen auf die Energiewende beschränken. Wer die deutsche Wirtschaft stark machen will, muss Verlässlichkeit schaffen. Was erleben wir stattdessen? Wir erleben eine Konfusion innerhalb der Regierung. Wenn ich es richtig gelesen habe, tagte gestern der Umweltausschuss, und die beiden für die Energiewende verantwortlichen Minister lehnten es ab, gleichzeitig an einem Tisch zu sitzen. Das ist das Sinnbild dafür, dass man sich nicht grün ist und dass jeder seine eigenen Konzepte gegen den anderen durchsetzen will und damit Stillstand erreicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wird es nichts! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind sich noch nicht einmal gelb!) Ich will einige weitere Beispiele aufzählen. In Brüssel geht es um die Frage des Zertifikatehandels. Das ist ein ganz wesentliches Instrument, das wir beleben wollen. Die beiden verantwortlichen Minister schlagen hierzu -jedoch unterschiedliche Konzepte vor. Demzufolge passiert nichts. Das muss geändert werden. Statt Konzeptionslosigkeit und Flickschusterei brauchen wir Planungssicherheit beim Zertifikatehandel. (Beifall bei der SPD) Das zweite Thema bezieht sich auf die energieintensiv produzierenden Unternehmen. Wir haben die entsprechende Regelung unter Rot-Grün nicht zuletzt deshalb eingeführt, damit die gesamte Wertschöpfungskette in Deutschland bleibt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bescheinigt jetzt der Regierung, dass die Ausweitung bzw. die Neupositionierung in diesem Bereich -verfassungswidrig sei. Brüssel hat in diesem Zusammenhang ein Verfahren eingeleitet. Wie wollen Sie dieser wichtigen Industrie Planungs-sicherheit bieten, die wir dringend brauchen? Das ist also wiederum Flickschusterei und Konfusion. Das muss zu Ende gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das dritte Thema bezieht sich auf die Offshorewindgebiete. Da wird der Industrie versprochen: Wenn ihr Windparks einrichtet, dann werden diese an das Ufer angeschlossen. Damit ist ein Abtransport des Stroms Richtung Süden möglich. Mein sehr verehrter Kollege Glos hat dafür gesorgt, dass die Netze privatisiert werden. Nun ist beispielsweise TenneT - im Hintergrund die Niederlande - nicht in der Lage, den Anschluss zu gewährleisten. Ist das Planungssicherheit? Haben wir einen Minister gesehen, der in Den Haag dafür sorgt, dass das Eigenkapital gestärkt wird, damit die Offshorewindgebiete angeschlossen werden? Nein. Planungsunsicherheit für die Industrie. Flickschusterei. Konfusion. Das muss beendet werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein weiteres Thema: Es wird immer vom sogenannten NOVA-Prinzip gesprochen - das bedeutet Netzoptimierung vor Ausbau -, das Sie in Sonntagsreden hochhalten. In welchem Gesetz, in welcher Verordnung steht, dass bei einer Neukonzipierung von Netzen zunächst dieses Prinzip anzuwenden ist, dass also zunächst die vorhandenen Netze zu optimieren sind, sodass man über Pilotprojekte, beispielsweise Erdverkabelung, zu einer Lösung kommt? Das steht nirgendwo. Das steht zwar in den Präambeln und in Ihren Sonntagsreden. Es bringt aber keine Planungssicherheit für diejenigen, die in den Kommunen und Ländern planen und die Prozesse vorantreiben müssen, weil das nirgendwo steht. Konfusion. Flickschusterei. Das muss beendet werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein weiteres Thema. Dabei möchte ich all diejenigen, die immer wieder auf dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm herumreiten, insbesondere Herrn Breil, an die Fakten erinnern: Wir haben den Kommunen, den Eigentümern von Eigenheimen, von Wohnungen und von Wohnungskomplexen versprochen, dass wir bei der energetischen Gebäudesanierung vorankommen. An der gestrigen Ausschusssitzung nahm auch Herr Dr. Schröder von der KfW teil. Ich habe ihn explizit gefragt: Was halten Sie davon, dass die Bundesregierung ein bestehendes und gut eingeführtes Programm verändert, nämlich das Programm zur Ausreichung von zinsverbilligten Krediten an die Hausbanken, hin zu einer steuerlichen Förderung, die niemand will, mit der nur eine bestimmte Klientel gefördert wird? Planungssicherheit sieht anders aus. Außerdem ist es dringend geboten, für mehr Energieeffizienz zu sorgen. Also auch hier wieder Flickschusterei und Konfusion. Das muss beendet werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist der Refrain!) So ließe sich die Reihe der Konfusion und der Flickschusterei weiter fortsetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutsche Wirtschaft, die privaten Investoren und die privaten Haushalte brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Sie brauchen eine Vision. Wer nicht zielbewusst ist, der lässt sich vom Schicksal treiben. Wir mahnen an - das ist die Quintessenz unseres Antrages -, dass wir uns klare Ziele vorgeben und auf ihrer Grundlage Projekte entwickeln, die unter Beteiligung der Bevölkerung und der politischen Mehrheiten umgesetzt werden. Wir brauchen keine Ankündigungen, wir brauchen keinen Streit in der Regierung, sondern endlich konkretes Handeln. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird es Zeit, dass der September 2013 kommt und wir die Konzepte, die wir hier vorlegen, tatsächlich umsetzen können. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: 34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Datenbankgrundbuchs (DaBaGG) - Drucksache 17/12635 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin (Finanzvermögen-Staatsvertrag) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung - Drucksache 17/12639 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes - Drucksache 17/12640 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Innenausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Petra Müller (Aachen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Öffentlich-Private Partnerschaften - Potenziale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen - Drucksache 17/12696 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung von Delfinen beenden - Drucksache 17/12657 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bienen und andere Insekten vor Neonico-tinoiden schützen - Drucksache 17/12695 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos - Drucksache 17/12679 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD -eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Änderung des Pressefusionsrechtes - Drucksache 17/12680 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung von wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicherstellen - Drucksache 17/12690 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Korruption im Gesundheitswesen strafbar machen - Drucksache 17/12693 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell - Drucksache 17/12697 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so. Dann sind die Überweisungen beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zunächst Tagesordnungspunkt 35 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Korea über die Seeschifffahrt - Drucksache 17/12336 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - Drucksache 17/12574 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Valerie Wilms Der Ausschuss für Verkehr empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12574, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12336 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 35 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seeverkehrsrechtlicher und sonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht - Drucksache 17/12348 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - Drucksache 17/12594 - Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12594, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12348 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks - Drucksache 17/12343 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - Drucksache 17/12595 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Valerie Wilms Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12595, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12343 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1, 17/12728 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12728, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12226 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundertzehnte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - - Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2, 17/12729 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12729, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12227 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über die Hinweispflichten des Handels beim Vertrieb bepfandeter Getränkeverpackungen (GvpHpV) - Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3, 17/12739 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12739, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12303 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkte 35 g bis 35 m. Das sind Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zunächst Tagesordnungspunkt 35 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 546 zu Petitionen - Drucksache 17/12511 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 547 zu Petitionen - Drucksache 17/12512 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 547 ist gegen die Stimmen der Grünen vom Haus angenommen. Tagesordnungspunkt 35 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 548 zu Petitionen - Drucksache 17/12513 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 548 ist angenommen gegen die Stimmen der Linken. Tagesordnungspunkt 35 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 549 zu Petitionen - Drucksache 17/12514 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 549 ist mit den Stimmen von Koalition und SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 550 zu Petitionen - Drucksache 17/12515 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stimmen der Koalition und der Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 551 zu Petitionen - Drucksache 17/12516 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stimmen der Koalition und der Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 35 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 552 zu Petitionen - Drucksache 17/12517 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 552 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen - Drucksachen 17/7953, 17/8643 - Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel) Christel Humme Nicole Bracht-Bendt Jörn Wunderlich Monika Lazar Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8643, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7953 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Residenzpflicht abschaffen - Drucksachen 17/11356, 17/11725 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ulla Jelpke Josef Philip Winkler Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11725, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11356 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn im Hinblick auf die Einhaltung europäischer Grundwerte Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es sich ein Land mit dem Urteil über Ungarn nicht einfach machen darf, dann unser Land, dann Deutschland. Viel zu viel haben wir den Ungarn zu verdanken. Europa, auch Deutschland, sähe anders aus, wenn die Ungarn damals, vor mehr als 23 Jahren, nicht Menschlichkeit gezeigt hätten. Sie waren die Ersten, die den Mut hatten, den Eisernen Vorhang zu überwinden, (Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]) und sie waren es, die den Weg zur deutschen Einheit frei gemacht haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb, das sage ich auch für mich, sind wir Deutschen vielleicht nicht die Ersten, die berufen sind, in moralische Empörung zu verfallen, wenn es um politische Fehlentwicklungen in Ungarn geht. Aber wir sind weiß Gott nicht die Ersten. Zu dem, was wir dort gegenwärtig erleben - gerade weil es uns schmerzt - können wir eben nicht einfach schweigen. Dazu müssen wir uns verhalten. Das verlangt Position, und Wegducken ist da keine Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gestern hat das ungarische Parlament die vierte Verfassungsreform in knapp zwei Jahren auf den Weg -gebracht. Mit jeder dieser Reformen macht sich der Ministerpräsident, machen sich Viktor Orban und die konservative Fidesz den ungarischen Staat mehr und mehr zur Beute. Mit jeder dieser Reformen wurden Rechtsstaat und Demokratie weiter beschädigt. Jeder, der sich diesem Kurs entgegenstellt, wird - das war in den letzten zwei Jahren zu besichtigen - abgestraft. Das Verfassungsgericht wurde seiner Kompetenzen beraubt, als Hüter der Verfassung entmachtet. Richter und Staats-anwälte wurden massenweise entlassen, durch Fidesz-Gefolgsleute ersetzt. Die unabhängige Presse wurde per Mediengesetz unter Druck gesetzt. Gesetzgebungsbefugnisse des Parlaments wurden eingeschränkt, und das Wahlrecht wurde zugunsten der Fidesz-Partei zurechtgebogen. Die Religionsfreiheit wurde von Regimetreue abhängig gemacht. In der Summe, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das eben keine bloße Anpassung an veränderte Realitäten, sondern das ist Raubbau an Demokratie und Rechtsstaat. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber nicht nur das; begleitet wird das alles von einem dumpfen und völkischen Nationalismus, und das nicht nur am äußersten rechten Rand, sondern immer unverhohlener auch in der Mitte der Partei des Ministerpräsidenten, der Regierungspartei. Fremdenfeindlichkeit, Ausfälle gegen Andersdenkende, all das wird in Ungarn allmählich gesellschaftsfähig gemacht. Da, liebe Kol-leginnen und Kollegen - da sind wir uns hoffentlich einig -, können wir nicht einfach zuschauen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Wir dürfen nicht einfach zulassen, dass europäische Grundwerte mitten in der Europäischen Union offen und gezielt missachtet und verletzt werden, auch deshalb, weil es hier nicht nur um Ungarn geht. Wenn einzelne EU-Staaten sich in einen vordemokratischen Nationalismus flüchten, dann zerfrisst das am Ende unseren gemeinsamen Wertekanon, und das dürfen wir nicht zulassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb dürfen wir wohl erwarten, dass die Europäische Kommission zu diesen Vorgängen mehr findet als nur laue Worte. Deshalb erwarte ich auch, dass eine Gipfelerklärung des Europäischen Rates morgen mehr dazu enthält als Ausdruck von Sorge und dass vor allem die deutsche Bundeskanzlerin das Nötige dafür tut. Deshalb erwarte ich von einer Parteienfamilie, in der die Union mit der Fidesz ja nicht nur irgendwie befreundet ist, sondern in einer Fraktionsgemeinschaft im Europäischen Parlament sitzt, auch nicht nur Worte, sondern Maßnahmen. Wir erwarten von der EVP und von Frau Merkel genau das, was Sie unserer Parteienfamilie im Fall der Slowakei vor einigen Jahren abverlangt haben - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihre Haltung zu den aktuellen Entwicklungen in Ungarn hat die Bundesregierung mehr als nur einmal deutlich gemacht, zuletzt beim Besuch des ungarischen Staatspräsidenten diese Woche. Es waren intensive Gespräche zwischen ihm und Bundeskanzlerin Merkel und natürlich auch dem Außenminister, Herrn Westerwelle. Ich darf auch daran erinnern, dass Frau Staatsministerin Pieper erst kürzlich in Ungarn war und auch diese Begegnung dazu nutzte, die Position der Bundesregierung hinreichend deutlich zu machen. Ich glaube, es ist aber auch wichtig, gerade zu Beginn dieser Aktuellen Stunde darauf hinzuweisen, dass wir uns in einem Plenarsaal und nicht in einem Gerichtssaal befinden. Deshalb sitzt hier kein Land auf der Anklagebank. Dem Land Ungarn haben wir in der Tat - Herr Steinmeier hat es erwähnt - gerade wegen des Jahres 1989 sehr viel zu verdanken. Ohne Ungarn wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Umgekehrt nehmen wir zu den aktuellen Geschehnissen mit Bestimmtheit, aber natürlich auch mit Augenmaß Stellung. Deswegen ist es für mich persönlich -wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei solchen Kommentierungen nicht um die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes geht. Warum ist dies der Fall? Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon haben wir eine Unionsbürgerschaft, das heißt, alle Menschen innerhalb der Europäischen Union haben den gleichen Anspruch auf Teilhabe an den gemeinsamen Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Deswegen begrüße auch ich persönlich sehr die Initiative - ausgehend von vier Außenministern der Länder Deutschland, Dänemark, Finnland und den Niederlanden, mit Herrn Westerwelle an der Spitze - in die Richtung, dass wir in Zukunft auf Fehlentwicklungen schneller reagieren können müssen. Wir benötigen einen Ad-hoc-Mechanismus. Das haben wir schon im letzten Jahr gesehen, als es Fehlentwicklungen in Rumänien aufgrund eines Amtsenthebungsverfahrens gab. Ganz nebenbei: Schon damals hätte ich mir eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema gewünscht, die dann aber nicht zustande kam. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hätten Sie doch beantragen können!) Das muss auch gesagt werden können. Wir haben das sogenannte Verfahren nach Art. 7 des EU-Vertrages. Das ist aber zu schwerfällig. Die Hürde hängt zu hoch. Deswegen brauchen wir einen Ad-hoc-Mechanismus. Ich hoffe, dass auch die Initiative von Herrn Westerwelle dazu beitragen kann, die Kommission davon zu überzeugen. Das gilt auch deswegen, weil wir spätestens mit John Locke und Montesquieu den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht nur entwickelt haben, sondern er das Herzstück einer jeden Demokratie bildet. Es geht dabei darum, dass die drei Gewalten - die rechtsprechende, die vollziehende und natürlich auch die gesetzgebende Gewalt - sich untereinander ausbalancieren und nicht die eine Gewalt sich die andere gefügig machen darf. Es darf sich auch nicht die eine Gewalt der anderen überstülpen. Das darf in einer Demokratie nicht geschehen. Darauf müssen wir hinweisen können und dürfen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hinweisen ist nicht genug!) Die Grundwerte innerhalb der Europäischen Union - egal ob es die Demokratie, der Rechtsstaat oder die Friedensstiftung sind - sind identitätsstiftend, worauf nicht zuletzt Bundespräsident Gauck in seiner Rede hingewiesen hat. Ein letztes Argument, warum wir den Ad-hoc-Mechanismus so dringend benötigen, sei auch erwähnt. Es geht nicht nur um die Wahrung demokratischer Prinzipien. Es geht auch um die Wahrung der Freiheitsprinzipien. Ich denke hier an ein weiteres Element der jüngsten Änderungen. Studenten, die in Ungarn studiert haben, haben beispielsweise nicht mehr die Möglichkeit, ohne Weiteres das Land zu verlassen. Sie können es nur mit Restriktionen verlassen. Es geht auch darum, dass eine Bankensteuer Platz gegriffen hat. Dies betrifft das Prinzip der Marktwirtschaft, weil es ausschließlich ausländische Banken angeht. Die Prinzipien der Demokratie, der Freiheit und der Marktwirtschaft sind die Kernelemente der sogenannten Kopenhagener Kriterien, die einen Beitritt eines Landes erst ermöglichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Im Kern geht es darum, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine gemeinsame Verantwortung tragen, damit die Bürgerinnen und Bürger aller Länder auch in den Genuss der Werte kommen, die uns ausmachen. Deswegen ist es wichtig, jedes Partnerland darauf hinzuweisen. Die heutige Debatte darf aber nicht nur über Ungarn gehen, sondern sie muss mit Ungarn geführt werden und mit allen anderen Ländern, in denen es um analoge Schwierigkeiten und Fragen geht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin ist besorgt. Gut so; denn die Lage in dem Land muss einen ja auch besorgt machen. Die Regierungspartei nutzt ihre große Mehrheit für Verfassungsänderungen: erstens zur Einschränkung der Rechte des Verfassungsgerichts, weil es Gesetze kassiert hat, zweitens für Regelungen, dass Menschen, die keinen festen Wohnsitz vorweisen können, Geldstrafen oder sogar Haft drohen, drittens dafür, dass Wahlwerbung für Parteien nur noch in den Sendern möglich ist, die gegenwärtig von der Regierungspartei kontrolliert werden. Ja, das sollte nicht nur Angela Merkel, sondern uns alle besorgt stimmen. Wir reden hier nicht nur über Lukaschenkos Belarus. Wir reden über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Wir reden über Ungarn. Zur Erinnerung - Frank-Walter Steinmeier hat es angesprochen -: Die Europäische Union ist zwar zunächst als Montanunion, also als Wirtschaftsunion, entstanden, sie hat sich aber inzwischen auf gemeinsame Werte verständigt. Im Vertrag über die Europäische Union heißt es: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Herr Krichbaum, deshalb reichen der Ausdruck von Besorgnis und die Hinweise mit Blick auf Ungarn im Jahr 2013 nicht mehr aus. (Beifall bei der LINKEN) Herr Orban und seine Fidesz-Partei kamen 2010 mit einem fulminanten Wahlsieg legitim an die Regierung. Schon 2011 wurde die Verfassung geändert, was international kritisiert wurde. Dann kam das Pressegesetz, 2012 das Gesetz über die Notenbank Ungarns und schließlich die Politik gegen Sinti und Roma, gegen Lesben und Schwule und deren Demonstrationsfreiheit. Intellektuelle wie György Konrad, Peter Esterhazy und der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gelten im offiziellen Ungarn als unpatriotisch, weil sie die Politik der Regierung kritisieren. Dafür werden im ganzen Land unter Beteiligung von Fidesz-Parteipolitikern Denkmale für Miklós Horthy, dem Reichsverweser, Initiator der ersten Judengesetze, Verbündeten von Hitler-Deutschland, aufgestellt. Der Friedensnobelpreisträger Elie -Wiesel hat deshalb kürzlich seinen Verdienstorden an den Parlamentspräsidenten zurückgegeben. Erst vor wenigen Wochen hat der persönliche Freund von Viktor Orban und Mitbegründer der Fidesz, Zsolt Bayer, in einem Artikel über Roma gesagt - es fällt mir schwer, das hier vorzulesen, aber wir müssen uns mit dieser Situation konfrontieren -: Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeignet, unter Menschen zu leben. Sie sind Tiere. Diese Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das muss gelöst werden - sofort und egal wie. So ein Fidesz-Parteipolitiker und Freund von Viktor -Orban, der sich bis heute nicht von ihm distanziert hat. So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Sorge allein reicht nicht aus, es muss gehandelt werden. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was passiert? Als Mitglied der Parlamentarierversammlung der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, habe ich es erlebt: Staaten wie Belarus werden wegen der letzten Wahlen kritisiert - zu Recht. Russland wird wegen Magnitskij kritisiert, der in einem Moskauer Gefängnis zu Tode kam - zu Recht. Selbst die USA werden wegen illegaler CIA-Gefängnisse kritisiert - zu Recht. Ein Antrag, Ungarn zu kritisieren, hingegen wird abgelehnt. An dieser Stelle muss ich die CDU/CSU ansprechen; denn wir reden nicht nur einfach über Ungarn, sondern wir reden auch über die CDU/CSU. Frank-Walter Steinmeier hat das angesprochen. Die Fidesz ist geachtetes Mitglied Ihrer konservativen Parteienfamilie. Man bekommt schon den Eindruck, dass Blut dicker ist als Wasser und dass man sich gegen Kritik von außen schützen will. Herr Krichbaum, Ihre Rede war - in aller Freundschaft - eine Verteidigungsrede: Augenmaß, nicht auf die Anklagebank setzen. Dann der schöne Satz, man möge sich nicht in die inneren Angelegenheiten ein-mischen. Das habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört. Hier können wir von der CDU/CSU wirklich mehr erwarten. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Offenbar haben Sie nicht zugehört!) Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihr Parteifreund, unser Bundestagskollege und Vertreter der Bundesregierung, Peter Hintze, ebenso wie Viktor Orban einer der Vizepräsidenten der Christlich Demokatischen Internationale ist. Wenn Sie nicht handeln, lassen Sie zu, dass Ihre Parteifreunde offen die Grundrechte von Euro-päerinnen und Europäern mit Füßen treten. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Schaut auf euch!) Sie müssen sich schon entscheiden, was für ein -Europa Sie wollen. Wollen Sie ein Europa, wie es Cameron will: einfach einen gemeinsamen Markt und fertig? Oder wollen Sie eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten gründet? Der Art. 7 des EU-Vertrages - es ist angesprochen worden - ermöglicht es, einem Mitgliedstaat zeitweilig sein Stimmrecht zu entziehen, wenn er die Grundrechte der EU eindeutig zu verletzen droht oder bereits verletzt. Schützen Sie nicht Ihre Parteifreunde, sie haben es nicht verdient. Handeln Sie! (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Joachim Spatz für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den letzten Worten eben: Dass diese aus der Ecke einer SED-Nachfolgeorganisation kommen, ist sehr mutig. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das musste ja jetzt kommen!) Wenn wir über Ungarn sprechen, dann sprechen wir auch über die Folgen der Teilung Europas, mit deren Überwindung sich die Länder schwertun. Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, dass das nicht die erste Regierung Ungarns ist, die diese Leistung nicht erbracht hat. Auch für diese Regierung besteht die Gefahr, durch die jetzt gewählte Methode die ererbte gesellschaftliche Spaltung nicht überwinden zu können. Aber ich betone es noch einmal: Das ist nicht die erste Regierung, die diesen Versuch erfolglos unternommen hat. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das macht es aber nicht besser!) Die Europäische Union ist in der Tat mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist und bleibt eine Wertegemeinschaft. Natürlich ist der Rechtsstaat ein wesentlicher Bestandteil, natürlich sind die Grundrechte ein -wesentlicher Bestandteil dieser Wertegemeinschaft. Deshalb hat sich die Bundesregierung eindeutig geäußert, und zwar sowohl in der Initiative von Guido Westerwelle zusammen mit Finnland, Dänemark und den Niederlanden zur Einhaltung der Grundrechte in der Europäischen Union - es geht dabei darum, das entsprechende Instrumentarium weiterzuentwickeln -, wie auch durch die Äußerungen von Staatsminister Link, der in einem Namensbeitrag in der FAZ in sehr deutlicher Form geschrieben hat: "Ungarn muss Rechtsstaat bleiben." Ich glaube nicht, dass es zu viele Politiker in Verantwortung gibt, die in derart deutlicher Weise die Position der Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen artikuliert haben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das sollten mehr tun! - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Merkel nämlich nicht!) Natürlich gibt es immer beide Wege. Es gibt den Weg, auf informelle Weise einzuwirken, und den Weg, auf offizielle Weise zu reagieren. Die Bundesrepublik beschreitet beide Wege, und wir hoffen, dass in Ungarn entsprechend reagiert wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist es schwer, zu akzeptieren, dass Gesetzgebung bis ins Detail in Verfassungsrang erhoben wird, weil natürlich die Gefahr besteht, dass eine momentan bestehende Zweidrittelmehrheit ihre Politik über den Mehrheitswechsel hinaus prolongieren will. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist das Ziel! Genau das wollen die!) Natürlich wird das von uns kritisiert, weil das nicht Teil des Wertekanons ist, den eine Verfassung absichert. Natürlich müssen wir darauf bestehen, dass diese einfachgesetzlichen Regelungen nach einer Wahl durch eine neue Mehrheit auch einfachgesetzlich wieder geändert werden können. Darauf bestehen wir natürlich. Das ist überhaupt keine Frage. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem muss ich die Kritik in einer Art und Weise äußern, die dieser Problematik angemessen ist. Es ist wichtig, dass man nicht oberlehrerhaft auftritt, sondern auf die Verantwortung hinweist: Eine Mehrheit hat eine Verantwortung, und eine Zweidrittelmehrheit hat eine besondere Verantwortung. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tun wir seit drei Jahren!) Dabei geht es nicht nur um die formale Zulässigkeit von Verfassungsänderungen - das wissen wir, und das sagen wir den ungarischen Partnern auch -, die bei einer Parlamentsmehrheit von zwei Dritteln natürlich gegeben ist, sondern darum, dass mit einer Zweidrittelmehrheit eine besondere Verantwortung für die Kohärenz einer Gesellschaft verbunden ist. Auch das fordern wir regelmäßig ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es bleibt natürlich immer das Gespräch. Es gibt eine Einladung des Parlamentspräsidenten von Ungarn an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nach Ungarn zu fahren und sich dort der Diskussion zu stellen. Ich kann nur alle auffordern: Machen Sie mit. Konfrontieren wir die Kolleginnen und Kollegen des ungarischen Parlaments direkt mit unserer Kritik, und versuchen wir auch auf diese Weise, mit Blick auf diese unglücklichen Gesetzgebungsverfahren Änderungen herbeizuführen - in aller Kollegialität und in aller Freundschaft. Denn noch eines ist wichtig: Die Wertegemeinschaft Europas ist nicht nur eine Wertegemeinschaft Westeuropas, sondern eine Wertegemeinschaft Gesamteuropas. Die Ungarn haben damals ihren Beitrag geleistet, als es darum ging, den Eisernen Vorhang zu öffnen, die Teilung Europas zu beenden und die Etablierung der Grundrechte in Osteuropa überhaupt erst zu ermöglichen. Daher gilt ihnen bei aller Kritik auch immer unser Dank. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Anfang etwas ganz Persönliches sagen: Wir reden schon seit vielen Jahren über Ungarn. Sie alle wissen, dass ich kein Mensch knalliger Töne bin und auch kein Mensch, der für Schlagzeilen arbeitet. Vielmehr ist es so, dass ich - wie viele in unserem Haus - sehr viel von diesem Land halte. Deswegen ist es mir - aus Interesse an dem Land - sehr wichtig, was dort passiert. Als ich die Nachrichten über die sehr rasche Veränderung der Verfassung und das, was sie beinhaltet, bekommen habe, habe ich das schon ein bisschen persönlich genommen. Das möchte ich auch in Richtung Budapest sagen. Ich habe immer versucht - auch in Bewertung der Grünen im Deutschen Bundestag -, für eine realistische und treffende Note zu sorgen. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass aus den Debatten der letzten zwei Jahre gegenseitig gelernt worden ist. Wenn ich mir nun vor Augen führe, welche Signale die EVP in den letzten Jahren intern nach Budapest gesendet hat und dass das Auswärtige Amt in diesem Fall meiner Ansicht nach recht deutliche Worte gefunden hat, komme ich nicht umhin, die Nichtreaktion von Angela Merkel als ein klares Anzeichen dafür zu werten, dass hier ein Affront stattfindet. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist einfach falsch!) Dass die EVP, die gegenüber Herrn Orban gesagt hat: "Wir können nicht gebrauchen, dass du uns immer in so schlechte Schlagzeilen bringst", sich jetzt nicht mehr in der Lage sieht, auf dieses erneute, plötzliche und überraschende Agieren in einer Form zu antworten, dass man noch ein Plus in Budapest hätte, dass Frau Merkel nicht öffentlich klar, mit angemessenen und vernünftigen Worten Stellung bezieht - so wie es das Auswärtige Amt im Rahmen des genannten Namensbeitrags offenkundig konnte -, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Richtig!) zeigt, dass sie hier nicht gut aufgestellt ist und nicht richtig agiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Insofern ist das kein Konflikt zwischen Regierung und Opposition; vielmehr geht es hier um die Frage der europäischen Grundwerte. Sie wissen, dass ich ein großer Freund Ungarns bin. Sie wissen, dass wir als Grüne unglaublich dankbar für das sind, was Ungarn geleistet hat, und dass wir - bei großem Bemühen, die richtige Form zu finden - immer alles mit kritischen und offenen Worte ansprechen. Aber man muss doch fragen, ob das Verfahren, die Verfassungsänderungen in 25 Tagen so durchzuführen, dass die Venedig-Kommission, welche in den letzten Jahren in die Änderungen eingebunden war und Möglichkeiten zur Stellungnahme hatte, gar nicht reagieren konnte, der Stil ist, wie mit der Opposition in Ungarn, aber auch mit den europäischen Partnern, umgegangen werden kann. Ich möchte noch etwas sagen, weil ich finde, dass das ein ziemlich wichtiger Punkt ist. In Art. 2 des EU-Vertrages gibt es die klare Aussage: Die Werte, auf die sich die Union - die Europäische Union - gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Ihrer Aussage, Frau Merkel habe sich klar geäußert, möchte ich nur entgegnen: Wir sind uns nicht mehr sicher, ob die jetzt beschlossenen Änderungen der ungarischen Verfassung noch im Einklang mit diesen Grundwerten stehen. Wir möchten eine klare Aussage der Bundesregierung als Ganzes und damit auch der Bundeskanzlerin, ob die Bundesregierung der Meinung ist, dass die Änderungen der ungarischen Verfassung noch mit den Werten aus Art. 2 EU-Vertrag in Übereinstimmung stehen. Dazu müssen Sie sich äußern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir haben immer gesagt, dass die Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie auch davon abhängig ist, dass sie in allen Mitgliedstaaten funktioniert. Sie wissen auch, dass wir diesbezüglich in vielen Mitgliedstaaten Sorge haben. Wir haben in diesem Hause gemeinsam - auch unter Einschluss der sozialdemokratischen Kollegen - sehr deutliche Worte gegenüber den Ereignissen in Rumänien gefunden. Das möchte ich hier ausdrücklich lobend erwähnen. Da hat die SPD im Deutschen Bundestag nicht die Rolle gespielt, die manchmal bei den eigenen Kollegen gespielt wird, nämlich wegzuschauen. Ich möchte Sie vor dem Hintergrund der Sorgen über die Entwicklung in der gesamten Region und auch vor dem Hintergrund der Glaubwürdigkeit, die die Europäische Union bei den Erweiterungsprozessen auf dem westlichen Balkan benötigt, bitten, dieses Prinzip hier bei uns gemeinsam durchzuhalten. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Mitglieder der Partei sind, deren Vorsitzende die Bundeskanzlerin ist, wissen, dass wir an dieser Stelle im deutschen Interesse gemeinsam klare Worte in Richtung Budapest richten müssen, weil der von vielen, auch von Gunther Krichbaum richtig beschriebene Konflikt durch die Änderungen hinsichtlich der Gewaltenteilung in Ungarn nicht nur für Ungarn und für die Freundschaft zu Deutschland, sondern für die gesamte Region sehr, sehr gefährlich ist. Diese Worte richten wir in Freundschaft, mit großer Sorge und sehr viel persönlicher Anteilnahme gen Budapest. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kavallerie soll gegen die Schweiz ins Feld geschickt werden, (Zurufe von der SPD: Oh!) Piraten sollen nach Zypern schippern, italienische Politiker sollen in den Zirkus, (Kerstin Griese [SPD]: Zum Thema!) und - so nehme ich an -, wenn es nach der SPD und ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl geht, soll Ungarn auf die Anklagebank. Das ist der Umgang des Möchtegernkanzlers Steinbrück mit unseren europäischen Nachbarn und mit unseren europäischen Freunden. (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) Wer Steinbrück zum Freund hat, braucht keine Feinde mehr, könnte man fast sagen. (Thomas Oppermann [SPD]: Altmaier!) Offenbar hat er die Beinfreiheit nur eingefordert, um anderen vor das Schienbein zu treten. Leider nehmen er und seine Partei dabei keinerlei Rücksicht darauf, wen die Attacken treffen. Respekt scheint Ihnen ein Fremdwort zu sein, (Thomas Oppermann [SPD]: Wohl den falschen Namen aufgeschrieben!) vor allem gegenüber anderen Staaten. Sie schaden mit Ihrem oberlehrerhaften, ja geradezu rüpelhaften Verhalten dem Ansehen unseres Landes. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das musste gesagt werden. Nun zur Sache. Ich stimme vollkommen mit denjenigen überein, die darauf verweisen, dass die Europäische Union auch eine Wertegemeinschaft ist. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Jetzt nicht mehr! - Dietmar Nietan [SPD]: Das scheinen Sie nicht zu verstehen!) In dieser Wertegemeinschaft darf uns nicht egal sein, was in einem anderen Mitgliedstaat passiert. Das gilt natürlich ganz besonders, wenn mögliche Verstöße gegen Grundwerte im Raum stehen. Auch ich sehe es skeptisch, wenn ein Verfassungsgericht Normen der Verfassung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten Verfassungsgrundsätzen überprüfen darf. Gerade wir Deutsche wissen durch unsere Geschichte nur zu gut, wohin das führen kann. Das heißt aber nicht, dass der Deutschen Bundestag als selbsternannte oberste moralische und juristische Instanz in Europa auftreten (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt denn "selbsternannt"? Gewählt!) und mit dem Finger auf Ungarn zeigen darf, frei nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch Unsinn! Wir reden über europäische Grundwerte und nicht über deutsche! - Dietmar Nietan [SPD]: Merken Sie, dass Sie sich gerade blamieren?) Dies gilt erstens vor dem Hintergrund, dass das ungarische Verfassungsgericht nach meinen Informationen in den letzten 20 Jahren, also auch vor der jetzigen Verfassungsänderung, noch nie die Kompetenz hatte, Verfassungsnormen inhaltlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Bemerkenswerterweise hat sich bisher niemand daran gestört. Das macht die Sache nicht besser, aber es zeigt die Unehrlichkeit derer, die jetzt mit dem Finger auf Ungarn zeigen. Zweitens habe ich den Kollegen von der SPD und von den Grünen bereits im Europaausschuss vorgeschlagen, sich an den Europarat und an die EU-Kommission zu wenden. Ich habe dies getan; denn es geht mir um die Sache. Diese Institutionen sind für die Überprüfung der Einhaltung europäischer Grundwerte zuständig, nicht der Bundestag. (Dietmar Nietan [SPD]: Was haben Sie für ein Selbstverständnis? - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir können hier über alles reden, worüber wir reden wollen, auch Außenpolitik und Europapolitik! Sonst könnten wir den Auswärtigen Ausschuss auch abschaffen! Dann bräuchten wir keinen Außenminister mehr!) Wir sind Legislative, nicht Judikative. Wir sind für die Gesetzgebung in Deutschland zuständig, nicht aber für die Kontrolle der Gesetze, schon gar nicht für die Kontrolle von Gesetzen im Ausland. Soweit ich weiß, haben EU-Kommissionschef Barroso und der Generalsekretär des Europarats, Jagland, bereits eine Überprüfung der ungarischen Verfassungsänderungen angekündigt. In diesem Zusammenhang hat auch der ungarische Außenminister bereits die Bereitschaft seines Landes zur Zusammenarbeit erklärt. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Macht er seit drei Jahren!) Also lassen wir sie doch erst einmal überprüfen und richten nicht schon vorher. Ich sage Ihnen: Es geht der deutschen Opposition nicht um die Sache. Es geht Ihnen allein um eine öffentlichkeitswirksame Ungarn-Schelte. Würde es Ihnen nämlich um die Sache gehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dürften Sie nicht nur Ungarn zum Ziel Ihrer Attacken machen. Würde es Ihnen um die Sache gehen, hätten wir heute eine Grundsatzdebatte darüber geführt, ob die Demokratie in einigen Ländern Europas möglicherweise gefährdet ist. (Dietmar Nietan [SPD]: Können wir gerne -machen!) In diesem Zusammenhang hätte man einen skeptischen Blick nicht nur nach Ungarn, sondern auch in andere EU-Staaten werfen können. (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel?) Die Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien stimmen mich mindestens genauso skeptisch wie die Entwicklungen in Ungarn. Es geht Ihnen aber nicht um die Sache. Ihnen passt es nicht, dass es keine linke, sondern eine konservative Regierung in Ungarn gibt. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hat damit nichts zu tun! - Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Solidaritätserklärung für diese! Unwürdig für einen Christdemokraten!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Demokrat begrüße ich ausdrücklich das Recht der parlamentarischen Opposition, eine Aktuelle Stunde zu einem aktuellen Thema zu beantragen. Bedauerlicherweise ist dieses Recht vonseiten der SPD heute wieder einmal in einer eklatanten Weise missbraucht worden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dietmar Nietan [SPD]: Ach, wollen Sie das auch noch abschaffen? Unfassbar! - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch absurd! Wir können reden, worüber wir wollen! Das entscheiden Sie doch nicht! - Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Bayer distanziere ich mich von Ihnen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Michael Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier im Deutschen Bundestag sitzen viele Freundinnen und Freunde Ungarns, insbesondere auch in meiner Fraktion. Seit 1999 bin ich Berichterstatter für Ungarn. Ich reise mehrmals im Jahr in dieses Land. Ich weiß, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen auch, wie dramatisch die Veränderungen in diesem Land sind, das immer schon geprägt war von starker gesellschaftlicher und politischer Polarisierung. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: So ist es!) Aber, lieber Kollege Holmeier - bei allem Respekt gegenüber meinem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier, den Sie vielleicht gemeint haben, und gegenüber unserem Kanzlerkandidaten Steinbrück -: Nicht einer von den beiden hat die Ungarn dahin gebracht, wo sie derzeit stehen, sondern die ungarische Regierung hat Ungarn ins Abseits manövriert, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es geht hier überhaupt nicht um das deutsche Wesen. Es geht hier um die gemeinsame europäische Sache. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: So ist es!) Ich bin immer davon ausgegangen, zumindest in der Frage: "Auf welchem gemeinsamen Wertefundament bewegen wir uns in der Europäischen Union?" sei partei-, fraktions- und gesellschaftsübergreifend ein Konsens zu erzielen. Aber offenkundig, sind Sie, Herr Holmeier, CDU/CSU, nicht mehr bereit und in der Lage, diesen Konsens mitzutragen. Das ist beschämend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!) Hinter der Ungarn-Frage verbirgt sich ja eine noch viel entscheidendere Frage - in dem einen oder anderen Redebeitrag ist sie schon angeklungen -: Wie gehen wir mit der Infragestellung von Demokratie und Grundwerten in der Europäischen Union um? Ich will deutlich -machen, auch gegenüber dem Kollegen Gunther Krichbaum: Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Nationalstaaten, ein Relikt des 19. Jahrhunderts, hat in der Europäischen Union keinen Bestand mehr. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ach ja? Und was sagt zum Beispiel Helmut Schmidt dazu? Der will das doch immer noch!) Im Gegenteil, es gibt die Pflicht zur Einmischung. Wir stehen in der gemeinsamen Verantwortung, dafür zu -sorgen, dass die Grund- und Freiheitsrechte niemals, in welcher Weise auch immer, relativiert werden. Dabei müssen wir staaten- und gesellschaftsübergreifend zusammenarbeiten. Wir müssen auch diejenigen bestärken, die in den betreffenden Staaten für Demokratie, für Freiheit und für die Grundrechte eintreten. Das ist nun wirklich keine Frage von Opposition einerseits und Regierung andererseits. Insofern will ich durchaus respektvoll sagen: Seit einigen Jahren engagiert sich der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, an dieser Stelle sehr. Ich kann sagen, dass auch der ehemalige Staatsminister für Europa, Werner Hoyer, und der gegenwärtige Staatsminister für Europa, Michael Link, hierzu deutliche Worte gefunden haben, die wir uneingeschränkt unterstützen. (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt allerdings keine konsequente Strategie, wie wir mit der Infragestellung von Demokratie und Grundwerten in der Europäischen Union umgehen. Wir müssen auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass wir mit zweierlei Maß messen; das gebe ich selbstkritisch zu. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja! Aber das gilt doch wohl bei jedem Thema, oder?) Wir haben im Falle Italiens möglicherweise zu lange geschwiegen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir die kleinen Staaten strenger als die größeren Staaten behandeln. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sehr richtig!) Oder - noch viel schlimmer -: Mit welcher Verve gehen wir eigentlich gegen Haushaltssünder vor? Da reden wir ständig über Sanktionen. Aber wo thematisieren wir eigentlich Demokratiesünder? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wo engagieren wir uns gegen Demokratiesünder? Das ist doch viel wichtiger und viel entscheidender. Leider muss man sagen, dass Viktor Orban überhaupt nichts dazugelernt hat. Wenn man mit Vertretern der ungarischen Regierung spricht - ich tue das regelmäßig -, heißt es immer wieder, man habe da etwas nicht richtig verstanden. 450 Gesetze sind in den vergangenen zwei Jahren mit Zweidrittelmehrheit durch das Parlament gepeitscht worden; manche demokratische Selbstverständlichkeit ist da mittlerweile erodiert. Nun ist schon zum vierten Mal die Verfassung geändert worden. Immer wieder wurde gesagt, wir hätten da etwas missverstanden. Wir haben sehr wohl verstanden, dass an das gemeinsame europäische Wertefundament systematisch die Axt angelegt wird. Das muss man im Deutschen Bundestag doch noch sagen dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Parteipolitische Nibelungentreue ist hier völlig fehl am Platze. Wir machen die Entwicklungen schon seit mehreren Jahren zum Thema. Wenn die CDU/CSU schon vor zwei oder drei Jahren in die Allparteienkoalition eingestiegen wäre und sich mit uns gemeinsam dazu entschlossen hätte, gegenüber den politisch Verantwortlichen in Ungarn deutliche Worte zu finden - ob nun vor der Tür oder hinter der Tür; vor allem die Bundeskanzlerin ist da in der Pflicht -, wäre es in Ungarn vielleicht gar nicht so weit gekommen. Wenn Sie immer wieder auf uns zeigen, kann ich ganz selbstbewusst zum Ausdruck bringen: Nicht nur - davon sprach der Kollege Steinmeier - im Hinblick auf die Slowakei haben wir deutliche Worte gefunden, auch im Falle Rumäniens haben wir uns klar geäußert. Die Sozialdemokratische Partei Europas hat ja sogar ihren Parteikongress von Bukarest nach Brüssel verlegt, um öffentlich ein Zeichen zu setzen. Kritik wirkt nur dann, wenn sie öffentlich geäußert wird. Das sollte doch zumindest in der Europäischen Union selbstverständlich sein. Zum Schluss möchte ich sagen: Es geht wirklich nicht nur um Ungarn, und es geht auch nicht nur um unsere eigenen Werte. Es geht auch um die große Frage: Wie tritt die Europäische Union in einer globalisierten Welt gegenüber denjenigen Staaten auf, die tagtäglich Demokratie und Freiheitsrechte mit Füßen treten? Können wir wirklich noch glaubhaft für diese Werte eintreten, wenn wir Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte auch innerhalb der Europäischen Union wirklich ernst nehmen? Ich meine hier nicht Sonntagsreden, sondern die tagtägliche politische und gesellschaftliche Arbeit. Deswegen ist diese Diskussion dringend überfällig. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wenn wir aus der Debatte, die wir hier erleben, die innenpolitischen Aspekte ausklammern würden, würden wir eine ganz große Übereinstimmung in der Sache erreichen können. Wir stellen fest, dass die Verfassung in Ungarn geändert wird. Wir stellen fest, dass Dinge, die eigentlich einfachgesetzlich geregelt werden sollten, in Verfassungsrang gehoben werden - ein typischer Trick von Parteien, ihre politischen Überzeugungen in Verfassungsrang zu bringen. Wir stellen fest, dass etwa die Religionsfreiheit - das sage ich jetzt als engagierter Christ - in Ungarn im Moment sicherlich nicht so behandelt wird, wie wir uns das wünschen. Wir stellen fest, dass das Verfassungsgericht durch die Ausklammerung materieller Verfassungsprüfungen in seinen Rechten beschränkt wird. All das sind Dinge, die wir durchaus mit Sorge sehen. Ich glaube aber, dass wir alle, die wir unterschiedlichen Parteifamilien angehören, gut daran tun, diese Punkte in Freundschaft zu Ungarn und im Dialog auf Augenhöhe zu thematisieren und nicht mit innenpolitischem Schaum vor dem Mund. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Jede Partei - da sind wir doch Realpolitiker genug - hat doch ihre eigenen Möglichkeiten, auf solche Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Es gibt doch keine Partei oder Fraktion hier im Deutschen Bundestag, die nicht schon artikuliert hätte, dass sie die Entwicklungen mit einer gewissen Sorge betrachtet. Nur, es gibt dafür eben gewisse Kanäle, zum Teil auf außenpolitischer Ebene: Michael Link, Werner Hoyer, aber auch Guido Westerwelle wurden schon genannt; aber auch Frau Merkel hat sich zu dieser Frage ja durchaus geäußert. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geräuspert!) Wir können, glaube ich, sicher sein, dass hinter verschlossenen Türen auch noch das eine oder andere deutliche Wort mehr gesagt worden ist. Wir sollten einander also nicht vorwerfen, die einen würden die Entwicklungen in der Verfassungsfrage in Ungarn anders betrachten als die anderen. Ich glaube, wir können uns, was diese Entwicklungen angeht, auf einen Konsens aller Demokraten verlassen. Wie ist es, wenn man feststellt, dass ein Freund in Teilbereichen eine merkwürdige Entwicklung durchläuft? Wir alle wissen: Man sagt sich nicht sofort von seinem Freund los und distanziert sich auch nicht in aller Öffentlichkeit von ihm, sondern versucht, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Seit drei Jahren!) Das gelingt denjenigen, die ihm mit der eigenen Par-teienfamilie näher stehen, intern vielleicht besser, als wenn man sie von außen beschimpft. Wir haben es den Sozialdemokraten auch nicht vorgeworfen, als sie sich etwa im Fall Rumänien sehr schwertaten, gegenüber Herrn Ponta oder seiner Frau, die ja im Europäischen Parlament sitzt, auch nur ein einziges Wort der Distanzierung über die Lippen zu bringen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch Quatsch!) Wir haben darauf gesetzt und - ich glaube, mit Berechtigung - darauf gehofft, dass Sie beiden gegenüber im Rahmen Ihrer Parteienfamilie intern das Notwendige sagen, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir tun das!) auch wenn Sie es in der Öffentlichkeit deutlich stärker relativiert haben als etwa bei den Entwicklungen in Ungarn. Deswegen verlassen wir uns auch darauf, dass Sie beispielsweise gegenüber Herrn Sarrazin oder auch Herrn Buschkowsky, wenn er mal wieder das Maß des Üblichen verlässt, intern ein paar notwendige Dinge sagen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dass Sie Buschkowsky mit Orban vergleichen, ist ein unverschämter Vergleich von Ihnen! - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für einen Moment habe ich mich gefragt, was ich damit zu tun habe!) Ich glaube, diese demokratischen Gepflogenheiten werden von allen in diesem Haus vertretenen Parteien eingehalten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Am Ende ist es mir ganz wichtig, den Ungarn noch einmal zu sagen, dass wir an unserer Freundschaft mit ihrem Land nicht rütteln. Wir sind Ungarn zu großem Dank verpflichtet. Ungarn hat in vielen wichtigen Situationen der deutschen Geschichte eine sehr wichtige Funktion eingenommen. Insofern werden wir mit unseren ungarischen Freunden auf Augenhöhe, in Freundschaft, aber auch in gewisser Sorge über manche Entwicklung sprechen müssen. Das hat auch schon begonnen. Wir alle sollten unsere parteipolitischen oder auch unsere institutionellen Kanäle nutzen, um diese Gespräche zu intensivieren. Ich glaube, dann werden wir am ehesten etwas erreichen. Das ist wirksamer als öffentliche Schuldzuweisungen oder gar mit kleiner parteipolitischer Münze aufzurechnen, dass Abgeordnete der einen Fraktion hier weniger demokratisch gesinnt seien als die anderer Fraktionen. Ich denke, wir alle wollen die Verfassungsentwicklung in Europa und die darauf aufbauende Wertegemeinschaft schützen. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, die ein bisschen zu sehr der Innenpolitik geschuldet sind. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ruppert, ich würde ja schon gerne aufs Thema zurückkommen, nämlich auf die Verfassungsänderungen in Ungarn. Bevor ich das tue, will ich hier aber ausdrücklich sagen, dass Sie selber wissen müssten, dass Sie danebengegriffen haben, als Sie Heinz Buschkowsky in einem Atemzug mit Viktor Orban genannt haben. Dagegen verwahren wir uns; das geht nun wirklich nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Aber bei Sarrazin verwahrt sie sich nicht!) Wir reden über Verfassungsänderungen in Ungarn, die mit einer Zweidrittelmehrheit durchgepeitscht wurden. Wir reden auch darüber, dass Verfassungsänderungen, die 2011 schon einmal kritisiert worden sind und zu denen es Kompromisse gab, nun wieder vorgenommen werden sollen. Der Protest dagegen ist auch in Ungarn selbst sehr groß. Ich will zwei Beispiele für diese elementaren Veränderungen nennen, die meines Erachtens übrigens noch nicht einmal in einfachgesetzliche Regelungen und erst recht nicht in die Verfassung gehören: (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) In Ungarn ist demnächst die Obdachlosigkeit verboten. Das wird in der Verfassung stehen. Man muss sich einmal vorstellen, wie absurd das ist. Man kann sicherlich auch vermuten, dass dahinter eine demagogische Maßnahme gegen die Roma in Ungarn steht. Was dahinter auch für ein Verständnis von Sozialstaat steht, sollte uns besorgt machen. Und nicht nur das! Das sollte uns auch dazu bringen, dass wir darüber gegenüber einem Partnerland in der Europäischen Union, was Ungarn für uns ja ist, eben nicht schweigen. Ein anderes Beispiel für die, wie ich finde, nicht hinnehmbaren Verfassungsänderungen in Ungarn ist die Situation der Religionsfreiheit. Ich will hier ausdrücklich die CDU/CSU-Fraktion ansprechen; denn Ihr Vorsitzender setzt sich ja immer besonders engagiert für die Religionsfreiheit und für die Rechte verfolgter Christen ein. Hier geht es eben auch darum, einmal nach Ungarn zu schauen. Die Fidesz-Partei hat dort ein Kirchengesetz durchgesetzt, das die Trennung von Staat und Kirche und die Religionsfreiheit verletzt. Das hat schon zu viel Kritik geführt. Die Trennung von Staat und Kirche gehört eben auch zu den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Europa. In Ungarn müssen Glaubensgemeinschaften, die als Kirche anerkannt werden wollen, dies nun im Parlament beantragen. Der Geheimdienst muss dazu per Votum seine Erlaubnis erteilen, und das Parlament muss das mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Ich glaube, auch das zeigt, wie absurd das ist. Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf zwei ganz aktuelle Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lenken: Das erste stammt vom Februar 2013. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat da entschieden, dass Ungarn gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, einen Vater wegen seiner religiösen Überzeugung diskriminiert und sein Recht auf Familienleben verletzt hat. Man hat es diesem Vater nämlich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit verwehrt, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Es war die Rede von - Zitat - "irrationaler Weltsicht". Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich gesagt, dass das so nicht geht und dass der Vater aufgrund seiner religiösen Überzeugung diskriminiert worden ist. Dieses Vorgehen sollten wir uns sehr genau anschauen, denn es zeigt, dass es um die Menschenrechte in Ungarn wirklich schwierig bestellt ist. Die Verfassungsänderungen der Regierung Orban, mit denen auch die Rechte vieler Religionsgemeinschaften beschränkt worden sind, sind eben ein Zeichen eines Politik- und zunehmend auch Justizsystems, das die Rechte der Menschen mehr und mehr missachtet. Ich habe die große Sorge, dass das ein weiterer Schritt hin zu einer ideologischen Grundüberzeugung ist, die die universelle Rolle und den universellen Wert der Menschenrechte - diese sind ja Gegenstand der europäischen Wertegemeinschaft - missachtet. Ich will ein zweites aktuelles Urteil ansprechen, das die Missachtung der Menschenrechte belegt. Es geht wieder einmal - ein aktuelles Thema - um die Situation der Roma-Minderheit in Ungarn. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Ungarn beklagt und verurteilt, weil ungarische Behörden zwei junge Angehörige der Roma-Minderheit in Schulen für geistig behinderte Menschen gesteckt haben. Es fand ein Schultest statt, der ganz besonders darauf ausgerichtet war, Roma-Kinder auszusondern. Entgegen der Einschätzung der ungarischen Behörden haben unabhängige Experten festgestellt, dass diese beiden Jungen keine geistige Behinderung haben. Die Schuleinstufung war also falsch. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich gesagt, dass das eine Diskriminierung von Roma war. Es bereitet uns große Sorgen, dass die Diskriminierung der Roma in Ungarn System hat und dass der Staat nichts dagegen unternimmt. Das ist das große Problem. So lesen wir beispielsweise immer wieder von Aufmärschen der rechtsextremen Jobbik-Partei. Daher wünschen wir uns, dass die ungarische Regierung gegen diese und auch gegen die schlechten und elenden Lebensverhältnisse der Roma etwas unternimmt. Ich möchte ausdrücklich etwas dazu sagen - denn das gehört auch zu dieser Debatte -, wie die Bundesregierung hier mit Menschen umgeht, die in einer elenden Situation leben und unter Diskriminierung und Gewalt leiden. Das, was der Bundesinnenminister, der heute nicht anwesend ist, macht, ist Populismus gegen Menschen, die vor bitterer Armut und schlimmer Diskriminierung flüchten. So kann man damit nicht umgehen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns darin einig sein, dass Diskriminierung von Menschen -wegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit mit den Menschenrechten unvereinbar ist. Dabei geht es - viele haben es schon gesagt; ich will es noch einmal betonen - nicht um Ausland und Inland, Herr Kollege Holmeier. Dabei geht es insbesondere vor dem Hintergrund der Lehren aus der Geschichte darum, dass Europa mehr ist als ein Binnenmarkt. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Gerade aus unserer Geschichte und aus den Fehlern des 20. Jahrhunderts haben wir doch gelernt - das ist unser historisches Bewusstsein -, dass die Achtung der Menschenrechte ein universeller Wert ist und dass wir uns überall, das heißt in allen Ländern, für die Achtung der Menschenrechte einsetzen müssen. Das müssen wir hier im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]) Deshalb noch einmal ein Appell an die Bundeskanzlerin, die schon auf dem Weg zum Europäischen Rat ist - dabei unterstütze ich ausdrücklich, was der Kollege Steinmeier gesagt hat -: Wir erwarten vom Europäischen Rat hierzu deutliche Worte. Unser Appell an die Bundeskanzlerin und ihre Fraktion lautet: Bleiben Sie nicht untätig. Sprechen Sie mit Ihrer Schwesterpartei. - Wir tun dies in unserer Parteienfamilie übrigens sehr intensiv. Ich kann Ihnen ein paar Beispiele aufzählen, wo wir uns kräftig mit unseren Parteischwestern und -brüdern auseinandersetzen, wenn es problematische Entwicklungen gibt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen. Kerstin Griese (SPD): Mein letzter Satz. - Deshalb geht es darum, dass Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten, die Rechte der Opposition, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit zu Europa dazugehören und dass es Europa nicht ohne die Grund- und Menschenrechte gibt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem letzten Satz der Kollegin Griese kann sich, glaube ich, jeder anschließen. Dass das grundlegende Werte hier in Europa sind und dass wir darüber in einer europäischen Öffentlichkeit diskutieren, stimmt. Dass dies auch die Bundesregierung freundschaftlich und in einem Ton tut, Herr Außenminister a. D. Steinmeier, der angemessen ist, kann wohl kaum bestritten werden. Man stelle sich einmal vor, der Bundesaußenminister hätte sich so, wie sein Amtsvorgänger das heute hier getan hat, öffentlich zu der gesamten Thematik geäußert. Was wäre dann wohl los gewesen? Sie haben hier heute von dumpfem, völkischem Nationalismus gesprochen, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ist doch auch wahr!) von einem Weg in vordemokratischen Nationalismus. Meinen Sie, dass das die angemessene Sprache ist? Sie haben diese schließlich verlangt. (Zustimmung des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) - Spätestens wenn Herr Liebich hier Beifall klatscht, sollten die Sozialdemokraten etwas vorsichtig werden und darüber nachdenken, ob sie noch auf dem richtigen Wege sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich muss ganz ehrlich sagen: Meinen Sie, dass das in einem gemeinsamen Europa die richtige Tonalität gegenüber einem ungarischen Volk ist, dem wir Deutsche wahnsinnig viel zu verdanken haben? Die Ungarn waren mutig und haben den Eisernen Vorhang niedergerissen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist aber nicht das Thema!) Deswegen hätten Sie, Herr Steinmeier, nach Ihren ersten Sätzen aufhören sollen. Deswegen sollten wir wirklich nicht die Ersten sein, die oberlehrerhaft durch Europa gehen (Zurufe von der SPD) und alles besser wissen und den Ungarn Demokratie und Freiheit beibringen wollen. Nein, dafür sind wir die Falschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber den Franzosen das Wirtschaften!) Ich bedaure auch, dass diese Debatte hier stattfindet und keiner derjenigen, die sie initiiert haben, anwesend ist. Herr Sarrazin, wenn sich die gesamte Opposition und insbesondere Herr Steinmeier so eingelassen hätten wie Sie, dann wäre es in Ordnung gewesen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Beide haben doch in der Sache das Gleiche gebracht!) Dann hätten wir dem wahrscheinlich auch zustimmen können. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nun schon jahrelang versucht! Sie stimmen doch keinem unserer Anträge zu!) Denn Sie haben Fragen gestellt, aber keine Vorverurteilung betrieben. Das ist die Problematik, in der wir uns befinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wenn Sie so reden würden wie Westerwelle, wäre das auch besser! Klare Worte!) Ich hätte es für angemessen befunden, dass diejenigen, die eine solche Debatte hier initiieren, einmal zur Kenntnis nehmen, dass das ungarische Parlament in dieser Woche, übrigens einstimmig und aufgrund der Initiative der Fidesz-Fraktion, die Einführung eines Gedenktages für die deutschen Vertriebenen beschlossen und begangen hat. Herr Präsident Lammert ist dabei gewesen. Ich finde, wenn wir heute über Ungarn reden, dann müssen wir im Sinne der Völkerverständigung in Europa erfreut und dankbar zur Kenntnis nehmen, dass Ungarn als Erstes dieser Länder einen Schritt auf uns zugegangen ist. Ich glaube, dass dies eine wichtige Grundlage ist, die wir zur Kenntnis nehmen und auch würdigen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Dann sollten wir nichts mehr zu diesem Thema sagen?) Im Übrigen ist es - Kollege Ruppert hat darauf hingewiesen - doch völlig unstreitig, dass in dieser Situation Fragen zu stellen sind. Es ist auch in keiner Weise zu kritisieren, dass man darüber redet: Wie wird dort mit dem Verfassungsgericht umgegangen? Was wird in der Verfassung mithilfe einer Zweidrittelmehrheit, die den Regierenden zur Verfügung steht, verankert? Angesichts einer solchen Mehrheit setzen sich die Regierenden - das ist schon zu Recht vom Kollegen Spatz gesagt worden - immer dem Verdacht aus, eine Sache gesetzlich zu perpetuieren, also auch für die Zeit zu regeln, in der man selber keine Zweidrittelmehrheit oder keine einfache Mehrheit mehr hat. Natürlich muss man an dieser Stelle Fragen stellen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Seit drei Jahren stellen wir Fragen!) - Herr Liebich, da Sie gerade sagen, dass Sie seit drei Jahren Fragen stellen, will ich Sie nur einmal darauf hinweisen, dass wir in der Tat hier im Hause eine Debatte über die Mediengesetzgebung in Ungarn geführt haben. Ich will Sie einmal fragen, ob Sie wissen, dass mittlerweile der Generalsekretär des Europarates Jagland und die Venedig-Kommission, die mehrfach erwähnt worden sind, festgestellt haben, dass Ungarn sämtliche Bedenken ausgeräumt hat und dass der Europarat mit der jetzigen Mediengesetzgebung in Ungarn einverstanden ist. Das haben Sie hier nicht erwähnt. Sie sind ganz schnell im Voranklagen; damit sind Sie hier im Parlament die Schnellsten. Aber sich die Sache in aller Ruhe anzusehen, berechtigte Fragen zu stellen und dann die europäischen Institutionen ihres Amtes walten zu lassen, das ist der richtige Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir von der Union sind, wie Sie wissen, für eine Stärkung der Europäischen Union und deren Institutionen. Wir sind für eine funktionierende Gerichtsbarkeit und für die Überwachung der Einhaltung grundlegender europäischer Prinzipien in den einzelnen Mitgliedstaaten. Gegebenenfalls müssen nach Fehlverhalten Konsequenzen gezogen werden. Das ist vollkommen klar, das ist auch unstreitig. Ein entsprechendes Instrumentarium gibt es bereits. Man kann von diesem Ort hier die Kommission nur auffordern, dieses Instrumentarium konsequent anzuwenden. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Wir sind der Meinung, dass das richtig und erforderlich ist. Wir sind aber nicht der Auffassung, dass einzelne nationale Parlamente, sei es das deutsche Parlament oder andere Parlamente, die Richter darüber sein sollten, ob andere Parlamente ihre Kompetenzen überschreiten oder etwas richtig oder falsch machen. Wo kommen wir hin, wenn wir im Deutschen Bundestag anfangen, zu entscheiden, ob ein anderes europäisches Land eine Sache zu Recht und richtig, wie immer man das beurteilen will, gesetzlich oder verfassungsrechtlich fixiert hat? (Dietmar Nietan [SPD]: Sie haben nichts verstanden! Das ist wirklich dummes Zeug, was Sie hier erzählen!) Das ist nicht unsere Funktion. Ich sage in aller Offenheit: Das ist die Aufgabe des Europarates und der europäischen Institutionen in Brüssel und in Luxemburg. Diese Institutionen sollten wir stärken. Dahin gehört diese Angelegenheit. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Es gibt keine europäischen Parteien!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Christoph Strässer. Bitte schön, Kollege Christoph Strässer. (Beifall bei der SPD) Christoph Strässer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war bislang immer von einem breiten Konsens in dieser Frage ausgegangen. Aber nach zwei Redebeiträgen aus der CDU/CSU-Fraktion zweifle ich daran, dass wir eine gemeinsame Position haben, was die Wertegemeinschaft Europas angeht und wie wir hier im Deutschen Bundestag damit umzugehen haben. Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen, Herr Kollege Wadephul: Wir arbeiten im Europarat sehr gut zusammen. Ich hatte auch immer den Eindruck, dass es ein Europa mit einer gemeinsamen Wertebasis gibt und dass zur Freundschaft, die hier immer wieder angesprochen worden ist, aus meiner Sicht unbedingt dazugehört, Freunde vor Fehlern zu warnen. Ich glaube, das tun wir heute. Ich finde, es steht uns gerade als Mitgliedsländern der EU und des Europarates - dazu werde ich gleich noch etwas sagen - an, uns in dieser Aktuellen Stunde dazu zu positionieren. Wozu soll ich Fragen stellen? Ich kann lesen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ungarische Parlament hat beschlossen, und es wirft der Venedig-Kommission vor, sie hätte sich nicht äußern sollen, bevor ein Beschluss kommt. Die Venedig-Kommission hat aber gar keine Gelegenheit dazu gehabt - der Kollege Sarrazin hat es bereits gesagt -, sich dazu zu äußern, weil die Einbringung und die Verabschiedung in einem zeitlichen Abstand erfolgt sind, bei dem eine solche Beteiligung nicht möglich war. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich sage: Das ist eine Strategie. Ich bin definitiv der Meinung, diese Strategie müssen wir ansprechen, und darüber müssen wir auch in einem nationalen Parlament reden, auf einer gemeinsamen Wertebasis und ohne erhobenen Zeigefinger. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt komme ich zu einer Veranstaltung, die heute auch in diesem Hause stattfindet. Ich kann Sie nur bitten - auch Sie, Herr Wadephul -, mit den Beteiligten Kontakt aufzunehmen. Im dritten Stock tagt heute im Frak-tionssaal der SPD der Sozialausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Man sollte es nicht glauben: Dort sind auch Kollegen aus Ungarn, und sogar welche von der Opposition. Ich habe heute Morgen als Vertreter von Herrn Hörster, der leider erkrankt ist, diese Veranstaltung eröffnen dürfen. Dort hat mich ein Kollege angesprochen und gesagt: Helft uns! - Ein Parlamentarier aus Ungarn sitzt im Deutschen Bundestag und sagt: Helft uns! - Auf die Frage "Wie sollen wir euch helfen? Was sollen wir tun?" hat er gesagt: Was in Ungarn geschehen ist, ist nach Auffassung der ungarischen Opposition und im Übrigen auch internationaler Beobachter - so hat er es auf den Punkt gebracht - ein Putsch von oben. Das ist das Ende der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Das ist die Perpetuierung eines Zustandes, der mit den demokratischen Rechten und auch mit der ungarischen Verfassung vor der Verfassungsänderung durch Orban nichts mehr zu tun hat. (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Das ist Ihr Problem, dass Sie das Geschäft der ungarischen Opposition betreiben!) Herr Orban sagt: Demokratie hat erst angefangen, seitdem ich an der Macht bin. - Das ist doch genau der Punkt auch bei den Änderungen im Hinblick auf das Verfassungsgericht, nämlich dass sich das Verfassungsgericht nicht mehr auf seine eigene Rechtsprechung vor der letzten Verfassungsänderung berufen darf, Herr Kollege Silberhorn. Wissen Sie, wo wir als Parlamentarier stehen würden, wenn wir das im Deutschen Bundestag machen würden? Auf der allerersten Stufe der Empörung, und zwar zu Recht. Das ist das Zulaufen auf einen Zustand, der das Ende der Unabhängigkeit der Justiz bedeutet. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das muss man einfach sagen, und deswegen finde ich es richtig, hier darüber zu reden. Ich bin nicht der Einzige, der Kritik übt. Deshalb bin ich - das muss ich gestehen - etwas enttäuscht von den Einlassungen, die vorhin von der FDP gekommen sind. Ich habe gerade eine Benachrichtigung erhalten - ich hoffe, sie stimmt -, dass die liberale Fraktion im Europaparlament die Kommission aufgefordert hat, Maßnahmen nach Art. 7 EUV einzuleiten. Das tun Sie nicht. Sie sagen: Wir müssen uns hier schön bedeckt halten; das ist ein nationales Parlament. - Ich finde, wenn Ihre Kollegen im Europaparlament - Herr Verhofstadt und andere, im Übrigen auch Graf Lambsdorff - sagen, das sei ein Anschlag auf die europäischen Werte, dann ist es doch wohl angemessen und richtig, dass wir uns nicht zurückziehen und sagen: Das geht uns nichts an; wir diskutieren darüber nicht; (Patrick Döring [FDP]: Das hat doch keiner gesagt!) wir nehmen nur zur Kenntnis, dass nach unserer Auf-fassung in einem Land der Europäischen Union und des Europarates die grundlegenden Prinzipien der Trennung von Legislative und Judikative missachtet werden. - Das sollten wir nicht tun, und deshalb bin ich sehr froh, dass wir heute diese Diskussion führen. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, um auch die eigene Geschichte ins Spiel zu bringen. Die Bundesrepublik Deutschland ist 1951 Mitglied des Europarates geworden. Wir sind dort Mitglied geworden, weil wir wie alle Mitgliedsländer, die diesem ältesten demokratischen Staatenbündnis auf europäischem Boden beigetreten sind, eine Garantieerklärung abgegeben haben, nämlich zur Einhaltung der Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sowohl Generalsekretär Jagland, der sich mit Herrn Barroso gemeinsam geäußert hat, als auch andere haben sehr klar und deutlich gesagt: Das, was dort geschieht, ist eine Verletzung der Standards des Europarates. - Deshalb haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, darauf hinzuweisen und unsere ungarischen Freunde im ungarischen Parlament, die diesen Weg nicht mitgehen wollen, zu unterstützen, indem wir sagen: Wir stehen an der Seite derjenigen, die gegen diese Maßnahmen vorgehen. - Das, finde ich, ist unser gutes Recht. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Christoph Strässer. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Dörflinger. Bitte schön, Kollege Thomas Dörflinger. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungarn macht es seinen Freunden in diesen Tagen alles andere als leicht. Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Wenn die größte Regierungsfraktion in Berlin und die Fidesz in Budapest einer gemeinsamen Parteienfamilie angehören, dann gilt das umso mehr. Selbstverständlich gab es, Herr Kollege Steinmeier, nach den ersten vier Sätzen Ihrer Rede - zu Recht - Beifall auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; denn bis dahin haben Sie das Verhältnis zu Ungarn in den richtigen historischen Kontext eingeordnet. Aber ich kann nur das wiederholen, was der Kollege Dr. Wadephul vorgetragen hat: Ich hätte mir gewünscht, dass Sie entweder die Tonalität Ihrer ersten vier Sätze beibehalten oder nach den ersten vier Sätzen geendet hätten. Danach gab es aus unseren Reihen zu Recht keinen Beifall mehr. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Danach ging es um das Thema der Aktuellen Stunde!) Warum? Wir können uns mit Fug und Recht kritisch darüber auseinandersetzen, was mit Bezug auf die ungarische Verfassung gegenwärtig beraten und bereits beschlossen worden ist. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Machen Sie das mal!) Aber zum europäischen Wertekanon gehört nicht nur, dass wir uns den Menschenrechten, der Pressefreiheit und einigen anderen Grundwerten gemeinsam verpflichtet wissen, sondern auch, dass wir vernünftig miteinander umgehen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tun wir doch!) Die Tonalität zumindest einiger Reden in der heutigen Aktuellen Stunde ist dem nicht gerecht geworden. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt auch für Herrn Orban, wenn er über die EU redet!) - Herr Kollege Sarrazin, ich nehme Sie ausdrücklich aus. Aber ich hätte mir den einen oder anderen Beitrag in einer anderen Tonalität gewünscht. Der Vorwurf an die Bundesregierung, sie sehe dem, was in Ungarn passiert, tatenlos zu und sei in ihren Äußerungen nicht klar genug, weise ich ausdrücklich zurück. Es dürfte auch dem Bundesaußenminister außer Diensten nicht verborgen geblieben sein, dass selbstverständlich nach Spitzengesprächen - ob sie nun auf der Außenministerebene, auf der Ebene der Regierungschefs oder zwischen Regierungschefs und Staatsoberhaupt stattgefunden haben - das anschließende Pressegespräch nicht aus einem Wortprotokoll dessen besteht, was man miteinander besprochen hat. Aber ich glaube, dass man davon ausgehen darf, dass sowohl der Bundespräsident als auch der Präsident des Deutschen Bundestages, der im Übrigen am 11. März in Budapest wörtlich zitiert wurde, sowie die Frau Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister in den Gesprächen der letzten Tage für die Bundesregierung in ausreichender Weise deutlich gemacht haben, wo wir kritische Punkte und Gesprächsbedarf sehen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das wurde uns aber nicht verraten!) Aber zur Wahrheit gehört auch, dass nach Auskunft des Auswärtigen Amtes zumindest bis zum heutigen Vormittag der Text in deutscher Sprache noch nicht vorliegt, daher die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist und wir erst dann in eine substanzielle Prüfung der rechtlichen Materie eintreten können, wenn alles auf dem Tisch liegt. Sie hätten also nicht voreilig aus innenpolitischen Gründen eine Aktuelle Stunde vom Zaun brechen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Ruppert hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns in vielen Bereichen, insbesondere bei der Bewertung der bereits vollzogenen Verfassungsänderungen und der angestrebten Verfassungsänderungen in Ungarn, weitgehend einig sind. Wenn Äußerungen wie die, dass man mit berittenen Truppen in die Nachbarländer einrücken will, und wenn die Tatsache, dass man Österreich, ebenfalls ein Nachbarstaat von Deutschland, nur deswegen international auf die Anklagebank und an den Katzentisch gesetzt hat, weil man sich dort erdreistet hatte, eine Regierung zu wählen, die der damaligen Bundesregierung nicht in den Kram passte, (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Daran waren Faschos beteiligt! Das war der Grund!) den Hintergrund dieser Aktuellen Stunde bilden, dann sage ich Ihnen: In diesem Punkt sind Sie alles andere als glaubwürdig. Das müssen Sie sich sagen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Thomas Dörflinger war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes - Drucksache 17/12678 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Dorothee Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Dorothee Bär. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und ganz besonders: Liebe Betroffene! Wenn wir das Wort "Contergan" hören, dann ruft das bei uns in Deutschland ganz klare Assoziationen hervor - natürlich nicht nur in Deutschland, aber ganz besonders bei uns -, Erinnerungen an einen der größten Arzneimittelskandale, den wir in unserer Geschichte zu verzeichnen haben, wenn nicht sogar der größte Skandal. Wir sprechen heute über Männer und Frauen, die ihr ganzes Leben lang mit den Folgen leben müssen, dass ihren Müttern in der Schwangerschaft vorgegaukelt wurde, dass sie ein harmloses Präparat zu sich nehmen; sie haben nach der Entbindung dann aber anderes erlebt. Ich bin das erste Mal als Grundschülerin mit einem Betroffenen aus unserem Bekanntenkreis in Berührung gekommen. Wie man als Kind so ist, kann man im ersten Moment nicht begreifen, dass da jemand ist, der kürzere Arme hat als andere Menschen. Neben persönlichen Erlebnissen habe ich in den letzten Jahren durch die Darstellung unserer Sachverständigen, durch viele Studien, durch Briefe und E-Mails, aber auch im Kontakt mit sehr vielen Betroffenen, die wir hier haben anhören dürfen und mit denen wir uns haben treffen dürfen, erfahren, wie schwer der Alltag dieser Menschen ist, aber auch wie der Alltag gemeistert wird. Ich habe gesehen, wie jede Einzelne bzw. jeder Einzelne das Schicksal individuell auf ganz besondere Art und Weise meistert. Das Äußere, die verkürzten Gliedmaßen eben, können wir sehen, aber es gibt auch noch - das wissen wir - eine sehr große Schädigung der Organe. Aus der Familie, aus dem eigenen Freundeskreis bekommen die Betroffenen Mut, Zuversicht, Liebe und Freundschaft. Vergleichbares können wir als Staat nicht leisten. Ich bewundere diejenigen, die betroffen sind, wie sie ihren Alltag mit einem ganz großen Lebensmut meistern. Ich habe eine Betroffene kennengelernt, die mit ihrem Mund wesentlich besser malt, als die meisten von uns mit ihren Händen malen würden, und die eine ganz große Freude ausstrahlt. Sie sagt, dass es ihr in ihrem persönlichen Alltag gelingt, ein für sie ganz normales Leben, auch ein sehr glückliches Leben zu führen. Das Leid und die Schmerzen können wir als Staat nicht ungeschehen machen, aber wir können immerhin versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten dahin gehend zu helfen, dass der Alltag leichter wird und dass diejenigen, die unterstützend tätig werden, besser entlastet werden. Deswegen haben wir schon eine Reihe von Maßnahmen beschlossen und umgesetzt, und wir wollen noch mehr tun. Wir haben die Conterganrenten zum 1. Juli 2008 verdoppelt. Wir haben die Conterganrenten gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches an-rechnungsfrei gestellt. Wir haben Parkerleichterungen eingeführt. Wir haben bei den Krankenkassen eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Betroffenen erreicht. Wir haben das Conterganstiftungsgesetz novelliert, sodass mit der Zustiftung und dem vorhandenen Stiftungskapital eine jährliche Sonderzahlung in Höhe von bis zu 4 200 Euro ausgereicht werden kann, mit der Bedarfe gedeckt werden, für die sonst keiner aufkommt. Wir hatten beim Gerontologischen Institut der Universität Heidelberg eine sehr interessante Studie in Auftrag gegeben. Sie zeigt die Folgen der jahrzehntelangen Belastung durch die Behinderungen, die vorher gar nicht so klar waren. Die Folgen für die Muskeln, die Gelenke und vor allem natürlich für die Zähne führen gerade mit zunehmendem Lebensalter zu weiteren Problemen für die Betroffenen. Deswegen haben wir über die bereits verabschiedeten Maßnahmen hinaus einen dringenden Handlungsbedarf festgestellt, auf den wir mit der Vorlage des Gesetzentwurfs reagiert haben, den wir heute debattieren. Über die bereits bestehenden Hilfen hinaus werden wir die contergangeschädigten Menschen rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 jährlich mit 120 Millionen Euro zusätzlich unterstützen. 90 Millionen Euro davon sind für die Erhöhung der Conterganrenten vorgesehen. Wir können - das finde ich ganz besonders wichtig - mit diesem zusätzlichen Geld einen Großteil der Zusatzbedarfe pauschal decken, ohne dass es zu aufwendigen Einzelfallprüfungen kommen muss, die zudem eine psychische Belastung mit sich bringen. Weiter fließen bis zu 30 Millionen Euro jährlich in einen Fonds, aus dem auf Antrag Rehabilitationsleistungen, Heil- und Hilfsmittel sowie zahnärztliche und kieferchirurgische Behandlungen bezahlt werden. Man darf die zusätzlichen Belastungen, denen Mund, Kiefer und Gebiss ausgesetzt sind, nicht unterschätzen; denn es muss viel mit dem Mund gemacht werden, wenn die Gliedmaßen nicht eingesetzt werden können. Um eine höhere Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten zu können, wollen wir - auch und gerade auf Wunsch der Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben - das Punktesystem für die Ermittlung des Schweregrades der Behinderung anpassen und um weitere Schadensstufen ergänzen. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir über das gemeinsam für die contergangeschädigten Menschen schon Erreichte hinaus in dieser Legislaturperiode noch mehr tun können und dies auch in den nächsten Wochen beschließen wollen. Abschließend bleibt mir nur noch, mich bei denjenigen zu bedanken, die uns nicht nur in den vergangenen Wochen und Monaten, sondern auch in den vergangenen Jahren mit ihren ganz persönlichen Geschichten einen Einblick in ihren Alltag gewährt haben. Ein ganz großes Dankeschön gilt selbstverständlich auch den Familienangehörigen. Dies sind Mütter und Väter - und das darf man nicht unterschätzen -, die sich ihr ganzes Leben lang um ihre Kinder gekümmert haben und die heute teilweise weit über 80 Jahre alt sind. Für diese wird es immer schwieriger, Hilfestellung zu leisten. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir wenigstens versuchen, mit Geld dieses Leid etwas zu lindern. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin Marlene Rupprecht. (Beifall bei der SPD) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar 2009 haben wir einen Antrag beschlossen. Bei diesem Thema waren wir uns in diesem Haus fraktionsübergreifend einig, dass wir versuchen wollen, eine einheitliche Position zu erreichen; denn dieses Thema eignet sich nicht zur parteipolitischen Profilierung. Damals haben uns die Betroffenen eher dafür kritisiert, als dass sie es begrüßt haben, dass wir in diesen Antrag ein Forschungsprojekt hineingeschrieben haben, mit dem nicht nur der individuelle Bedarf jedes Einzelnen festgestellt wird, sondern das insgesamt einen Ausblick darüber gibt, welche Hilfen ab einem Alter von etwa 50 Jahren notwendig sind, wenn man contergangeschädigt ist. Der Zwischenbericht über dieses Forschungsprojekt liegt seit dem Sommer vergangenen Jahres vor. Im Januar 2013 wurde dieser dem Parlament zugeleitet. Obwohl wir damit gerechnet haben, dass es nicht gut aussieht für Menschen mit Conterganschäden, war das Ergebnis noch viel schlimmer, als wir es gedacht hatten. Im Bericht steht, dass der Körper eines 50-jährigen Contergangeschädigten so abgenutzt ist wie der Körper eines 80-Jährigen. Die Bedarfe sind also groß. Viele der Betroffenen - diesen Punkt möchte ich hier nennen - können heute nur mit Schmerzmitteln leben, weil sie durch Abnutzungen massive Schädigungen ihres Körpers erlitten haben. Ich möchte noch etwas dazu sagen, warum wir damals darauf gedrängt haben, dass dieses Projekt in Angriff genommen wird. Wir sehen immer nur die Fitten, die sich äußern und sich klar artikulieren können. Wir sehen aber nicht die mehrfach Geschädigten, die eigentlich ihr ganzes Leben lang auf massive Hilfe angewiesen sind, deren Eltern, die sie überwiegend versorgt und betreut haben, altersbedingt sterben und deren Geschwister - manchmal gibt es gar keine Geschwister - häufig damit überfordert sind, die Betreuung zu übernehmen. Deshalb muss der Bundestag handeln, und er muss tatkräftig handeln. Die SPD-Fraktion begrüßt eindeutig, dass die Renten im Rahmen der Reform des Conterganstiftungsgesetzes massiv angehoben werden. Wir haben die Rente im Zuge der letzten Reform um 100 Prozent angehoben, von 545 Euro auf gut 1 100 Euro im Monat. Jetzt liegt die Maximalrente bei gut 6 900 Euro. Man muss sagen: Diesen Höchstsatz erhalten nicht alle. Aber hier gibt es eine enorme Steigerung, die man nicht einfach vom Tisch wischen sollte. Sie schafft Unabhängigkeit: Man kann Leistungen einkaufen. Das ist einer der Gründe, warum wir von der SPD-Fraktion sagen: Wir werden diesen Gesetzentwurf mittragen. Man vergisst immer, wofür wir bei der letzten Reform auch gesorgt haben: Transferleistungen werden nicht mehr auf andere Zahlungen angerechnet. Das heißt, wenn ein Betroffener von anderer Stelle Geld bezieht, wird dieser Betrag nicht abgezogen. Auch diese Regelung ist wichtig und besteht fort. Ebenso bestehen die jährlichen Sonderzahlungen, die wir damals eingeführt haben, fort. Die Verteilung der Renten - die Frage, wer was bekommt - richtet sich nach einem Punktesystem, so ähnlich wie bei der Sonderzahlung, die jährlich erfolgt. Auch das ist eine Veränderung, die ich begrüße. Weltweit gibt es noch etwa 2 700 Betroffene. 10 Prozent davon leben im Ausland. Das heißt, in Deutschland leben etwa 2 400 Betroffene. Sie sind - das kann man sich vorstellen - nicht gleichmäßig über die Republik verteilt, weil Contergan damals in der DDR, in den heutigen neuen Bundesländern, nur von denen eingenommen werden konnte, die es aus dem Westen zugeschickt bekamen; deswegen gibt es dort nur vereinzelt Fälle. Der überwiegende Teil der Betroffenen wohnt in Westdeutschland; das muss man sich klarmachen. Es gibt andere Probleme, die mit dem Gesetzentwurf nicht gelöst werden; wir hatten sie aber schon damals in unserem Antrag angesprochen. Auf der einen Seite sind die Ärzte, die bisher die Contergangeschädigten begleitet haben, ins Alter gekommen. Auf der anderen Seite hat sich das medizinische Wissen verbreitet. Damit dies so bleibt, brauchen wir nach wie vor Anlaufstellen und Informationszentren. Das stand in unserem Antrag; aber diese Forderung ist bisher noch nicht erfüllt worden. Es ist schon etwas zum großen Thema Sonderbedarfe gesagt worden. Auch da stimmen wir im Prinzip zu: Die Sonderbedarfe müssen abgedeckt werden - Frau Bär hat deutlich gemacht, in welchen Bereichen. Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mir noch nicht gefällt; ich hoffe, dass wir so weit kommen, zusammen mit der Koalition Änderungen durchzuführen. Schauen Sie sich die Erläuterungen im Gesetz an! Wir wollten, dass es einfach, unbürokratisch, zügig und praktikabel gehandhabt wird. Stellen Sie sich vor, dass ein vierfach Geschädigter eine neue Hüfte oder was auch immer braucht. Er muss dann zum Arzt gehen und sich bestätigen lassen, dass diese Maßnahme notwendig ist und dass es sich nicht um eine normale Abnutzung handelt, sondern um eine Folge der Conterganschädigung. Dann muss er mit dieser Bestätigung zur Krankenkasse gehen, die wiederum bestätigt, dass sie die Maßnahme nicht zahlt. Dann muss er diese Bestätigung einem Gremium der Stiftung vorlegen, das darüber entscheidet. Ich halte das nicht für betroffenengerecht. Wir hatten die Krankenkassen zur Anhörung eingeladen. Die Krankenkassen waren da ganz offen. Sie haben gesagt: Wir übernehmen die Leistungen und holen uns im Nachhinein das Geld von diesem Fonds, wenn die Leistung dem Grunde nach berechtigt ist. - Ich finde, das kann ein Arzt bestätigen. Das wäre ein unbürokratisches und schnelles Vorgehen. Lassen Sie uns noch einmal über diesen Punkt reden, damit wir den Menschen wirklich helfen und ihren Bedürfnissen gerecht werden können. An dieser Stelle sollten wir, wie ich glaube, wirklich etwas korrigieren. Das parlamentarische Verfahren liegt ja noch vor uns; es beginnt erst jetzt. Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte und der auch in der Anhörung ganz massiv zum Tragen kam, ist die Transparenz der Stiftung. Lassen Sie uns auch darüber noch einmal reden. In jeder Gemeinderatssitzung gibt es einen öffentlichen und einen nichtöffentlichen Teil. Man nimmt ganz viel Misstrauen weg, wenn man das so splittet. Damit kann man die Struktur verändern; und es wären kleine Änderungen. Alle offenen Punkte des Antrages aus dem Jahre 2009, die noch nicht erfüllt sind, sollten wir noch einmal als Gedächtnisstütze aufnehmen. Ich habe meine persönlichen Befindlichkeiten ganz nach hinten gestellt, weil ich seit einem Dreivierteljahr angeboten habe, zusammenzuarbeiten. Es war leider nicht möglich. Ich bedaure das zutiefst. Dann hätte man das vielleicht im Vorfeld klären können. Nichtsdestotrotz signalisiert die SPD damit, dass sie mit auf dem Gesetzentwurf steht, dass wir trotz dieser Bedenken und der noch nötigen Nachbesserungen an der Seite der Betroffenen stehen. Auch wir wollen die Hilfe für die Betroffenen mittragen. Danke schön. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. - Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Nicole Bracht-Bendt. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes übernimmt die Koalition weiter Verantwortung für die Opfer der Contergankatastrophe. Wir wollen mit der erheblichen Ausweitung der finanziellen Zuwendungen das Leid der Betroffenen lindern helfen. Was mir besonders am Herzen liegt, ist, betroffenen Frauen und Männern ein selbstbestimmtes Leben zu erleichtern. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das wollen wir alle! - Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Wir tun es!) Bereits 2008 hat der Bundestag die Conterganrenten erstmals verdoppelt. Seit 2009 erhalten die Geschädigten darüber hinaus jährliche Sonderzahlungen. Hierfür hat die Grünenthal GmbH 50 Millionen Euro in die Conterganstiftung eingebracht, weitere 50 Millionen Euro kamen aus dem Kapitalstock der Stiftung. Im neuen, fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf der CDU/CSU-, FDP- und SPD-Fraktion beschließen wir deutlich höhere Renten für Conterganopfer: 6 912 Euro Höchstrente statt bislang 1 152 Euro. Dies soll den Betroffenen helfen, ihr Leben eigenständiger zu gestalten. Durch meinen intensiven Austausch mit Geschädigten weiß ich, dass dies der entscheidende Punkt ist. Am 1. Februar hatten wir im Familienausschuss eine sehr eindrucksvolle Anhörung. Mehrere Hundert Betroffene hatten sich auf den Weg nach Berlin gemacht, um uns Abgeordneten noch einmal klarzumachen, was es bedeutet, mit den Spätfolgen der Conterganschädigung zu leben. Die Lebenssituation der rund 2 700 in Deutschland lebenden Betroffenen ist durch häufig sehr schmerzhafte Auswirkungen aufgrund von Folge- und Spätschäden geprägt. Die Verluste von Fertigkeiten der Betroffenen haben sich in den letzten Jahren stark beschleunigt, viel stärker, als Mediziner einmal vorausgesagt hatten. Im Klartext: Ein erheblicher Teil der heute meist um die 50 Jahre alten Betroffenen ist gesundheitlich in der Verfassung von 70- bis 80-Jährigen. 85 Prozent der Conterganopfer leiden an chronischen Schmerzen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele haben Depressionen. Über zwei Drittel der Männer und Frauen mussten vorzeitig vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Warum? Weil ihre Körper den jahrzehntelangen Belastungen nicht mehr standhalten. Sein Leben lang mit den Füßen zu essen, die Haare mit den Füßen zu waschen, Flaschen mit den Zähnen zu tragen und zu öffnen, mit den schweren Gehprothesen aus dem Rücken heraus zu laufen: Dies alles bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Professor Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg bringt es in seinem Abschlussbericht zum Forschungsprojekt über die Lebenssituation contergangeschädigter Menschen eindrucksvoll auf den Punkt. Er sagte, natürlich habe die Frage der Rente große Bedeutung. Aber Contergangeschädigte dürften nicht primär aus der Perspektive der Pflegebedürftigkeit betrachtet werden, sondern aus der Perspektive des Assistenzbedarfs. Der Assistenzbedarf, also die ganz praktische Hilfe im Alltag, nehme kontinuierlich zu. Ich zitiere: Wenn diese substantiellen Veränderungen ... nicht vorgenommen werden, wird man es mit einer massiven Pflegebedürftigkeit zu tun bekommen, mit nicht mehr ertragbaren Schmerzzuständen, mit einer völligen Überforderung des psychischen Systems. Das dürfen wir fachlich und ethisch in einer Demokratie nicht zulassen, für die der Begriff der Menschenwürde so wesentlich ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Professor Kruse, ich danke Ihnen, dass Sie uns Abgeordnete mit Ihren drastischen Schilderungen nicht nur betroffen gemacht haben, sondern uns auch bestärkt haben, dass ein erheblicher Mitteleinsatz vonnöten ist. Ich möchte aber auch eine Sachverständige zitieren, die uns mit ihren ganz persönlichen Gedanken neulich berührte. Sie sprach von ihrer Mutter, die sich für ihr Kind nichts sehnlicher wünsche als Geld für eine persönliche Assistenz im Alltag. Bislang hat sie diese Assistenz geleistet. Diese Frau hat also nicht nur über 50 Jahre lang unter massiven Selbstvorwürfen gelitten, das Mittel Contergan eingenommen zu haben, sondern sie hat sich tagtäglich rund um die Uhr für ihre geschädigte Tochter aufgeopfert. Nun ist sie zu alt. Diese Sachverständige sagte: Unsere Mütter müssen endlich loslassen dürfen. Sie müssen uns ausreichend versorgt wissen. - Jetzt wird die pflegebedürftige Frührentnerin sich eine professionelle Hilfe im Alltag leisten können. Der Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD ist ein Meilenstein, weil er zukunftsorientierte Unterstützung vorsieht. Dem Bund entstehen Mehrkosten von 90 Millionen Euro je Jahr für die Anhebung der Conterganrenten sowie bis zu 30 Millionen Euro für zusätzliche Bundesmittel zur Deckung spezifischer Bedarfe, zum Beispiel für Zahnersatz, nachdem die Zähne jahrzehntelang die Funktion der Hand übernehmen mussten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 120 Millionen Euro sind kein Pappenstiel, sondern sie sind ein sichtbarer Ausdruck dafür, dass die christlich-liberale Koalition mit der SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam einen Beitrag leistet, der zwei Ziele gleichzeitig verfolgt: Zum einen wollen wir Solidarität mit den Opfern zeigen. Wir wollen zum anderen aber auch praktische Soforthilfe für ein selbstbestimmtes Leben der Betroffenen leisten. Ganz herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Nächster Redner für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Ilja Seifert. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das am Ende dieser Beratungen, noch in dieser Wahlperiode, erlassen werden soll, muss sich daran messen lassen, was es im realen Leben der Conterganopfer wirklich verbessert. Die Schädigungen, die durch die Einnahme des Präparats eingetreten sind, können wir nicht rückgängig machen, auch nicht die vielen Folgen, die die Conterganopfer und ihre Angehörigen inzwischen tragen mussten. Dass die Lebenssituation von Conterganopfern und ihren Angehörigen dramatisch ist, wussten wir schon lange; Kollegin Rupprecht, Sie haben es erwähnt. Jetzt ist es uns durch den Abschlussbericht zum Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg auch noch schriftlich nachgewiesen worden. Aber wir wissen auch: Ursache für die Schädigungen sind zahlreiche Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte - Versäumnisse der Bundesregierung, Versäumnisse der Justiz, Versäumnisse der Schädiger. Wir, der Bundestag, sind in der Pflicht, den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Bedauerlicherweise ist das durch Ihren Gesetzentwurf noch nicht erreichbar. Die Handlungsempfehlungen des Abschlussberichts zum Forschungsprojekt der Universität Heidelberg sowie die Stellungnahmen der Betroffenen können bei der Suche nach wirklich guten Lösungen sehr hilfreich sein. Es ist übrigens auch erlaubt, die Stellungnahme des Rechtsanwaltes Dr. Oliver Tolmein - er war bei der Anhörung als einer der Sachverständigen anwesend - oder den Antrag der Linken - Drucksache 17/11041 -, der schon im Oktober vergangenen Jahres eingebracht wurde, zurate zu ziehen. (Beifall bei der LINKEN) Der Familienausschuss hat am 1. Februar dieses Jahres eine sehr beeindruckende Anhörung durchgeführt. Alle, die dabei waren, haben das erlebt. Über 200 Conterganopfer sind zu dieser Anhörung gekommen und haben deutlich gezeigt, was sie wollen. Interessant ist, dass die Bundesregierung bzw. die Koalition just am Vorabend dieser Anhörung 120 Millionen Euro fand - ich weiß nicht, wo -, die sie den Conterganopfern in Zukunft zugutekommen lassen will. Ich finde das sehr gut. Ich frage mich aber trotzdem, warum das nur dann möglich ist, wenn eine Anhörung stattfindet (Markus Grübel [CDU/CSU]: Weil das Gutachten als Grundlage vorlag!) und wenn die Opfer vor der Tür stehen und sagen: Ab jetzt reicht es nicht mehr, uns nur über das Köpfchen zu streichen. Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrnehmen. (Beifall bei der LINKEN) Insofern ist der vorliegende Gesetzentwurf durchaus ein Erfolg der Betroffenen. Aber, wie gesagt, es gibt noch einiges zu tun. Ich will hier noch auf einige Punkte eingehen. Die vorgeschlagene Erhöhung der Conterganrente stellt eine deutliche Verbesserung dar. Darüber gibt es keinen Zweifel. Das finde ich gut, und das finden auch die Betroffenen gut; das sagen sie auch. Dennoch weiß jede und jeder - Frau Bär hat es auch gesagt -, dass damit längst nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden, dass sie nur für einige ausreicht. Sie reden zum Beispiel weder von Schmerzensgeld noch von Entschädigung. Diese Worte meiden Sie wie der Teufel das Weihwasser. Das kann aber nicht sein. Es geht hier um Schmerzensgeld. Es geht um Entschädigung für zahlreiche Verletzungen der Menschenwürde, für die Verletzung ihrer Eigentumsrechte. Tatsache ist auch, dass die erhöhte Conterganrente nicht ausreichen wird, den zunehmenden Assistenzbedarf und Pflegebedarf zu decken. Sie haben darauf hingewiesen, dass dies bei der Anhörung eine große Rolle spielte. Die Assistenz soll von dieser Rente nicht bezahlt werden. Dann haben Sie eine neue Schadenspunktetabelle aufgeführt. Wozu brauchen wir eine Schadenspunktetabelle? Wäre es nicht viel logischer, zu sagen: "Jeder Punkt hat einen bestimmten Wert, zum Beispiel 80 Euro"? Dann kann man ganz leicht ausrechnen, welche Rente einem zusteht, indem man seine Punkte mit dem Punktwert multipliziert. Dann weiß man, wie viel Rente einem zusteht, ohne dass diese komischen Tabellen erstellt werden müssen, die nicht nachvollziehbar sind. Es ist bisher immer noch nicht geklärt, wie Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Berücksichtigung von spät erkannten Schäden und Folgeschäden ihre Punktanzahl überprüfen und erhöhen zu lassen. Wir brauchen die jetzt vorgesehenen Bundesmittel in Höhe von 30 Millionen Euro für die spezifischen Bedarfe. Das wurde bereits gesagt; das ist gar keine Frage. Aber wieso sind sie gedeckelt? Was wollen Sie tun, wenn im September eines Jahres noch jemand einen nachweisbar erforderlichen Betrag beantragt, aber kein Geld mehr vorhanden ist? Wollen Sie dann sagen: "Ihr müsst warten bis zum nächsten Jahr"? Die Deckelung dieses zusätzlichen Fonds ist logisch nicht nachvollziehbar. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb müssen wir hier nachbessern. Sie können nicht sagen: 120 Millionen Euro haben wir irgendwoher, und von da an ist Feierabend. Zum Thema Ausschlussfristen. Wenn jemand contergangeschädigt ist, dann ist er es von Geburt an - keine Frage; das ist klar. Aber Sie berechnen die Höhe der Leistungen vom Tag der Antragstellung an. Wieso eigentlich? In diesem Sinne müssen alle bestehenden Ausschlussfristen aufgehoben werden. Die bisher vorenthaltenen Leistungen müssen rückwirkend nachgezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN) Das wäre gerecht und würde auch dem Rechtsfrieden dienen. Es gibt weiteren Diskussionsbedarf. Das werden wir im Ausschuss und, wie ich hoffe, in einer weiteren öffentlichen Anhörung beraten. Wir brauchen eine vernünftige Regelung für im Ausland lebende Conterganopfer. Wir müssen die Frage klären, wann Sozialgerichte und wann Verwaltungsgerichte zuständig sind. Wir sollten noch einmal über den Namen der Stiftung nachdenken und über die Frage, welches Bundesministerium zuständig ist; denn das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird es wohl nicht sein. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Die Leute brauchen aber jetzt das Geld! Nicht zu lange warten!) - Ich bin noch nicht fertig, lieber Kollege. - Auch hierzu gibt es übrigens gute Vorschläge von Herrn Tolmein oder den Linken. Reden wir noch einmal über die Stiftung. Die Kritik an der Stiftung, die am 1. Februar geäußert wurde, war sehr hart. Im Gesetzentwurf findet sich dazu überhaupt nichts. Sie muss demokratisiert werden. Sie muss öffentlicher werden. Sie muss transparenter werden. Die Stiftung gehört in die Hände und Füße der Conterganopfer. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen auch eine Entschuldigung. Ich finde es toll, dass sich der Kollege Jarzombek von der CDU während der Anhörung persönlich bei den Opfern entschuldigte. Aber ich finde, dass sich auch der Staat entschuldigen sollte. Wir als Bundestag könnten damit anfangen und die Bundesregierung auffordern, das auch zu tun, genauso wie die Firma Grünenthal und die Familie Wirtz. (Beifall bei der LINKEN) Zum Schluss. Vor 40 Jahren wurden die Eltern der Opfer vor die Entscheidung gestellt: Friss oder stirb! Nehmt, was ihr jetzt kriegen könnt, oder ihr kriegt gar nichts. - Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollt ihr die Taube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand? Ich denke, wir sollten so lange beraten, bis den Menschen die Taube in die Hand fliegt. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist ein bisschen übertrieben!) - Lassen Sie mich doch bei meinem Bild bleiben. - Ich bin der Meinung, wir brauchen eine zusätzliche Anhörung. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann kannst du beraten, bis gar nichts mehr ist!) Alle Fraktionen dieses Hauses haben heute die Möglichkeit, feierlich zu erklären, dass das Gesetz zum 1. August dieses Jahres in Kraft treten soll und dass die Leistungen rückwirkend gezahlt werden, damit niemand Angst haben muss, dass er oder sie um das gebracht wird, was er oder sie dringend braucht. Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass wir eine gute Lösung finden und nicht nur sagen: Hier sind schnell die 120 Millionen Euro, dann seid aber ruhig. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Jedes Jahr! - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wir sind es ihnen schuldig, dass wir das Problem lösen!) Es geht um mehr als Geld, es geht um die Würde dieser Menschen. (Beifall bei der LINKEN) In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammenarbeiten. Grenzen Sie niemanden aus. Ich weiß nicht, warum Sie uns nicht gefragt haben, ob wir nicht vielleicht an Ihrem Gesetzentwurf mitarbeiten wollen. (Beifall bei der LINKEN - Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich verstehe nicht, warum man das jetzt schlechtreden muss!) - Das hat etwas mit eurer Abgrenzung zu tun. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie sind zur Mitarbeit herzlich eingeladen!) - Nein, Sie haben uns eben nicht eingeladen, lieber Kollege. Aber wenn es in Zukunft so sein sollte, dann freue ich mich selbstverständlich sehr, dabei zu sein. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie werden es aber nicht schaffen, dass es verzögert wird und nichts daraus wird!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Seifert, ich werde in meiner Rede gleich noch auf die Aspekte eingehen, die verbesserungsfähig sind. Aber ich muss schon sagen: Wichtig ist, dass wir noch in dieser Legislaturperiode möglichst weitgehende Fortschritte in der Sache erzielen. Darüber hinaus besteht sicherlich auch noch Verständigungsbedarf. Wenn ich Sie allerdings so reden höre, Herr Seifert, entsteht bei mir der Eindruck: Es geht Ihnen weniger um den Fortschritt in der Sache, weniger darum, die Dinge kurzfristig und machbar zu regeln, sondern eher darum, sich so darzustellen, als seien Sie der letzte Gerechte unter lauter Sünderlein. Das ist kein guter Diskursstil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Zu Beginn möchte ich klar feststellen: Ich freue mich, dass 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung gestellt werden, um die Situation der Contergangeschädigten zu verbessern. Das ist deutlich mehr, als in der Vergangenheit geleistet wurde, und es ist bitter nötig. Wir alle wissen - dies ist schon angesprochen worden -, mit welchen Problemen contergangeschädigte Menschen gerade im vorrückenden Alter zu kämpfen haben, zum Beispiel mit Verschleißerscheinungen. Sicherlich haben auch viele Kolleginnen und Kollegen und viele, die dieser Debatte folgen, entsprechende Berichte im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen. Im Zuge der Anhörung hatte ich den Eindruck, dass zwischen uns Abgeordneten sehr große Einigkeit darüber besteht, was die Ziele des Gesetzentwurfes anbelangt. Wir wollen den Geschädigten ein Leben in Würde ermöglichen, sicherstellen, dass sie die notwendigen Pflege- und Assistenzleistungen erhalten und ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um die behinderungs- und beschädigungsbedingten Nachteile unbürokratisch und einfach auszugleichen. Wir wollen auch, dass die Geschädigten oder ihre Angehörigen nicht in die Sozialhilfe gedrängt werden, sondern dass die Leistungen anrechnungsfrei sind. Das ist notwendig. Denn wäre damals Grünenthal nicht mit einem vergleichsweise billigen - rückblickend muss man auch sagen: fragwürdigen - zivilrechtlichen Vergleich aus der Sache herausgekommen, dann hätten die Geschädigten heutzutage wesentlich höhere privatrechtliche und haftungsrechtliche Ansprüche geltend machen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich glaube, dass wir uns auch darüber einig sind - zumindest im Grundsatz -, dass wir dauerhaften Rechtsfrieden schaffen wollen. In Gesprächen mit den Betroffenen merkt man außerordentlich deutlich, dass sie in gewisser Weise, sofern das überhaupt möglich ist, einen Schlussstrich ziehen und einen gewissen abschließenden Rechtsfrieden haben wollen. Dazu gehört aus Sicht der Betroffenen auch eine Entschuldigung der Familie Wirtz. Darauf haben wir als Deutscher Bundestag, als Parlament aber keinen -Einfluss. Ich meine nicht, Herr Seifert, dass wir uns als Parlament hier entschuldigen sollten. Das ist nicht das, was die Betroffenen wollen. Wir sind dafür zuständig, dass die Bundesrepublik Deutschland als Haftungsnachfolgerin der Firma Grünenthal hinsichtlich der Leistungen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Das muss man alles sauber auseinanderhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir uns gerade das Thema Rechtsfrieden anschauen, muss man sagen, dass er mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, zumindest in seiner jetzigen Form, nicht erreicht wird. Damit werden wir diesem Anspruch nicht gerecht. Frau Ministerin, Sie sprechen nach mir. Vielleicht können Sie auf drei Aspekte, die ich hier ansprechen möchte, näher eingehen. Erstens. Es gibt einen Topf zur Deckung der spezifischen Bedarfe im Einzelfall. Das ist grundsätzlich eine vernünftige Idee. Allerdings können aus diesem Topf - so ist das bisher vorgesehen - keine Pflege- oder Assistenzleistungen finanziert werden. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dafür haben wir die Rente!) Ich glaube, hier müssen wir noch einmal genau hinschauen und nachbessern. Wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass auch diese Leistungen aus diesem Topf -finanziert werden können, wenn er schon einmal da ist. Denn sonst passiert das, was wir, wie gesagt, nicht -wollen: Dann sind die Betroffenen, die einen besonders hohen Unterstützungs- und Assistenzbedarf haben, doch auf Sozialhilfe angewiesen. Sehr wenige Betroffene haben einen so hohen Bedarf, aber es gibt sie. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dafür haben wir die Rente!) Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Mittel, die zur Deckung spezifischer Bedarfe vorgesehen sind - es geht um den Sondertopf -, werden aus meiner Sicht nicht sinnvoll verwendet. Bei der Conterganstiftung sollen sechs zuständige Stellen eingerichtet werden. Ärzte, Kliniken und Pflegedienste sollen Gelder aus diesem Topf erhalten. (Unruhe) - Ich merke, Sie diskutieren alle rege. Vielleicht können Sie das auf die Zeit nach meiner Rede verschieben. - Es ist natürlich wichtig, dass die Kompetenz des medizinischen und pflegerischen Personals steigt, aber die speziellen Mittel aus diesem Sondertopf sind dafür aus meiner Sicht nicht die richtige Geldquelle. Auch hören wir, dass die Verbände der Geschädigten, die gerade Schwerstgeschädigte kompetent beraten, keine Mittel aus diesem Topf bekommen sollen. Wie ist das zu erklären, Frau Ministerin? Warum können Ärzte und Kliniken Gelder erhalten, nicht aber die Betroffenenverbände? Das leuchtet mir nicht ein. In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, möchte ich noch auf einen dritten Aspekt eingehen, der, wie ich glaube, ziemlich wichtig ist. Es geht um die Conterganstiftung selbst. Ich nehme an, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der von Contergangeschädigten Zuschriften erhält. Einhellig kommt in diesen Zuschriften die Unzufriedenheit mit der Arbeit der Stiftung zum Ausdruck; das wurde auch in der Anhörung deutlich. In den Gesetzentwurf haben Sie einen Verweis auf das -Informationsfreiheitsgesetz aufgenommen, um dem Vorwurf der Intransparenz zu begegnen. Nun ist es aber so, zumindest nach meinem Verständnis, dass die Stiftung dem Informationsfreiheitsgesetz ohnehin Genüge tun muss. Das ist eine Tautologie. Es wird auf ein bestehendes Gesetz verwiesen. Ich glaube, das reicht nicht aus. Ich möchte ein Beispiel nennen. Regelmäßig wird berichtet, dass gegen die Stimmen der Geschädigten, die in der Stiftung in der Minderheit sind, die Geheimhaltung beschlossen wird. Wir haben mit Betroffenen, die bei der Anhörung waren, darüber gesprochen. Sie sehen eine gewisse Blockadesituation. Sie haben vorgeschlagen, zur Aufhebung dieser Blockadesituation so etwas wie einen neutralen Mittler, eine dritte Position, eine unabhängige Vermittlung im Stiftungsbeirat vorzusehen. Wenn solche Vorschläge zur Herstellung von mehr Transparenz und einer effektiveren Selbstverwaltung vonseiten der Betroffenen kommen, dann sollten wir diese Vorschläge in den anstehenden parlamentarischen Beratungen berücksichtigen, wenn wir vorhaben, das in diesem Hohen Haus gemeinsam zu beschließen. Leider gab es im Vorfeld keine Beratung über Fraktionsgrenzen hinweg. Anders als die SPD haben wir -deswegen gesagt: Wir setzen unseren Namen noch nicht über diesen Gesetzentwurf. Aber wir stehen gemeinsamen parlamentarischen Beratungen und Änderungs-anträgen im Verfahren offen gegenüber. Vielleicht gelingt es ja, das Ganze an den genannten Punkten voranzutreiben, sodass wir am Ende des Tages - daran wäre mir sehr gelegen - gemeinsam zu einem Ergebnis kommen können. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministerin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kein Geld der Welt kann wiedergutmachen, was contergangeschädigte Menschen ertragen mussten und ertragen müssen. Aber Geld kann helfen, mit Einschränkungen umzugehen, Schmerzen zu lindern und vielleicht auch Barrieren zu überwinden. Mit finanzieller Hilfe drücken wir auch unsere Achtung aus vor der Kraft und dem Willen dieser Menschen, mit ihrer Behinderung, so gut es irgendwie geht, zu leben. Darum geht es bei der dritten Änderung des Conterganstiftungsgesetzes: um Hilfe und Linderung, aber auch um Achtung und Anerkennung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht vergessen: Contergangeschädigte Menschen sind aufgewachsen in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft mit Behinderungen und Fehlbildungen vielfach weniger sensibel umgegangen ist, als das heute zum Glück überwiegend der Fall ist. Erfahrungen von Missachtung, Ausschluss und Diskriminierung haben ihre Spuren hinterlassen - physisch wie psychisch. In vielen Interviews sagen betroffene -Menschen, dass gerade diese Erfahrungen es waren, weswegen Selbstständigkeit und Eigenverantwortung für sie so wichtig waren. Der Bericht des Institutes für Gerontologie der Universität Heidelberg an die Conterganstiftung, der die Grundlage für den vorliegenden Gesetzentwurf ist, kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele contergangeschädigte Männer und Frauen selbst in die Lage versetzt haben, ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich zu -leben. Diese Leistung können wir nicht hoch genug einschätzen; aber der Preis war oft die Überforderung des eigenen Körpers. Die Contergangeschädigten sind heute in einem Alter, in dem sich die Zeichen eines überlasteten Körpers mehren. Insbesondere die Heidelberger Studie hat vielen die Augen geöffnet. Ich bin Ihnen dankbar, Frau Kollegin Rupprecht, dass Sie noch einmal auf die Skepsis hingewiesen haben, die es gab, als diese Studie in Auftrag gegeben wurde. Ich glaube, heute sind sich alle einig: Wir können heilfroh sein, dass wir eine Studie in dieser Form haben. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!) Natürlich wussten wir, dass contergangeschädigte Menschen viel Leid ertragen müssen. Was das aber -konkret und individuell bedeutet und wie sehr sich der Gesundheitszustand vieler Betroffener - ganz besonders der Höchstgeschädigten - verschlechtert hat, ist vielen - auch mir - erst dank dieser Studie bewusst geworden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den Betroffenen helfen, mit den Folgen jahrelanger körperlicher Überbeanspruchung so gut es geht leben zu können. Wir lassen die contergangeschädigten Männer und Frauen nicht allein. Wir nehmen 120 Millionen Euro pro Jahr in die Hand, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Das ist richtig, und das war auch überfällig. Das wurde auch bei der Anhörung im Februar deutlich, die sehr viele von uns sehr bewegt hat. Bei der Ausgestaltung der neuen Regelungen haben wir deshalb intensiv um die besten Lösungen im Sinne der Betroffenen gerungen. Für die Erhöhung der Conterganrenten beispielsweise gab es unterschiedliche Lösungsvorschläge. Warum haben wir uns für eine so deutliche Erhöhung entschieden, die ja bei den bisherigen Höchstrenten einer Versechs-fachung entspricht und die, Herr Kollege Seifert, bei den Höchstgeschädigten auch überproportional ausfällt? Wir haben uns für diese Lösung entschieden, weil die hohen Renten einen Großteil der Zusatzbedarfe - dazu zählt auch die Assistenz, Herr Kollege Kurth - pauschal abdecken sollen und wir den Betroffenen damit aufwendige Einzelfallprüfungen ersparen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben uns in dem Bewusstsein so entschieden, dass es hier um notwendige Hilfe geht, aber eben auch um Respekt und Würde. Auch für die Ausgestaltung der Schadensstufen lagen unterschiedliche Varianten auf dem Tisch. Warum haben wir die Variante gewählt, bei der die Schadensstufen insbesondere im oberen Bereich weiter aufgefächert werden? Wir wollten damit mehr Einzelfallgerechtigkeit vor allen Dingen bei den Schwerstgeschädigten erreichen. Denn bisher ist es so, dass die höchste Rente bereits bei 45 Schadenspunkten beginnt. Im Moment erreichen 60 Prozent der Leistungsberechtigten 45 oder mehr Schadenspunkte und damit die höchste Rente. Einige von ihnen sind aber deutlich schwerer geschädigt als andere. Das konnte bisher innerhalb des Systems nicht berücksichtigt werden. Mit der Einführung zusätzlicher Schadensstufen, insbesondere im oberen Bereich, können wir bei den Schwergeschädigten noch stärker differenzieren und schwerste Schädigungen angemessen berücksichtigen. Eben darum geht es uns bei den neuen Regelungen. Wir wollen dem individuellen Schicksal so gut wie möglich gerecht werden. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Mittel für die zusätzliche Hilfe bereitzustellen. Ich danke allen, die mit ihrem Sachverstand und mit ihrem Engagement dazu beigetragen haben. Auch die SPD-Fraktion unterstützt unseren Vorschlag, was mich sehr freut. Vor allen Dingen freut mich aber auch, dass die Mehrheit der contergangeschädigten Menschen die neuen Regelungen richtig findet. Natürlich gibt es immer auch noch Kritik; das ist klar. Aber ich glaube, dass wir uns zumindest in einem Punkt einig sind: Das, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf festschreiben, bedeutet für die Betroffenen mehr Hilfe, mehr Respekt und mehr Gerechtigkeit. Das ist weit mehr als einfach nur mehr Geld. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Christel Humme. Bitte schön, Frau Kollegin Humme. Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der Tat, ich erinnere mich sehr gut daran: Vor sechs Jahren, 2007, lief im Fernsehen erstmals der Film Eine einzige Tablette. Auf der einen Seite ist es bedauerlich, dass ein Film der Anlass für neue Regelungen war, auf der anderen Seite ist es aber auch gut. Wir konnten uns in der Großen Koalition auf Verbesserungen für Contergangeschädigte einigen. Ich möchte gerne an Ilse Falk erinnern. Wir beide haben die Debatte initiiert und darauf hingewiesen, dass wir etwas für die contergangeschädigten Menschen tun müssen. Jeder, der damals dabei war, erinnert sich noch gut daran. Wir waren nicht sicher, wie erfolgreich wir sein würden, aber im Ergebnis konnten wir die Renten verdoppeln, Sonderzahlungen durchsetzen und letztlich auch die Renten dynamisieren. Ich denke, das war ein großer Schritt. Darauf können wir alle - wir haben es fraktionsübergreifend beschlossen - noch heute stolz sein. Das sollten wir immer wieder in Erinnerung rufen. Damals war - das wurde vorhin erwähnt - Grünenthal noch dabei. Grünenthal war mit 50 Millionen Euro an der Finanzierung beteiligt. Aber wir wussten bereits damals, dass das nicht das Ende der Fahnenstange sein würde; denn das, was wir damals beschlossen haben, war nicht ausreichend. Wir ahnten, dass wir erst am Anfang eines Prozesses stehen, der weitere Verbesserungen für die Männer und Frauen mit Conterganschädigungen bringen muss, Verbesserungen, die die Betroffenen immer wieder eingefordert haben. Schon damals war uns klar: Wir müssen uns mit den Folgeschäden bei Menschen mit Conterganschädigungen befassen und sie entsprechend anerkennen. Deshalb bin ich froh, dass wir seit Dezember letzten Jahres die Längsschnittstudie des Instituts für Gerontologie der Uni Heidelberg vorliegen haben. Ich danke Professor Kruse ausdrücklich für diese hervorragende Längsschnittstudie. Diese Studie belegt Schwarz auf Weiß, was wir eigentlich schon immer von den betroffenen Menschen geschildert bekommen haben. So hat es zum Beispiel auch Herr Herterich vom Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen in der Anhörung eindrucksvoll geschildert. Wenn die Füße die Hände ersetzen und wenn die Zähne zum Tragen und Öffnen von Flaschen benutzt werden müssen, dann hat das Folgen für die Entwicklung der Muskulatur und die Zahngesundheit. Frau Rupprecht hat richtig dargestellt, dass die Körper der Contergangeschädigten überproportional schnell altern. In der Tat: In den letzten zehn Jahren haben mit zunehmendem Alter die Folgeschäden rasant zugenommen. Vor allem in den letzten zwei bis fünf Jahren hat sich die negative Entwicklung bei Arthrose, Muskelschwäche und daraus folgenden Schmerzen beschleunigt, Schmerzen, die nicht auszuhalten sind. Viele contergangeschädigte Frauen und Männer können sich nur mit Morphium und Opiaten am Leben halten, weil sie sonst vor Schmerzen wahnsinnig würden. Professor Kruse hat das in der Anhörung sehr deutlich geschildert. Aufgrund dieser Tatsachen sind besondere Bedarfe entstanden, beim Zahnersatz, bei der medizinischen Hilfe, bei der Assistenz und bei der Pflege. Es geht um eine bessere Mobilität sowohl im als auch außer Haus. Dazu gehört auch die bessere Kommunikation und soziale Teilhabe. Da müssen wir eindeutig helfen. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, jetzt geht es darum, die Ergebnisse der Studie aus Heidelberg zügig umzusetzen. Dafür ist der heute vorliegende Gesetzentwurf ein wesentlicher Baustein. Wir freuen uns natürlich, dass jährlich 90 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, um die Renten deutlich zu erhöhen; die Rente wird je nach Schwere der Beeinträchtigung zwischen 612 und 6 912 Euro betragen. Das wirkt wie ein persönliches Budget und wird den Menschen mit Conterganschäden helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Genauso positiv bewerten wir, dass jährlich ein Betrag von 30 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt wird, der für besondere Bedarfe vorgesehen ist. Wir begrüßen das ausdrücklich und danken allen, die das möglich gemacht haben; das gilt vor allem für die Regelung, dass die Renten rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 gezahlt werden sollen. (Beifall des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU]) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Anhörung am 1. Februar dieses Jahres wurden von den Betroffenen immer wieder zwei - ja, ich würde sagen - Herzenswünsche an die Politik geäußert. Die Männer und Frauen mit Conterganschädigungen wünschen sich eine bessere soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben; wir haben davon heute schon genug gehört. Ich glaube, mit dem Geld werden wir dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Auch darum unterstützen wir den Gesetzentwurf. Wir haben ja gesagt: Das ist unser gemeinsamer Gesetzentwurf. Dieses Thema eignet sich nicht für Parteiengezänk. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Genau!) Aber wir haben - auch das gebe ich zu; das hat auch Frau Rupprecht schon deutlich gemacht - einige Fragen zu der Ausgestaltung des Gesetzentwurfes. Ich freue mich, dass es möglich ist - zwar im Nachgang, aber immerhin -, am 15. April dieses Jahres ein Fachgespräch im Ausschuss durchzuführen. Ich hoffe, wir kommen dort zu guten Ergebnissen und finden letztlich gute Lösungen. Ich gebe Herrn Kurth durchaus recht: Es gibt viele Klagen darüber, dass die Beteiligung der Contergangeschädigten in der Stiftung nicht so ist, wie sie sein sollte. Da ich gerade sehe, dass Herr Hüppe hier vorne sitzt, möchte ich sagen: Wir haben in der Behindertenpolitik ja ein Motto. Das Motto lautet: Nicht ohne uns über uns. (Caren Marks [SPD]: Genau!) Ich glaube, das gleiche Motto sollte auch im Hinblick auf die Menschen gelten, die unter Conterganschädigungen leiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Natürlich gibt es großen Beratungsbedarf, was die Verteilung der spezifischen Bedarfe angeht: Wie werden sie verteilt? Wie macht man das? Wie bürokratisch ist das Ganze? Wenn man bedenkt, dass 450 000 Euro, also fast eine halbe Million Euro, an Verwaltungskosten entstehen werden, muss man sich auch fragen: Wofür? Darüber sollten wir noch einmal reden. Ich glaube, Frau Hudelmaier vom Bundesverband Contergangeschädigter, die in der Anhörung eine nachhaltige Lösung gefordert und an uns appelliert hat, uns nicht wieder mit Fehlern, die wir hinterher korrigieren müssen, zu belasten, hat recht. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Ja, das stimmt!) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ja, es gibt weiteren Handlungsbedarf; das dürfen wir nicht vergessen. Es geht nicht nur um Folgeschäden, sondern auch um Spätschäden, die in der Vergangenheit nicht sofort offenbar wurden und noch nicht als vorgeburtliche Schäden anerkannt werden. Frau Blumenthal, die Vorsitzende der Conterganstiftung, hat angekündigt, dass hierzu in diesem Jahr eine Studie in Auftrag gegeben werden soll. Ich finde zwar, das ist etwas spät - das gebe ich zu; das hätte man schon früher machen können -, aber ich bin froh, dass auch diese Studie, die für unsere Beratungen eine weitere Hilfe sein wird, durchgeführt wird. Im Laufe dieses Jahres wird in Nordrhein-Westfalen eine weitere Studie durchgeführt. Sie beschäftigt sich mit einem anderen Thema, nämlich mit der Frage nach psychosomatischen Schäden. Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen man im Rahmen dieser Studie kommen wird. Ich glaube, auch sie werden uns helfen, weitere gute Lösungen für die Menschen zu finden. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass der Bund 120 Millionen Euro jährlich mehr zur Verfügung stellt, ist eine hervorragende Sache; keine Frage. Aber erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich wünsche mir, dass auch die Stiftung ihren Einfluss geltend macht, um nochmals Geld der Firma Grünenthal, die der eigentliche Verursacher des größten Medizinskandals ist, einzuwerben. Auch wenn die Firma Grünenthal rechtlich nicht dazu verpflichtet ist, so bin ich persönlich sehr davon überzeugt, dass es hier eine moralische Verpflichtung gibt. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU] und Nicole Bracht-Bendt [FDP]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Humme. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Patrick Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Patrick Meinhardt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute hier zusammengekommen, um über ein Thema zu debattieren, das - das spürt man auch an der Art und Weise, wie wir die Debatte führen - uns allen wirklich am Herzen liegt und das uns von den menschlichen Schicksalen her auch tief bewegt. Die gesundheitliche Entwicklung der Contergangeschädigten steht, wie es in der Studie der Universität Heidelberg formuliert wird, an einem Wendepunkt - ich zitiere -: "Die gesundheitliche Entwicklung ... steht an einem Wendepunkt, eine rasche Verbesserung der Versorgung wie auch eine rasche Ausweitung der Unterstützung sind dringend notwendig." Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarf erheblich. Deswegen ist es gut, dass wir heute über die Grenzen der Fraktionen hinweg über dieses wirklich zentrale gesellschafts- und sozialpolitische Thema beraten. Auch ich bin der Ansicht, dass wir mit diesem Gesetzentwurf an einem Wendepunkt stehen, und möchte allen, die sich an diesem Gesetzentwurf beteiligt haben, hierfür ein herzliches Dankeschön sagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir zu einer Änderung des Conterganstiftungsgesetzes kommen, die für viele längst überfällig war und die jetzt in der Konsequenz der gesamten Beratungen an einen wichtigen Punkt gekommen ist. Wir stehen hier alle gemeinsam in der Verantwortung, und wir stehen auch alle zu unserer Verantwortung. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn dieses Hohe Haus in einer solchen Debatte seine Menschlichkeit zeigt - sie kam in vielen Wortbeiträgen zum Ausdruck - und die Fraktionen zusammenstehen, wie dies ja schon im Jahre 2008 der Fall war. Im Deutschen Bundestag wurden von 1958 bis heute viele Debatten über dieses Thema geführt. Als 1971 die zentrale Debatte über die Errichtung der heutigen Conterganstiftung stattgefunden hat, hat unser damaliger FDP-Kollege Kurt Spitzmüller Folgendes formuliert - das war eine große Gemeinsamkeit in diesem Haus -: Die Einmütigkeit, die das Haus in dieser Frage bewiesen hat, und die Intensität, mit der sich die Ausschußmitglieder dieser Fragen angenommen haben, beweisen, daß dieses Haus immer wieder in der Lage sein wird, sosehr die Situation auch draußen im Lande einmal auf Konfrontation eingestellt sein mag, sich im Sinne der Hilfe für Bedürftige, für Behinderte, im Sinne einer humanitären Gemeinsamkeit zusammenzufinden. Dies gilt auch für die Beratungen heute. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vor fast genau vier Jahren hat der Deutsche Bundestag für diesen Bereich eine Studie, ein Gutachten in Auftrag gegeben. Schon zum 1. Juli 2008 sind die sogenannten Conterganrenten verdoppelt worden. Ich glaube, dass es sehr gut ist, wenn wir jetzt mit der Verabschiedung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes noch einmal eine entscheidende Verbesserung erreichen. Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen, ist es gemeinsam gelungen, für die 2 700 Conterganopfer die gewaltige Summe von jährlich 120 Millionen Euro dauerhaft zu verankern. Ich glaube deswegen sagen zu dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir können zwar Leiden nicht in Geld messen - das wäre weiß Gott vermessen -; aber wir können die Welt in Deutschland mit dieser Entscheidung ein bisschen gerechter machen und diesen Menschen unsere gemeinsame Solidarität entgegenbringen. Dafür bin ich wirklich dankbar. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. - Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU ist unser Kollege Markus Grübel. - Bitte schön, Kollege Markus Grübel. Markus Grübel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute mit Fug und Recht sagen: Dieses Gesetz ist ein Quantensprung. Es ist kein kleiner Schritt und auch kein großer Schritt, es ist ein Sprung. Um in dem Bild zu bleiben, das Sie, Herr Dr. Seifert, verwendet haben: Es ist nicht der Spatz in der Hand - es ist für das, was realistisch war, die Taube auf dem Dach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auf welchem Stern leben Sie? Wer wäre sich vor zwei Monaten noch sicher gewesen, dass wir hier 120 Millionen Euro zusätzlich bereitstellen können? Ich habe mir das immer gewünscht und habe dafür gekämpft; das dürfen Sie mir abnehmen. Hinsichtlich der Frage, ob wir das schaffen, ob wir das durchsetzen, ob die Haushälter, das Finanzministerium etc. das mitmachen, war ich mir aber unsicher. Darum, glaube ich, sollten Sie das nicht kleinreden und abwerten. Der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutschland, Herr Christian Stürmer, hat mir gesagt, das sei eine positive Revolution. Wir haben die Contergangeschädigten und auch ihre Familien nun ein halbes Jahrhundert lang mit einer vergleichsweise geringen Rente vertröstet. Mit diesem Gesetzentwurf und diesen zusätzlichen Mitteln schaffen wir es - das ist mir besonders wichtig -, dass sie ein würdiges Leben leben können. Im Mai 2008 haben wir die Conterganrenten von 550 Euro auf 1 100 Euro verdoppelt. Das hört sich viel an. Zu weniges zu verdoppeln, ergibt aber nicht viel, und vor allem war das nicht ausreichend. Natürlich war das damals in unserem entsprechenden Rahmen das Mögliche, Frau Rupprecht, Frau Humme, Frau Falk und wie wir alle heißen, aber das war nicht der große Wurf. 6 912 Euro für die schwerst- bzw. mehrfach Geschädigten: Das ist ein großer Wurf und eröffnet den Betroffenen und ihren Familien die Möglichkeit, ein würdiges Leben zu leben. Das ist auch das Ergebnis der Conterganstudie. Diese Studie der Uni Heidelberg - vom Institut für Gerontologie mit seinem Leiter Professor Kruse - hat uns bestätigt, dass die Klagen zu Recht geführt werden und dass Handlungsbedarf besteht, weil die Menschen halt nicht wie 50-Jährige, sondern wie Hochbetagte sind. In diesem Zusammenhang ist auf die schweren Verschleiß-erscheinungen, die Schmerzen, den Assistenzbedarf und die Pflegebedürftigkeit hinzuweisen. Mir ist auch wichtig, zu sagen: Die Angehörigen - oft die Eltern - haben die Betroffenen im Alltag jahrzehntelang unterstützt und sind jetzt selber in einem Alter, in dem sie oft Hilfe brauchen. Sie können die Hilfe nicht mehr leisten, sodass die Familien außerhäusliche Hilfe brauchen. Ich kann nur sagen: Ich habe höchste Achtung vor der Leistung, die die Eltern und Familien in den Jahren erbracht haben. Ich möchte auch an die Kinder der Geschädigten denken. Manche haben keine Kinder, aber es gibt auch viele, die Kinder haben. Die Kinder werden erwachsen und sollten doch auch ein selbstständiges Leben führen können. Dafür ist das jetzt auch ein wichtiger Schritt. Es ist nämlich eine seelische Belastung für die Kranken, Betroffenen, Eltern, wenn sie wissen, dass sie der Entfaltung ihrer Kinder, die vielleicht auswärts studieren oder eine Arbeitsstelle annehmen wollen und dadurch für die Hilfe nicht mehr zur Verfügung stehen würden, im Wege stehen. Hinzu kommen die Folge- bzw. Spätschäden. Wenn ein Contergangeschädigter ein Glas Wasser trinken will, dann muss er seine Wirbelsäule verrenken. Dadurch erleidet er Spätschäden am Skelett, die ein nicht Betroffener nie haben würde. Ein anderes Beispiel: Das Tragen von Dingen mit den Zähnen macht die Zähne kaputt, und auch der Zahnersatz wird in der Folge viel schneller beschädigt als der von anderen. Das Durchschnittsalter der Contergangeschädigten beträgt 53 Jahre. So alt bin ich auch. Die Contergangeschädigten leben aber in Körpern, die denen von 70- oder 80-Jährigen gleichkommen. Wir handeln nun - das möchte ich ausdrücklich sagen - entschlossen, schnell, konsequent und sogar rückwirkend zum 1. Januar 2013, und der künftige Höchstbetrag beträgt 6 912 Euro. Das ist wirklich einmal ein Betrag, der viel ermöglicht. Diese Erhöhung hat den Vorteil, dass die Contergangeschädigten einen Großteil ihres Zusatzbedarfes - zum Beispiel Assistenz, behindertengerechter Umbau eines Pkw - pauschal, ohne aufwendige Einzelfallprüfung und ohne bürokratischen Aufwand decken können. Sie müssen keine Anträge stellen, keine Gutachten beibringen und nicht mit der Abfolge - das kennt ja auch fast jeder von uns - "Ablehnung, neues Gutachten, neuer Antrag, Ärger" leben. Dazu sind sie ja oft auch nicht in der Lage. Darum haben wir gesagt: Dreiviertel der 120 Millionen Euro fließen pauschal in die Rente. Dieser Teil erhöht also ihre zukünftige Rente. Mit dem anderen Teil werden zusätzliche Bedarfe abgedeckt. In allen Gesprächen mit den Betroffenen war klar, dass sie es schätzen, dass sie die Freiheit haben und keine Anträge stellen müssen. Ich glaube, das müssen wir hier auch einmal bewusst machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ein Viertel, bis zu 30 Millionen Euro, stehen also für zusätzliche Bedarfe - Reha-Leistungen, Heil- und Hilfsmittel, Zahnersatz, kieferchirurgische Behandlungen - zur Verfügung. Hier muss man sagen: Voraussetzung dafür ist natürlich der ablehnende Bescheid durch die Krankenkassen, weil wir mit dem Geld ja nicht die Krankenkassen entlasten, sondern zusätzliche Maßnahmen ermöglichen wollen, die die Krankenkassen eben nicht ermöglichen. Deshalb ist hier einfach ein Verfahren vorgeschaltet. Ich nehme an, dass das Verfahren dann nicht so aussehen wird, wie es hier geschildert wurde, auch von Ihnen, Herr Kurth. Der Stiftungsrat wird allgemeine Richtlinien beschließen, und das Bundesamt, das die Mittel administrativ verwaltet, wird anhand der Richtlinien in einem kurzen, schnellen Verfahren entscheiden. Der Stiftungsrat bzw. der Stiftungsvorstand wird nicht mit jedem Einzelfall belastet. Darüber können wir aber gern noch einmal reden. Sehr geehrte Damen und Herren, heute ist mit Sicherheit ein historischer Tag für die Contergangeschädigten und ihre Familien. 120 Millionen Euro mehr, das ist viel Geld, wenn man unsere Rahmenbedingungen und die Haushaltssituation anschaut. Gestern hat der Finanzminister den Haushaltsplan vorgestellt. Wir wollen Schulden abbauen, wir wollen die nächste Generation nicht belasten. Angesichts dessen ist das wirklich viel Geld. Natürlich kann das die Schmerzen und die Leiden nicht ungeschehen machen. Ich möchte der SPD danken; sie macht mit. Ich hoffe, die Grünen können wir auch noch ins Boot holen. Ich glaube, es ist gut, dass wir nun entschlossen handeln und den Betroffenen schnell und unbürokratisch helfen. Ich danke allen, die diesen Gesetzentwurf möglich gemacht haben. Ich hoffe auf alle Kolleginnen und Kollegen, dass sie ihn mittragen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. - Nächster Redner in der Aussprache ist unser Kollege Thomas Strobl für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, nach einem halben Jahrhundert der schweren und schwersten Schädigungen durch Contergan ist heute ein besonderer und ein guter Tag. Ich erinnere mich noch gut daran, dass vor einem halben Jahr eine Gruppe contergangeschädigter Menschen einen Besuch im Deutschen Bundestag gemacht hat. Sie waren von weither angereist, aus allen Teilen der Republik. Der Vorsitzende kam aus meinem Heimatbundesland, aus Baden-Württemberg. Diese Menschen haben keinen Aufwand, keine Mühe gescheut, über viele Jahre immer wieder auf ihre Lebensumstände und auf die Nöte der Contergangeschädigten aufmerksam zu machen. Wenn wir heute hier stehen und ein Gesetz beraten, das zusätzliche Leistungen in einem Umfang von 120 Millionen Euro an die Contergangeschädigten vorsieht, dann möchte ich vor allem denjenigen danken, die nicht lockergelassen haben, die nicht müde geworden sind, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Mitbetroffenen zu erzählen und auf ihre Nöte und auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Wir stünden ohne diejenigen, die das immer und immer wieder vorgetragen haben, nicht hier. Sie sind eigentlich diejenigen, denen wir dafür Dank sagen müssen, dass wir heute zu diesem Schritt kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will aber hinzufügen, weil es einfach die Wahrheit ist, dass wir ohne unsere Kollegin Bundeskanzlerin Angela Merkel und ohne den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder heute nicht so weit wären, wenn die beiden diese Angelegenheit nicht zu ihrer eigenen, persönlichen Sache gemacht hätten. Das möchte ich in dieser Stunde einfach sagen. Danke an Angela Merkel und Volker Kauder! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle aus einer E-Mail zitieren, einer von vielen E-Mails, die ich von Contergangeschädigten erhalten habe: Meine Mutter hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, weil sie nur eine einzige Tablette genommen hat. Als kleiner Junge sagte ich zu ihr: Nicht traurig sein! Ich werde es schaffen, und wenn ich groß bin, dann will ich eine Schiffsreise für dich bezahlen. Da war ich gerade mal acht Jahre alt, konnte kaum sprechen, weil ich ja taub war. Mein Vater hat sich immer geschämt, weil ich ein Krüppel war. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nur halbtags arbeiten kann, konnte ich meiner Mutter den Wunsch nie erfüllen. In den nächsten Jahren werde ich nicht mehr arbeiten können und würde dann gerade mal 400 Euro Rente bekommen. Jetzt wird die Bundesregierung 120 Millionen Euro jährlich für unsere Contis ausschütten. Vielen Dank, dass Sie sich dafür eingesetzt haben! Er schreibt weiter: Jetzt ist meine Mutter 85 Jahre alt. Ich hoffe, dass ich ihr diesen Wunsch so bald wie möglich erfüllen kann. Sie wird nicht mehr die große Reise machen können, aber ich werde ihr symbolisch eine Fahrkarte geben. Es ist spät, dass wir als Bundesrepublik Deutschland unsere Verpflichtung gegenüber den contergangeschädigten Menschen in anständiger Weise wahrnehmen. Es ist spät, dass die Bundesrepublik Deutschland auch für ihr Verhalten im Conterganskandal Verantwortung übernimmt. Es ist spät, dass der Deutsche Bundestag den Eltern signalisiert: Wir lassen euch und eure Kinder nicht im Stich. Es ist spät, dass wir vor allem auch den Müttern Danke sagen, dass sie ein Leben lang so viel Zeit und so viel Kraft und so viel Liebe in das Leben ihrer Kinder investiert haben. In den Gesprächen mit den Contergangeschädigten ist mir eines ganz besonders deutlich geworden: Das Geld muss vor allem bei den Betroffenen ankommen. Sie sind es nämlich, die am besten wissen, wozu sie dieses Geld brauchen. Sie werden mit diesem Geld am sparsamsten umgehen. Sie sind es, die ihr Leben - daran ist uns allen gelegen - ohne Bevormundung führen sollen. Deswegen ist es wichtig, dass 90 Millionen Euro der 120 Millionen Euro als monatliche Renten direkt an die Betroffenen gehen. Keine Töpfe! Keine Anträge! Keine Diskussionen! Keine Bürokratie! Diese Entscheidung ist wichtig und richtig gewesen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Einwänden, insbesondere der Fraktion Die Linke, gegen unseren Gesetzentwurf machen. Das gilt im Übrigen auch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Aber, Herr Kollege, Sie haben eigentlich ganz vernünftig geredet. Vielleicht sprechen wir noch einmal miteinander darüber, ob Sie sich an diesem Gesetzentwurf der drei größten Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP beteiligen. Das Thema ist zu wichtig, als dass wir uns parteipolitisch verhakeln. Ich möchte an die Adresse des Kollegen Seifert sagen: Wenn wir das jetzt nicht schnell machen, dann wird das wieder nichts. Ich werde nicht zulassen, dass diese Sache der Diskontinuität anheimfällt. Wir müssen diese Sache in dieser Legislaturperiode angehen und nicht zerreden. Das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja Seifert? Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Selbstverständlich. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Lieber Herr Kollege Strobl, wir sind uns doch alle einig, dass wir diese Sache in dieser Legislaturperiode über die Runden bringen wollen; ganz klar. Ich hatte Ihnen deshalb vorhin vorgeschlagen: Lassen Sie uns gemeinsam und feierlich erklären, dass wir alles dafür tun werden, dass das Gesetz am 1. August 2013 in Kraft treten kann. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, dass wir bis Juni Zeit haben. Wir brauchen hier nicht die Zustimmung des Bundesrates. Wir können den Gesetzentwurf hier abschließend beraten und vorher eine vernünftige Anhörung durchführen, bei der das Prinzip "nichts über Contis ohne Contis" tatsächlich umgesetzt wird. Das ist das Einzige, was ich vorgeschlagen habe. Das würde das ganze Verfahren ein kleines bisschen, um zwei oder drei Wochen, hinauszögern. Aber in diesen zwei oder drei Wochen können wir gründlich arbeiten und dabei in Erfahrung bringen, was die Betroffenen wirklich wollen, ob es ihnen reicht, eine hohe Rente zu bekommen, oder ob auch andere Dinge wichtig sind. Um nichts anderes habe ich gebeten. Nichts anderes habe ich vorgeschlagen. Keinerlei Verzögerungstaktik! Im Gegenteil: Das Ganze soll so schnell wie möglich, aber auch so gründlich wie möglich gemacht werden. Was ist das Problem? (Beifall bei der LINKEN) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Kollege Seifert, Sie sagen zunächst einmal, wir brauchten noch eine Anhörung. Ich habe kürzlich mehrere Stunden an einer Anhörung zu diesem Thema teilgenommen. Dort waren einige Hundert Contergangeschädigte, dort waren Wissenschaftler, die die Probleme vorstellten. Die Anhörung war sehr beeindruckend. Ich muss Ihnen sagen: Mir ist in der Sache ziemlich klar, was zu tun ist. Selbstverständlich sind Sie herzlich eingeladen, sich in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Selbstverständlich kann man auch über Details sprechen. Ein Gesetzgebungsverfahren ist dazu da, Dinge zu verändern, selbstverständlich. Es geht aber nicht, dass wir uns in den Diskussionen in irgendwelchen Details verhaken; denn dann wird es mit dem Gesetz in dieser Legislaturperiode nichts mehr. Mit guten Absichtserklärungen ist den Geschädigten nicht geholfen. Wenn wir die Gesetzgebung jetzt nicht abschließen, ist eine Rückwirkung zum 1. Januar 2013 nicht mehr möglich. Deswegen geben wir jetzt Gas und bekommen etwas Vernünftiges hin. Sie sind selbstverständlich herzlich eingeladen, mitzumachen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte ein bisschen an Ihr soziales Gewissen appellieren. Lassen Sie diese parteitaktischen Verzögerungsspielchen. Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen setzen, dass wir fähig sind, diese Sache miteinander zu einem guten Ende zu bringen. Es ist ganz einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn die Linken und die Grünen nicht mitmachen, dann ist das schade, aber dann machen wir es eben ohne sie. Dann setzen CDU/CSU, SPD und FDP ein gemeinsames Zeichen: ein Zeichen für eine neue Zeit für die contergangeschädigten Menschen und ihre Familien und auch ein Zeichen für ein bisschen mehr Menschlichkeit in diesem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Thomas Strobl war der letzte Redner in unserer Aussprache, die ich damit schließe. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12678 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010 - Drucksache 17/12683 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen. Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Kipping. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre Agenda 2010: Für die SPD ist das ein Grund und Anlass zum Feiern. Wir als Linke fanden, das ist vor allen Dingen ein Anlass, das Gespräch mit denjenigen zu suchen, die von den Folgen betroffen sind. Deswegen waren wir beim Jobcenter, und deswegen waren Bernd Riexinger und ich bei einem Weddinger Verein, der sich um die Menschen kümmert, die von Armut betroffen sind. Der Vereinsvorsitzende sagte zum Schluss, als ich ihn fragte, was er mir für den Bundestag mitgeben möchte, einen bemerkenswerten Satz. Er sagte: Man kann Verbesserungen nur erreichen, wenn man bereit ist, für die Fehler, die man gemacht hat, einzustehen. (Beifall bei der LINKEN) Man muss bereit sein, für die Fehler, die man gemacht hat, einzustehen: Das sind die Worte eines Mannes, der in seiner alltäglichen ehrenamtlichen Arbeit mit den Auswirkungen von Hartz IV und der Agenda 2010 zu tun hat. Ich finde, das sollte sich die SPD zu Herzen nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Doch wie sieht es die SPD? Der SPD-Vorsitzende Gabriel spricht davon: Die Agenda 2010 war ein großer Erfolg. - Schauen wir uns doch einmal an, worin der große Erfolg von Agenda 2010 und Hartz IV besteht. Um nur einen Bereich zu nehmen: In der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit der Agenda 2010 immer mehr Lasten auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden. Leistungen wie Brillen und Krankenfahrten wurden abgeschafft, und die Zuzahlungen wurden immer mehr nach oben geschraubt. Seit dem Jahr 2004 sind insgesamt 120 Milliarden Euro auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden. Das nennt die SPD einen Erfolg. Ich finde, das ist eine Sauerei. Wir als Linke meinen ganz klar, die Zuzahlungen müssen gestrichen werden, und wir wollen den Einstieg in eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. (Beifall bei der LINKEN) Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die Renten gesunken sind. Um das an einer Zahl zu verdeutlichen: Die Renten für langjährig Versicherte sind durchschnittlich von 1 021 auf 953 Euro im Monat gesunken. Auch die Reallöhne - das sind die Löhne gemessen an der Kaufkraftentwicklung - sind zwischen 2005 und 2010 um 5 Prozent gesunken. Am stärksten betroffen sind die unteren Einkommensschichten. Also halten wir fest: Die Agenda 2010, erfunden von Rot-Grün, fortgesetzt von der Großen Koalition und dann von Schwarz-Gelb, ist vor allen Dingen eins: ein Angriff auf die Mittelschichten und auf die Rechte von Erwerbslosen, mit einem Ziel, nämlich den Reichen und Managern zu gefallen. (Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Jetzt greift die SPD in ihrem Wahlprogramm wieder soziale Fragen auf. Aber ich muss sagen: Was jetzt in Ihrem Wahlprogramm steht, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, steht in einem logischen Widerspruch zum Abfeiern der Agenda 2010. Durch Ihr Feiern der Agenda 2010 beweisen Sie nur eins: Ihr Wahlprogramm ist nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt wurde. (Beifall bei der LINKEN - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es ist unglaubwürdig!) Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die Arbeitslosenversicherung quasi pulverisiert wurde. Nur noch jeder vierte Erwerbslose bekommt überhaupt Arbeitslosengeld I. Diejenigen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, sind in das System Hartz IV gestürzt worden. Das bedeutet für Millionen Menschen Armut und Schikane per Gesetz. Wir als Linke sagen klar: Wir wollen Hartz IV durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen. Die Anhebung des Regelsatzes auf 500 Euro und die Abschaffung der Sanktionen sind erste wichtige Schritte dahin, (Beifall bei der LINKEN) zumal viele dieser Sanktionen widerrechtlich verhängt werden. Davon zeugen die hohen Erfolgsquoten zum Beispiel bei Klagen. Mehr als der Hälfte aller Klagen gegen Sanktionen wird stattgegeben. Vor diesem Hintergrund halte ich den geplanten Angriff auf die Prozesskostenhilfe für ein besonderes Problem. (Beifall bei der LINKEN) Wer die Prozesskostenhilfe abschaffen will, der soll gleich sagen, dass er den Rechtsstaat nur für die Reichen will. Wir als Linke meinen ganz klar: Dieser Angriff auf die Prozesskostenhilfe ist ein Angriff auf den Rechtsstaat. Wir wollen, dass sich Arme wie Reiche für ihre Rechte einsetzen können. (Beifall bei der LINKEN) Die Agenda 2010 wurde eingeführt mit der Behauptung, es gebe einen Reformstau. Dazu sagen wir als Linke ganz klar: Es gibt keinen Reformstau; es gibt einen Gerechtigkeitsstau. Wenn jetzt Rufe nach einer Agenda 2020 laut werden, sagen wir: Was wir wirklich für das Jahr 2020 brauchen, ist eine "Agenda Sozial", das heißt statt Hartz IV Mindestsicherung, Mindestlohn und Mindestrente. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in -unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU unser Kollege Dr. Carsten Linnemann. Bitte schön, Kollege Dr. Linnemann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir trotz mancher Schieflagen - auf diese werde ich gleich noch eingehen -, die wir zum großen Teil behoben haben, und trotz mancher Komplikationen der Meinung sind, dass die Agenda 2010 in der Sache richtig war. Den Menschen geht es heute, im Jahre 2013, besser, Frau Kipping, als noch vor zehn Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Frechheit!) Ich möchte aber auch nicht den Eindruck erwecken, dass die Agenda 2010 maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass es uns heute besser geht. Es gibt vor allen -Dingen zwei große andere Punkte, die man in diesem Zusammenhang ansprechen muss und die gerade mit der Union verbunden sind. Der erste Punkt ist die duale Ausbildung. Viele in Europa haben sich in der Vergangenheit über uns lustig gemacht und gesagt: Die Auszubildenden gehen ja zweimal in der Woche in die Berufsschule. Das ist ja wie Schule. - Als wir, die Mitglieder des Arbeitsausschusses, kürzlich in Spanien waren, kam in jedem Gespräch, das die Spanier mit uns geführt haben, die duale Ausbildung zur Sprache. Die Spanier wollen dieses System kopieren, und wir helfen gerne dabei. Wir wollen auf jeden Fall am dualen System festhalten. Der zweite Punkt, der neben der Agenda 2010 wichtig ist - auch das sollte einmal angesprochen werden -, ist die Tatsache, dass es die Union war, die am industriellen Kern Deutschlands festgehalten hat. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir waren das! Wir!) 25 Prozent der Bruttowertschöpfung findet bei uns in der Industrie statt. In Frankreich ist es nur die Hälfte. Über Großbritannien und insbesondere über London als zentralem Platz für Finanzdienstleister möchte ich erst gar nicht reden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber nun zur Agenda 2010. Die Stoßrichtung war richtig. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag haben im Grundsatz Ja zum Prinzip "Fördern und Fordern" und zur Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe gesagt. Wir hatten damals das gleiche Ziel: sicherer Wohlstand und sicherer Sozialstaat. Heute, zehn Jahre später, ist festzustellen, dass wir das nicht nur damals konstruktiv begleitet, sondern bis heute fortgeführt haben. Die Zahlen sind absolut eindrucksvoll und sprechen meiner Meinung nach Bände. 41,5 Millionen Menschen in Deutschland sind erwerbstätig. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber das Arbeitsvolumen hat nicht zugenommen!) Im Moment gibt es 1 Million offene Stellen. Die Arbeitslosigkeit, auch die Sockelarbeitslosigkeit, ist signifikant gesunken. Die Erwerbstätigenquote Älterer ist gut. Ich glaube, hier liegen wir an zweitbester Stelle in Europa. Die Situation bei der Jugendarbeitslosigkeit ist sehr gut. 93 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben einen Job. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist unter der Regierung von Angela Merkel und mit einer Bundes-arbeitsministerin Frau von der Leyen um 40 Prozent zurückgegangen. Damit ist auch die Zahl der Kinder, die im Hartz-IV-Bezug leben, um 40 Prozent gesunken. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Was sind denn das für Zahlen?) - Entschuldigung, um 260 000, Herr Kurth. - Man kann das alles schlechtreden. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten die richtigen Zahlen nennen!) Man kann aber auch einmal sagen: Das sind gute Daten. Diese Koalition hat gute Arbeit geleistet. Wir freuen uns, dass es so ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich gibt es immer Schieflagen und Menschen, die zu Recht sagen: Hier und da geht es nicht gerecht zu. - Davor darf man auch nicht die Augen verschließen. Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele, die deutlich machen, wo diese Koalition angesetzt hat, um Schieflagen zu beseitigen. Wir haben schon damals gesagt, dass Zeitarbeit nur dazu dienen darf, Auftragsspitzen zu bewältigen sowie Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Einstieg in reguläre Beschäftigung zu ermöglichen. Wenn Firmen dieses Konzept ausnutzen, Mitarbeiter rauswerfen und die gleichen Mitarbeiter über die Zeitarbeit wieder ins Unternehmen holen, dann ist das schlicht nicht gesetzeskonform. Wir haben ein Gesetz gemacht. So etwas ist jetzt verboten und findet nicht mehr statt. Ein weiteres Beispiel: die Hinzuverdienstmöglichkeiten. Wir haben gesagt: Wenn es junge Menschen gibt, die in einem Ferienjob gern etwas dazuverdienen wollen, dann sollen sie das auch behalten; es wird nicht angerechnet. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Da haben wir den Druck gemacht!) Ein weiteres Beispiel: der Bundesfreiwilligendienst. Wir haben gesagt: Wenn jemand freiwillig mitmachen will, dann soll er das Geld auch zum großen Teil behalten. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ihr Fraktionsvorsitzender hätte das nicht gewusst, wenn Herr Gysi nicht Druck gemacht hätte!) - Nein, Frau Kipping. - Ich möchte an dieser Stelle einfach nur sagen: Man bekommt die absolute Gerechtigkeit nicht hin. Aber dort, wo Schieflagen sind, haben wir das angepackt; ich habe die Beispiele gerade genannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie eine Neiddebatte wollen und in Ihrem Antrag davon sprechen, dass Sie Einkommen mit einem Steuersatz von 75 Prozent besteuern wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben in Deutschland kein Einnahmeproblem; wir haben ein Ausgabenproblem. Die Menschen wollen, dass wir mit den Steuergeldern vernünftig umgehen. Wir haben noch nie so hohe Steuereinnahmen gehabt wie im Moment. Es ist Herr Schäuble gewesen, der gestern gesagt hat: Im Jahr 2015 bekommen wir nach 40 Jahren wieder einen ausgeglichenen Haushalt hin. - Dahin muss es gehen! Mut! Nach vorn! Keine Neidgesellschaft! Wir müssen den jungen Menschen sagen: Ihr habt alle Chancen der Welt. Strengt euch an! Die Welt steht euch offen. - Das begleiten wir. Gleiche Chancen für jedes Kind, egal aus welchem Elternhaus! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Linnemann. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist tatsächlich heute zehn Jahre her, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von diesem Pult aus eine Regierungserklärung abgegeben hat. Es lohnt sich übrigens, die noch einmal insgesamt nachzulesen. Sie stand unter dem Motto "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung". Es war übrigens die Regierungserklärung - daran seien Sie in der Union erinnert -, in der er das klare deutsche Nein zum Irakkrieg klargemacht hat - (Beifall bei der SPD) in einer Zeit, in der es von Frau Merkel noch sehr peinliche Ergebenheitsadressen gegenüber George Bush gegeben hat; aber das nur am Rande. Wir diskutieren hier über den innenpolitischen Teil, über die Reformpolitik, die damals begonnen wurde. In dieser Debatte, an dem, was Frau Kipping und Herr Linnemann gesagt haben, stört mich vor allen Dingen -eines: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Weder eine rosarote Brille noch eine Verelendungsdebatte helfen uns weiter, wenn es darum geht, festzustellen: Was hat sich in den letzten zehn Jahren getan? Ich bleibe dabei: Wenn man die Agenda 2010, das Reformprogramm insgesamt, sieht, wenn man zum Beispiel in Erinnerung hat - Frau Kollegin Kipping, Sie verdrängen das gern, weil das nicht in Ihr Weltbild passt -, dass Teil der Agenda 2010 auch ein 4 Milliarden Euro schweres Ganztagsschulprogramm war, (Zuruf von der SPD: Genau!) dass es beispielsweise auch darum ging, die Bundesagentur für Arbeit besser aufzustellen - sie ist heute besser aufgestellt -, (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) wenn man etwas über die Vorgeschichte und die wirtschaftliche Situation weiß, in der wir damals waren, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die Vorgeschichte ist, dass Sie den Wählern vor der Wahl 2002 erzählt haben, das müsse alles nicht sein!) dann erklärt sich das eine oder andere. Katja Kipping hat darum gebeten - das war die Nachricht, die sie gegeben hat -, dass wir einräumen, wo wir geirrt haben, wo es Fehlentwicklungen gab. Ich komme gleich dazu. Aber dem Grunde nach will ich eines ins Gedächtnis rufen: Wo standen wir 1998? 1998, nach 16 Jahren Helmut Kohl, hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Reformstau aufgebaut. (Zuruf von der SPD: Genau!) Tatsache war, dass viele Langzeitarbeitslose, die damals in der Sozialhilfe waren, den Kommunen sozusagen vor die Tür gekippt wurden. Die sozialen Sicherungssysteme waren durch die Beitragsentwicklung, weil die deutsche Einheit falsch finanziert war, am Rande der Handlungsfähigkeit. (Beifall bei der SPD - Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Genau so war es!) Wir haben dann 1998 angefangen. Wir haben erst einmal versucht, das im guten deutschen System, im Konsens - im Konsens! -, nämlich über ein Bündnis für Arbeit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, zu machen. Man muss einräumen, dass dieser Versuch nicht geklappt hat, weil die Interessengegensätze damals - übrigens im Gegensatz zu heute, wo in der Wirtschaftskrise Kooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften stattfand, wo Sozialpartnerschaft wieder höhere Wertschätzung erfährt - zu groß waren. Dieses Bündnis für Arbeit ist gescheitert, nicht an der Bundesregierung, sondern an Interessengegensätzen, die nicht überwindbar waren. Die Debatte war von Verbandsdenken geprägt. Können Sie sich an Hans-Olaf Henkel erinnern, der damals durch jede Talkshow lief? Dann war zu entscheiden, weil sich die Lage damals, nach dem Platzen der Dotcom-Blase, verschärfte und wir in Deutschland auf einmal 5 Millionen Arbeitslose hatten. Deshalb haben wir angefangen. Jetzt sage ich Ihnen: Aus heutiger Perspektive gibt es zwei, drei Fehlentwicklungen, die wir dringend korrigieren müssen. Frau von der Leyen, ich habe heute Ihre Äußerungen gelesen. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich kann mich erinnern, dass Sie 2003 ein anderes Amt hatten. Sie waren damals frisch gebackene Arbeits- und Sozial-ministerin in unserem Land, Niedersachsen. Im Übrigen haben Sie in dieser Funktion damals wesentliche Teile der Agenda 2010, zum Beispiel das Tagesbetreuungsausbaugesetz, blockiert. Außerdem haben Sie über den Vermittlungsausschuss mitgeholfen, dass vor allem auch die Arbeitsmarktgesetzgebung betreffende Punkte in die Agenda 2010 hineingekommen sind, die sich am Ende als Fehlentwicklung erwiesen haben. Wir haben damals beispielsweise gesagt, dass wir die Zumutbarkeitskriterien auf die Tariflöhne abstellen wollen. Im Vermittlungsausschuss saßen damals Frau von der Leyen, Herr Stoiber, Herr Koch, Herr Wulff und wie sie alle hießen, die dagegen waren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das meine ich mit den Fehlentwicklungen, die wir heute haben. Diese Fehlentwicklungen zeigen sich am Arbeitsmarkt. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt. Aus heutiger Perspektive wäre es 2003 vernünftig gewesen, einen gesetzlichen Mindestlohn ein-zuführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass in der damaligen Diskussion ein Mindestlohn bis auf die Gewerkschaften NGG, Verdi, IG BAU - auch von großen Industriegewerkschaften - eher abgelehnt wurde. Mit Verlaub, es waren auch einige Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Kollege Kurth war damals dafür. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Ja!) Ich war auch dafür. Es gab aber auch andere - um das einmal freundlich zu formulieren. Heute wissen wir, wie wichtig der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit leben können. Seit 2005 erleben wir aber, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der diesen Namen auch verdient, an CDU/CSU und FDP in diesem Land scheitert. Das müssen wir ändern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schauen wir uns einmal an, welche Fehlentwicklungen es noch gegeben hat. Zur Differenzierung gehört auch, sich selbstkritisch mit dem auseinanderzusetzen, was nicht gut gelaufen ist. Dies betrifft den massiven Missbrauch im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit. Damals ist im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ein Schlupfloch entstanden, das inzwischen scheunentorweit geöffnet wurde und das zu Missbrauch geführt hat. Ich bleibe dabei: Arbeitnehmerüberlassung macht Sinn, um bei Unternehmen Arbeitsspitzen aufzufangen und Flexibilität zu schaffen. Daraus geworden ist allerdings ein Einfallstor für Lohndrückerei. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gilt, dass es Höchstüberlassungsdauern gibt, dass die Mitbestimmungsrechte in diesem Bereich gestärkt werden und dass das Synchronisationsverbot wieder eingeführt wird. Das sind zwei zentrale Baustellen, an denen Veränderungen notwendig sind. Da Sie jetzt schwadronieren, sage ich Ihnen aber auch, Frau von der Leyen: In den vergangenen vier Jahren haben Sie ohne unsere Hilfe gar nichts hinbekommen. Wir mussten mithelfen, dass es bei der Jobcenter-reform zu einer Lösung kam. Außerdem mussten wir Sie bei den Regelsätzen treiben, damit es zu einer Lösung kam. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was denn für eine Lösung? Wo ist denn die Lösung?) Ich sage Ihnen darüber hinaus ganz deutlich: Die Fragen des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in Deutschland der vergangenen zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre. Wir haben jetzt eine Entwicklung, die man als Gefahr eines tief gespaltenen Arbeitsmarkts beschreiben kann. Immer mehr Unternehmen werden aufgrund der demografischen Entwicklung am Arbeitsmarkt qualifizierte Fachkräfte suchen. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor viel zu viele langzeitarbeitslose Menschen, aber auch Menschen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden und somit abgehängt worden sind. Wir müssen mehr tun für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Frau von der Leyen, wenn Sie sich hier hinstellen und wortreich erklären, dass Sie in Zeiten der Großen Koalition das, was die SPD durchgesetzt hat, auch umgesetzt haben, dann sage ich dazu: Das mag stimmen. Aber Sie gehören nach wie vor einer Regierung an, die übrigens nicht gegen Ihren Widerstand, sondern mit Ihrer Unterstützung - vielleicht gegen Ihre eigene Überzeugung; das will ich unterstellen - ein idiotisches Betreuungsgeld ausreicht mit allen Folgen, die das für den Arbeitsmarkt hat. Wenn wir das Thema der Fachkräftesicherung ernst nehmen, dann müssen wir dafür sorgen, dass vor allen Dingen Frauenerwerbsbeteiligung in Vollzeit in diesem Land zum Zuge kommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dass Frau Schröder dieses Thema jetzt entdeckt hat, ist schön. Aber es gilt auch in diesem Fall, Frau von der Leyen: Nicht reden, sondern handeln. Mit diesem idiotischen Betreuungsgeld handeln Sie aber in die falsche Richtung. Die Mittel dafür brauchen wir, um mehr in Bildung investieren zu können. Durch diese Entwicklung stellen sich ganz neue Herausforderungen. Mit der Agenda 2010 haben wir - die Fehler habe ich eingeräumt - dem Grunde nach eine Situation geschaffen, in der Deutschland in den Jahren 2008 und 2009 besser aufgestellt durch die Krise gekommen ist als andere Volkswirtschaften, die heute unter ungemein schwierigeren Bedingungen Strukturreformen vor sich haben. Nur, meine Damen und Herren von der Koalition, eines vergessen Sie, wenn Sie heute wortreich von Strukturreformen in anderen Ländern reden, abgesehen davon, dass Sie selbst noch gar keine hinbekommen haben: Unsere Strukturreformen waren keine Kürzungsprogramme. Unsere Strukturreformen waren an Investitionen gekoppelt. Ich habe auf 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm hingewiesen. Wenn man Strukturreformen macht, ist es notwendig, dass gleichzeitig investiert wird. Diesen volkswirtschaftlichen Zusammenhang haben Sie nicht gelernt. Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich weiß, dass Sie das nicht einsehen werden. Dennoch werde ich Ihnen das noch einmal deutlich machen: Wenn wir damals nicht gehandelt hätten und in den Jahren 2008 und 2009 die Krise ohne diese Reformen erlebt hätten, dann wäre kein Geld für veränderte Regelungen zur Kurzarbeit da gewesen, die dazu beigetragen haben, Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Dann wären uns die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland um die Ohren geflogen. Wir haben damals gesagt: Wir müssen selbst modernisieren, oder wir werden überrannt. - Das ist der Grund, meine Damen und Herren. Es ist kein Grund, stolz zu sein, und wir feiern es auch nicht, weil viele Menschen es persönlich als Härte erlebt haben und es Fehlentwicklungen gegeben hat; das gehört auch zur Wahrheit. Natürlich hat meine Partei dafür einen bitteren Preis gezahlt: Wir haben über diese Auseinandersetzung Wahlen verloren. Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit genutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nach vorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nicht mehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage, wie es in Deutschland weitergeht. Da stehen wir Sozialdemokraten für einen klaren Grundsatz: Für uns sind wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Hubertus Heil. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Heil, Ihre Rede hat noch einmal sehr anschaulich deutlich gemacht, wie schwer sich Sozialdemokraten immer noch mit dem Thema Agenda 2010 tun, (Widerspruch bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch wenn Sie sich hier sehr nachdenklich gegeben haben. Ich will Ihnen einmal sagen, woran das liegt. Ihr Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, wird in diesen Tagen mit Sätzen wie diesen zitiert: Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein. ... Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass die Agenda 2010 eine große historische Leistung ist, von der wir heute profitieren. Das sagt Sigmar Gabriel, der bei der Agenda 2010 als Abrissunternehmer unterwegs ist (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind niveaulos, Herr Kolb!) und bei diesem nach Ihrer Aussage so großen Reformwerk wirklich keinen Stein auf dem anderen lassen will. Wissen Sie, Herr Hubertus Heil, einer, der so agiert, kommt mir vor wie ein Vater, der feiertags gerne den stolzen Papa geben will und werktags nicht müde wird, zu betonen, wie dumm und hässlich doch das Kind ist. So einer ist unglaubwürdig, und genau das ist auch das Problem der SPD; das muss man hier sehr deutlich sagen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will einen zweiten Punkt anführen. Frank-Walter Steinmeier bezeichnet die Agenda 2010 als "das wohl tiefgreifendste und erfolgreichste ... Reformprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik". (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Absolut!) Dem ist zu widersprechen, Herr Heil. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was haben Sie denn schon für Reformen auf den Weg gebracht in Ihrem Leben? Ein Klientelprogramm haben Sie gemacht, Herr Kolb! Das ist richtig!) Der wesentlichste und umfangreichste Reformanstoß in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde vor mehr als 30 Jahren mit dem damaligen Lambsdorff-Papier gegeben. Das war wirklich ein Reformprogramm, das weit über das hinausging, was damals Standard in der deutschen Politik gewesen ist. Es hat mit einer wachstums- und leistungsfördernden Haushaltspolitik, mit investitionsfördernden Steuermaßnahmen, mit einer Konsolidierung der sozialen Sicherung (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen sind Sie 1998 auch abgewählt worden!) sowie beschäftigungsfördernden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Ansätzen und vor allen Dingen einer Politik für Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaftlicher Selbstständigkeit einen Rahmen aufgezeigt, der wirklich nach vorne wies. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das waren die bräsigen Jahre von Helmut Kohl, die Sie gerade abjubeln!) Zu Recht hat Otto Graf Lambsdorff damals gesagt - ich zitiere -: Diese Überlegungen gehen über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus. ... Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit gebietet es aber, dass die Politik für die Wirtschaft einen neuen Anfang setzt ... Das, meine Damen und Herren, sagte damals Otto Graf Lambsdorff. So ähnlich ging es auch Ihnen. Bei Lichte besehen, ist die Agenda 2010 nichts anderes als das Ende einer großen Wahllüge. Rot-Grün hat nämlich damals in der ersten Wahlperiode seiner Regierungszeit alle Reformen, die zuvor die Regierung Kohl/Kinkel auf den Weg gebracht hatte, zurückgedreht, (Dr. Florian Toncar [FDP]: So war's!) um dann nach einiger Zeit feststellen zu müssen, dass Sie mit Ihrer verfehlten Politik voll gegen die Wand laufen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben dann - der Not gehorchend, nicht dem Triebe - einen radikalen Kurswechsel in Ihrer Politik vornehmen müssen. Das ist die Wahrheit, die man zehn Jahre nach der Agenda 2010 einmal in diesem Haus sagen muss. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat nichts mit Wahrheit zu tun! Das ist Propaganda!) Mehr war in drei Minuten nicht möglich; aber ich denke, es war erforderlich, dass es hier einmal kundgetan wurde. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch immer wieder interessant, zu sehen, wie Debatten um die Agenda 2010 zwischen Überhöhung auf der einen Seite und tiefer Dämonisierung auf der anderen Seite pendeln, wenn man einmal die Rede von Hubertus Heil ausdrücklich ausnimmt. Ich glaube, wir müssen einmal mit ein paar Mythen aufräumen: Das war weder ein Masterplan aus einem Guss zum Abbau des Sozialstaats noch ein Erlösungsprogramm zur Stärkung der Wett-bewerbsfähigkeit, zu dem man sich fortwährend bekennen müsste. Wir müssen einfach nüchtern auf die ganze Sache blicken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Übrigens umfassten die Veränderungen der Sozialgesetze in den Jahren 2002 bis 2004 auch weitaus mehr als die unglücklich unter dem Schlagwort "Hartz IV" bekannt gewordene Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Was war die Ausgangslage? Im Abschwung 2002/2003 traten einerseits die strukturellen Schwächen im System der sozialen Sicherung stärker zutage. Gleichzeitig wurden auch die Verteilungskämpfe härter; Hubertus Heil hat es angesprochen. Von Arbeitgeberseite bzw. den Anteilseignern der Unternehmen wurde die Auseinandersetzung sehr aggressiv geführt, da ja ihre Gewinne -sanken. Es war also keine einfache Ausgangslage für Reformen. Zwei Beispiele. Einerseits war offensichtlich, dass das Nebeneinander von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu Verschiebebahnhöfen zulasten der Betroffenen geführt hatte, andererseits war ebenso offensichtlich - das war auch uns Grünen immer klar -, dass bei einem Reformprozess der Zusammenlegung die Kräfte Morgenluft wittern würden, die faktisch nur eine Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wollten. Oder Bereich Gesundheit. Es war klar, dass zum Beispiel die Entwicklung der Arzneimittelkosten aus dem Ruder läuft, dass zahlreiche teure Medikamente ungeöffnet einfach im Müll landeten und dass es dringend einer externen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle im Gesundheitswesen bedurfte. Auch aus unserer Sicht bestand natürlich stets das Risiko, dass diejenigen einen notwendigen Reformprozess kapern, die nichts als eine einseitige Lastenverschiebung zuungunsten der Versicherten und der Arbeitnehmerbeiträge wollten. Das könnte man jetzt auch noch durchdeklinieren. Aber hätte man angesichts des Zeitgeistes und auch des - ich nenne es einmal so - neoliberalen Trommelfeuers, das dort veranstaltet wurde, von vornherein auf Veränderungen verzichten und nur in der Defensive verharren sollen? Wir haben uns durchaus für ein Risiko entschieden, und wir haben auch einiges erreicht: im Gesundheitsbereich zum Beispiel das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Wir haben Patientenbeteiligung in dem sogenannten Gemeinsamen Bundesausschuss, den Nachhaltigkeitsfaktor in der gesetzlichen Rentenversicherung und nicht zuletzt die Strukturentscheidung für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit dem Ziel einer einheit-lichen Grundsicherung mit einer Unterstützungsinfrastruktur erreicht. Aber wir sind natürlich in Situationen geraten, in denen wir - das erkennen wir klar an - auch Fehler gemacht haben, und wir sind in Situationen geraten, in denen wir uns gegen - man muss es schon so hart sagen - reaktionäre Kräfte auch nicht durchsetzen konnten. Die Praxisgebühr, die Sie wieder abgeschafft haben, haben wir etwa Horst Seehofer zu verdanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben den Niedriglohnsektor der unseligen Rolle zu verdanken, die Roland Koch im Vermittlungsausschuss gespielt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb? Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, gerne. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Kollege Kurth, Sie sagen ja, dass Sie sich gegen reaktionäre Kräfte nicht durchsetzen konnten. Mich interessiert in diesem Zusammenhang, dass der Kollege Trittin vor wenigen Tagen gesagt hat, dass die Grünen damals einen Mindestlohn bei der Zeitarbeit wollten, aber die SPD das verhindert hätte. Kann man das unter diesen Begriff auch subsumieren? (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Die reaktionären Kräfte! - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Frage zumindest!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gab eine lebhafte Debatte um die Zumutbarkeits-regelung. Daran erinnern Sie sich vielleicht noch. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, aber der Mindestlohn Zeitarbeit und die SPD!) - Nein, es ging ja allgemein um den Mindestlohn. (Anette Kramme [SPD]: Herr Kurth, kann es sein, dass das ausweichend ist und dass das Erinnerungsvermögen von Herrn Trittin nicht ganz so gut ist?) - Seien Sie doch bitte still, Frau Kramme. Vizepräsident Eduard Oswald: Wenn immer nur einer reden würde, könnten wir zuhören. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ging im Sommer 2003 um die Frage: Ist wirklich jeder Job zumutbar oder eben nur derjenige, der entweder nach Tariflohn bezahlt wird oder, wenn kein Tariflohn da ist, nach ortsüblichem Lohnniveau? Rot-Grün hat sich dafür entschieden, den Tariflohn oder das ortsübliche Lohnniveau zum Maßstab zu machen. Das war der Stand Sommer 2003. Dann ist dieses Gesetz in den Vermittlungsausschuss gekommen. Dort ist diese Regelung wieder gestrichen worden, und zwar auf Betreiben von Roland Koch und auch auf Betreiben der FDP-Vertreter, die dort waren. (Dr. Florian Toncar [FDP]: Vielleicht hat Herr Trittin da gefehlt!) Da ich mir dachte, dass Sie die Frage stellen würden, habe ich extra die Financial Times Deutschland vom 18. Dezember 2003, vom Vortag der Verabschiedung der sogenannten Hartz-IV-Gesetze, mitgenommen. Lesen Sie die Überschrift selbst: "Grüne verlangen Zusagen für Mindestlöhne". (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die SPD hat es verhindert! Interessant!) Da wird ein gewisser Markus Kurth zitiert. In der Tat ist es so - Herr Heil hat es angesprochen -: Es gab natürlich auch bei den Sozialdemokraten und teilweise auch bei den Grünen Leute, die das damals anders gesehen bzw. nicht anerkannt haben, die in dieser Frage auf die IG Metall bzw. andere große Industriegewerkschaften gehört haben. Die haben aber sehr schnell erkannt - nachdem ein, zwei Jahre später absehbar war, wie der Niedriglohnsektor wächst -, dass man dagegenhalten muss. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Kurth, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Hubertus Heil? Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön, Kollege Hubertus Heil. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Lieber Markus Kurth, ich frage, weil wir versuchen wollen, den Kollegen Kolb gemeinsam aufzuklären. (Zurufe von Abgeordneten der SPD und der LINKEN: Oh!) - Ich sagte ja "versuchen". Man soll es nie aufgeben. Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, habe ich als ordentlicher evangelischer Christ einmal gelernt. Tatsächlich ging es damals nicht um die Zeitarbeit, Herr Kollege Kolb. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie wollten eine Frage stellen. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Entschuldigung, ich glaube, nach der Geschäftsordnung darf man auch eine Bemerkung machen, Herr Präsident. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht mit dem Präsidenten schimpfen!) Aber ich kann sie in Frageform kleiden. Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege Kurth, dass damals drei Einzelgewerkschaften, nämlich NGG, Verdi und IG BAU, für den Mindestlohn waren - die großen Industriegewerkschaften noch nicht -, mittlerweile aber die Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit für den gesetzlichen Mindestlohn sind - und wir auch -, und dass es schon damals einzelne Abgeordnete wie den Kollegen Kurth und den Kollegen Heil gab, die für einen Mindestlohn waren - Olaf Scholz und ein paar andere übrigens auch -, aber dass beispielsweise Krista Sager - ich sage das, um Jürgen Trittin ein bisschen daran zu erinnern - nicht dazugehörte? Ist es nicht eine gute Sache, dass wir gemeinsam relativ schnell gelernt haben, dass der gesetzliche Mindestlohn in diesem Land notwendig ist, und ist es nicht eigentlich ein Drama, dass die FDP das bis heute nicht begriffen hat? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Jetzt gibt es schon Stützfragen!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Heil, nach meiner Erinnerung ist es so gewesen - ich habe, wie gesagt, alte Zeitungen ausgegraben -, dass damals noch nicht einmal die IG BAU für einen Mindestlohn war. Dafür waren damals wirklich nur die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten als eine sehr kleine und mit Organisationsproblemen behaftete Gewerkschaft und Verdi. Das hatte seinen Grund. Die anderen Gewerkschaften haben allesamt gesagt: Der Tariflohn ist aus unserer Sicht besser als der Mindestlohn. Sie haben noch nicht gesehen, wie die Kombination mit der Flexibilisierung der Zeitarbeit im Zusammenhang mit der veränderten Zumutbarkeitsgrenze wirken würde. Natürlich gab es damals auch Politiker wie Herrn Ludwig Stiegler - das ist der mit dem roten Pullunder -, die eine Zustimmung zu einem gesetzlichen Mindestlohn ablehnten. In der Tat gab es auch grüne Politiker, die an dieser Stelle mehr als skeptisch waren. Das gehört mit zur historischen Wahrheit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!) Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass Folgeprobleme, zum Beispiel die Zahl der Aufstocker, teilweise sehenden Auges vom damals verantwortlichen Minister, dem Darth Vader der Agenda 2010, Wolfgang Clement, in Kauf genommen wurden. Die entscheidende Frage aber ist, ob man, wenn man erkennt, dass eine Sache in die falsche Richtung läuft, rechtzeitig die Kraft und den Mut hat, gegenzusteuern, oder ob man wider besseres Wissen im Alten verharrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kurth, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Kipping. Möchten Sie diese auch zulassen? Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich muss ja das ganze Spektrum zum Zuge kommen lassen. - Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kipping, bitte. Katja Kipping (DIE LINKE): Werter Kollege Kurth, ich möchte von der Möglichkeit, eine Zwischenbemerkung zu machen, Gebrauch machen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit erinnert ein bisschen an ein Schwarzer-Peter-Spiel. Man hat das Gefühl: So richtig will es niemand gewesen sein. Ich kann nur sagen: Meine Partei war schon damals geschlossen der Meinung, dass es eines Mindestlohns bedarf und dass Leiharbeit ein Problem ist. (Beifall bei der LINKEN) Es freut uns sehr, dass sich diese Erkenntnis jetzt ausweitet. Das zeigt ja, dass links wirkt. Da nun immer wieder die historische Wahrheit bemüht wird und alte Zitate herausgekramt werden, möchte ich an ein Zitat aus der Zeit vom 13. November 2003 erinnern. Darin hat Herr Steinbrück seine Position zur sozialen Gerechtigkeit deutlich gemacht. Ich finde sie bemerkenswert und glaube, die SPD ist gefragt, deutlich zu machen, ob sie immer noch dieser Auffassung ist. In der Zeit hat Herr Steinbrück gesagt: Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun ... die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Jetzt kommt es: Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern. Das ist eine Absage an soziale Gerechtigkeit für Menschen, die man nicht als Leistungsträger einordnen kann. Das ist ein klassisches Steinbrück-Zitat, nachzulesen in der Zeit. Ich finde, auch diese Form einer Absage an soziale Gerechtigkeit gehört zur historischen Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kipping, ich kann irgendwie nicht so richtig erkennen, wo jetzt im Kern die Frage an mich persönlich war. Ich weiß nicht, was ich mit dem Zitat von Herrn Steinbrück aus dem Jahr 2003 an dieser Stelle anfangen soll. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Herr Kurth, es handelte sich um eine Zwischenbemerkung! Sie wissen, dass das nach der Geschäftsordnung möglich ist!) Nach meinem Verständnis jedenfalls streben wir mehrheitlich eine Politik an, die sich an diejenigen, die im Arbeitsleben stehen, und an diejenigen, die außen vor sind, gleichermaßen richtet. Da wir gerade bei der geschichtlichen Aufarbeitung sind: Man muss sagen, dass damals diejenigen, die vom System ausgeschlossen waren, häufig nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie hätten bekommen sollen. Damals gab es eine Struktur mit Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die verhindert hat, dass die Sozialhilfeempfänger auf die Regelförderinstrumente zugreifen konnten. Auch meine Fraktion wollte, dass stärker gefördert wird und dass diese Menschen eine Teilhabemöglichkeit haben. Diese Debatte - das gebe ich zu - war damals umstritten und sehr vielfältig. Zum Schluss meines Beitrags möchte ich nach vorne blicken. Wir möchten den 1,1 Millionen Menschen Teilhabemöglichkeiten eröffnen, die seit Einführung des SGB II dauerhaft im Leistungsbezug sind. Diese Regierung hat die Fördermittel mit dem Verweis darauf gekürzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen leicht sinkt. Sie sehen aber nicht, dass diejenigen, die dauerhaft -Arbeitslosengeld II beziehen, eine viel intensivere und langfristigere Förderung benötigen. Wenn wir das schaffen und wenn wir außerdem vernünftige Garantieelemente in die Altersversorgung einführen, um die Konsequenzen der Agenda 2010 abzufedern, wenn wir soziale Bürgerrechte, Mitspracherechte und die Rechtsposition stärken - die Prozesskostenhilfe ist angesprochen worden -, dann kommen wir zu einem sozialen Fundament, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das für dieses Land auch in Zukunft eine wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Heil das Wort. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Kollege Kurth, ich fühle mich von dem, was Sie gesagt haben, angesprochen. Ich weiß, dass Sie jemand waren und sind, der mit seinen Überzeugungen für soziale Gerechtigkeit kämpft. Das kann man unterschiedlich machen; aber das Bemühen darum sollte man sich nicht absprechen lassen. Ich will auch der Linkspartei nicht absprechen, dass Idealismus dahintersteckt, Dinge zu verbessern. Die spannende Frage ist, ob das mit den geeigneten Instrumenten geschieht. Ich kann aber nicht akzeptieren, Herr Kollege Kurth, dass Sie mit Zitaten konfrontiert werden, die aus dem Zusammenhang gerissen sind, und die Fragestellerin, die nicht einmal stehen geblieben ist, damit Sie auf ihre Bemerkung antworten können, eines nicht weiß - das kann Sie vielleicht auch gar nicht wissen, weil ein gewisser Herr Lafontaine 1998 noch Mitglied einer anderen Partei war -: Es geht hier nicht nur um Idealismus, sondern ein Stück weit um Heuchelei. Ich habe es in der Rede eines gewissen Oskar Lafontaine auf dem Parteitag 1998 - damals war er Mitglied meiner Partei - nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün nachgelesen. Damals hat dieser Mann nicht nur die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gefordert, sondern ausweislich des Protokolls dafür plädiert, die Arbeitslosenversicherung, also das Arbeitslosgengeld I, auf Bedarfsorientierung und Steuerfinanzierung umzustellen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) Frau Kollegin Kipping, Sie haben sich da einen ins Nest geholt, der nicht Hartz IV wollte, sondern Hartz VIII. Davon will er heute nichts mehr wissen. Aber auch das gehört zur historischen Wahrheit. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kurth verzichtet auf eine Reaktion. - Deshalb gebe ich jetzt dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Geburtstag und Jubiläum sind Anlass zum Feiern und zum Zurückschauen, aber auch Anlass, nach vorne zu schauen. Ich danke meinem Kollegen Kurth ausdrücklich, dass er gesagt hat: Rückblick - zehn Jahre SGB II, zehn Jahre Hartz IV, zehn Jahre Sozial-reform 2010 - ist das eine. Das andere ist: Wie geht es weiter? - Lieber Kollege Kurth, im Ausschuss arbeiten wir dauernd daran, zu korrigieren und nachzusteuern. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verschlimmern leider alles nur!) - Das verschlimmert nichts. Nur wenn Sie sich ein-mischen, verschlimmert es sich. Ich muss aber einiges richtigstellen, Herr Kollege Heil. - Wenn der rot-rote Dialog beendet ist, kann ich fortfahren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Heil, dass Sie vom Redner angesprochen werden sollen. Er legt Wert darauf, dass Sie ihm zuhören. Vielleicht können Sie sich nachher mit Frau Kipping verabreden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danke schön!) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Herr Kollege Heil, herzlichen Dank, für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Dies ist ja nicht selbstverständlich. Herr Kollege Heil, Sie haben gerade die legendäre Rede des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder am 14. März 2003 erwähnt. Es ist aber durchaus geboten, nicht nur zehn, sondern auch elf Jahre zurückzuschauen. Im Bundestagswahlkampf 2002 hat Ihre Partei der Bevölkerung vorgegaukelt, es ginge alles so weiter, Sie hätten alles im Griff, Sie bräuchten keine Reformen. Nach der Wahl kam dann die Wahrheit ans Licht: Wir müssen gegensteuern. - Das war richtig. Deshalb hat die Union im Bundesrat der Agenda 2010 zugestimmt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschärft! - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschlimmert haben Sie es!) - Nein, nicht verschlimmert; wir haben sie verbessert, das ist unstrittig. Lieber Kollege Heil, wenn Sie mit dem Thema "soziale Gerechtigkeit" in den Wahlkampf ziehen, dann denken Sie bitte auch an die Mittelständler und an die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, wenn wir über den Abbau der kalten Progression in Bezug auf die Steuerbelastung diskutieren. Wir haben im Bundesrat an der Agenda 2010 konstruktiv mitgewirkt. Wenn Sie sich in ähnlicher Weise in der Lage sehen würden, die Blockade im Bundesrat in Bezug auf den Abbau der steuerlichen Belastung für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu beenden, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!) Stattdessen, sehr geehrter Herr Heil, schelten Sie abermals das Betreuungsgeld. Sie haben es als "idiotisches Betreuungsgeld" bezeichnet; aber dadurch wird die Situation nicht besser. Wenn Sie die Geburtenzahl in unserem Land, die für die Entwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme elementar wichtig ist, verbessern wollen, dann sollten wir gemeinsam überlegen, welche Angebote wir den jungen Menschen machen können. Wir haben auf der einen Seite die Krippenbetreuung, sollten aber auf der anderen Seite die häusliche Betreuung nicht verteufeln. Darum geht es, um nicht mehr und nicht weniger. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, die Geburtenquote zu erhöhen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das erhöht nicht die Geburtenquote! Eine Gebärprämie bräuchten wir!) dann werden sich die Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme durch die von Ihnen angesprochene demografische Entwicklung verschärfen. Der zehnte Jahrestag der Agenda 2010 bietet nicht nur Gelegenheit, zurückzublicken, sondern auch die Möglichkeit, nach vorne zu schauen. Herr Heil, bevor man andere soziale Projekte verteufelt, sollte man sich etwas zurückhalten und erst einmal über die eigenen Fehler nachdenken. Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen, 4 Milliarden Euro in den Krippenausbau zu stecken. Im letzten Jahr haben wir entschieden, für die weißen Flecken beim Krippenausbau in den diesjährigen Haushalt noch einmal 580,5 Millionen Euro einzustellen. Wir geben zusätzlich Mittel für den Krippenausbau aus, ohne das Betreuungsgeld zu vernachlässigen. Es wird beides gemacht, Herr Heil, nicht alternativ, sondern kumulativ. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Frau Kipping, Sie haben angesprochen, dass die Renten in den letzten Jahren gesunken sind. Sie sind aber nicht wegen der Agenda 2010 gesunken, sondern aufgrund der Bevölkerungsentwicklung - das wissen Sie so gut wie ich -; denn die Anzahl der Beitragszahler bedingt ein Stück weit das Rentenniveau, und die demografischen Faktoren mussten bei der Rentenberechnung Berücksichtigung finden. Auch deswegen habe ich eben den Schwenk auf das Betreuungsgeld gemacht. Ich finde, dass wir gemeinsam daran arbeiten sollten, dass die deutsche Bevölkerung mehr Mut zu Kindern hat. Die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr - einige Vorredner haben bereits darauf hingewiesen - kann sich durchaus sehen lassen. Über 41,5 Millionen gehen einer Beschäftigung nach, so viel wie noch nie zuvor in Deutschland. Andere Regierungen würden sich die Finger danach lecken, nur halb so gute Ergebnisse zu erzielen. Die Zahl der Erwerbslosen ist mit durchschnittlich 2,89 Millionen auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Ganz ohne Regierungshandeln sind diese Ergebnisse nicht zu erreichen gewesen. Blickt man über die Grenzen hinaus, so stellt man fest, dass Deutschland im europäischen Vergleich, insbesondere was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand am besten dasteht. Herr Kollege Linnemann hat bereits auf die duale Ausbildung in Deutschland hingewiesen. Ich will nicht verhehlen, dass wir die Maßnahmen ergriffen haben, mit denen wir mit der vor vier Jahren begonnenen Weltwirtschaftskrise richtig umgehen konnten. Die richtigen Entscheidungen wurden damals auch von den Arbeitsministern der Großen Koalition getroffen: die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, die Bildung von Rücklagen in der Kasse der Bundesagentur für Arbeit, die jetzt sukzessive wieder aufgebaut werden. Neben der dualen Ausbildung verdient ein weiterer Exportschlager die Aufmerksamkeit anderer Länder: das Kurzarbeitergeld. (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn ich nicht klatsche, klatscht niemand!) - Meine Truppe darf auch klatschen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Einige Länder Südeuropas werden sich die Agenda 2010 genauer anschauen müssen; denn ohne eine Sozialreform wird es in einigen verschuldeten Ländern sicher nicht gehen. Wir können noch so viel Geld nach Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien überweisen: Wenn die notwendigen Reformen dort nicht ernsthaft angegangen werden, die vor zehn Jahren auch für Deutschland schmerzhaft waren, dann wird es in diesen Ländern kaum zu einer Lösung kommen. Die Beschäftigungsquote wird sich kaum erhöhen. Wir hatten das Glück, dass wir vor zehn Jahren - das Inkrafttreten erfolgte am 1. Januar 2005 - zu einem relativ frühen Zeitpunkt die stellenweise schmerzhafte Agenda-2010-Reform angegangen sind. Dafür gebührt den damals Beteiligten im Bundesrat, aber auch in der damaligen Bundesregierung durchaus Lob. Ich glaube, das war der richtige Weg. Wir sollten schauen, wie es weitergeht. Sie haben Missstände im Bereich der Leiharbeit - Equal Pay und Lohnuntergrenze - angesprochen. Die christlich-liberale Koalition arbeitet mit Hochdruck daran, diese noch vorhandenen geringen Fehler auszumerzen. Wir werden diese Arbeit mit Ihrer Unterstützung nach dem 22. September 2013 selbstverständlich gerne fortsetzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Johannes Vogel das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn der Kollege Kolb eben zu Recht darauf hingewiesen hat, dass Teile der Agenda 2010 nur Korrekturen Ihrer Rücknahmen von Reformen aus der Regierungszeit vor 2002 waren, ist unbestritten, dass die Agenda 2010 genauso wie die Politik der jetzigen christlich-liberalen Koalition ein Baustein dafür ist, dass es Deutschland jetzt so gut geht und die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt für die Menschen so gut aussehen. Ich glaube, niemand kann das bestreiten. Interessanter ist aber die Frage - das kam in den differenzierten Betrachtungen des Kollegen Kurth und des lieben Kollegen Hubertus Heil nicht so richtig durch -, ob sich die rot-grüne Opposition zu diesen Reformen überhaupt noch bekennt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na klar! - Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Aber doch wohl eindeutig!) Das kann ich nicht erkennen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch!) Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie auftreten und was Sie fordern. Wie stünde Deutschland da, wenn wir tun würden, was Sie fordern? "Rente auf zwei Säulen und Rente mit 67 wollen wir nicht mehr", ist die Beschlusslage der SPD. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schön wär's!) Minijobs halten Sie heute für Teufelszeug. Fördern und Fordern? Das wollen Sie nicht mehr, entnehme ich der aktuellen Positionierung der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Zeitarbeit? Da wollen Sie das deutsche Modell direkt killen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Equal Pay!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn wir tun würden, was Sie heute fordern, und all Ihre Reformen rückabwickeln würden, dann würde es auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlechter aussehen. Deshalb tun wir das nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein Zerrbild!) Behaupten Sie doch nicht, es ginge um die Korrektur kleinerer Fehlentwicklungen, um Korrekturen aufgrund kleinerer Missbrauchsfälle. Das machen wir schon sehr gut. (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist ja unglaublich!) Wenn es darum geht, die Finanzlage der Kommunen im Blick zu behalten - Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter - oder wirkliche Auswüchse bei der Zeitarbeit zu korrigieren, arbeitet diese Koalition sehr gut. Nein, das, was Sie betreiben, ist eine Generalabkehr von Ihrer eigenen Reform. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das sollte eigentlich nicht meine Sorge sein, aber ich sage es trotzdem: Sie tun Ihrem Kanzlerkandidaten, um dessen Glaubwürdigkeit es geht, keinen Gefallen, und das -wissen Sie ganz genau. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In tiefer Sorge!) Ein Zitat von Peer Steinbrück, Deutscher Bundestag, 2005: Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung verdient ... (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Bei den Jusos sagte er 2006, das sei kein Sozialabbau, sondern ein Sozialaufbau. Das sei mit Zahlen belegbar. Diese Äußerungen, die richtig sind, passen in keinster Weise zu Ihrer eigenen Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Deshalb sind Sie bei diesem Thema nicht glaubwürdig. Die glaubwürdige Fortsetzung einer vernünftigen Reformpolitik betreibt diese Koalition. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: "Spätrömische Dekadenz"! Von wem ist dieses Zitat noch einmal?) Das sollte nicht meine Sorge sein. Das Problem ist aber, dass Sie so sehr mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt sind, dass Sie so sehr damit beschäftigt sind, Ihren Frieden mit dem zu machen, was Sie für dieses Land einmal erreicht haben - andere Leute müssen ihren Frieden mit Fehlern machen; Sie müssen Ihren Frieden mit dem machen, was Sie für das Land einmal erreicht haben; das war auch in dieser Debatte wieder spürbar -, dass Sie sich leider überhaupt nicht auf die Zukunftshe-rausforderungen konzentrieren. Es geht darum, mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen, wofür wir durch den Ausbau der Qualifikationsmöglichkeiten sorgen. Es geht darum, endlich die Dekaden der Staatsverschuldung zu beenden, wie wir es tun. Das zeigt ein Blick auf den Bundeshaushalt - gestern vorgelegt -: Er ist erstmals strukturell ausgeglichen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Energiewende vergurken!) Es geht auch darum, endlich ein modernes Einwanderungssystem zu schaffen, damit Deutschland auch in zehn Jahren noch gut dasteht. Zu diesem Zweck haben wir beispielsweise die Bluecard eingeführt. Diesen Aufgaben widmet sich die Koalition. Sie leisten diesbezüglich leider keinen Beitrag. Deutschland wäre sicherlich damit geholfen, wenn Sie die Beschäftigung mit der Vergangenheit beendigen könnten. Für dieses Wahljahr soll uns das ganz recht sein. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die schlechteste Rede, die Sie je gehalten haben!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/12683 an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir so. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 7: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) - Drucksache 17/6261 - - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen - Drucksache 17/3646 - - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Strafrecht - Drucksache 17/5774 - Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) - Drucksache 17/12735 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Sonja Steffen Marco Buschmann Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor -sexueller Gewalt und Ausbeutung - Drucksache 17/7233 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung Abschlussbericht des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" - Drucksache 17/8117 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu ihrem Gesetzentwurf vor. Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marco Buschmann (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schrecklichen Verletzungen der Seele, die sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen immer hinterlässt, heilen nie. Wir waren alle erschüttert, als wir im Jahr 2010 erfahren mussten, in welchem Umfang solcher Missbrauch in unserem Land möglich war und ist. Deshalb war es richtig und gut, dass sich die Politik gemeinsam mit dem Runden Tisch der Frage angenommen hat, wie wir den Opfern helfen können. Über einen Teil der Hilfe, die wir anbieten wollen, debattieren wir heute während der zweiten und dritten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Es soll den Opfern eine Brücke bieten, um Hindernisse auf dem Weg zu ihrem Recht zu überwinden. Zwar kann niemand die erlittenen Verbrechen ungeschehen machen; aber der Zugang zum Recht soll den Opfern nicht unnötig schwerfallen. Schon der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt dazu sehr gute Beiträge. So sollen etwa durch Bild- und Tonaufzeichnungen Mehrfachvernehmungen vermieden werden. Ich denke, jeder kann nachfühlen, dass erneute Vernehmungen eine ungeheure Belastung darstellen würden, weil die Opfer gezwungen wären, die traumatisierenden Erlebnisse in ihrer Erinnerung immer und immer wieder zu durchleben. Wir wollen weiter eine Verbesserung bei der Bestellung eines Rechtsbeistandes für volljährig gewordene Opfer. Die Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche der Opfer soll auf 30 Jahre verlängert werden. Diesen Entwurf hat die Koalition im Laufe des Verfahrens im Rechtsausschuss weiter verbessert. Wir haben die Möglichkeit erleichtert, bei der Vernehmung nicht nur minderjähriger, sondern auch volljähriger -Opfer sexueller Gewalt die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung einzuschränken. Ein solcher Schritt muss sicherlich gut abgewogen sein, weil die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung für einen transparenten und demokratischen Rechtsstaat ohne Zweifel ein hohes Gut ist. Wer aber würde nicht auf Anhieb verstehen, dass wir auch gute Gründe dafür gehabt haben; denn es ist eine massive Belastung des Opfers, sich nicht nur erneut mit den schrecklichen Erlebnissen auseinanderzusetzen, sondern das auch noch vor Publikum zu tun, und damit dann gegebenenfalls auch in medial aufbereiteter Form immer wieder konfrontiert zu werden. Wir haben in der Tat am längsten über die strafrechtliche Verjährung diskutiert; das hat einen Großteil der Beratungen ausgemacht. Dabei haben wir uns in der Koalition von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend dem gleichen Ziel, nämlich dem Ziel des Opferschutzes, genähert. Die einen sagen, dass eine möglichst lange Verjährungsfrist bzw. eine möglichst lange Dauer der Hemmung im Sinne der Opfer sei. Sie hätten dann viel Zeit, um ein Strafverfahren zu initiieren. Das ist die eine Perspektive. Es gibt aber noch eine andere für den Opferschutz ebenso wichtige Position, die von vielen Justizpraktikern vertreten wird. Danach muss bedacht werden, dass man den Opfern damit möglicherweise Steine statt Brot gibt. Zwar verspricht eine lange Verjährungsdauer scheinbar späte Sühne des Täters und ein Stück weit Genugtuung des Opfers. Die gerichtliche Praxis aber zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Täters abnimmt, je länger die Tat zurückliegt; denn je mehr Zeit vergangen ist, desto größer sind die Beweisschwierigkeiten. Hier gilt dann im Strafverfahren: im Zweifel für den Angeklagten. Eine solche Situation dürfte, glaube ich, für die Opfer die schlimmste sein, nämlich sich in einem Strafverfahren wiederzufinden, an dessen Ende aus Mangel an Beweisen ein Freispruch des Täters steht, wobei sich das Opfer dann möglicherweise auch noch der öffentlichen Anfeindung, die Unwahrheit gesagt zu haben, ausgesetzt sieht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Was das seelisch bei einem Opfer auslöst, vermag ich mir nicht vorzustellen. Wir haben uns in Abwägung all dieser Aspekte für eine maßvolle Änderung des Verjährungsrechts entschieden, nämlich für eine Hemmung der Verjährung bis zum 21. Lebensjahr. Diese Altersgrenze stellt auch rechtssystematisch den richtigen Schritt dar; denn sie passt in -unser Strafrechtssystem - hier endet auch der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts -, und sie verhält sich parallel zu der Regelung in § 208 BGB, in dem es um die Hemmung der Verjährung für zivilrechtliche Ansprüche aus sexuellem Missbrauch geht. Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf ein guter Schritt ist, um den Opfern sexuellen Missbrauchs auf dem Weg zu ihrem Recht entgegenzukommen, um ihnen Steine aus dem Weg zu räumen. Dies kann aber nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt muss sein, dass wir den Hilfsfonds für die Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs möglichst schnell aktivieren und ihn ausreichend finanzieren. Der Bund ist hier mit seiner Zusage von 50 Millionen Euro quasi in Vorleistung gegangen. Wir sollten fraktionsübergreifend alle unsere Möglichkeiten nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Länder den Opfern nicht länger das schuldig bleiben, was sie ihnen versprochen und bereits zugesagt haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn die Opfer haben kein Verständnis für politische Farbenspiele oder Blockaden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Sonja Steffen das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht viele Themen sind in der Öffentlichkeit in den letzten drei Jahren so intensiv diskutiert worden wie der Umgang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Im März 2010 wurde bekannt, dass Kinder und Jugendliche in zahlreichen Einrichtungen über Jahre hinweg Opfer sexueller Gewalt geworden sind: in kirchlichen Einrichtungen, Internaten, Kinderheimen und Krankenhäusern. Es geht um Zehntausende Fälle, zum Teil aus den 60er- und 70er-Jahren. Viele Betroffene fanden jahrzehntelang nicht den Mut, über den Missbrauch zu sprechen. Das ganze -Leben über sind die Folgen für die misshandelten Menschen furchtbar. Sie entwickeln oft Selbstwertprobleme, Bindungsstörungen oder Störungen im Umgang mit dem eigenen Körper. Folgeerkrankungen sind Ängste, Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten oder Zwänge. Ganz oft stellt sich erst während einer Therapie heraus, dass Missbrauch die Ursache ist. Die Opfer verdrängen das Geschehen häufig komplett, sie spalten es regelrecht ab und erkennen auch nicht den Zusammenhang zu den späteren Symptomen. Erst ein späteres Erlebnis lässt die Erinnerungen wieder wach werden. Das kann der erste Freund oder die Geburt des ersten Kindes sein. In einem Fall, von dem ich gelesen habe, war es sogar die Geburt der Enkeltochter. Der Täter hingegen hat ein großes Interesse daran, dass der Missbrauch nicht aufgedeckt wird. Kinder werden eingeschüchtert, erpresst oder bedroht, um sie zum Schweigen zu bringen. Das Kind merkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. In ihm entsteht dann oft das Gefühl: Ich bin daran schuld. - Das führt dazu, dass es darüber nicht reden kann. Missbrauchsopfer fühlen sich oft schmutzig, und ihr Selbstwertgefühl ist schwer beeinträchtigt. Da sie sich selbst verachten, glauben sie, dass auch Außenstehende sie verachten. Nach dem ersten Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in den Heimen, die zum Teil zeitlich sehr weit zurückreichen, hat die Bundesregierung etwas sehr Kluges gemacht: Sie hat den Runden Tisch mit Vertretern von Opferverbänden, mit Psychologen, mit Experten aus der Kinder- und Jugendarbeit und mit Verantwortlichen aus der Politik einberufen. Eine Hotline wurde eingerichtet, und innerhalb kürzester Zeit meldeten sich dort mehr als 20 000 Betroffene. Das Ziel des Runden Tisches war hoch gesteckt. In der Gesellschaft sollte sich etwas ändern. Opfer sollten eine Stimme bekommen, und ihnen sollte geholfen werden. Der Abschlussbericht des Runden Tisches, 245 Seiten schwer, enthält eine lange Liste und eine sehr gute Liste von Ideen, wie Missbrauchsopfern besser geholfen werden kann. Nun haben nach der Vorlage des Berichtes die Regierung und auch die Oppositionsfraktionen an der Umsetzung und Konkretisierung einzelner Vorhaben gearbeitet. Ein wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes sollte sein: verbesserter Opferschutz und längere Verjährungsfristen für Sexualstraftaten. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, StORMG, wird heute in der zweiten und dritten Lesung beraten und steht gleich zur Abstimmung. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es sehr schade, dass wir bei einem gesellschaftlich so wichtigen Thema keinen fraktionsübergreifenden Konsens finden konnten. (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Sie können ja zustimmen!) Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auch enthalten. (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Stimmen Sie doch zu!) Wir haben uns nämlich leider nicht einigen können, wie weit die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch angehoben werden soll. (Dagmar Ziegler [SPD]: Richtig!) Wir haben uns auch nicht einigen können, wann die Verjährung von Straftaten beginnen soll. Ich will das kurz erläutern. Unser Recht unterscheidet, wie die meisten von Ihnen wissen, zwischen der strafrechtlichen Verjährungsfrist und der zivilrechtlichen Verjährungsfrist. Im Strafrecht verjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern derzeit bereits nach zehn Jahren. Der sexuelle Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen - genau das sind die bekannt gewordenen Fälle in den Einrichtungen - verjährt sogar schon nach fünf Jahren. Nach der bisherigen Rechtslage ruht im Strafrecht die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Damit sollte ursprünglich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Abhängigkeitsverhältnisse ja erst ab 18 Jahren enden. Ich habe schon darauf hingewiesen: Die vielen Missbrauchsfälle der 60er-, 70er- und 80er-Jahre in den Heimen und Einrichtungen belegen, dass in Kinderjahren missbrauchte Opfer so massiv traumatisiert sind, dass sie erst als Erwachsene und erst Jahrzehnte nach der Tat in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Hier, Herr Kollege Buschmann, hat sich die Regierungskoalition leider nur auf eine minimale Änderung verständigen können. Das Ruhen der strafrechtlichen Verjährungsfrist soll nur um drei Jahre, bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, verlängert werden. Das hilft den Opfern aus unserer Sicht nicht wirklich weiter - der Gesetzentwurf bietet aus unserer Sicht keine Brücke für die Opfer -; denn das heißt: Auch zukünftig verjähren -Sexualstraftaten an Schutzbefohlenen bereits mit Voll-endung des 26. Lebensjahres. Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion verlangt daher, dass die Verjährung erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres beginnt. Darüber hinaus fordern wir, dass die strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen auf 20 Jahre erhöht wird. Nur so können wir erreichen, dass die Opfer auch in späteren Jahren noch gegen die Täter vorgehen können. Das Strafrecht hat neben vielen anderen Funktionen auch eine Genugtuungsfunktion. Dieser werden wir gerecht, wenn wir jedem Menschen zumindest die Zeit lassen, die er braucht, bis er das Bewusstwerden und/oder den Mut findet, gegen die Täter vorzugehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, Herr Buschmann, wir müssen das den Opfern überlassen. Wir dürfen nicht vorweg entscheiden, insbesondere nicht über die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung, auch wenn Jahre dazwischenliegen. Das müssen wir den Opfern überlassen. Das ist deren Entscheidung. Es darf nicht unsere sein. Was das Zivilrecht betrifft - das will ich noch kurz erwähnen -, verhält sich der vorliegende Gesetzentwurf wesentlich großzügiger; das begrüßen wir. Hier soll im Gegensatz zur strafrechtlichen Verjährungsfrist die Frist von drei Jahren auf 30 Jahre erhöht werden. Das ist ein gewaltiger Sprung von 27 Jahren. Also hat ein Opfer zukünftig in allen Fällen die Möglichkeit, sogar noch im Alter von über 50 Jahren zivilrechtlich gegen einen Täter vorzugehen, der das Opfer im Kindesalter misshandelt hat. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen. Aber sinnvoll ist diese Lösung aus unserer Sicht nur, wenn auch die strafrechtliche Verjährungsfrist auf mindestens 20 Jahre erhöht wird; denn einem Opfer ist allein mit dem Zivilrecht in aller Regel nicht geholfen. Ein Opfer verlangt berechtigterweise nach Gerechtigkeit und auch nach Genugtuung. Die strafrechtlichen Institutionen - das wissen wir - helfen ihm hier. Die Ermittlungsbehörden gehen seinem Tatvorwurf nach. Oft ist der Beschuldigte gar nicht ausfindig zu machen. Hier helfen Polizei und Staatsanwälte. Sie führen die Vernehmungen durch; denn es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir im Rechtsausschuss besprochen haben - der Vorsitzende des Rechtsausschusses hat darauf hingewiesen -: Das sogenannte Adhäsionsverfahren ermöglicht es dem Opfer, zivilrechtliche Ansprüche, die aus einer Straftat erwachsen, statt in einem eigenen Verfahren unmittelbar im Strafprozess geltend zu machen. Das ist für die Opfer eine ganz große Hilfe. Dieses Mittel steht aber nur zur Verfügung, wenn die Verjährung im Strafrecht noch nicht erfolgt ist. Nach dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition können strafrechtlich verjährte Taten nur noch isoliert - zivilrechtlich - verfolgt werden. Das Opfer ist dann völlig auf sich gestellt; denn es gilt der Beibringungsgrundsatz, demzufolge das Opfer alle relevanten Tatsachen allein vorbringen muss. Dies ist ohne Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden fast nie zu erreichen, wenn dazwischen beispielsweise ein Zeitraum von dreißig Jahren liegt. Daher hilft eine Verlängerung der zivilrecht-lichen Verjährungsfrist allein den Opfern nicht weiter. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Kauder, hat in der letzten Sitzung des Ausschusses etwas gesagt, was mich sehr berührt hat. Er hat gesagt: Sexueller Missbrauch an Kindern ist Mord an der Seele des Kindes. - Er hat recht. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin. Sonja Steffen (SPD): Ja. - Ich kann daher nur an Sie alle hier appellieren: Folgen Sie dem Gesetzentwurf der SPD und verlängern Sie die strafrechtlichen Verjährungsfristen! Nur so helfen wir den Opfern, die Gerechtigkeit zu finden, die sie verdienen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mit dem Puzzle ... erst begonnen. Von manchen wurden bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche erkannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten oder nicht zuordnen konnten ... Einige erkannten sie und wussten auch, wohin damit. Die wurden vom Schulgelände gejagt oder in Gesprächen von den Verantwortlichen belogen, beschwichtigt und bedroht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter anzuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken der Retraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinandersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden. Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreut in den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vor sich hin und stifteten im schlimmsten Falle als eingekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bild ist klar erkennbar. Das Bild des Horrors. Diese Passage aus dem Prolog zu dem Buch Wie laut soll ich denn noch schreien? über den sexuellen Missbrauch von Schülern in der Odenwaldschule, das Andreas Huckele unter dem Pseudonym "Jürgen Dehmers" 2011 publizierte und für das er im November 2012 in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, schildert in erschreckender Eindrücklichkeit, welche Mechanismen über Jahrzehnte mit dazu beigetragen haben, dass sexuelle Gewalt in den unterschiedlichsten Institutionen und Einrichtungen ungeahndet und ungesühnt stattfinden konnte. Der zitierte Abschnitt offenbart gleichzeitig das Dilemma des Gesetzgebers: Offenbar haben die geltenden Strafvorschriften - es gibt im materiellen Strafrecht genügend Vorschriften - nicht verhindert, dass es eine so große Zahl von Opfern insbesondere in Institutionen und Einrichtungen gab. Was also kann der Gesetzgeber noch tun, was muss er noch tun? Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf einen guten ersten Schritt, konkrete Schlussfolgerungen aus den Beratungen und Beschlüssen und Berichten des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch" zu ziehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Er ist ein Anfang auf einem guten Weg, entschieden gegen sexuellen Missbrauch von Kindern vorzugehen und die Rechte von Opfern zu stärken. Zunächst - das ist besonders wichtig - sieht der Gesetzentwurf Möglichkeiten vor, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden. Gerade minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs können es als äußerst belastend und qualvoll empfinden, wenn sie eine emotional und oft auch intellektuell anstrengende Aussage in der ungewohnten Umgebung eines Strafverfahrens mehrmals machen und möglicherweise in größeren zeitlichen Abständen wiederholen müssen. Im Weiteren stärken wir die Verfahrens- und Informationsrechte von Verletzten in Strafverfahren. Dazu gehören Veränderungen bei der Gewährung eines kostenlosen anwaltlichen Beistandes für die Verletzten. Bisher besteht der Anspruch auf einen solchen Opferanwalt für Verletzte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig sind. Zukünftig soll es richtigerweise auf den Tatzeitpunkt ankommen. Daneben werden stärkere Informationsrechte für die Opfer konstituiert. Es ist vorgesehen, dass bei der Abwägung der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche damit verbunden sein können, besonders zu berücksichtigen sind. Schließlich soll im Zivilrecht die Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen, auf 30 Jahre verlängert werden. Die Regelverjährung nach drei Jahren hat sich für die wirksame Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen in vielen Fällen als zu kurz erwiesen. Alle diese Schritte sind gut und wichtig. Daher ist es richtig, dass wir heute ein Gesetz mit diesen wichtigen Regelungen beschließen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will aber auch nicht verschweigen, dass der Gesetzentwurf hinsichtlich der strafrechtlichen Verjährung auch hinter unseren Erwartungen zurückbleibt. Wir als CDU/CSU-Fraktion bedauern es durchaus, dass wir uns bei der schwierigen Abwägung, auf die Herr Kollege Buschmann aufmerksam gemacht hat - wir haben lange miteinander gerungen -, nicht darauf einigen konnten, die Verjährungsfristen zu verlängern. Immerhin ist es aber zu einer verlängerten Hemmung der Verjährung gekommen, und zwar bis zum 21. statt wie bisher bis zum 18. Lebensjahr. Das ist zumindest schon ein erster Schritt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir alles gesetzlich regeln: Das Dilemma des Gesetzgebers bleibt weiter bestehen. Strukturen des Missbrauchs kann man nicht alleine durch Strafvorschriften beseitigen. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, dass gerade der sexuelle Missbrauch von Kindern in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen besonders verachtenswert ist, gleichgültig ob er in privaten oder öffent-lichen Einrichtungen oder etwa in der Familie geschieht. Wir reden viel von der Kultur des Hinschauens. Wir müssen dann aber auch alle wissen, wo hingeschaut werden muss. Um es mit Andreas Huckele, den ich eingangs schon zitiert habe, zu sagen: Solange die Kriterien, an denen ich misshandelte Kinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind, solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, so lange ist "Hinschauen" zwar gut gemeint, aber nicht wirkungsvoll. Wir beschließen heute ein gutes Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Darüber hinaus braucht es aber mehr, um sexuellen Missbrauch von Kindern wirksam zu bekämpfen. Das aber kann der Gesetzgeber nicht alleine leisten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Sprichwort sagt: Was lange währt, wird endlich gut. Es hat zwar lange gedauert, bis es jetzt zu der Beschlussfassung zu diesem Gesetzentwurf kommt, aber damit ist noch lange nicht alles gut. Vor nunmehr drei Jahren ging ein Entsetzen durch die bundesdeutsche Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass in manch renommierter Bildungseinrichtung Kinder und Jugendliche mit sexuellen Übergriffen konfrontiert waren. Dass dies so lange unentdeckt und ungesühnt bleiben konnte, war für viele fast überhaupt nicht begreifbar. Danach kamen jede Woche neue Entdeckungen ans Licht. Das geschah auch dank einer medialen Ermutigungskampagne, über die oft Jahrzehnte zurückliegenden traumatischen Erfahrungen zu sprechen und die Verbrechen anzuzeigen. Das hat die Betroffenen auch Jahrzehnte danach noch viel Mut gekostet. Sie alle haben gehofft, dass nun ihr Leid nicht nur ins öffentliche Bewusstsein rückt, sondern dass ihnen so viele Jahre danach auch Gerechtigkeit wiederfährt, dass sie Hilfe finden, das Durchlebte zu verarbeiten, sofern das überhaupt geht, und dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Es war aber schon sehr bald klar, dass es heute - das gilt auch für die Zukunft - für die Verfolgung solcher Straftaten ebenso wie für den Versuch der Wiedergutmachung und noch mehr für die Verhinderung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eigentlich zu wenige gesellschaftlich wirksame Instrumentarien gibt. Der Runde Tisch hat seinen Abschlussbericht vor über einem Jahr vorgelegt, in dem er eine Fülle von Defiziten aufzeigt und Empfehlungen gibt, von denen bislang aber kaum etwas abgearbeitet ist. Das hat auch der Runde Tisch bei seiner Beratung am 20. Februar dieses Jahres feststellen müssen. Und es ist schon bezeichnend, dass wir erst heute über diesen Abschlussbericht im Bundestag reden, ein Jahr danach. Zwar beschließen wir heute endlich ein Gesetz über die Verlängerung der Verjährungsfristen und über die Stärkung der Opferrechte, aber viel zu lange hat der Bund mit den Ländern über die Beteiligung an dem in Aussicht gestellten Hilfsfonds für Betroffene gestritten. Dabei ist Vertrauen verloren gegangen. Nun nehmen wir zur Kenntnis, dass die Mittel des Bundes zügig eingesetzt werden sollen und mit klaren Richtlinien für eine entsprechende Antragstellung untersetzt werden. Das ist gut so. Doch noch immer gibt es außer vollmundigen Ankündigungen kein ausreichendes Netz von Beratungsstellen, die von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder aufsuchen können, die aber auch Erziehenden bei Verdachtsfällen Beratung und Hilfe geben. Noch immer gibt es keine verlässliche Finanzierung solcher Beratung, hangeln wir uns von einem Modellprojekt zum anderen, deren Fortsetzung ungewiss ist. Was mich als Bildungspolitikerin ganz besonders betroffen macht, sind die offensichtlichen Defizite in der Forschung zu diesem Thema. Wo aber nicht geforscht wird, können keine wirksamen präventiven Strategien entwickelt werden, können Lehrende und Erziehende zum Beispiel keine Hilfen erhalten, können sie nicht hinreichend sensibilisiert werden. Auch die vom Runden Tisch entwickelten Leitlinien und auch die Reaktion der Kultusministerkonferenz darauf können ja nur der Anfang sein. Hilfreich wäre es aus unserer Sicht zum Beispiel, Schulsozialarbeit an allen Schulen zu sichern. (Beifall bei der LINKEN) Es wäre hilfreich, eine gute und verlässliche, gut erreichbare schulpsychologische Beratung in den Schulen zu sichern. Das ist wichtig für Kinder, für Eltern und für Lehrende. Aber Schulsozialarbeit gibt es längst nicht an allen Schulen, und dass Schulpsychologen an allen Ecken und Enden fehlen, wissen wir seit langem. Für viele dieser möglichen Hilfen fehlt eine verlässliche und dauerhafte Finanzierung und fehlt teilweise auch eine gesetzliche Verankerung im Kinder- und Jugendhilferecht. Wenn das so weitergeht, droht der Runde Tisch zur Alibi-Veranstaltung zu werden. Wir haben die Pflicht, das zu verhindern. Die heutige Beschlussfassung darf niemandem zur Beruhigung dienen. (Beifall bei der LINKEN) Ich wünsche mir darum, dass der Runde Tisch in jedem Jahr zusammenkommt und so lange den Finger in die Wunde legt, bis die übertragenen Aufgaben abgearbeitet sind. Das sind wir den Betroffenen schuldig, und diese Schuld ist noch lange nicht abgetragen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ingrid Hönlinger hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, das eine juristische Seite hat. Es hat aber auch eine zutiefst menschliche, tragische Seite, und das Thema hat in seinen langfristigen Auswirkungen eine nicht absehbare Wirkung. Wir alle sind betroffen von dem, was Tausenden von Kindern und Jugendlichen angetan worden ist, was sie ertragen und erleiden mussten, nicht für einen Tag oder eine Woche, nein, oftmals über viele Monate und Jahre hinweg. Mein Mitgefühl gilt diesen Menschen, die für die psychische und physische Verarbeitung des erlittenen Missbrauchs oft ein Leben lang brauchen. Vor diesem Hintergrund steht meine heutige Rede. Die Grundfrage lautet: Wie können wir Recht und Gerechtigkeit möglichst nah zusammenbringen? Wir Grünen begrüßen es, dass die Bundesregierung und die Regierungskoalition nun endlich Regelungen zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs voranbringen. Fast zwei Jahre lang mussten die Opfer und auch wir darauf warten. Das ist eine zu lange Zeit, wenn man bedenkt, dass an jedem Tag bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Ansprüche der Opfer verjähren können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Immerhin haben Sie von der Koalition sich während dieser Zeit in einem Punkt zu einer wesentlichen Verbesserung durchgerungen, die auch im Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen enthalten ist. Die Verbesserung besagt, dass die Verjährung für die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer nicht schon direkt nach der Tat beginnen soll, unabhängig davon, ob das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind oder schon ein Erwachsener ist, sondern die Verjährung soll erst im Erwachsenenalter des Opfers beginnen, und auch der strafrechtliche Verjährungsbeginn soll hinausgeschoben werden. Die Frage bleibt aber: Wann soll die Verjährung tatsächlich beginnen? Wir alle wissen, dass selbst junge Erwachsene häufig emotional noch nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche wegen solcher Taten geltend zu machen. Wir Grünen schlagen deshalb in unserem Gesetzentwurf vor, dass die Verjährungsfrist im Zivil- und im Strafrecht erst mit der Vollendung des 25. Lebensjahres des Opfers beginnen soll. Zusätzlich wollen wir die zivilrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre verlängern. Das trägt den Erkenntnissen aus den Missbrauchsfällen besser Rechnung als der Verjährungsbeginn mit der Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie es im Gesetzentwurf der Regierungskoalition vorgesehen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr Gesetzentwurf enthält aber auch Vorschläge, die massiv in die Prinzipien des Rechtsstaats eingreifen, ohne die Opfer in ihren Rechten tatsächlich zu stärken. Es hilft keinem Betroffenen, wenn dem Strafverfahren gegen den Täter mit juristischen Spitzfindigkeiten der Makel des unfairen Verfahrens angehängt wird. Nennen will ich die Fälle, in denen einem mutmaßlichen Straftäter wegen der Schwere seiner Tat zwingend ein Anwalt beigeordnet werden muss. Wird eine richterliche Zeugenvernehmung durchgeführt, bei der der Beschuldigte oder sein Anwalt nicht anwesend waren, können sie sich in diese Vernehmung nicht mit Fragen einbringen. Wiederholt das Gericht die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung nicht, sondern spielt sie nur per Video vor, kann der Angeklagte seine Verteidigungsrechte nicht ausreichend wahrnehmen. Hier besteht aus unserer Sicht Nachbesserungsbedarf. Uns Grünen ist aber auch klar, dass die Menschen, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind, jetzt die rechtliche Möglichkeit brauchen, die Verjährung ihrer Ansprüche zu vermeiden und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen jetzt ein klares Signal dafür setzen, dass sexueller Missbrauch kein Kavaliersdelikt ist, sondern ein Angriff auf die Würde und persönliche Integrität der davon Betroffenen. Aus Sicht der Betroffenen ist jetzt Rechtssicherheit geboten. Der Gesetzesvorlage können wir Grünen aus rechtlichen Gründen nicht zustimmen. Wir werden uns bei der Abstimmung enthalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michaela Noll hat jetzt das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Michaela Noll (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben in relativ ruhigem Ton gesprochen. Ich hätte mir einfach ein bisschen mehr Freude gewünscht, weil wir heute ein gutes Signal für mehr Opferschutz gegeben haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ob durch den Runden Tisch oder durch das Gesetz, das wir heute hier verabschieden wollen: Es ist ein deutliches Signal an die Opfer, an die Betroffenen, dass wir verstanden haben, dass wir uns kümmern müssen. Kollege Buschmann hatte das Risiko mit den Verjährungsfristen angesprochen. Ich bin ganz ehrlich: An dieser Stelle hätte auch ich mir etwas anderes gewünscht. Ich bin Mitglied beim Weißen Ring. Wir wissen, wie schwierig es gerade im Strafrecht mit den Beweisen ist, wenn die Tat 10 oder 20 Jahre zurückliegt und vielleicht das Opfer dazu befragt wird und keine entsprechenden Auskünfte geben kann. Diese Verunsicherung sehe ich. Ich glaube zwar, dass wir die Verjährungsfristen anders hätten regeln können, aber ich beziehe mich auf die Ergebnisse vom Runden Tisch, an dem auch Betroffene teilgenommen haben. Im Ergebnis kam eindeutig zum Ausdruck, dass mehrheitlich die Ansicht vertreten wurde, an den Verjährungsvorschriften nichts zu ändern; am Tisch saßen auch Betroffene. Ich hätte mir mehr gewünscht, aber wenn die Betroffenen selber sagen, sie wollen keine Veränderung an dieser Stelle, dann müssen wir das so lassen. Kollegin Steffen, Ihnen bin ich dankbar, weil Sie selber gesagt haben: Die Einrichtung des Runden Tisches war vernünftig, wir haben den Opfern eine Stimme gegeben. - Kollegin Dr. Hein, Sie haben gesagt: Das hat zu lange gedauert. Ich gebe Ihnen recht: Auch mir wäre es lieber gewesen, es wäre schneller gegangen. Aber ich habe das Entstehen des Bundeskinderschutzgesetzes begleitet. Das hat acht Jahre gedauert. Wenn wir etwas Vernünftiges auf den Weg bringen und es dauert, dann müssen wir uns die Zeit nehmen. Kollegin Hönlinger, ich muss sagen: Im Familienausschuss - ich glaube, ich bin die einzige Familienpolitikerin, die heute zu diesem Thema spricht - ist es anders gelaufen. Ich war sehr froh: Die grünen Mitglieder haben im Familienausschuss zugestimmt. Zurück zum Thema. 2010 war es für viele von uns schockierend, von den Missbrauchsfällen zu hören. Viele von uns waren auch wütend und haben sich gefragt: Was kann ich als Erwachsener tun, wenn ich merke, dass ein Missbrauchsverdacht besteht? A und O ist für mich, das Schweigen zu brechen. Wenn aber Kinder bis zu sechs Erwachsene ansprechen müssen, um von dem zu berichten, was ihnen geschehen ist, und erst der siebte Erwachsene es ihnen glaubt, dann müssen wir uns fragen: Nehmen wir die Kinder eigentlich ernst? Gehen wir wirklich besonnen genug mit ihren Nöten um? Wir haben in den letzten Jahren die Schwachstellen beleuchtet. Diese Schwachstellen werden von dem Gesetzentwurf aufgegriffen. Ich möchte eines ansprechen, das ich im Hinblick auf die Kinder sehr wichtig finde: die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen. Ich bin seit 2002 im Deutschen Bundestag. Damals war ich noch auf der Oppositionsbank. Ich habe dafür gekämpft, dass wir endlich das Mainzer Modell bekommen. Mainzer Modell heißt: Kleine Kinder, die gegen Täter - oftmals aus dem familiären Bereich - aussagen müssen, können in einem anderen Raum vernommen werden. Sie werden nicht mit dem Täter konfrontiert. Ihre Aussage wird aufgezeichnet und in den Gerichtssaal übertragen. Das nenne ich kindeswohlorientierte Vernehmung. Das haben wir 2002 gefordert. Heute sind wir sehr viel weiter. Statt Mehrfachvernehmungen lassen wir Videoaufzeichnung zu. Ich stelle gerade fest, dass ich nur noch zwei Minuten Redezeit habe. Eigentlich wollte ich noch etwas ganz anderes sagen. Es ist zwar alles richtig, was den Entwurf des StORM-Gesetzes angeht, aber als Familienpolitikerin meine ich mit Blick auf die Zukunft, die richtige Richtung muss die Frage sein: Was können wir präventiv machen? Da heißt es für mich: Wir müssen sensibilisieren und den Kindern vermitteln, Nein zu sagen und Grenzen zu setzen. Wir müssen den Kindern auch sagen, wo ein sexueller Übergriff anfängt. Ich selber habe eine Einrichtung besucht. Wir haben von dem Berliner Jesuiten-Gymnasium gehört. Ähnliche Fälle gab es in Nordrhein-Westfalen. Ich habe an dem ersten Elternabend nach Bekanntgabe von Missbrauchsfällen in einer Schule teilgenommen, die davon betroffen war. Diesen Elternabend habe ich nicht vergessen. Die Eltern waren schockiert und verunsichert, ob sie Zeichen, die ihre Kinder ihnen gegeben haben, nicht gesehen haben. Die Eltern wollten Antworten. Es gab einen kommissarisch eingesetzten Schulleiter, weil der eigentliche Schulleiter, der seit Jahrzehnten die Schule geleitet hat, versetzt worden war. Der kommissarische Schulleiter war mit Aufklärung und Transparenz komplett überfordert und hat sich mehr Sorgen um den guten Ruf der Schule gemacht. So können wir mit der Thematik nicht umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Eltern wollten Aufklärung und Transparenz. Die Schule hat dann ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hat Leitlinien herausgebracht, sich mit den Eltern zusammengesetzt und aufgeklärt. Das ist der richtige Weg, mit solchen Fällen umzugehen. Nur so können wir wieder Vertrauen schaffen. Mir ist es wichtig: Wir müssen die Elternarbeit verstärken, das heißt, wir müssen den Eltern Möglichkeiten geben, Handlungsstrategien zu entwickeln und zu erkennen, ob das Kind Opfer einer Handlung in dieser Form war. Wir müssen den Kindern helfen, damit sie selber sagen: Dort ist die Grenze erreicht. Das ist besonders schwierig, wenn die Täter aus dem häuslichen Bereich kommen. Wir haben gerade durch den Runden Tisch sehr viele Empfehlungen bekommen. Wir haben eine neue Kampagne mit dem Theaterstück "Trau dich!" gestartet. Damit werden Kinder von acht bis zwölf Jahren für ihre Situation, ihr körperliches Empfinden und dafür sensibilisiert, wie sie selber Grenzen setzen können. Es gibt auch die Kampagne "Kein Raum für Missbrauch" des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, deren Spots fast jeden Abend um kurz nach 20 Uhr im Fernsehen laufen. Unser Appell muss sich an jeden Einzelnen in der Gesellschaft richten, den Kindern und den Eltern zu helfen sowie die Lehrer zu sensibilisieren. Denn unsere Aufgabe, Missbrauch zu verhindern, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Politik nicht alleine erfüllen kann. Ich bin der Ministerin dankbar: Ins Kinderschutzgesetz haben wir das erweiterte Führungszeugnis aufgenommen, das immer vorgelegt werden muss, wenn sich Personen in Bereichen wie Kindergärten bewerben, weil Täter meistens besonders die Orte suchen, die Nähe zu Kindern ermöglichen. Mit der Vorlage des erweiterten Führungszeugnisses können wir zumindest ausschließen, dass einschlägig Vorbestrafte in Kindergärten beschäftigt werden. Wir haben Kindern einen Anspruch auf Beratung eingeräumt. Das hat es in der Form noch nie gegeben. Es gibt das Programm "Kein Täter werden" an der Charité in Berlin, das ein sehr gutes Projekt ist. Das heißt, wenn Männer erkennen, dass sie pädophile Neigungen haben, können sie sich selbst in Therapie begeben. Das sind alles Projekte, die uns zeigen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben einen sehr guten Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden können. Ich würde mich freuen, wenn wir dafür eine Mehrheit finden. Denn bei so einem Thema dürfen wir uns nicht inhaltlich auseinanderdividieren. Ich appelliere an alle, die sich jetzt enthalten wollen: Bitte stimmen Sie zu! Es wäre ein deutliches Signal an die Betroffenen, dass wir gemeinschaftlich hinter ihnen stehen. Ich würde mich freuen. In diesem Sinne vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Es liegt eine Reihe von Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1 Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6261 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU und FDP. SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Dagegen hat niemand gestimmt. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3646 abzulehnen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12737 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Grüne. Die Linksfraktion hat sich enthalten. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt bei Zustimmung durch SPD-Fraktion und Linke. Alle anderen haben dagegen gestimmt. - Wie ich höre, gab es einzelne Enthaltungen bei der CDU/CSU-Fraktion und bei der Fraktion Die Linke. Ich komme zur Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5774 abzulehnen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und einen Großteil der Linken. Die Gegenstimmen kamen im Wesentlichen aus den Koalitionsfraktionen. Enthalten hat sich die SPD-Fraktion. Es gab aus allen Fraktionen auch Enthaltungen, bis auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Die dritte Beratung entfällt nach unserer Geschäftsordnung. Interfraktionell wird zudem die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7233 und 17/8117 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann werden wir so verfahren. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und b sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: 8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur abschließenden Beendigung der verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften - Drucksache 17/12676 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleiches Recht für Lebenspartnerschaft und Ehe beim Adoptionsrecht - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 jetzt umsetzen - Drucksache 17/12691 - ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts - Drucksachen 17/1429, 17/12731 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts - Drucksache 17/12677 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht heute um gleiche Rechte für homosexuelle Partnerschaften in dieser Gesellschaft. Die Union und die Koalition debattieren darüber heftig. So viel von Respekt, von geheucheltem Respekt wie in dieser Debatte habe ich lange nicht mehr gehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Zuruf: Da hat er recht!) Nur einige wenige schrille Töne von Herrn Dobrindt, von Herrn Geis und von Frau Steinbach-Hermann zeigen, wo sich der Widerstand in der Debatte nährt. Bei Herrn Dobrindts Wort von der schrillen Minderheit, die gegen die scheinbar schweigende Mehrheit sich durchsetzen wolle, musste ich an Franz Josef Strauß denken und an sein Wort, dass er lieber ein kalter Krieger sein wolle als ein warmer Bruder. Da kommt ans Licht, was hinter dieser Debatte steckt. Aber selbst Herr Kauder sagt uns heute: Wir haben nichts gegen Homosexuelle. Ich habe gerade in der Kulturszene viele homosexuelle Bekannte. Dieses "Respekt ja, aber" ist echt Klischee, Herr Kauder. Das sollten Sie mal lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." So heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wer Menschen gleiche Rechte abspricht, spricht ihnen damit auch ihre Würde ab. Alles andere als Gleichberechtigung ist verfassungswidrige Diskriminierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deshalb schlagen wir heute in einem Gesetzentwurf gemeinsam mit der SPD vor, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Das würde das ganze unerträgliche Gewürge um die einzelnen Rechtsfolgen der Lebenspartnerschaft mit einem Schlag beenden, und das wäre im Endeffekt auch ziemlich konservativ. Dazu will ich einen britischen Kollegen zitieren. David Cameron sagte richtig - das sollten Sie sich in Ihrer programmatischen Debatte einmal hinter die Ohren schreiben -: Ich unterstütze die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Paare, nicht obwohl ich konservativ bin; ich unterstütze sie, weil ich konservativ bin. - Ja, es geht darum, Verantwortung und das Einstehen füreinander zu stärken. Das können schwule und lesbische Paare genauso gut wie heterosexuelle Paare. Deshalb müssen sie auch die gleichen rechtlichen Möglichkeiten bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Verfassungsrechtlich, durch die Entwicklung im internationalen Recht - selbst im Heimatland des neuen Papstes ist die Ehe geöffnet -, in der Meinung der Bevölkerung ist diese Frage längst durch. Da hat ein gesellschaftlicher Wandel des Begriffs der Ehe stattgefunden. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!) Deshalb können wir verfassungsrechtlich diesen Schritt gehen. Er ist der einzig konsequente. Mit der Öffnung der Ehe schaffen wir gleiches Recht. Wer nichts gegen Homosexuelle hat, kann auch nichts gegen ihre Gleichberechtigung haben, Herr Kauder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir wissen: Die Öffnung der Ehe wird mit dieser schwarz-gelben Koalition nicht zu machen sein. Dafür braucht es eine neue Mehrheit im Deutschen Bundestag. Die wollen wir am 22. September mit der Unterstützung von vielen Schwulen, Lesben, Transgendern schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD]) Ich bin da ganz zuversichtlich. Die Ungerechtigkeit in dieser Debatte regt die Menschen auf. Auch Schwule und Lesben, auch Transgender-Personen haben Familien. Diese Familien fühlen sich herabgewürdigt, wenn Sie ihren Kindern, ihren Brüdern, ihren Schwestern, ihren Eltern die gleichen Rechte verwehren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Aber wir sind ja nicht so. Wir versuchen immer, zumindest das hinzubekommen, was gerade noch geht. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Lebenspartnerschaft in allen Punkten, beim Steuerrecht, beim Adoptionsrecht, bei den diversen Berufsrechten - das sind 27 Seiten - endlich mit der Ehe gleichstellt. Das haben Sie den Wählerinnen und Wählern in Ihrem Koalitionsvertrag bereits versprochen. Nun geht es an die Umsetzung. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, beim Adoptionsrecht gibt es keine Diskussion mehr. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Sukzessivadoption gilt seit dem 19. Februar, und Sie müssen Ehe und Lebenspartnerschaft bei der Adoption in allen Punkten gleichstellen, weil es für eine Differenzierung nach der Ansicht des Gerichts keine Rechtfertigung gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das Gleiche wird Ihnen das Gericht auch beim Steuerrecht sagen. Herr Papier, der eigentlich Ihrem Lager angehört, hat gegenüber der Bild-Zeitung, die nicht gerade unsere Hauspostille ist, ganz klar gesagt: Die Privilegierung der Ehe im Verhältnis zur eingetragenen Lebenspartnerschaft ist rechtlich nicht mehr zu halten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie das in der Koalition nicht hinbekommen, helfen wir Ihnen gern durch einen Gruppenantrag oder durch die Freigabe der Abstimmung. Jetzt sind Handlungen gefragt. Herr Kauder hat gesagt, die Koalition werde es nicht machen. Wir machen es gerne mit den Gutwilligen in Ihrer Koalition zusammen, aber: hic Rhodus, hic salta. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Ute Granold. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ute Granold (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Beck, wir haben an dieser Stelle schon unzählige Male über das Thema der Lebenspartnerschaften debattiert. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir geht es auch auf die Nerven!) Zu Beginn bitte ich darum, dass wir ganz sachlich miteinander debattieren und die schrillen Töne, die Sie vorhin vorgebracht haben, einfach lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schrille Minderheiten!) Das ist zwar ein emotionales Thema, dennoch bitte ich um Sachlichkeit. Wir debattieren heute über verschiedene Anträge, die teilweise widersprüchlich sind. Das betrifft die Gleichstellung der Ehe mit der Lebenspartnerschaft, die Öffnung der Ehe und auch die Volladoption. Wir wollen das alles in Ruhe prüfen. (Christine Lambrecht [SPD]: Wie lange denn noch?) Über die Sukzessivadoption, die Sie gerade angesprochen haben, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Das wird auch umgesetzt. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das brauchen Sie gar nicht umzusetzen! Das gilt!) Dazu bedarf es aber keiner Eile, weil die Sukzessivadoption schon heute möglich und der Gesetzgeber aufgerufen ist, bis zum nächsten Sommer eine gesetzliche Regelung herbeizuführen. Es gibt das eine oder andere, was wir noch einmal diskutieren müssen. Was ist denn zum Beispiel, wenn Eltern ihr Kind zur Adoption freigeben, aber nicht wollen, dass ihr Kind in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung aufwächst? Was ist damit? Wie soll das umgesetzt werden? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist, wenn Eltern sagen, sie wollen es nicht bei Juden oder Ausländern haben? Sind Sie noch bei Trost?) An dieser Stelle möchte ich namens der Union sagen, dass für uns Ehe und Familie die Keimzelle der Gesellschaft, das Fundament der Gesellschaft sind. Wir legen Wert darauf, dass wir jede andere Beziehung, die Menschen in unserer Gesellschaft leben, respektieren und achten. Wir werben für Toleranz, und wir sind gegen jede Form von Diskriminierung. Das gilt aber auch für Sie, Herr Beck. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Bis auf die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft! - Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Lassen Sie mich bitte etwas sagen, weil Sie in Ihrem Übereifer leider Gottes etwas durcheinander gebracht haben. Wir sollten schon bei der Sache bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sukzessiv-adoption zugelassen. Das heißt, wenn ein Mann oder eine Frau ein Kind adoptiert hat, kann der andere Partner der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft dieses Kind auch adoptieren. Das ist insofern konsequent, als das Bundesverfassungsgericht auch die Stiefkindadoption zugelassen hat, sodass das leibliche Kind des Partners vom anderen Partner adoptiert werden kann. Nicht mehr und nicht weniger hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, und das wird umgesetzt. (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Ich möchte an dieser Stelle etwas zur Volladoption sagen - mein Kollege Geis wird zu anderen Punkten Stellung nehmen -, weil das ein ganz anderes Thema ist. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und was sagt die Bundesjustizministerin dazu?) Hierbei geht es darum, dass ein fremdes Kind von zwei gleichgeschlechtlichen Partnern, also von zwei Frauen oder zwei Männern, adoptiert wird. (Christine Lambrecht [SPD]: Wo ist da der Unterschied?) Ich bin sehr davon überzeugt, dass Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gut aufgehoben sind, versorgt werden und auch von ihren Eltern geliebt werden. Wir wollen das aber aus der Perspektive des Kindes betrachten, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, eben!) nicht aus der Sicht der Lebenspartner. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD) Ich möchte gerne begründen, warum wir das genau so meinen und warum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deshalb nicht auf die Volladoption angewandt und entsprechend umgesetzt werden kann. Kinder brauchen für eine gedeihliche Entwicklung Mutter und Vater. Beide Rollenbilder sind für die Entwicklung des Kindes wichtig. (Zuruf von der SPD: Und was machen Sie mit den Alleinerziehenden?) Ich nenne eine Reihe von Beispielen. Bei Scheidungsverfahren ist es so, dass wir hinsichtlich des Sorgerechts, hinsichtlich des Umgangsrechts und bei allen anderen Aspekten zusehen, dass Väter und Mütter Umgang mit bzw. Kontakt zu den Kindern haben, weil es für die Entwicklung von Kindern wichtig ist, dass sie es mit beiden Geschlechtern zu tun haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Auch im Bereich der frühkindlichen Erziehung ist das so. Wir bemühen uns immer darum, dass es in den Kitas auch Erzieher gibt und dass es in den Grundschulen auch Lehrer gibt, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dann bezahlen Sie die endlich besser!) damit das andere Geschlecht die Kinder in der frühkindlichen Entwicklung auch begleitet. Das ist für uns ganz wichtig. Dazu muss ich sicherlich nicht mehr erzählen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin? Ute Granold (CDU/CSU): Ich lasse keine Zwischenfrage zu. - Beide Perspektiven sollen hier eine Rolle spielen. Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen. Das BMJ hat 2009 eine Studie in Auftrag gegeben. Es wurde die Situation von 693 Kindern evaluiert. Davon waren drei Kinder aus einer Fremdadoption. Die Studie zu den Kindern wie auch die Elternbefragung haben ergeben, dass es keine verwertbaren, fundierten Aussagen zur Situation der Kinder in diesen Partnerschaften gibt. Die Autorinnen haben gesagt, dass die Datenlage nicht ausreicht, um eine gesicherte Empfehlung abzugeben. Es empfehle, Seite 99 des Gutachtens zu lesen. Auch die Anhörung im Rechtsausschuss im Jahr 2011 hat ergeben, dass die Datenlage noch nicht ausreichend ist. Die Sachverständigen haben gesagt - das ist im Protokoll der Anhörung nachzulesen -, dass weitere Studien erforderlich sind und eine bessere Datenlage vorhanden sein muss, um eine verbindliche Entscheidung treffen zu können. (Christine Lambrecht [SPD]: Das sieht das Verfassungsgericht aber anders! - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben das alles in Karlsruhe diskutiert, aber Sie waren ja nicht da!) Wenn wir das Adoptionsrecht betrachten, erkennen wir, dass es eine Fürsorgepflicht des Staates gibt. Es ist nicht erwiesen, dass es für Kinder gleich gut ist, wenn sie in einer anderen Partnerschaft aufwachsen und nicht in einer Partnerschaft, in der Mutter und Vater da sind und eine gedeihliche Entwicklung der Kinder sicherstellen. Wenn es keine gesicherten Daten gibt, hat der Staat im Bereich der Fremdadoption und der Volladoption im Zweifel seiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Der Maßstab ist auch in diesem Bereich allein das Kindeswohl. Wenn wir sehen, dass in Deutschland derzeit 859 Kinder zur Adoption freigegeben sind und es über 5 900 Eltern gibt, die gerne ein Kind adoptieren würden, aber es nicht können - das ist ein Verhältnis von 1:7 -, dann müssen wir schauen, dass wir zunächst einmal die Kinder in einer Beziehung unterbringen, in der Mutter und Vater zugegen sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In einer nicht unanständigen Familie, oder was? - Johannes Kahrs [SPD]: Das ist ja zum Fremdschämen!) Ich empfehle, die Situation in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen: Wir haben über 8 Millionen Familien, und weit über 90 Prozent der Kinder leben in einer Familie, in der Mutter und Vater vorhanden sind, oder aber in einer Beziehung, in der nur die Mutter oder der Vater mit den Kindern vorhanden ist. (Zurufe von der SPD) Wir respektieren jede andere Lebensform; aber wir haben eine besondere Schutzpflicht gegenüber unseren Kindern. Demzufolge werden wir dann über das Thema diskutieren, wenn eine gesicherte Datenlage, wenn Studien vorhanden sind. Solange das nicht der Fall ist, wird es mit uns keine Änderung geben. Ich muss auch sagen, dass Ehe und Familie nach Art. 6 des Grundgesetzes privilegiert sind. Man kann dieses Grundrecht nicht schleichend außer Kraft setzen. Dann müssten wir über eine Verfassungsänderung nachdenken, und dazu bedarf es bekanntlich einer Zweidrittelmehrheit. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] - Johannes Kahrs [SPD]: Das war aber peinlich! - Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und ihr behauptet, ihr diskriminiert nicht! - Weitere Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Biggi Bender das Wort. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin, ich fühle mich von Ihnen persönlich angesprochen, weil Sie gesagt haben, ein Kind brauche für ein gedeihliches Aufwachsen das Zusammenleben von Mutter und Vater. (Norbert Geis [CDU/CSU]: In der Regel! So steht's im Text!) Ich habe als Kleinkind meinen Vater verloren, weil er gestorben ist. Ich bin deswegen mit einer alleinerziehenden Mutter und meiner Schwester aufgewachsen. In den 60er-Jahren wurde mir in meiner Kindheit deswegen -oftmals entgegengehalten, dass das doch eigentlich ein defizitäres Lebensmodell sei, wenn kein Vater im Haus sei; da könne doch nichts Gescheites dabei herauskommen. - Wollen Sie im Jahre 2013 allen Ernstes dieses blöde, diskriminierende Geschwätz, das mich in meiner Kindheit schon genervt hat, weiter aufrechterhalten? (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Beifall bei Abgeordneten der FDP - Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau das wollen die!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin Granold, bitte, zur Antwort. Ute Granold (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich habe weder Sie noch jemand anderen diskriminiert. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Ich bin seit 30 Jahren als Familienanwältin tätig. Ich kenne die Situation in Familien und habe unzählige kinderpsychologische Gutachten gelesen, gerade in Bezug auf das Sorgerecht und das Umgangsrecht. Es heißt immer: Die Kinder brauchen eine Mutter, einen Vater, also auch eine Bezugsperson, die dem jeweils anderen Geschlecht angehört. (Iris Gleicke [SPD]: Sie verschlimmern es gerade! Schämen Sie sich! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als Beispiele habe ich die Erzieher bzw. Lehrer in der Kita und der Grundschule aufgezählt. Ich habe auf die Volladoption Bezug genommen. Es geht um die Kinder, die keinen leiblichen Vater und keine leibliche Mutter mehr haben und zur Adoption freigegeben sind, also keinen Bezug mehr haben. Diese Kinder sind in einer besonderen Situation, weil sie keine leiblichen Eltern mehr haben. Ich erwähne hier noch einmal die Fürsorgepflicht und die Schutzfunktion des Staates. Ich habe die Zahl von 860 Kindern genannt, die 2011 zur Adoption vorgemerkt waren. Angesichts der Zahl von knapp 6 000 Eltern, die diesen Kindern gegenüberstehen, sollte man versuchen, die Kinder an diese zu vermitteln. Das habe ich vorgeschlagen. Ich habe niemanden diskriminiert. Ich bitte darum, sachlich zu sein und mittel- und langfristige Studien abzuwarten, um zu sehen, wie sich die Situation der -Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, darstellt. Diese Studien gibt es bislang nicht. Vom Bundesministerium der Justiz wurde eine Studie in Auftrag gegeben, um uns gesicherte Daten zu geben. (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Lesen Sie es doch einfach nach. (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Da steht geschrieben: Es gibt noch keine gesicherte -Datengrundlage. Man möge weitere Gutachten einho-len. - Das ist bis zur Stunde nicht geschehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP] - Johannes Kahrs [SPD]: Unglaublich! Das ist alles peinlich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Granold, ehrlich gesagt, ich bin erschüttert - nicht nur ich, sondern, ich glaube, ganz viele Menschen hier in diesem Parlament - über das, was wir gerade hier gehört haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich selbst habe drei Töchter und lebe mit meinen Töchtern allein. Die Konsequenz aus der Situation, die Sie jetzt gerade geschildert haben, wäre die, dass ich mir Sorgen machen müsste, dass mir irgendwann jemand meine Kinder wegnimmt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich rede hier nicht für mich allein, sondern ich rede für einen Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft, die mit ihren Kindern allein leben oder mit gleichgeschlechtlichen Partnern zusammenleben. Das, was wir uns gerade hier von Ihnen anhören mussten, war wirklich das Letzte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Burkhard Lischka [SPD]: So weit ist es gekommen!) Ich will jetzt einmal versuchen, das Ganze wieder auf ein auch für mich vernünftiges Level zurückzubringen. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Ein bisschen -Toleranz wäre auch nicht verkehrt!) Lassen Sie mich kurz auf das eingehen, was uns im Augenblick in der Rechtsprechung beschäftigt. Ich denke, wenn wir ehrlich sind - vielleicht bis auf ein paar Ausnahmen; herzlich willkommen, Herr Geis -, dann gehen wir doch alle hier im Parlament davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht noch vor der Sommerpause zum sechsten Mal feststellen wird, dass Lebenspartnerschaften im Vergleich mit Ehen ungleich behandelt werden und dass dies verfassungswidrig ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seien wir ehrlich: Wie kann es sein, dass Lebenspartnerschaften nicht vom Ehegattensplitting profitieren dürfen, obwohl die gleichen gegenseitigen Pflichten wie zwischen Ehepartnern bestehen? Das versteht kein Mensch. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren Schritt für Schritt die Lücken in den Rechtsbereichen geschlossen, in denen Lebenspartner gegenüber Ehepartnern benachteiligt wurden. Die Ungleichbehandlung wird also über kurz oder lang Geschichte sein. Die Diskriminierung von Homosexuellen ist damit aber noch nicht beendet. Der Kollege Beck hat es vorhin schon geschildert. Es ist zwar erfreulich, dass die Menschen bei uns heute frei darüber entscheiden können, ob sie einen Mann oder eine Frau heiraten wollen. Jedoch kann aus dieser Entscheidung bereits eine Ungleichbehandlung resultieren. Die Zuweisung in Ehe und Lebenspartnerschaft, die der Staat an dieser Stelle vorgibt, kann negative Folgen im Leben der Menschen haben. Denn leider sind Lesben und Schwule auch heute noch Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Wir haben vorhin ein schönes Beispiel dafür gehabt - hier im Parlament. Das kann schon in dem Moment anfangen, in dem man Formulare und Anträge ausfüllen muss. Stellen Sie sich einmal vor: Den Status "verheiratet" dürfen Lebenspartner nicht angeben. "Ledig" wäre in einer Bewerbung des Lebenspartners zum Beispiel falsch. Somit bleibt nur die Formulierung "nicht verheiratet", die man bei einer Bewerbung verwenden darf, auch wenn man verpartnert ist. "Verpartnert" wäre wahrscheinlich juristisch korrekt. Wie auch immer man es dreht und wendet: Zumutbar ist das alles doch nicht mehr. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP]) Im schlimmsten Fall hat die Angabe, Lebenspartner zu sein, leider immer noch sehr unangenehme Folgen, zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder im Arbeitsleben. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung hat ergeben, dass die Hälfte aller Schwulen und Lesben ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz für sich behält. Insgesamt haben sogar drei Viertel der Befragten dieser Studie von Schwierigkeiten im Berufsalltag berichtet, die auf ihre Homosexualität zurückzuführen sind. Vor kurzem hat die Zeit dazu getitelt: "Homosexualität gilt noch immer als Karrierekiller." Dagegen können wir etwas tun. Die rechtliche Debatte, die wir hier führen, kann Toleranz in unserem Land nur fördern, und wir können jetzt dafür sorgen, dass Paare wegen ihrer -sexuellen Orientierung wenigstens vom Staat nicht mehr unterschiedlich behandelt werden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt keine Argumente mehr. Das war auch schon in der letzten Sitzung des Rechtsausschusses zu beobachten. Da haben wir diese Debatte schon einmal geführt, wenn man sie überhaupt so nennen kann; denn die -Unionsparteien hatten keine Argumente mehr. Also: Wie viel Weile brauchen Sie, Frau Granold, und Sie, sehr geehrte Kollegen von der Unionsfraktion, eigentlich noch, um diesen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen? Eigentlich wollten wir heute über die Änderung des Lebenspartnerschaftsgesetzes abstimmen. Den entsprechenden Gesetzentwurf haben Sie einfach von der Tagesordnung genommen. Es ist lächerlich, immer noch dagegenzustimmen, nach dem, was das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, nach dem, was die Mehrheit unserer Bevölkerung sagt, und nachdem aktuelle Umfragen zeigen, dass selbst die Mehrheit der CDU--Anhänger - man höre und staune - die Homo-Ehe befürwortet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Sonja Steffen (SPD): Lassen Sie sich also nicht noch einmal vom Bundesverfassungsgericht auf den Hinterkopf schlagen, wie es der Kollege Beck in der letzten Debatte so schön formuliert hat. Lassen Sie uns ein Gesetz beschließen, das auch gleichgeschlechtlichen Paaren Eheschließungen ermöglicht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gleiche Pflichten, gleiche Rechte - das ist der Grundsatz unserer Verfassung, und es ist nicht verständlich, warum dieser Grundsatz nicht auch für gleichgeschlechtliche Lebenspartner gelten soll. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb, meine Damen und Herren, spricht sich meine Fraktion für die volle Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe aus. Und: Ich unterstütze nachdrücklich auch im Namen meiner Fraktion die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Denn es macht eben einen Unterschied - das hat die Vorrednerin gerade sehr klar an einigen Beispielen dargestellt -, ob man seine sexuelle Orientierung aufgrund der Angabe seines Familienstandes in jeder Situation offenbaren muss, etwa bei Bewerbungen. Da muss ich sagen: Das wäre ein Schritt zur Entdiskriminierung von Lebenspartnern; denn es gibt eben immer noch Diskriminierung in dieser Gesellschaft. Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als gäbe es keine gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich eine Bestimmung des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt. Es enthielt eine gesetzliche Regelung mit der Forderung, sich vor einer Geschlechtsumwandlung scheiden zu lassen. Dazu hat das Verfassungsgericht mittlerweile gesagt: Das verstößt gegen Art. 6 des Grundgesetzes; deshalb ist diese Regelung nichtig. Daher gibt es heute in Deutschland gleichgeschlechtliche Ehen, und dieses Land existiert immer noch. Wir haben kein Problem durch diese gleichgeschlechtlichen Ehen bekommen. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man Schwarz-Gelb überlebt, überlebt man das auch!) Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Sukzessivadoption klar entschieden. Es ist erkennbar, wohin die Reise geht. Das gilt auch für andere Entscheidungen, die anstehen. Wenn das Verfassungsgericht schon bei einer Entscheidung, in der es nicht nur um die Lebenspartner, sondern auch um ein Kind geht, den Gleichheitsgrundsatz nach vorne stellt und sagt: "Der bloße Verweis auf Art. 6 rechtfertigt keine Ungleichbehandlung", welches Argument gibt es denn dann noch, dass das Verfassungsgericht anders entscheiden sollte, wenn es nur um die Lebenspartner und deren gleiche Unterhaltspflichten geht? Kein Mensch hier in diesem Saal glaubt doch, dass hier eine andere Entscheidung zu erwarten ist. Dieses Parlament ist nicht gewählt, um der Notar des Bundesverfassungsgerichts zu sein. Dieses Parlament ist gewählt, um verfassungswidrige Zustände selbst zu beseitigen. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christine Lambrecht [SPD]: Dann macht doch!) Deshalb ist diese Debatte für die FDP nicht beendet. Debatten in der Koalition werden gemeinsam beendet, oder sie werden geführt. Diese Koalition sollte in dieser und in anderen strittigen Fragen handeln; denn wir werden dann als Koalition erfolgreich sein, wenn wir die Projekte, die einer der Koalitionspartner wichtig findet, während der andere Koalitionspartner sie vielleicht nicht will, zu einer Lösung führen, statt uns gegenseitig zu blockieren. (Beifall bei der FDP) Frau Granold hat gerade angeführt, dass das Schutzrecht nach Art. 6 Grundgesetz immer weiter ausgehöhlt wird. Liebe Frau Granold, der Ehe wird nichts weggenommen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Ute Granold [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!) Alle Schutzrechte, die die Ehe nach unserer Verfassung hat, bleiben bestehen. Es ist auch nicht so, dass ein Paar mehr eine heterosexuelle Ehe eingeht, weil es dafür Steuervorteile gibt. Ein schwuler Mann wird keine Frau heiraten, weil ihm bei einer Lebenspartnerschaft die Steuerprivilegien verwehrt werden und bei der Ehe gewährt werden. Das ist doch lebensfremd. Deshalb ist die Ehe in keiner Weise betroffen. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Granold zulassen? Michael Kauch (FDP): Gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Ute Granold (CDU/CSU): Herr Kollege Kauch, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich mich zum Thema Splitting überhaupt nicht geäußert habe, sondern nur zum Thema Volladoption. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass in Art. 6 Grundgesetz Ehe und Familie privilegiert werden. Das haben die Väter unseres Grundgesetzes so gesagt. (Zurufe von der SPD) Das bedeutet, dass wir dies jetzt nicht nivellieren können. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass Ihr Vorhaben eine Widerlegung dessen ist, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes uns damals ins Buch geschrieben haben? Art. 6 Grundgesetz sagt: Ehe und Familie sind privilegiert. Würden Sie mir zustimmen, dass es, wenn man will, dass sie nicht mehr privilegiert sind, sondern nivelliert werden sollen, einer Verfassungsänderung bedarf? (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was heißt denn "nivelliert"?) Michael Kauch (FDP): Ich stimme Ihnen hier nicht zu; denn das Bundesverfassungsgericht hat bisher in all seinen Entscheidungen anders geurteilt. Man überlege sich einmal, in welcher historischen Situation dieser Artikel zustande gekommen ist: Es handelt sich hier um ein Grundrecht der Familie gegen den Staat. (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vor dem, was während des Nationalsozialismus geschehen ist, als der Staat in die Familien eingegriffen und die Erziehung verstaatlicht hat, wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Menschen in Deutschland schützen. Das geschieht durch Art. 6. Das ist kein Grund, andere Lebensgemeinschaften zu diskriminieren. Das sagt das Verfassungsgericht ganz klar. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie jetzt auch noch die Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen? Michael Kauch (FDP): Bitte sehr. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Kollegin Granold hat gerade angesprochen, dass die Frage der Volladoption - das heißt eigentlich nur, dass es um gleiche Rechte bei der Adoption geht - noch strittig ist. Würden Sie als FDP-Fraktion mit mir die Rechtsauffassung teilen, dass das Bundesverfassungs-gericht in seiner Entscheidung vom 19. Februar 2013 relativ eindeutig war? Dort heißt es: Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener -Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, bestehen nicht .... Daraus ergibt sich ja ziemlich klar, dass das Bundesverfassungsgericht von diesem Hohen Haus erwartet, spätestens bis zum Sommer nächsten Jahres gleiche Rechte bei der Adoption für Lebenspartnerschaft und Ehe zu schaffen. Michael Kauch (FDP): Lieber Kollege Beck, ich denke, dieses Zitat des Bundesverfassungsgerichts spricht für sich. Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, die Frage zu stellen, welche politische Wirkung es hat, dass die Sukzessivadoption vom Bundesverfassungsgericht entsprechend ausgeurteilt ist. Das heißt konkret, dass es möglich ist, dass ich erst alleine adoptiere und zwei Jahre später mein Lebenspartner adoptiert. Ist das im Interesse des Kindeswohles? Ich glaube nicht. Aus meiner Sicht gibt es noch ein weiteres Argument. Wir haben in Berlin seit Ende der 90er-Jahre Pflegefamilien, in denen gleichgeschlechtliche Paare Kinder aufziehen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Auch in Sachsen! Auch in Mecklenburg-Vorpommern!) Es ist im Kindeswohlinteresse, und zwar jeweils im Einzelfall, dass auch hier eine gemeinschaftliche Adoption möglich ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Frau Granold, ich war über Ihre Einlassung etwas schockiert. (Johannes Kahrs [SPD]: Etwas?) Sie haben gesagt: Die abgebende Mutter beispielsweise möchte vielleicht nicht, dass ihr Kind von einem gleichgeschlechtlichen Paar adoptiert wird. Wenn wir die Argumentation zulassen, dann stellt sich die Frage: Wo -enden wir? Heißt das dann, ich kann ankreuzen: keine Schwarzen, keine Migranten? Ich glaube, das führt zu nichts; das führt auf eine schiefe Bahn. (Christine Lambrecht [SPD]: Das diskriminiert!) Es muss um das Kindeswohl gehen und nicht um die Vorurteile, die bestimmte Personen hier haben. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es wird viel mit Rollenbildern argumentiert. Meine Damen und Herren, glauben Sie denn, Rollenbilder werden nur von Vater und Mutter gelernt? Haben die Kinder kein soziales Umfeld, keine Tanten, keine Onkel, keine Freunde? Nein, es gibt im sozialen Umfeld natürlich überall Frauen und Männer. Auch da frage ich mich, was diese Argumentation soll. Aus der heutigen Aktuellen Stunde des Sächsischen Landtages gibt es ein sehr schönes Zitat eines CDU--Abgeordneten. Nach Medienberichten hat Alexander Krauß gesagt, man müsse ungleich behandeln; denn man brauche - so haben ja auch Sie argumentiert - die Rollenbilder. Weiter heißt es: Wenn ich meinen Sohn angucke, dann kann ich mit ihm Skifahren. Meine Frau kann das nicht. Meine Damen und Herren, Frauen können auch Skifahren. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tausende von Kindern leben in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die wenigsten davon sind adoptiert. Schwule und Lesben können Kinder kriegen - das tun sie auch -, und die Kinder wachsen gut auf, weil sie von ihren Eltern geliebt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Entscheidende ist doch, dass sie in ihrem Leben Liebe erfahren. Wichtig ist, dass wir erkennen, dass die Gesellschaft das mehrheitlich anders sieht, als wir das hier teilweise dargestellt bekommen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Das glaube ich nicht!) Die Debatte um die schrille Minderheit möchte ich hier nicht führen. Der Bundesaußenminister hat sehr klug gesagt: Wenn die Gesellschaft weiter ist als eine Partei, dann ist das nicht das Problem der Gesellschaft. (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber nicht der Fall!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Steffen, ich muss Ihnen leider widersprechen: Was die CDU/CSU hier abliefert, ist nicht lächerlich, das ist einfach bösartig. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde es skandalös, dass Sie alle, wie Sie hier sitzen, beschlossen haben, dass Herr Geis, nach dem, was er in der letzten Sitzungswoche abgeliefert hat, wieder sprechen darf, und dass Frau Granold hier solche Thesen aufstellen darf. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie dürfen auch! Was haben Sie denn abgeliefert? - Johannes Kahrs [SPD]: Herr Geis, Sie sollten einfach schweigen! Sie sind nur noch peinlich! - Weiterer Zuruf von der SPD: Wer lässt den Geis hier eigentlich noch rein? - Gegenrufe von der CDU/CSU: Unerhört!) Ich bin ebenfalls alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Wollen Sie mir demnächst amtlich jemanden zur Seite stellen, möglichst einen Mann, damit ich meine Aufgaben richtig mache? Oder wollen Sie Zwangsheirat? Oder wollen Sie Scheidung verbieten? Wie hätten Sie es denn gerne? Was hier geboten wird, ist eine Beleidigung, nicht nur für Schwule und Lesben, sondern für alle alleinerziehenden Männer und Frauen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Höll, Frau Steinbach würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Erika Steinbach (CDU/CSU): Frau Kollegin, haben Sie wahrgenommen, dass Sie nicht mehr in der DDR leben, sondern in einem freien Land, in dem jeder Abgeordnete reden kann, was er möchte, (Lachen und Widerspruch bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und in dem jeder Abgeordnete das Recht hat, in Reden seine Auffassung zu vertreten? Wir müssen Sie ertragen, (Christine Lambrecht [SPD]: Unterirdisch!) und das ist schlimmer als alles, was Sie in einer Demokratie ertragen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Christine Lambrecht [SPD]: Wir müssen Sie auch ertragen! - Zurufe von der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Steinbach, zum Ersten: Es gibt in den alten und in den neuen Bundesländern viele Bürgerinnen und Bürger, die sehr wohl bedacht haben, warum sie die Linke in den Bundestag wählen. Mit dieser Äußerung beleidigen Sie Wählerinnen und Wähler, nicht uns Abgeordnete hier im Parlament. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens möchte ich fragen: Wenn es so ist, dass jeder und jede seine Meinung äußern kann, warum haben Sie den Fraktionszwang dann nicht aufgehoben? Warum haben Sie die Abstimmung heute hier verhindert? (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum gestatten Sie der FDP nicht, aus der Zwangsumklammerung Ihrer Fraktion herauszukommen? So viel zu Ihrem Freiheitsbegriff. Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Normalerweise ist es so, dass Rednerinnen und Redner hier im Namen ihrer Fraktion sprechen oder ausdrücklich betonen, dass es sich um ihre Einzelmeinung handelt. Also hat Frau Granold im Namen ihrer Fraktion gesprochen, und auch Herr Geis, der gleich wieder so argumentieren wird wie vor 14 Tagen, spricht für seine Fraktion. Er vertritt eine Auffassung, die zeigt, dass Sie zutiefst homophob sind. - Danke. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Geis, da Sie sich vor 14 Tagen zum Verteidiger, zum Retter der Ehe aufgeschwungen haben, sage ich Ihnen Folgendes: Im Schnitt zerbricht mehr als die Hälfte der bürgerlichen Ehen und Familien, und die Geburtenraten sind niedrig. Aber nach wie vor soll die Ehe gesetzlich vor ihrem angeblichen Verfall geschützt werden? Und der Verfall soll ihr insbesondere durch schwule und lesbische Paare drohen? Merken Sie nicht, wie dumm diese Argumentation ist? Da bleibt einem fast nichts mehr zu sagen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann sagen Sie halt nichts mehr!) Heute diskutieren wir über zwei Gesetzentwürfe und einen Antrag. Wir als Linke haben im Juni 2010 einen Antrag zur Öffnung der Ehe eingebracht. 2011 hat die SPD noch dagegen gestimmt. Ich freue mich, dass Sie jetzt diesen Schritt gegangen sind und ebenfalls sagen: Das einzig Konsequente ist die Öffnung der Ehe. (Beifall bei der LINKEN) Schauen wir uns einmal an, was ein Kompromiss, wenn er überhaupt zustande käme, bedeutete: Demzufolge würden wir die Lebenspartnerschaften, die heute schon die gleichen Pflichten wie die Ehe beinhalten, und die Ehe rechtlich völlig gleichstellen, aber die verschiedenen Namen beibehalten. Dann hätten wir zwei -deckungsgleiche Rechtsinstitute; sie hätten nur zwei verschiedene Namen. Daraus spricht doch der Versuch, mit der Macht der Worte krampfhaft Ungleiches, Anders-artigkeit zu definieren. Welches Denken steckt dahinter? Es geht dabei darum, eine heterosexuelle Normalität im Konstrukt "Vater, Mutter, Kind" hochzuhalten, etwas, was der gesellschaftlichen Realität nicht mehr entspricht. Genau deshalb hat das Bundesverfassungsgericht über die Jahre hinweg seine Meinung geändert, korrigiert - immer im Rahmen des Grundgesetzes. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Wir müssen hier endlich einmal darüber diskutieren, was es heißt, dass im Grundgesetz vom Schutz der Ehe die Rede ist. Das heißt nicht automatisch finanzielle Privilegierung. Nein, auch das Ehegattensplitting ist 1953 unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen gekommen. Es ist wichtig und richtig, heute die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Das kostet pro Jahr nur etwa 20 Millionen Euro im Gegensatz zu den 20 Milliarden Euro, die das Ehegattensplitting kostet. Das sind in etwa die Zahlen, über die wir hier sprechen. Es geht also darum, genau zu schauen: Fördern wir tatsächlich das, was uns förderungswürdig ist, ausreichend und zielgerichtet, zum Beispiel das Leben mit Kindern und die geleistete Pflegearbeit? Abschließen möchte ich mit einem Hinweis. Ich habe gestern in Leipzig an der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung teilgenommen. Den Preis bekam Professor Klaus-Michael Bogdal für sein Buch Europa erfindet die Zigeuner - Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Er zieht ein alarmierendes Fazit: Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäischen Gesellschaften nicht abhandengekommen. Ich glaube, solche Debatten mit solchen Äußerungen sind Beweise dafür, wie dünn das Eis der Zivilisation zum Teil leider ist. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Geis. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist guter parlamentarischer Brauch, dass man auch einmal eine andere Meinung erträgt. Ich bitte darum: Lassen Sie mich auch meine Meinung noch einmal sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es dürfte eigentlich unter uns nicht streitig sein, dass Ehe und Familie zu den Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft zählen. (Zurufe von der LINKEN: Doch! - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Daran kann eigentlich niemand ernsthaft zweifeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Grundgesetz hat Ehe und Familie deshalb unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. (Zurufe von der SPD) Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern auch für viele Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man auch einmal zur Kenntnis nehmen. Es ist nun einmal so, dass Vater, Mutter und Kind die Grundlagen menschlicher Gemeinwesen bilden. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch Quatsch, Herr Geis!) Der Großrabbiner von Frankreich, Herr Bernheim, hat in einem Traktat, in welchem er sich mit der Gender-Ideologie auseinandersetzt, (Mechthild Rawert [SPD]: Vorsicht!) folgenden Satz geprägt: Die wahre Familie sind Vater, Mutter und Kind. - Auch das muss man doch zur Kenntnis nehmen. (Christine Lambrecht [SPD]: Kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen!) Zumindest muss ich das sagen dürfen. (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften der Ehe vollkommen gleichstellen. Das ist Ihr Weg. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Ich schlage Ihnen vor, erst einmal abzuwarten. - Sie machen das mit der Begründung, in der Ehe würden Mann und Frau genauso füreinander sorgen, wie das in den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften der Fall ist. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Das ist für Sie die Begründung der Privilegierung. Ich gebe zu, dass auch das Verfassungsgericht dies sagt. Das ist aber deswegen nicht richtig. (Lachen und Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 etwas ganz anderes gesagt hat. Es hat da nämlich noch festgestellt, dass die Ehe mit der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gar nicht vergleichbar ist. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Verfassungsgericht hat dazugelernt! Sie nicht!) Meine Damen und Herren, die Privilegierung der Ehe im Grundgesetz (Zuruf von der SPD: Eine Schande! - Zurufe von der LINKEN) - vielleicht ist es möglich, dass Sie mich in Ruhe aussprechen lassen - ist nicht deshalb gegeben, damit der Staat die Ehe in besonderer Weise schützt, sondern deshalb, weil niemand sonst als Vater und Mutter das Leben weitergeben können. (Christine Lambrecht [SPD]: Dazu braucht es keine Ehe!) Deswegen ist die Privilegierung gegeben. Das ist ständige Rechtsprechung. So steht es übereinstimmend in allen verfassungsrechtlichen Kommentaren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wo steht das?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Geis, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen? Norbert Geis (CDU/CSU): Ich will noch Ausführungen zu einem zweiten Grund machen, dann kann er die Zwischenfrage stellen. - Es gibt noch einen zweiten Grund, meine sehr verehrten Damen und Herren. Der zweite Grund besteht darin, dass niemand sonst als Vater und Mutter, wenn sie zusammenleben, dem Kind besser Daseinskompetenz und soziale Kompetenz - sie gehen der schulischen Kompetenz voraus - vermitteln können. Das geht zwar auch auf anderem Wege. Hier aber geht es um die generelle Regelung. Auch das müssen Sie berücksichtigen. Sie können in allen Kommentaren nachlesen, dass das der Grund ist, weshalb Ehe und Familie privilegiert werden. (Christine Lambrecht [SPD]: Schauen Sie einmal die Lebenswirklichkeit an!) Das kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft in diesem Sinne nun einmal nicht leisten. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Warum nicht?) Wenn Sie im Übrigen nur darauf abstellen, dass man in der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft füreinander sorgt wie in der Ehe - ich gebe Ihnen das ohne Weiteres zu -, müssen Sie aber - das hat Herr Papier -übrigens auch gesagt und geschrieben - alle anderen Einstandsgemeinschaften genauso behandeln. Warum werden die dann diskriminiert? Das geht doch nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das wäre nämlich eine Diskriminierung anderer Lebensgemeinschaften, in denen man auch füreinander einsteht. Deswegen gibt es aber nicht die Privilegierung. Warum privilegiert wird, habe ich vorhin dargestellt. Das ist der Grund, weshalb es so im Grundgesetz steht. - Bitte, Herr Beck. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Beck, bitte. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege. - Da Sie ein Zitat aus einem Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 gebracht und behauptet haben, das Verfassungs-gericht habe damals etwas anderes als das gesagt, was es uns seit 2009 immer wieder als Schlag auf den Hinterkopf präsentiert, frage ich: Sind Ihnen die Leitsätze 3 und 4 des Urteils bekannt, in denen eine Antwort auf die von Ihnen gerade gestellte Frage gegeben wird? Leitsatz 3 lautet: Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können. Zu Ihrer Frage der fantasierten möglichen anderen bunten Lebensformen - Kardinal Meisner wollte schon Fahrgemeinschaften mit der Ehe gleichstellen - heißt es im Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts: Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass nichtehelichen Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen und verwandtschaftlichen Einstandsgemeinschaften - das ist Ihr Lieblingsbeispiel - der Zugang zur Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft verwehrt ist. Es geht dem Verfassungsgericht im Grundsatz um eines: In der Lebenspartnerschaft sind Verantwortung und Einstehen mit dem gleichen Unterhaltsrecht und im -Lebenspartnerschaftsfolgenrecht gleich, wie im Ehefolgenrecht geregelt. Deshalb ist es nach Art. 3 Abs. 1 gleich zu behandeln. Können Sie mir bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht insofern seit 2002 nichts anderes sagt als das, was es uns auch im Jahre 2013 gesagt hat? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Beck, wenn ich Sie so höre - Sie haben jetzt noch einmal eine Rede gehalten und ungefähr das Gleiche gesagt wie vorhin, jedenfalls dem Inhalt nach - komme ich zu dem Schluss: Man sollte Zwischenfragen von Ihnen nicht mehr zulassen - ich werde es auch nicht mehr tun -, (Zurufe von der SPD: Oh!) denn Sie nutzen jede Gelegenheit, um hier Ihre Meinung zu deklamieren. Sie stellen ja gar keine wirklichen Fragen. Aber ich will Ihnen die Frage beantworten. (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN - Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] hält ein Schriftstück hoch) - Denken Sie, ich kenne das nicht? Ich kenne das sehr gut. Ich weiß, was das ist, und ich weiß auch, was darin steht. In den Gründen des Urteils des Verfassungsgerichts steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein Institut neben die Ehe zu stellen, das identisch ist mit der Ehe. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren gerade die Leitsätze!) - Damals ging das Verfassungsgericht noch davon aus, dass ein Unterschied besteht. (Zurufe von der SPD und der LINKEN) - Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht zuhören wollen, dann kann ich mir die Mühe sparen. - In den Gründen steht es ganz klar. Ich bitte Sie, das einmal nachzulesen. Ich bitte wirklich darum. Ich bitte auch Sie, Herr Beck, das einmal nachzulesen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne das fast auswendig!) Denn wenn Sie das tun würden, würden Sie nicht ständig dieselben Fragen stellen, die längst beantwortet sind. In den Gründen steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein Institut neben die Ehe zu stellen, das identisch ist mit der Ehe. Lesen Sie es nach; das steht drin. Es hat keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Sie dürfen sich wieder setzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil steht im Urteil!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Geis, es gibt noch eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Vogler aus der Linksfraktion. Möchten Sie diese zulassen? Norbert Geis (CDU/CSU): Nein, ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Das hat ja keinen Sinn. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ein Austausch von Argumenten ist hier ja nicht mehr möglich. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Nein, Sie verschließen sich einfach den Argumenten. (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mein Wort an die FDP: Meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, ich habe in den langen Jahren der Zusammenarbeit immer wieder festgestellt, dass die FDP eine Verfassungspartei ist. Wenn die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe gleichgestellt werden sollen - das ist ja der Inhalt des Gesetzgebungsantrags -, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie kommen jetzt wieder in alle Satiresendungen!) dann ist das keine Verfassungsänderung, die man über ein einfaches Gesetz machen kann. Dies wäre vielmehr eine massive Verfassungsänderung, die Sie gemäß Art. 79 des Grundgesetzes nur mit einem Gesetz machen können, das von einer Mehrheit von zwei Dritteln in Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird. Ich bitte Sie sehr herzlich, dies mitzubedenken. Es verstößt meiner Meinung nach gegen die Verfassung, wenn wir so vorgehen, dass wir sagen: Das können wir mit einem einfachem Gesetz tun. Die Verfassung kann in diesem Punkt nur über den Weg, der in Art. 79 Grundgesetz beschrieben ist, geändert werden. Lassen Sie mich ein weiteres Wort dazu sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: (Widerspruch bei der LINKEN) In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass Elternschaft biologisch zu verstehen sei. Es ist von der sogenannten biologischen Elternschaft die Rede. Das wird dem Begriff der Elternschaft, das wird dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht mehr gerecht. Wir müssen bei dem Begriff "natürliche Elternschaft" bleiben, weil wir unter Natur viel mehr verstehen als Biologie. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Geis. Norbert Geis (CDU/CSU): Unter Natur verstehen wir auch, dass der Mensch von Anfang an seine Würde hat; dies hat ihm das Verfassungsgericht in zwei großartigen Urteilen zugebilligt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende. Norbert Geis (CDU/CSU): Ja. Ich komme auch zum Ende. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind auch am Ende!) Dieses Thema kann ich hier nicht in sechs Minuten abhandeln. (Christine Lambrecht [SPD]: Lassen Sie sich Zeit!) - Frau Kollegin, ich kenne Sie als ernsthafte Kollegin. Lassen Sie doch diese Zwischenrufe! (Christine Lambrecht [SPD]: "Ernsthaft"? Das kann ich von Ihrer Rede nicht sagen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende! (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können ja noch ein paar Fragen stellen! - Johannes Kahrs [SPD]: Nee, lass das lieber! Dann dauert es ja noch länger!) Norbert Geis (CDU/CSU): Ich komme zum Ende. - Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, diese Diskussion nicht mit der Aufgeregtheit zu führen, mit der Sie sie führen. Ich bitte, wirklich sachlich zu diskutieren. Dann werden wir vielleicht auch gemeinsam zu sachlichen Ergebnissen kommen. Das ist bisher immer gelungen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU - Christine Lambrecht [SPD]: Oh, das ist ja ein ganz toller Applaus! Ui, ui, ui!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich, warum ich für diese Debatten eigentlich immer noch eine Rede schreibe, wenn ich sie nachher sowieso nicht halten kann. (Manuel Höferlin [FDP]: Wieso denn nicht? Das habe ich jetzt nicht verstanden!) Ich, Herr Geis - wenn ich auf Ihre Frage einmal ganz sachlich eingehen darf -, bin aufgewachsen in einer ziemlich spießigen Familie: Vater, Mutter, drei Kinder. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Also bei den Grünen, ja? - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ist das jetzt schon spießig? Was soll denn der Quatsch? Was ist denn daran spießig, wenn Vater, Mutter und die Kinder zusammenleben? Also, so weit sind wir ja wohl noch nicht!) Ich finde es auch vollkommen richtig, dass keiner etwas dagegen hat und dass wir alle das gut finden. Das betrifft nämlich die Mehrheit der Menschen in diesem Lande. Keiner möchte dieser Mehrheit etwas wegnehmen. Keiner findet das schlecht. Wir sind alle so aufgewachsen. Das ist alles wunderbar. Aber darum geht es in dieser Debatte nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es geht darum, dass man, wenn man Schwulen und Lesben die gleichen Rechte und auch die gleichen Pflichten gibt, niemand anderem etwas wegnimmt. Darum geht es. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In dieser Debatte, Herr Geis, haben Sie und Frau Granold es ernsthaft geschafft, alle anderen Lebensformen, die es in diesem Land gibt, einmal voll gegen die Wand zu kacheln und zu beleidigen, und zwar auf eine ziemlich üble Art und Weise. Das ist unerträglich. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU - Ute Granold [CDU/CSU]: Ach, das ist doch Quatsch!) Das ist der Grund, warum alle Fraktionen hier geklatscht haben, als der Kollege Kauch einfach einmal durchdekliniert hat, was die Wahrheit ist. Als ich zu Ihrer Fraktion geblickt habe, habe ich gesehen: Die Mitglieder Ihrer Fraktion waren bei Ihrer Rede peinlich berührt, und bei der Rede von Frau Granold haben etliche den Kopf geschüttelt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ernsthaft: Wie wollen Sie als große Volkspartei noch klarkommen, wenn Sie jede andere Lebensform diskriminieren? (Michaela Noll [CDU/CSU]: Was? Das hat er doch gar nicht gemacht!) Das kann doch nicht angehen! So kann das doch nicht laufen! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU) Da Sie das Verfassungsgericht bemüht haben: Erika Steinbach - da sie gerade hier sitzt - hat nach einem -Urteil des Bundesverfassungsgerichts einmal getwittert: "Wer schützt eigentlich unsere Verfassung vor den Verfassungsrichtern?" (Lachen bei Abgeordneten der SPD - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schickt Panzer nach Karlsruhe! - Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht Exkanzler Schröder?) Ich glaube, dazu könnte man relativ viel sagen. Wenigstens so viel: Das, was Sie und Herr Geis hier laufend -abliefern, ist für die CDU/CSU kein Ruhmesblatt. Das heißt, Sie sind in der Realität in diesem Land nicht angekommen. Das, Frau Steinbach, bedeutet, dass Sie Ihre Berechtigung nach und nach verlieren. Würden Sie doch auf Herrn Schäuble hören! Herr Schäuble hat Anfang März dieses Jahres gesagt: Wenn die CDU Volkspartei bleiben will, dann muss sie veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So gerne ich sonst anderer Meinung bin als Herr Schäuble und mich mit ihm streite: In diesem Fall hat er recht. Direkt danach hat die CDU die Wahl in Wiesbaden verloren. Sie können sich genau überlegen, wer daran unter anderem beteiligt war. (Abg. Erika Steinbach [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege? Johannes Kahrs (SPD): Sie verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung, weil die Menschen merken, dass das, was Sie vertreten, absurd ist. Es geht nicht gegen die Ehe. Es geht nicht gegen Familien mit Kindern. Im Gegenteil: Das finden wir alle gut, unterstützenswert und richtig. Es geht darum, auch andere, alternative Lebensformen zuzulassen und Unterstützung zu geben, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Wenn Sie das nicht verstehen, dann sind Sie hier falsch, dann sollten Sie sich schämen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Jetzt gerne, Frau Steinbach. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Frage ist, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau Steinbach zulassen möchten; das geht nämlich nur innerhalb Ihrer Redezeit. Johannes Kahrs (SPD): Aber immer doch. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Steinbach, bitte. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh! Jetzt ganz vorsichtig!) Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Kahrs, Sie haben gesagt: "Wenn jemand in einer spießigen Familie aus Vater, Mutter und drei Kindern aufwächst". Das ist Diskriminierung. Johannes Kahrs (SPD): Ich habe von mir geredet. Erika Steinbach (CDU/CSU): Jetzt frage ich Sie: In unserer Demokratie mit Gewaltenteilung ist doch keine unserer Institutionen eine heilige Kuh, noch sind sie unfehlbar wie der Papst, sondern alle Einrichtungen müssen sich - auch wenn sie von ihrer Arbeit überzeugt sind - Kritik gefallen lassen. Wenn ich der Überzeugung bin, dass das Bundesverfassungsgericht einmal auf dem falschen Bein "Hurra!" geschrien hat, dann sage ich das auch. Konrad Adenauer hat das übrigens auch schon gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Was für ein Vergleich! - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Johannes Kahrs (SPD): Frau Steinbach, einmal angenommen, jemand wie ich - der zugegebenermaßen relativ spießig ist: Ich lebe seit zwanzig Jahren mit meinem Freund zusammen; verglichen mit der Dauer mancher Ehen von Kollegen Ihrer Koalition ist das ziemlich spießig - (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) will seinen Freund heiraten. Dann verstehe ich ganz im Ernst nicht, warum Sie nicht wollen, dass zwei Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen und auch die Pflichten übernehmen, nicht auch die gleichen Rechte bekommen sollen. Spießig ist nicht immer schlecht - wie gesagt: Ich bin es auch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In der Sache muss man einfach zur Kenntnis nehmen: Es soll doch in diesem Lande ein jeder leben, wie er will. (Lebhafter Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Es soll in diesem Lande ein jeder glücklich werden, wie er will. Es soll in diesem Lande möglich sein, dass einer, der die gleichen Pflichten übernimmt, auch die gleichen Rechte bekommt. Wenn Sie das nicht verstehen, dann tun Sie mir leid. Was das Bundesverfassungsgericht angeht, Frau Steinbach: Man kann natürlich die Verfassungsorgane gegeneinander ausspielen und sie abwatschen. Das Bundesverfassungsgericht war nicht nur meiner Meinung, es hat diese auch sehr ausgewogen begründet. Ich finde, dass man mit Verfassungsorganen vernünftig umgehen muss. Die Art und Weise, wie Sie das tun, und die Art und Weise, wie Herr Geis das Bundesverfassungsgericht missbraucht, indem er dieses Urteil falsch interpretiert, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo soll ich falsch interpretiert haben?) halte ich inzwischen für unerträglich. Übrigens, Herr Geis: Ihre Ausführungen zu diesem Thema sind peinlich. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sind peinlich! Von oben bis unten!) - Herr Geis, überlegen Sie einmal, warum - es wurde vorhin gesagt - die Hälfte aller Schwulen und Lesben sich am Arbeitsplatz nicht zu sagen trauen, dass sie schwul oder lesbisch sind. Es ist wegen Menschen wie Ihnen, von denen sie diskriminiert werden. Das kann nicht angehen, das ist eine Schande. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Norbert Geis [CDU/CSU]: Ach, hören Sie auf!) Herr Kauch, ich fand Ihre Rede wunderbar - ich habe immer geklatscht -; aber am Ende gab es ein kleines Problem für mich: Wenn das, was Sie gesagt haben, alles richtig war: Warum stimmt die FDP dann nicht richtig ab? Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist unmöglich!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Nun hat der Kollege Volker Beck das Wort zur -Geschäftsordnung gewünscht. Ich erteile ihm das Wort. Bitte schön. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich der Kollege Kauder beruhigt hat, dann kann ich sagen: Dass hier Menschen für ihre Rechte streiten und andere diesen Kampf unterstützen, ist kein Meinungsterror, sondern eine wichtige gesellschaftspolitische Diskussion. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Unter Diskussion verstehe ich etwas anderes!) Sie versuchen hier, Opfer und Täter zu vertauschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich beantrage für meine Fraktion, dass wir heute über einen Antrag abstimmen, durch den Sie, Frau Justizministerin, aufgefordert werden, im Namen der Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 umsetzt. In diesem Urteil - das haben wir vorhin gehört - heißt es: Die Sukzessivadoption gilt sofort, und bei den Adoptionsmöglichkeiten müssen gleiche Rechte hergestellt werden. - Das wäre die Hausaufgabe. Sie kennen dieses Urteil, Frau Justizministerin. Deshalb ist diese Frage entscheidungsreif. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich bin mit der Rede des Kollegen Kauch in der Sache völlig einverstanden gewesen. Aber dann bleibt die Frage: Wann wird diese Sachposition tatsächlich in politisches Handeln überführt? Es ist heute an Ihnen, diese Entscheidung zu treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es ist doch absurd, wenn wir hier im Deutschen Bundestag diskutieren und dann über die Frage abstimmen müssen, ob wir abstimmen. Die Frage ist entscheidungsreif. Es gibt bei Ihnen unterschiedliche Positionen; das mag so sein. Die Koalition hat in dieser Woche mit ihren Stimmen im Innenausschuss einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung bei der Adoption abgelehnt. Da wissen wir, wohin die Sache geht. (Mechthild Rawert [SPD]: Abgemurkst!) Entscheiden Sie sich jetzt endlich einmal! Wollen Sie in dieser Legislaturperiode das Adoptionsrecht regeln und zu einer Gleichstellung kommen? Dann müssen Sie heute unserem Antrag zustimmen. Und erzählen Sie den Leuten draußen nicht, Sie seien zwar für die Gleichstellung, würden aber immer wieder, hundertmal in der Wahlperiode, total entschieden gegen die Gleichstellung stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, der Kollege Kauder hat laut dpa am Dienstag erklärt, die Debatte über die Lebenspartnerschaft und über die Gleichstellung sei für die Koalition beendet. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist das noch zur Geschäftsordnung?) - Ja. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein!) - Das bezieht sich auf die Tagesordnung und darauf, ob wir abstimmen. - Er hat die Koalitionstreue des Kollegen Brüderle gelobt, der garantiert habe, man stimme nicht mit wechselnden Mehrheiten ab. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war bei euch doch auch so!) Im Koalitionsvertrag steht die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. Wenn ein Koalitionsvertrag gilt, dann gilt er sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hinsichtlich des Verfahrens. Bei uns war auch nicht alles einfach, aber so sind wir miteinander umgegangen und haben die Sachen am Ende vorangebracht. Sonst hätte es das Lebenspartnerschaftsgesetz nie gegeben. Herta Däubler-Gmelin wollte das nie anpacken. Wir als rot-grüne Koalition haben die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag dann aber dank Leuten wie Peter Struck auch gemeinsam durchgesetzt. Wenn es bei Ihnen so nicht geht, dann müssen Sie heute dafür sorgen, dass die Abstimmung freigegeben und endlich über diese Sache entschieden wird. Sie ist entscheidungsreif; neue Argumente sind nicht ersichtlich. Bewegen Sie sich! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Seit 2001 liegt unser Gesetzentwurf vor, 2011 gab es die Anhörung, und Sie wollen uns hier erzählen, Sie hätten noch Beratungsbedarf. Das ist doch ein Stück aus dem Tollhaus. Sie haben in dieser Frage nur noch für eines eine Gemeinsamkeit in der Koalition, nämlich dafür, dass Sie die Abstimmung verschieben. In der Sache habe Sie keine gemeinsame Position. Sie sind nicht handlungsfähig. Deshalb gehören Sie weg, wenn nicht die Leute, die unserer Meinung sind, endlich sagen: Wir stimmen gemeinsam mit der Opposition für die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft und schaffen hier faire Bedingungen in unserem Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? - Das ist nicht der Fall. Damit kommen wir zu den Abstimmungen. Zunächst einmal kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 a sowie zum Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/12676 und 17/12677 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 8 b. Es geht um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12691. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Rechtsausschuss und mitberatend an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb, wer für die beantragte Überweisung stimmt. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Somit ist die Überweisung mehrheitlich beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der LINKEN: Heuchler! - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlappschwänze!) Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 17/12691 in der Sache nicht ab. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP ist umgefallen!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (... StrÄndG) - Drucksache 17/9695 - Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) - Drucksache 17/12732 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Jörg van Essen Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die ihr nicht zu folgen wünschen, den Saal zu verlassen, damit die übrigen der Aussprache folgen können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jörg van Essen von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jörg van Essen (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um ein Thema, das nicht so viele Emotionen hervorruft wie das Debattenthema, das wir gerade behandelt haben, und trotzdem ist es eine heiß diskutierte Frage. Es geht nämlich um die Frage der Kronzeugenregelung. Ich selbst komme aus der Staatsanwaltschaft und verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass meine Kollegen die Bedeutung der Kronzeugenregelung ganz außerordentlich schätzen. Es gibt insbesondere einen Bereich, von dem man sagen muss, dass die Justiz viele ihrer Erfolge ohne eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung, nämlich in § 31 des Betäubungsmittelgesetzes, nicht verzeichnen könnte. Deshalb kommt von meiner Seite zunächst einmal ein klares Ja zur Kronzeugenregelung, weil sie der Schlüssel dafür ist, beispielsweise auch in abgeschottete Kriminalität, insbesondere organisierte Kriminalität, einzudringen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir haben den § 46 b StGB schon seit einiger Zeit, und trotzdem ist die Diskussion darüber, ob der § 46 b so, wie er im Strafgesetzbuch steht, richtig ausgestaltet ist, nicht beendet. Diese Diskussion findet immer wieder statt, und ich habe auch Verständnis dafür, dass sie stattfindet. Denn das, was dem Kronzeugen gewährt wird, nämlich Strafnachlass, ist ein Durchbrechen des Prinzips, dass es eigentlich eine schuldangemessene Strafe geben soll. Deshalb gibt es durchaus auch Unverständnis, wenn diese Strafe beispielsweise gemildert wird und dabei Dimensionen erreicht werden, bei denen ein objektiver Betrachter das Gefühl hat, dass Schuld und Strafe nicht mehr in einem vernünftigen Zusammenhang stehen. Einer der besonderen Kritikpunkte, mit dem wir uns auseinandergesetzt haben, ist die Frage, worüber ein Kronzeuge berichten muss, damit er mit einer Strafreduzierung rechnen kann. Ich glaube, dass der Vorschlag, den wir heute unterbreiten, ein guter Schritt ist - ich glaube es nicht nur, sondern ich bin davon überzeugt -; denn wir legen fest, dass bei demjenigen, der sich als Kronzeuge zur Verfügung stellt, nur Angaben strafmildernd berücksichtigt werden, die mit der eigenen Tat in Zusammenhang stehen. (Beifall bei der FDP) Das führt dazu, dass all das, was er sagt, sich immer auf die eigene Tat bezieht. Wenn man es wie bisher zulässt, dass er beispielsweise auch über andere Straftaten, mit denen er selbst gar nichts zu tun hat, berichten kann, dann kann natürlich eine Neigung bestehen, jemand anderen falsch zu bezichtigen, um so möglicherweise Vorteile für sich selbst herauszuschlagen. Es tut dem Rechtsstaat nicht gut, wenn das von Staats wegen mit einer entsprechenden Vorschrift im Strafgesetzbuch unterstützt wird. Daher eine klare Ansage von meiner Seite: Wir machen einen guten Schritt in Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit. Ich freue mich deshalb, dass unser Vorschlag heute eine breite Mehrheit findet. Die Koalition steht hinter dem Vorschlag. Ich freue mich, dass auch die SPD hinter dem Vorschlag steht. Das ist ein gutes Zeichen, dass wir in einer so wichtigen Frage quer durchs Haus zu einer gemeinsamen, vernünftigen Lösung kommen können. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ingo Egloff. (Beifall bei der SPD) Ingo Egloff (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2009 verabschiedete die Große Koalition das Gesetz zur Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe, das mit der verfassungsrechtlichen Aufgabe des Staates zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten begründet wurde. Nach diesem Gesetz kann die Strafe eines Kronzeugen unter der Voraussetzung gemildert werden, dass seine Aussage tatsächlich zu einem Aufdeckungserfolg oder der Verhinderung bestimmter Straftaten führt. Das war eine bewusst weit gefasste Regelung, die von der damaligen Koalition getroffen wurde. Wir wollten damals - so lange ist das noch nicht her - vor allem den hermetisch abgeriegelten Täterstrukturen der organisierten Kriminalität zu Leibe rücken. Aber von Anfang an war es in der Fachwelt hoch umstritten, ob diese Regelung angemessen ist und den staatlichen Strafanspruch angemessen berücksichtigt, weil Strafen nicht nur abschrecken sollen, sondern auch den Sühnegedanken aufseiten der von einer Straftat Betroffenen berücksichtigen sollen. Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt auf eine Einschränkung dieser Kronzeugenregelung ab. Demnach soll zukünftig ein Strafnachlass nur dann gewährt werden können, wenn sich die Offenbarung des Kronzeugen auf eine Tat bezieht, die mit seiner eigenen Tat im Zusammenhang steht. Der Kollege van Essen hat es eben schon dargestellt: Die Taten müssen zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen, aber zwischen den Taten muss ein innerer oder inhaltlicher Bezug bestehen. Wenn die eigene und die offenbarte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind, besteht dieser innere Zusammenhang, so der Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die Begründung der Einschränkung der ursprünglich weiten Fassung ist unter anderem, dass anderenfalls Strafmilderungen ermöglicht werden, die aus der Sicht des Tatopfers nicht mehr schuldangemessen sind. Dadurch könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung beeinträchtigt werden. Dieser Auffassung kann man sich anschließen. Ich glaube aber, dass man das Rechtsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unterschätzt. Wir sollten nicht unterstellen, unserer Rechtsordnung würde nur dann vertraut, wenn sie von jedem Täter Reue und Mitleid erzwingt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Allerdings soll das Strafrecht auch den Opfern einer Straftat Genugtuung verschaffen. Es wäre wohl kaum jemandem verständlich zu machen, wenn eine Aussage zu einer Tat strafmildernd wirken soll, die tatsächlich in gar keinem Zusammenhang zur Tat des Kronzeugen steht. Es ist völlig undenkbar, dass man zum Beispiel denjenigen, der ein Kapitalverbrechen begangen hat, straffrei stellt, nur weil er bei schwerem Steuerbetrug oder Ähnlichem zur Aufklärung beigetragen hat. Man kann es auch anders formulieren: Im Rechtsstaat gilt das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Das Maß der Schuld kann sich nur verringern, wenn sich der Täter von der Tat in glaubwürdiger Weise distanziert. Wie soll das gelingen, wenn die eigene Tat mit der offenbarten Tat ohne Zusammenhang ist? Insofern ist dieser einschränkende Ansatz nachzuvollziehen und wird von uns ausdrücklich begrüßt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP]) Nachvollziehbar ist für mich das andere Argument, dass geschlossene Täterkreise, besonders solche der organisierten Kriminalität, in vielen Fällen nur dann aufgebrochen werden können, wenn die Hinweisgeber aus dem unmittelbaren Täterkreis stammen. Brauchbare Zeugenaussagen können oft nur von Mittätern erwartet werden. An der Tat unbeteiligte Dritte werden solche Zeugenaussagen nicht in belastbarer Weise und in gleicher Art machen können. Hier wird dann aber abgewogen zwischen dem Interesse des Staates an der Strafverfolgung in bestimmten Milieus und Täterkreisen oder in Fällen, in denen hoher Schaden für die Gesellschaft entsteht, einerseits und dem Interesse der Rechtsordnung an einer angemessenen Bestrafung der Täter andererseits. Wenn, wie geschehen, viele Sachverständige vor Denunziantentum und Falschaussagen warnen, müssen wir bei der jetzigen Regelung besonders darauf achten, dass diese Gefahr verringert wird. Natürlich ist es naheliegend, dass ein Kronzeuge andere fälschlich belastet, wenn er sich davon Strafmilderung für sich selbst erhoffen kann. Die Distanz der eigenen zur offenbarten Tat spielt dabei die entscheidende Rolle. Je weniger die eigene Tat in Beziehung zu dem Verbrechen steht, über das die Aussage gemacht wird, desto größer ist die Gefahr einer Falschaussage - logisch eigentlich, weil dann ja Beliebiges behauptet werden kann, ohne dass man sich damit selbst belasten muss. Allerdings sind den Möglichkeiten des Gesetzgebers, Denunziantentum zu verhindern, Grenzen gesetzt. Es kommt auf die Einschätzung und Handhabung durch die Strafverfolgungsbehörden an; denn die Erfahrungen der Staatsanwaltschaften bestätigen diese Gefahr. Aber gerade weil hier das Bewusstsein aufseiten der Staats-anwaltschaften vorhanden ist, bin ich sicher, dass wir in der weit überwiegenden Zahl der Fälle angemessene Urteile zu erwarten haben, die dem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot Rechnung tragen. Auch die bisherigen Urteile zeigen, dass vonseiten der Gerichte hier sehr vorsichtig agiert wird. Es ist gut, dass der Gesetzgeber hier den zu weit gefassten Rahmen anpasst, ohne dabei den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeiten abzuschneiden, auch in geschlossene Täterkreise einzudringen. Wir werden deshalb diesem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute steht die abschließende Beratung des Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes auf der Tagesordnung, dessen Kern die Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe ist. Es geht also heute wieder einmal um eine Justierung der sogenannten Kronzeugenregelung, die seit gut zwei Jahrzehnten ständiger Begleiter der Strafrechtspolitik ist. Der Journalist Jochen Bittner hat sie bereits im Jahr 2004 als "so etwas wie die große Untote der Rechtspolitik" bezeichnet. Umstritten ist die Kronzeugenregelung also seit eh und je, und es ist nicht zu übersehen, dass dies zu so mancher Wende und Volte in der Rechtspolitik in den vergangenen gut 20 Jahren geführt hat. Nicht zu vergessen ist im Übrigen, dass tatsächliche Entwicklungen die Perspektive der Rechtspolitik quer durch die politischen Lager bestimmt haben. So lief 1999 zunächst die zeitlich begrenzte Kronzeugenregelung bei terroristischen Gewalttaten aus, nachdem die Initiative eines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes gescheitert war. Seither galten nur noch spezielle Kronzeugenregelungen. Nicht zuletzt die Erfahrungen bezüglich abgeschotteter Strukturen im Bereich des islamistischen Terrorismus führten im Weiteren ab 2001 zu einem erneuten Aufflammen der Diskussion um eine allgemeine Kronzeugenregelung. Dies mündete wiederum zu Zeiten der Großen Koalition in die zum 1. September 2009 in Kraft getretene und seitdem geltende Fassung des § 46 b des Strafgesetzbuches, dessen Änderung wir heute beschließen wollen. Mit dieser Vorschrift verfügt das Strafgesetzbuch derzeit über eine allgemeine Kronzeugenregelung mit einem relativ weiten Anwendungsbereich, da zwischen der Tat des Kronzeugen und derjenigen, zu der er Aufklärungs- und Präventionshilfe leistet, kein Zusammenhang bestehen muss. Dies soll heute korrigiert werden, indem in § 46 b StGB die Ergänzung aufgenommen wird, dass die Tat, zu der Aufklärungs- und Präventionshilfe geleistet wird, "mit seiner Tat im Zusammenhang", also mit der Tat des Kronzeugen, stehen muss. Im Kern ist dies ein minimalinvasiver rechtspolitischer Normeneingriff, dessen praktische Relevanz zu Recht infrage stehen mag, der aber rechtspolitisch keineswegs bedeutungslos ist. Zunächst einmal gilt bei allem Streit über die Kronzeugenregelung in den vergangenen Jahren: Wir als CDU/CSU und wir als christlich-liberale Koalition stehen zur Notwendigkeit einer allgemeinen Kronzeugenregelung. Durch die heute zu beschließende Konnexitätsregelung in § 46 b StGB rücken wir von dieser Position auch keinen Schritt ab. Die Rechtslage vor der Einführung der allgemeinen Kronzeugenregelung bot eindeutig nicht genügend Anreiz, Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten zu leisten. Gerade die von hoher Konspirativität gekennzeichneten Kriminalitätsbereiche wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und schwere Wirtschaftskriminalität sind wegen ihrer Abschottung den gängigen Ermittlungs- und Aufklärungsmethoden eben oftmals nicht zugänglich. Hier braucht es zusätzliche Anreize, um überhaupt in die abgeschotteten Strukturen nicht oder nur schwer aufklärbarer Kriminalität eindringen zu können. Mit einer allgemeinen Kronzeugenregelung steht zumindest ein rechtlich definiertes Instrument für den -Umgang mit der Kooperationsbereitschaft und Präven-tionshilfe zur Verfügung. Eine allgemeine Kronzeugenregelung, an der wir trotz der heute zu beschließenden Änderung festhalten, ist gegenüber einer Vielzahl von bereichsspezifischen Kronzeugenregelungen, wie sie das Strafrecht vor der Einführung von § 46 b des Strafgesetzbuches kannte, eindeutig vorzuziehen; denn zwar konnten durch die bisherigen bereichsspezifischen Regelungen Aufklärungs- und Präventionshilfe durchaus strafmildernd gewertet werden. Aber zum einen wird der Anreiz für kooperationsbereite Straftäter durch eine allgemeine Vorschrift größer, und zum anderen ist der Anwendungsbereich durch die fehlende Bindung an bestimmte Deliktgruppen wesentlich weiter. Daher ist es richtig, eine allgemeine Kronzeugenregelung im Strafgesetzbuch verankert zu halten. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings - und das ist auch ein rechtsdogmatisch beachtliches Argument -, dass eine Kronzeugenregelung die Gefahr in sich trägt, den Weg hin zu einem kooperativen und konsensualen Strafverfahren zu forcieren. Der Rechtsanwalt Dr. König hat in einem Beitrag im Strafverteidiger 2012 dazu formuliert, dass die Sachverhaltsermittlung kontaminiert und die Wahrheitsfindung desavouiert werde. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass die Entwicklung hin zu Absprachen und Deals auch ohne die Diskussion über eine Kronzeugenregelung stattfindet und in der rechtspolitischen Diskussion steht. Das Bundesverfassungsgericht wird sich in Kürze dazu äußern. Jedenfalls ist aber eine gesetzliche Kronzeugenregelung, um es mit den Worten des Strafrechtskommentars Kindhäuser zu sagen, "insoweit zu begrüßen, als sie einem Wildwuchs entgegenwirkt, da in der Justizpraxis auch ohne gesetzliche Ermächtigung zweifelhafte Zeugen-Privilegierungen nach dem Kronzeugenmuster vorgenommen werden. Etwa wird die Vorschrift des § 154 StPO herangezogen, um Tatbeteiligte unter Versprechen von weitgehenden Strafmilderungen zur Kooperation zu veranlassen." Eine klar definierte gesetzliche Regelung ist da aus unserer Sicht allemal hilfreicher. Soweit eine Kronzeugenregelung grundlegender Kritik aus rechtssystematischen und rechtsdogmatischen Gründen begegnet, sind diese Bedenken grundsätzlich ernst zu nehmen; denn natürlich bedeutet eine allgemeine Kronzeugenregelung einen Eingriff in das Legalitäts- und Öffentlichkeitsprinzip ebenso wie in den Gleichheits- und Schuldgrundsatz. Aber man muss auch festhalten, dass dem Gesetzgeber hier eine Abwägung der unterschiedlichen Interessen zusteht. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, Strafmilderungsregelungen auszugestalten, sofern der Schuldrahmen insgesamt nicht unterschritten wird. Bedenklich würde eine Regelung dort, wo - ich zitiere nochmals Kindhäuser - "das auf Gerechtigkeit ruhende Fundament des Strafrechts durch Regelungen und Urteile gefährdet wird, die von der Allgemeinheit wegen massiver Schuldunterschreitung nicht mehr als angemessen wahrgenommen werden können." Hier ist also eine Grenze für den Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu ziehen. Diese Grenze wird indessen vom Gesetzgeber auch gesehen und wahrgenommen. In der Abwägung zur wesentlichen Aufgabe des Staates, schwere Straftaten aufzuklären und zu verhindern, und im Interesse einer möglichst umfassenden Wahrheitsfindung im Strafverfahren ist es zu rechtfertigen, im Rahmen des gerade aufgezeigten Gestaltungsspielraums eine noch schuldangemessene Bestrafung zu unterschreiten. Insofern ist auch nicht a priori von einer "Desavouierung der Wahrheitsfindung" auszugehen. Im Gegenteil: Das Instrument der Kronzeugenregelung kann und soll im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichkeiten gerade auch der Wahrheitsfindung dienen. Zu Recht ist aber die Frage gestellt worden, ob eine gänzliche Abkoppelung der Kronzeugentat und der damit einhergehenden Strafmilderung von der Tat, zu der Aufklärungs- oder Präventionshilfe geleistet wird, den Ausgestaltungsspielraum für die Schuldunterschreitung nicht doch schon überdehnt. Hier fehlt jeder Konnex zwischen Aufklärungshilfe und abzuurteilender Straftat. Ein Strafmilderungsinteresse ist hier in der Tat schwer zu begründen, da die Tatschuld durch das Nachtatverhalten jedenfalls in keiner Weise gemindert wird. Mit der heute zu beschließenden Ergänzung wird damit in rechtssystematischer und rechtsdogmatischer Hinsicht ein Korrektiv in § 46 b des Strafgesetzbuches eingefügt, das die vertretbare Grenze der Möglichkeit zur Schuldunterschreitung klar formuliert und damit letztlich zur dogmatischen Stärkung der Kronzeugenregelung beiträgt. Hinsichtlich der praktischen Folgen - dies sei zum Abschluss jedenfalls auch angeführt - ist die Notwendigkeit dieses Korrektivs indessen schwer zu beurteilen. In der Anhörung des Rechtsausschusses wurde dazu von Sachverständigenseite die Frage formuliert: Was passiert, wenn nichts passiert? Sie wurde auch beantwortet, und zwar mit: Nichts. - Die rein praktische Relevanz der heutigen Begrenzung mag sehr überschaubar sein; denn in der täglichen gerichtlichen Praxis spielt die Frage der Anwendung der Kronzeugenregelung bei der Offenbarung von Taten, die mit der verfahrensgegenständlichen Tat in keinem Zusammenhang stehen, offenkundig nur eine untergeordnete Rolle. So gibt es wohl nur eine einzige einschlägige Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu diesem Thema. So ist die heutige Entscheidung des Gesetzgebers zur Ergänzung von § 46 b des Strafgesetzbuches aus praktischer Sicht betrachtet vielleicht eher als Non-liquet-Entscheidung zu charakterisieren; in rechtsdogmatischer Hinsicht hat sie indessen ihre Berechtigung, weshalb wir heute in zweiter und dritter Lesung der Änderung der allgemeinen Kronzeugenregelung zustimmen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Halina Wawzyniak. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hier als sperriger Titel, nämlich "Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe", daherkommt, ist eine Neuregelung der sogenannten Kronzeugenregelung. Kronzeugen - das muss man vielleicht noch einmal erklären - sind Personen, die sich als mutmaßliche Straftäter und Straftäterinnen kooperationsbereit zeigen, Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten zu leisten. Die derzeitige, durch die schwarz-rosa Koalition eingeführte Regelung erlaubt die Anwendung der Kronzeugenregelung auch, wenn zwischen der Tat des Kronzeugen und der Tat, bei der er Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung leistet, kein Zusammenhang besteht. Und damit sind wir beim Grundproblem jeglicher Kronzeugenregelung. Die Kronzeugenregelung ist nichts anderes als ein Handel zulasten der Gerechtigkeit. Straftäter und Straftäterinnen bekommen Vergünstigungen, weil sie bei der Aufklärung von Straftaten oder der Verhinderung von Straftaten behilflich sind. Damit wird aber mit dem Schuldprinzip gebrochen. Das Schuldprinzip nämlich sieht eine angemessene Strafe für eine begangene Straftat vor. Das Verhalten des mutmaßlichen Straftäters nach der Tat kann mit der Regelung des § 46 Abs. 2 im Rahmen der Strafzumessung bereits berücksichtigt werden. Wenn es darüber hinausgehende Privilegierungen im Hinblick darauf gibt, dass die Strafe für eine begangene Straftat davon abhängig gemacht wird, dass jemand im Hinblick auf eine andere Straftat einen Beitrag oder Hilfe zur Aufklärung leistet, hat das nichts mehr mit schuldangemessener Strafe zu tun. Die Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung schwerer Straftaten ist etwas, was gefördert und unterstützt gehört. Aber mit der Kronzeugenregelung findet ein Deal zulasten der Gerechtigkeit statt, und das ist für uns nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) Was ist eigentlich das Denken, das dahintersteht? Jemand, der tief in das kriminelle Milieu verstrickt ist und folglich überhaupt nur deshalb interessante Kenntnisse besitzen kann, wird gegenüber demjenigen bevorzugt, der nur einmal straffällig geworden ist und allein schon deshalb keine Aufklärungshilfe zu weiteren Straftaten leisten kann. Die Kronzeugenregelung verletzt nicht nur das Schuldprinzip, sie verletzt auch das Legalitätsprinzip und das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Da die Hilfeleistung des Beschuldigten bereits vor Eröffnung des Hauptverfahrens, also im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, erfolgen muss, wird auch das Öffentlichkeitsprinzip berührt, und das Zustandekommen der Strafe bleibt letztlich intransparent. Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eine Kronzeugenregelung erforderlich ist, um Straftaten aufzuklären oder zu verhindern. Darüber hinaus - um bei der grundsätzlichen Kritik zu bleiben - wird mit der Kronzeugenregelung auch in die Wahrheitserforschung des Gerichts eingegriffen. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, der die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen will, ist mindestens angekratzt; denn natürlich versucht er, seine Aussagen so zu machen, dass er eine deutlich geringere Strafe erfährt. Ich habe bereits darauf verwiesen: Die Kronzeugenregelung ist überflüssig; denn der § 46 Abs. 2 erlaubt, das Nachtatverhalten bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Nun ist offensichtlich aufgefallen, dass die Kronzeugenregelung ein Problem darstellt. Statt nun aber diesen unwürdigen Deal ganz abzuschaffen, wird versucht, den Handel etwas zu verringern. Mit der neuen Regelung - das ist hier schon gesagt worden - wird versucht, eine Beziehung zwischen der Tat des Kronzeugen und der Tat, zu der er Hilfe zur Aufklärung leistet, herzustellen. Das ist besser als nichts, reicht aber nicht aus, um die Linke für die Zustimmung zu gewinnen. Die Zustimmung ist uns auch deshalb nicht möglich, weil mit der Änderung des § 31 Betäubungsmittelgesetz die Kronzeugenregelung im Bereich Drogenkriminalität noch ausgeweitet wird. Ich verkneife mir an dieser Stelle den Hinweis auf die Notwendigkeit einer anderen Drogenpolitik. Mit der Kronzeugenregelung bekommen Sie das Problem nicht in den Griff. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Wir Linke werden einer Kronzeugenregelung - egal ob klein oder groß - nicht zustimmen; denn ein Deal zulasten der Gerechtigkeit ist mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die Grünen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt selten vor, dass die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die Strafverteidiger-vereinigungen und der Deutsche Richterbund einer -Meinung sind. 2009, bei der Einführung der Kronzeugenregelung in ihrer weiten Fassung, waren sie es. Die Kronzeugenregelung beinhaltet - das wissen wir alle hier - Straferleichterungen für Straftäter. Richter dürfen die Strafe des selbst straffälligen Kronzeugen mildern oder ganz von der Strafe absehen, wenn dieser zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten beiträgt. Die Rechtspraxis hat im Jahr 2009 geschlossen gesagt: Die Kronzeugenregelung ist ein Bruch in unserem Rechtsstaatssystem, und wir brauchen sie nicht. - Auch wir Grünen waren und sind dieser Rechtssauffassung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heute begrüßen Anwaltskammer und Verbände die von der Bundesregierung vorgeschlagene Minikorrektur der Kronzeugenregelung. Auch wir Grünen sagen: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sagen wir auch: Es ist nur ein Schritt - ein Schritt, der von einem Quantensprung weit entfernt ist. Eingeführt werden soll das Konnexitätsprinzip. Zukünftig soll ein Kronzeuge nur noch dann eine Straferleichterung erhalten können, wenn zwischen seiner eigenen Straftat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oder Präventionshilfe leistet, ein sachlich-inhaltlicher Zusammenhang besteht. Möglicherweise wird die Zahl der Falschbelastungen Dritter ein wenig zurückgehen. Ausgeschlossen werden Denunziationen zum eigenen Vorteil im Strafverfahren jedoch nicht. Nach wie vor wird im Rahmen der Kronzeugenregelung das Motto gelten: Mehr ist mehr. Je mehr Anschuldigungen der Kronzeuge gegenüber anderen Personen macht, umso mehr Strafrabatt erhält er. Dem steht kein ausreichender Nutzen gegenüber. Im Verfahren gegen die Person, die der Kronzeuge angeschuldigt hat, sind die Aussagen als Beweismittel wegen mangelnder Belastbarkeit häufig problematisch. Zu diesem Zeitpunkt haben sie aber ihren Zweck, nämlich Strafmilderung für den Kronzeugen zu erreichen, bereits meistens erfüllt. Der vermeintliche Kronzeuge läuft wenig Gefahr, wegen falscher Verdächtigung verurteilt zu werden. Wenn überhaupt die Wahrheit ans Licht kommt, so wird doch häufig der Nachweis scheitern, dass der Kronzeuge seine Aussage wider besseres Wissen gemacht hat. Darauf wird der Kronzeuge setzen, zumal die Versuchung, mit der der Staat lockt, nämlich Strafmilderung oder Absehen von Strafe, groß ist. Die Kronzeugenregelung verstößt darüber hinaus gegen zentrale Prinzipien unseres Rechtsstaats. Zu nennen sind das Legalitätsprinzip, das Gleichheitsgebot sowie das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Polizei oder Staatsanwaltschaft, manchmal sogar Verfassungsschutzbehörden suchen Aufklärungserfolge, die leider nicht immer nur tatsächlicher, sondern häufig auch nur vermeintlicher Art sind. Dabei machen sie Straftätern die Zusage, sie vor einer schuldangemessenen Strafe zu schützen. Dem Gericht wird zugemutet, als Notar solche Geschäfte zu beglaubigen und auf eine Überprüfung der Wahrhaftigkeit der Kronzeugenaussage ganz oder zum Teil zu verzichten, weil die Einigung zwischen Straftäter und Staatsanwaltschaft bereits vor der Hauptverhandlung unter Dach und Fach gebracht werden muss. Ich wiederhole, was wir Grünen 2009 bei der Einführung der Kronzeugenregelung gesagt haben: Es gibt keinen Bedarf für eine solche Regelung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Den Problemen, die es bei der Prävention zum Schutz der Bevölkerung, bei der Aufklärung von Straftaten sowie bei einer effektiven und schnellen Bearbeitung an-geklagter Straftaten gibt, müssen die Länder mit einer ausreichenden Personal- und Sachausstattung der Ermittlungsbehörden begegnen. Die Flucht in die Kronzeugenregelung ist keine Lösung. Die wenigen tatsächlich durch Kronzeugen erzielten Aufklärungserfolge rechtfertigen nicht den hohen Verlust an Legitimität, die ein rechtsstaatliches Strafverfahren aber zwingend braucht. So bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Er verpasst aber die Chance einer konsequenten und mutigen Korrektur dieses Fremdkörpers im Strafrecht. Wir Grünen werden uns deshalb bei der Abstimmung enthalten. (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das ist aber kraftvoll!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12732, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9695 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine bessere Bildungssituation weltweit - Drucksachen 17/6484, 17/11492 - Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Bärbel Kofler Joachim Günther (Plauen) Niema Movassat Ute Koczy Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Harald Leibrecht (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD-Fraktion zur Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit liest sich eigentlich gar nicht schlecht; nur ist der Antrag mittlerweile in weiten Teilen überholt. Herr Minister Niebel und das BMZ haben den Bereich Bildung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen zu einem Schlüsselsektor der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ausgebaut. Wir haben die Strategie "Zehn Ziele für mehr Bildung" entwickelt, die auf einem ganzheitlichen Bildungsansatz basiert und die Entwicklung aller Bildungsbereiche in den Blick nimmt: Über die Grundbildung hinaus sollen die Bildungssysteme in den Partnerländern in ihrer Gesamtheit gestärkt werden. Mit der Bildungsstrategie hat sich das BMZ konzeptionell neu aufgestellt und hat den Worten auch Taten folgen lassen: Die Bildungsausgaben wurden sukzessive erhöht. Die Grundbildungsausgaben sind 2011 gegenüber 2010 um 12,3 Prozent, auf 158 Millionen Euro, gestiegen. Den Umfang der Bildungszusagen für Afrika haben wir, wie angekündigt, verdoppelt. Auch die von der SPD-Fraktion geforderte Erhöhung des Beitrags zur Global Partnership for Education ist bereits umgesetzt. Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2011 ODA-Mittel in Höhe von 1,3 Milliarden Euro für Bildung in Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt; diese Summe ist mit dem Gesamtbudget des Bundesumweltministeriums vergleichbar. Das zeigt, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen sehr ernst nimmt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Analyse der Herausforderungen, die die SPD-Fraktion in ihrem Antrag vornimmt, durchaus teilen. Neuere Zahlen der Vereinten Nationen zeigen, dass im Jahr 2010 61 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur Schule gingen. In Subsahara-Afrika betraf dies ein Viertel der Kinder im Grundschulalter. Trotz der weiterhin riesigen Herausforderungen gibt es aber auch Erfolge - wir sollten hier unser Licht nicht unter den Scheffel stellen -: Die Erreichung des Ziels einer Grundbildung für alle ist in greifbare Nähe gerückt. Heute ist eine Einschulungsrate von 90 Prozent erreicht, und 90 Prozent der eingeschulten Kinder schließen die Grundschule ab. Selbst das Sorgenkind Subsahara-Afrika hat große Fortschritte gemacht. Bis 2010 ist die Einschulungsrate trotz des hohen Bevölkerungswachstums von 58 auf 76 Prozent gestiegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist ein Meilenstein, dass 2012 die Geschlechtergleichheit beim Grundschulbesuch erreicht wurde. Dies ist eine wichtige Voraussetzung zur Erreichung des Millenniumsentwicklungsziels 3, nämlich der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung der Frauenrechte. Trotzdem darf uns die Erreichung dieser Zielmarke nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mädchen aus armen Familien, aus dem ländlichen Raum und solche, die Minderheiten angehören oder die mit einer Behinderung leben, immer noch zu wenig von diesen Entwicklungen profitieren. Gerade bei der Inklusion benachteiligter Gruppen kann und muss die Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag leisten. In Kenia hilft die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel beim Aufbau eines Stipendiensystems, damit Jugendliche aus Armenvierteln eine Chance auf eine Sekundarbildung haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die steigende Zahl der Grundschulabsolventen erhöht aber auch den Druck auf die Sekundarbildung. Meiner Meinung nach sollte auch Deutschland dieser Entwicklung Rechnung tragen. Wir müssen die finanziellen Mittel für diesen Bereich deutlich erhöhen. Noch immer haben viel zu wenig Kinder Zugang zu Sekundarbildung. Sekundarbildung ist aber der Schlüssel zu einer guten Beschäftigungschance und einer akademischen Ausbildung und damit unverzichtbarer Teil eines Bildungssystems. Deutschland ist der mit Abstand größte Geldgeber im Bereich der beruflichen Bildung. Viele Länder, Indus-triestaaten eingeschlossen - die Vereinigten Staaten zum Beispiel -, sehen Deutschland als Vorbild im Bereich der dualen Ausbildung. Deutschland hat hier große Expertise und unterstützt viele Partner beim Aufbau solcher Strukturen. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und die deutschen Schulen im Ausland leisten hier einen wichtigen Beitrag. Zu guter Letzt möchte ich einen Punkt erwähnen, bei dem wir nicht mit der Opposition übereinstimmen. Zwar sieht auch meine Fraktion den Staat in der Hauptverantwortung für die Bereitstellung von Bildung. Die Realität sieht aber leider oft anders aus. In vielen Teilen der Welt und insbesondere in Krisenregionen versagt oftmals der Staat. Hier spielen private und kirchliche Träger sowie Hilfsorganisationen eine unersetzliche Rolle. Diese nichtstaatlichen Träger werden in Ihrem Antrag jedoch mit keinem Wort erwähnt. Ich denke, dass gerade diese freien Bildungsträger nicht nur unsere Anerkennung und unseren Dank verdienen, sondern auch unsere politische Unterstützung. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Bärbel Kofler. (Beifall bei der SPD) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Leibrecht, ich finde es schade, dass Sie unserem Antrag nicht zustimmen können. Sie haben ja geschildert, wie die Situation um die Bildung weltweit bestellt ist: 61 Millionen Kinder sind ohne Grundbildung. Auch die weiteren Zahlen - 70 Millionen Jugendliche ohne Zugang zu Bildung; 775 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, zwei Drittel davon Frauen - rechtfertigen, dass wir uns wesentlich intensiver dem Thema Bildung zuwenden, wie das von Ihrer Seite hier auch geschehen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde es spannend, wenn Sie im Rahmen der ODA-Quote Bildungsausgaben von 1,3 Milliarden Euro in den Raum stellen. Wir können ja durchaus darüber diskutieren, ob man hierbei Studienplatzgebühren anrechnen soll oder nicht. Aber wenn Sie hier in den Raum stellen, das BMZ hätte in diesem Bereich 1,3 Milliarden Euro finanziert, dann muss man einfach zur Kenntnis nehmen, dass Studienplatzgebühren den überwältigenden Anteil dieser Summe ausmachen. Um das einmal an einem Beispiel zu illustrieren: Im Jahr 2010, in dem Jahr, in dem die Ausgaben für die Grundbildung im Haushalt am höchsten waren, was ich durchaus anerkenne, wurden 110 Millionen Euro für die Grundbildung aus dem Haushalt des BMZ finanziert. Aber allein in diesem Jahr wurden Studienplatzkosten für chinesische Studenten in Höhe von über 140 Millionen Euro finanziert. Wir müssen die Dinge einfach einmal in eine Gewichtung bringen, wenn wir sie auf die grundlegenden Probleme der Menschen zurückführen wollen, nämlich das Menschenrecht auf Bildung und den Zugang zu diesem Menschenrecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE]) Leider haben Sie nichts zum Thema "Qualität in der Bildung", einem wesentlichen Punkt in unserem Antrag, gesagt. Ich möchte dieses Thema noch einmal herausstellen. Gerade für Qualität, egal ob in der Grundbildung, ob in der frühkindlichen Bildung, in der Sekundarbildung oder in der beruflichen Bildung, brauchen wir - da sind wir uns doch eigentlich immer alle einig gewesen - einen wesentlichen Mittelaufwuchs. Dieser Bereich ist unterfinanziert. Wir wissen, es fehlen 2 Millionen Lehrerstellen weltweit, um überhaupt einmal einen Zugang zu Bildung für alle ermöglichen zu können. Wir wissen, dass jedes Jahr fast 250 Millionen Kinder die Schule nach vier Jahren Grundbildung verlassen und nicht lesen und schreiben können. Das muss uns doch sorgen und zu Anstrengungen beflügeln, die ganz anders sind als das, was wir bisher gemeinsam miteinander gemacht haben. Dazu hätte ich von Ihrer Seite nach fast vier Jahren Regierung schon gerne etwas gehört. (Harald Leibrecht [FDP]: Dafür hätte ich noch zwei Minuten mehr Redezeit gebraucht!) Dialog mit Partnerländern ist, finde ich, ein wichtiges Thema. Dieses Thema haben wir auch in unserem Antrag behandelt. Es geht doch gerade darum, die Partnerländer zu unterstützen, Bildung wirklich in den Mittelpunkt stellen zu können. Die Institution "Global Partnership for Education" schreibt, dass in den nächsten zehn Monaten 32 Länder einen Antrag auf Begleitung im Sektor Bildung stellen wollen. Sie wollen den Bildungsbereich in ihren Ländern ändern, um wirklich zu Verbesserungen kommen zu können. Das sind Dinge, die wir gerade jetzt finanziell, mit Know-how, konzeptionell und mit Fachleuten unterstützen müssen. Dazu hätte ich an dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nicht auf den Ohren sitzen!) Es geht dabei auch darum - ich komme zum Thema "Rolle des Staates im Bildungssektor"; Sie haben es angesprochen -, Partnerländer im Dialog mit unserer gesamten Entwicklungspolitik dabei zu unterstützen, selbsttragende Bildungssysteme finanzieren und aufbauen zu können. Ich schätze das Engagement vieler Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich sehr. Unsere Aufgabe als Entwicklungspolitiker ist es, die Rolle des Staates in den Mittelpunkt zu stellen und einen Beitrag dazu zu leisten, dass auch in ärmeren Ländern tragfähige, nachhaltige Bildungssysteme finanziert werden können, damit die Menschen dort dauerhaft, also über Generationen hinweg, Zugang zu Bildung haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE]) Dazu gehören Dinge, die nicht gerade ganz oben auf der Agenda dieses Entwicklungsministeriums stehen. Dazu gehören Dinge wie internationale Verständigung. Man sollte nicht nur das deutsche Fähnchen irgendwo draufstecken, sondern wirklich schauen, wie wir in einer internationalen Gebergemeinschaft diesem Anliegen Rechnung tragen können. Wir haben in unserem Antrag weitere Punkte behandelt. Wir haben etwa das Thema ILO-Kernarbeitsnormen sehr bewusst in unseren Antrag aufgenommen, weil wir wissen, was für ein großes Hindernis es für viele Menschen, für viele Familien ist, dass ihre Kinder, die arbeiten - in vielen Ländern ist das leider der Fall, auch weil sie es müssen -, vom Zugang zu Bildung abgehalten werden. Es ist uns ein ganz dringendes Anliegen - das ist auch eine Aufgabe der Bundesregierung, insbesondere des Entwicklungsministeriums -, hier voranzukommen und Akzente zu setzen, um Kinderarbeit weltweit zu ächten und zu verhindern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum Thema "Mädchen- und Frauenbildung" könnte man sicher auch noch vieles sagen. Dass es nicht immer ganz oben auf der Agenda dieses Ministeriums war, haben wir in vielen Debatten in den letzten Jahren festgestellt. Ich möchte noch etwas zum Zeitpunkt der Einbringung unseres Antrags sagen. Sie haben so gönnerhaft gesagt: Da kommt die SPD mit einem überholten Antrag. - Wissen Sie, wann wir diesen Antrag im Bundestag eingebracht haben? Im Juli 2011! Dass wir ihn erst heute debattieren, dass erst seit November letzten Jahres der Bericht des Ausschusses vorliegt, ist beileibe nicht der Fehler der Sozialdemokraten oder der Opposition. Diesen Schuh müssen Sie sich selbst anziehen. (Harald Leibrecht [FDP]: Ist doch gut, wenn der Antrag überholt ist!) Ich will etwas zur Zeitschiene Ihrer Bildungsstrategie sagen. "BMZ-Bildungsstrategie 2010-2013" nennt sie sich im Untertitel. Vorgelegt wurde sie 2012. Da waren zwei Drittel des Zeitraumes, den sie umfassen soll, offensichtlich schon vorbei. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben halt Humor! - Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr! - Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Trotzdem viel passiert!) Ist Ihre Strategie nun der große Wurf? Ich würde sagen: Nix G'wiss woaß ma net; so heißt es auf Bayerisch. Genaues steht dort nicht. Darin stehen ein paar gute Formulierungen von Zielen, die wir teilen: Bildung ganzheitlich fördern, berufliche Bildung stärken. Das alles kann man unterschreiben. Das Rad muss ja auch nicht immer wieder neu erfunden werden; das ist ganz klar. Wenn man sich ansieht, wie vollmundig Sie gestartet sind, indem Sie das Thema Bildung zum Schlüsselfaktor der Entwicklungszusammenarbeit gemacht haben, und wie Sie nach vier Jahren gelandet sind, dann muss man wieder einmal das Bild bemühen: als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum Thema Grundbildung. Sie haben zu Recht gesagt: Hier gab es einen Aufwuchs der Mittel. Das gebe ich gerne zu. Darüber freue ich mich auch. Ich freue mich auch, dass es insgesamt im Bildungsbereich einen Mittelaufwuchs gegeben hat. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass mit dem Aufwuchs 2008 begonnen wurde. Der größte Sprung war 2008/2009. Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie noch nicht wirklich die Federführung für das Ministerium. Aber bitte, sei es drum. Hier muss man nicht so kleinlich sein. Hauptsache, ein Mittelaufwuchs. Wenn aber der Höhepunkt bei der Grundbildung im Jahr 2010 war und die Mittel für die Grundbildung in den Haushalten 2011 und 2012 wieder sanken, obwohl wir alle wissen, dass hier gehandelt werden muss, dann ist dies für mich unbegreiflich; das muss ich an dieser Stelle sagen. War das im Jahr 2010 nur ein Strohfeuer? Wie bewerten Sie Ihr eigenes Handeln? Was machen Sie jetzt? Auf die Neuauflage dieser Frage reagieren Sie mit der Bildung von Arbeitskreisen und der Formulierung von Strategiepapieren. Im Herbst letzten Jahres gab es wieder einmal die Einsetzung eines Arbeitskreises zum Thema "Positionspapier Grundbildung". 2012 haben Sie Ihr Konzept zur "Bildungsstrategie 2010-2013" vorgelegt; das muss man im Kopf -haben. Dieser Arbeitskreis soll den Input für ein Posi-tionspapier liefern? Wir wissen aber doch, um was es geht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht sagt es uns; der Atlas der Globalisierung sagt es uns in seinem Kapitel über Bildung. Wir wissen, dass wir die betroffenen Länder institutionell stärken müssen. Wir wissen, dass wir die Bildungsstrategien in diesen Ländern stärken müssen. All dies ist bekannt. Wir wissen, dass der Sektor Bildung weltweit unterfinanziert ist. Konzeptionelle und finanzielle Unterstützung ist also nötig. An dieser Stelle brauche ich keinen neuen Arbeitskreis und keine neuen Positionspapiere. Ich brauche Handeln. Das vermisse ich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss. Sie wollten sich an diesem Strategiepapier und dessen Umsetzung messen lassen. Auf der letzten Seite Ihres Strategiepapiers unter der Überschrift "Unsere Überzeugung: Mehr Bildung ist möglich" heißt es vollmundig: An der Erreichung unserer strategischen "Zehn Ziele für mehr Bildung" wollen wir uns messen lassen. Ich finde, diese Chance hat der Wähler am 22. September. Ich hoffe, er wird sie wahrnehmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anette Hübinger (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat, Frau Kofler, es ist anderthalb Jahre her, dass der Antrag der SPD zum Bereich der Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit zum ersten Mal in diesem Hause diskutiert wurde. Damals waren wir uns einig, dass zahlreiche Aspekte der Bildung wesentliche Bestandteile in unserer Entwicklungszusammenarbeit werden müssen. Über diese Aspekte haben wir uns auch ausgetauscht. Wir waren uns auch darüber einig, dass der kürzeste und schnellste Weg aus der Armut der Schulweg ist. Aber dieser Schulweg darf nicht beim Besuch der Grundschule enden, sondern er muss weitergehen. Lebenslanges Lernen muss ein wichtiger Bestandteil werden. Mittlerweile wartet der neue Weltbildungsbericht der UNESCO mit neuen Zahlen auf. In dem alten Bericht, den Sie in Ihrem Antrag zitiert haben, ging man von 67 Millionen Kindern aus, die keine Grundschulbildung haben. 61 Millionen sind es heute; damit hat sich die Situation leider nur wenig, aber immerhin, verbessert. Auf der anderen Seite sagt der Bericht auch, dass in der Zeit von 2008 bis 2010 die Grundbildung in der Gesamtheit zum Stillstand gekommen ist. In einigen Ländern gibt es zwar Fortschritte, aber in anderen nicht. Dass 61 Millionen Kinder keine Grundschule besuchen, ist besorgniserregend. Umso besorgniserregender ist auch, dass von 650 Millionen Kindern im Grundschulalter 120 Millionen Kinder nicht die vierte Klasse erreichen. Weitere 130 Millionen Kinder erwerben in dieser Schulzeit nicht genügend Basiswissen, um richtig lesen und schreiben zu können. Diese Zahl hat für mich eine erschreckende Aussagekraft. Erschreckend ist sie deswegen, weil die Akzeptanz der Eltern gegenüber der Bildung der Kinder nachlassen wird. Sie werden sich fragen: Warum schicke ich die Kinder zur Schule, wenn kein Bildungsfortschritt zu verzeichnen ist? Der zweite erschreckende Aspekt für mich ist, dass sich diese Defizite bis in das Erwachsenalter fortsetzen werden. Wir müssen bedenken, dass den Menschen damit im Grunde genommen die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung genommen wird, sie werden kein selbstbestimmtes Leben führen können. Für die Entwicklungsländer bedeutet das, dass sie selbst in ihrer Entwicklung nicht vorankommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Frau Kofler, Sie haben die Zahl genannt: Rund 750 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, zwei Drittel davon sind Frauen. Daher ist es erfreulich, dass zum ersten Mal in der Geschichte des BMZ eine Bildungsstrategie vorgelegt wurde - das BMZ ist immerhin schon 50 Jahre alt - und dass in dieser Strategie Bildung als Schwerpunkt formuliert wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich halte das Strategiepapier "Zehn Ziele für mehr Bildung" des Ministeriums für gelungen, weil es das -lebenslange Lernen als strategischen Schlüssel für -Entwicklung umfassend stärkt. Sachlich und an den drängenden Problemen orientiert, formuliert die Strategie, was unter einer inklusiven und ganzheitlichen Bildungspolitik zu verstehen ist. (Harald Leibrecht [FDP]: Ja!) In den Mittelpunkt gerückt werden neben der frühkindlichen, der Grund- und Sekundarbildung auch die berufliche Bildung - was in der Vergangenheit nachgelassen hatte; auf Reisen werden wir immer wieder darauf angesprochen - sowie die Hochschul- und die wissenschaftliche Bildung. Qualität steht dabei immer im Mittelpunkt - auch das ist in die Strategie eingeflossen -: Sowohl gute Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen als auch gute Arbeitsbedingungen - darum zähle ich auch die Arbeitsbedingungen der Kinder, nämlich der Schülerinnen und Schüler auf - werden genannt. Adäquate Bildungsinhalte und gutes Bildungsmanagement gehören genauso dazu wie eine Evaluierung und Wirkungskontrolle von Bildungsangeboten. Neue und innovative Methoden werden in den Projekten zur Anwendung kommen. Vor allem Ihre Beschwerde, Frau Dr. Kofler, dass die Veröffentlichung der Strategie so lange gedauert hat, kann ich nicht nachvollziehen. Bei der Erarbeitung der Strategie hat das Ministerium zum ersten Mal einen neuen Weg gewählt. Es hat den Weg gewählt, alle -Akteure in der Entwicklungscommunity einzubinden. Wenn ich ein Abstimmungsverfahren durchführe, um die breite Akzeptanz einer Strategie zu erhalten, und das daraus resultierende Wissen mit einfließen lassen will, dann braucht das eben Zeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Tatsache, dass wir uns Zeit gelassen haben, hat dazu geführt, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann. Wir haben ein Strategiepapier, das mittel- und langfristig über 2013 hinaus wirken wird. Es ist ein guter Leitfaden für uns als Entwicklungspolitiker. Es bietet aber auch eine gute Orientierung für unsere Partnerländer, wenn es darum geht, zu erfahren, in welchen Bereichen der Bildung sie mit uns zusammenarbeiten können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Schwerpunkte werden häufig gesetzt, aber leider nicht so oft mit entsprechenden Haushaltszahlen unterlegt. Damit das Ganze nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, haben wir das getan. Diese Zahlen können sich sehen lassen. Wir haben den Bereich bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ausgebaut. In diesen Bereich sind rund 17,6 Prozent des gesamten Budgets geflossen. Es ist damit - die Zahl wurde bereits genannt - auf 1,3 Milliarden Euro anwachsen. Es stellt sich die Frage, ob Studienplätze darin enthalten sind oder nicht. Wenn ich den Wissenschaftsbereich und den Hochschulbereich fördern möchte, dann brauche ich auch Studierende. Ich brauche Menschen von -außerhalb, die bei uns lernen und studieren dürfen. Auch in diesem Zusammenhang werden wir permanent gefragt: Könnt ihr nicht noch mehr jungen Menschen die Gelegenheit bieten, bei euch zu studieren? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Regierungszusagen im Bereich Bildung sind von 209 Millionen Euro in 2011 auf 350 Millionen Euro in 2012 gestiegen. Für dieses Jahr sind Zusagen in Höhe von 302 Millionen Euro geplant. Berücksichtigt man die Bildungsbestandteile in Maßnahmen anderer Sektoren, so liegen die Zusagen für Bildung in 2012 bei 465 Millionen Euro, für 2013 sind 342 Millionen Euro geplant. Aus 2012 wissen wir, dass der Ansatz übertroffen wurde, also ist dies auch 2013 zu erwarten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Da können die Grünen noch etwas lernen!) Zu begrüßen ist, dass auch die Mittelzusagen für den Bereich der beruflichen Bildung ihrer Bedeutung entsprechend deutlich angehoben wurden. Das System der dualen Ausbildung wird von unseren Partnerländern -vermehrt nachgefragt, vor allem, weil infolge der steigenden Investitionen in unseren Partnerländern - insbesondere aus dem europäischen Raum - und der Stärkung der örtlichen kleinen und mittelständischen Unternehmen vermehrt Fachpersonal gebraucht wird. Das bilden wir aus. Damit bieten wir den jungen Menschen eine gute Perspektive für ihr künftiges Leben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Bei uns müssen Unternehmen für die duale Ausbildung geradestehen und finanzielle Leistungen erbringen. Die Unternehmen in unseren Partnerländern können im Rahmen von Public-private-Partnership ebenso einen Beitrag leisten. Wir müssen den Unternehmen einen Umdenkungsprozess dergestalt nahelegen, dass sie einsehen, dass die Ausbildung junger Fachkräfte in ihrer Verantwortung liegt, dass sie einen Beitrag zur Ausbildung der jungen Fachkräfte leisten müssen, damit sie auch in Zukunft Fachkräfte haben. Dennoch bleibt der Staat in der Pflicht - diesbezüglich gebe ich Ihnen recht, Frau Dr. Kofler -; denn Bildung ist auch und vor allem Staatsangelegenheit. Kinder brauchen eine ordnungsgemäße Bildungsinfrastruktur. Deshalb unterstützen wir unsere Partnerländer beim Aufbau dieser Bildungsstrukturen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, müssen andere Institutionen die Lücke schließen dürfen. Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an die Kirchen, die in diesem Bereich eine sehr wertvolle Arbeit leisten und daher unsere Unterstützung verdienen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber auch der Hochschul- und Wissenschaftsbereich wird ausgebaut werden, da für Entwicklungs- und Innovationsprozesse gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte benötigt werden. Gerade im Forschungs- und -Wissenschaftsbereich stelle ich immer wieder fest, dass unsere Partnerländer bei globalen Fragen wie Klimawandel, Energie und Gesundheit gerne mit uns auf -Augenhöhe arbeiten möchten. Sie brauchen junge Wissenschaftler, damit sie an der Lösung dieser Probleme gemeinsam mit uns arbeiten können. Das zeugt von einem neuen Selbstbewusstsein unserer Partnerländer, das ich sehr begrüße. Liebe Frau Kofler, in Ihrer letzten Rede zu diesem Thema vor anderthalb Jahren haben Sie zu Recht bemängelt, dass die Mädchen im Entwurf der Strategie nicht expressis verbis benannt wurden. Im Ausschuss waren wir fraktionsübergreifend der Meinung, dass dies ein Manko ist und man nicht einfach sagen kann, dass Mädchen und Frauen immer mitgedacht werden. Dieser Mangel ist behoben. Unter Punkt 6 der Strategie ist die Mädchen- und Frauenförderung expressis verbis aufgenommen worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es wurden Probleme und Lösungen benannt. Problem: Ausbildung von Lehrerinnen. Lösung: sicherer Schulweg, getrennte sanitäre Anlagen. All das wird benannt. Meines Erachtens ist es zur Beseitigung der Diskriminierung aber genauso wichtig, dass wir die Entscheidungsträger in den Dörfern und in den Städten vor Ort auf -unsere Seite bringen und ihnen klarmachen, dass die Ausbildung der Mädchen wertvoll ist, und zwar für die Entwicklung der Mädchen und der Familie, aber auch für die Entwicklung des Dorfes, der Stadt und des ganzen Landes. Nur wenn uns das gelingt, wenn wir die Menschen mitnehmen können, sind unsere Projekte in diesem Bereich nachhaltig. Auch bei allem guten Willen wird Deutschland die Herausforderungen hinsichtlich der Bildungsproblematik weltweit nicht alleine bewältigen können. Dafür -fehlen uns ganz einfach die Mittel, auch wenn wir sie aufgestockt haben. Im internationalen Bereich müssen wir die Mittelvergabe besser koordinieren und unsere Anstrengungen verbessern und verstärken. An dieser Stelle ist der Blick mit Sicherheit auch auf den Post-MDG-Prozess zu richten; denn der Bildungsbereich muss in diesem Zusammenhang eine herausragende Stellung einnehmen. Wir als Industrieländer müssen uns genauso wie die Entwicklungs- und Schwellenländer verpflichten, damit wir gemeinsam zu einer verbindlichen Erklärung in diesem Bereich kommen. Die christlich-liberale Koalition hatte zu Beginn dieser Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt, in dem all die Punkte, die ich eben benannt habe, und noch mehr aufgeführt sind. Das Ministerium hat unsere Vorschläge, insbesondere unseren Vorschlag, Bildung zum Schwerpunktbereich unserer EZ zu machen, aufgegriffen. -Unsere Forderungen sind in die Bildungsstrategie eingeflossen. Von daher kann ich sagen, dass wir gut dastehen. Deswegen lehnen wir den Antrag ab. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Niema Movassat. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zum Jahr 2015 sollen alle Kinder auf der Welt die Möglichkeit haben, eine Grundschule zu besuchen. Das steht in den Millenniumsentwicklungszielen der internationalen Staatengemeinschaft aus dem Jahre 2000. Die Realität aber ist, dass dies ungefähr 61 Millionen Kindern weiterhin verwehrt bleibt. Heute ist es sogar so, dass in Afrika südlich der Sahara die Zahl der Kinder ohne Grundschulzugang teilweise wieder stark ansteigt. Deshalb muss Deutschland seine globalen Anstrengungen zur Erreichung des Zugangs zur Grundbildung deutlich steigern. (Beifall bei der LINKEN) Grundbildung ist insbesondere auch deshalb elementar, weil sie Analphabetismus verhindert. Weltweit können heute über 700 Millionen Erwachsene nicht lesen und schreiben. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist eher von Armut betroffen und hat es schwerer, sich politisch zu engagieren und für seine Rechte einzutreten. Zu einem gewissen Maß ist dies offenbar leider auch politisch gewollt. Die Kultur- und Erziehungsorganisation der Vereinten Nationen, die UNESCO, bescheinigt sowohl Regierungen als auch Gebern Gleichgültigkeit auf diesem Gebiet. Der verstorbene Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, hat einmal sehr richtig gesagt: Die einzige Form, mit der Armut Schluss zu machen, ist, den Armen Macht zu geben. Bewusstsein und Wissen sind Macht. (Beifall bei der LINKEN - Otto Fricke [FDP]: Chávez im Zusammenhang mit Menschenrechten zu nennen, ist schon sehr bemerkenswert!) Venezuela hat in nur sechs Jahren den Analphabetismus im Land besiegt. Das zeigt: Wo der politische Wille besteht, das Menschenrecht auf Bildung durchzusetzen, ist das auch möglich. (Beifall bei der LINKEN - Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Hugo for ever!) Obwohl weltweit etwa 2 Millionen neue Grundschullehrer benötigt werden, stagnieren seit 2010 die weltweiten Finanzzusagen insbesondere für die Grundbildung. Auch die Bundesregierung hat die Zusagen für die Grundbildung in den letzten Jahren von 113 Millionen Euro auf 81 Millionen Euro reduziert, während sie die Mittel für die Berufsbildung bzw. -ausbildung fast verdoppelt hat. Sie zäumen damit das Pferd von hinten auf. (Beifall bei der LINKEN) Bei Minister Niebels Fanatismus, was die Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft anbelangt, drängt sich leider der Verdacht auf, dass Sie lieber gezielt Fachkräfte für deutsche Unternehmen ausbilden, statt der breiten Masse Grundbildung zu ermöglichen. Das ist der falsche Weg. (Beifall bei der LINKEN) Erst in dieser Woche hat das Entwicklungsministerium die Mittel zur Bildung und Ausbildung von Journalisten in Entwicklungsländern erhöht. Mit großem -Pathos erklärte Staatssekretär Beerfeltz, dem Recht auf freie Meinungsäußerung müsse weltweit noch mehr -Geltung verschafft werden. Gleichzeitig aber übt das Ministerium im eigenen Land Zensur aus. Kritische Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Texte vor Veröffentlichung dem Ministerium vorlegen, wenn eine staatliche Förderung besteht. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Skandal!) Gedruckt werden darf nur das, was Herrn Niebel -gefällt. Der Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung hat dazu angemerkt, dass das Zustände wie in Weißrussland sind. Recht hat der Mann. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung verkündet übrigens gerne stolz, dass Deutschland 1,2 Milliarden Euro für internationale Bildung als Entwicklungshilfe ausgibt. Die Hälfte dieser Gelder aber sind Studienplatzkosten für ausländische Studierende, die in Deutschland studieren. Hierbei geht es oft nicht darum, den armen Ländern zu helfen, sondern ihre besten und klügsten Köpfe abzuwerben. Die UNESCO kritisiert das seit Jahren. Mit Entwicklungshilfe hat das nämlich nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen ist dieselbe neoliberale Politik, die Frau Merkel Europa aufzwängt und die zu schwersten sozialen Verwerfungen führt, seit Jahren für den Verfall des öffentlichen Bildungswesens in den Entwicklungsländern mitverantwortlich. So knüpft der Internationale Währungsfonds bis heute seine Kreditvergabe an die -Bedingung, Staatsausgaben zu reduzieren. Meist wird zuerst im Bildungssektor der Rotstift angesetzt. Die Bundesregierung als IFW-Mitglied muss, wenn sie es mit der Schaffung von Bildungszugängen für alle Kinder ernst meint, dagegen aktiv werden. (Beifall bei der LINKEN) Bildung ist ein Menschenrecht, das nur gebührenfreie staatliche Bildungssysteme gewährleisten können. Wir stimmen hierin mit dem SPD-Antrag überein und werden ihm deswegen auch zustimmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Otto Fricke [FDP]: Das sind ja feine Freunde!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Ute Koczy von Bündnis 90/Die Grünen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ute, jetzt fang an mit: Danke Dirk!) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von wegen. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Aber du könntest einmal sagen, wie viel für Bildung Rot-Grün zur Verfügung gestellt hat!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Tag, einen Tag nach der Vorstellung des Eckwertebeschlusses für den Haushalt 2014, kann ich als entwicklungspolitische Sprecherin bei der Diskussion über einen Bildungsantrag nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Fakt ist: Die Regierung kündigt Kürzungen im Haushalt des Entwicklungsministeriums an. (Otto Fricke [FDP]: Aha! Wie viel?) - Wenn man alles zusammenrechnet, drohen Einschnitte von bis zu 245 Millionen Euro, Herr Kollege. (Otto Fricke [FDP]: Gegenüber was?) - Gegenüber 2013. - Das ist ein Armutszeugnis für die Regierung Merkel, Rösler und Co. Das ist das finale Negativzertifikat der Entwicklungspolitik von Schwarz-Gelb. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ah, ja! - Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Du weißt schon noch, was bei Rot-Grün im Topf war?) Es entlarvt Kanzlerin Merkel als eine Versprechensbrecherin. Ich erinnere: Das 0,7-Prozent-Ziel wurde der Weltöffentlichkeit in Heiligendamm von Angela Merkel als deutsche Aufbruchspolitik, als deutsches Bekenntnis zur internationalen Verantwortung verkauft. Unter Minister Niebel landet dieses Versprechen auf dem schwarz-gelben Müllhaufen der Geschichte. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das müsst ihr mit euren 3,9 Milliarden Euro sagen! Sieben Jahre Stillstand!) Wenn er seine Mütze nicht schon dem Haus der Geschichte vermacht hätte, wäre jetzt die Gelegenheit, sie gleich noch hinterher auf diesen Müllhaufen zu werfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Anette Hübinger [CDU/CSU]: Wir hätten jetzt gern etwas zur Bildung gehört! - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sieben Jahre Stillstand, sieben Jahre keine Steigerung!) Diese Kürzungsansage ist angesichts der Ziele, die wir Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker zu erreichen suchen, nämlich globale Gerechtigkeit und eine Neubestimmung, wie wir in dieser globalen Welt Entwicklungswege innerhalb der planetarischen Grenzen gehen können, mehr als bitter. Die Kürzungen betreffen alle Arbeitsbereiche der EZ und damit wahrscheinlich auch das Themenfeld, über das wir hier heute sprechen, nämlich die Bildung. Wie gefährlich es ist, wenn sich Mädchen zur Bildung bekennen, musste die pakistanische Schülerin Malala aus dem Swat-Tal erleben. Sie wurde für ihr Bekenntnis, zur Schule gehen zu wollen und dafür auch öffentlich einzutreten und zu streiten, von Fundamentalisten tätlich angegriffen und schwer verletzt. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Und wie stellst du da eine Verbindung zum Entwicklungshaushalt her? Das ist ja unglaublich!) - Herr Kollege Fischer, das hat jetzt nichts damit zu tun, aber es hat sehr viel damit zu tun, wie wichtig Bildung ist und dass wir dafür streiten müssen. Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Jungen, für Menschen mit und ohne Handicap, für Alt und Jung, für Kinder aus allen Schichten - das ist doch ein Ziel, für das es sich zu streiten lohnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es gibt Erfolge, die Mut machen, die zeigen: Ja, es geht. Mit entwicklungspolitischen Maßnahmen können wir etwas erreichen, und wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir Grüne können diesem Antrag deswegen zustimmen. Denn wir wollen, dass nicht nur der Zugang zu Bildung, sondern auch die Qualität von Bildung vergrößert wird. Qualität bedeutet, dass die Lernenden wirklich etwas lernen. Qualität bedeutet, dass das Lehrpersonal ausreichend qualifiziert ist, dass die Zahl der Kinder in einer Klasse Lernen ermöglicht und dass es Curricula gibt, die Lernbereitschaft und Eigenanstrengung belohnen und fördern. Qualität heißt eben auch, den Anteil der weiblichen Lehrkräfte zu erhöhen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Deswegen entlassen die Grünen Zehntausende in Baden-Württemberg!) Ich finde, da muss man noch mehr tun. Die Bildungsstrategie des BMZ, die nach einem langwierigen Prozess Anfang letzten Jahres endlich vorgestellt wurde, muss finanziell und strategisch mit Substanz gefüllt werden. Unsere Kritik daran ist, dass unklar ist, mit welchen Maßnahmen die Ziele erreicht und finanziert werden sollen. Es gibt nämlich keine Indikatoren, keine konkreten Zahlen. Das bedeutet, dass nicht klar ist, worauf diese Bildungsstrategie konkret abzielt. Wir haben genug Ankündigungen gehört. Wir wollen Taten sehen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Otto Fricke [FDP]: Man sollte nie falsche Zahlen nennen, Frau Kollegin!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Für eine bessere Bildungssituation weltweit". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11492, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6484 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung eines Altersgelds für freiwillig aus dem Bundesdienst ausscheidende Beamte, Richter und Soldaten - Drucksache 17/12479 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Armin Schuster das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wettbewerb um die besten Köpfe im Land ist in vollem Gange, und er ist angesichts einer sich stetig verändernden Altersstruktur in der Bevölkerung und einer immer geringeren Zahl von Kindern eine der großen Herausforderungen für den öffentlichen Dienst. Wenn der Arbeitgeber Bund der Konkurrenz um gute Fachkräfte gewachsen sein will, muss er etwas bieten. Ich habe den Eindruck, heute bewerben sich die Bundesbehörden eher bei den Fachkräften als umgekehrt. Bei den Gehältern werden wir mit der Privatwirtschaft wohl nicht mithalten können. Deshalb muss der Bund als Arbeitgeber andere attraktive Angebote machen können. Genau da haben die Regierung, die Koalition und das Parlament ihre Aufgaben. Im Wettbewerb um die besten Fachkräfte hat die christlich-liberale -Koalition in dieser Legislaturperiode deshalb sehr viel getan, damit der Bund ein verlässlicher und zukunftsorientierter Arbeitgeber für Beamte, Soldaten und Bundesrichter bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So haben wir zum Beispiel die Dienstbezüge gleich zweimal inhaltsgleich zu den Tarifabschlüssen für den öffentlichen Dienst angepasst. Wir haben die Einsatzversorgung unserer Soldaten verbessert. Wir haben ein Fachkräftegewinnungsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem wir den Behörden attraktive Instrumente zur Personalgewinnung an die Hand geben. Die Zahlung des Weihnachtsgeldes für die Bundesbeamten wurde 2011 wieder eingeführt. Mit der Entscheidung, die pauschalen Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, hat der Bundesinnenminister genau zum richtigen Zeitpunkt ein sehr wichtiges Zeichen gesetzt. Apropos wichtige Zeichen zum richtigen Zeitpunkt: Bundesinnenminister Friedrich hat gestern die Bewertung von 1 063 Dienstposten der Bundespolizei angehoben. Seit 2011 kam es zu rund 3 000 Höherbewertungen und 150 Planstellenhebungen. Auch das ist ein echter Attraktivitätsschub, den sich die Betroffenen übrigens auch verdient haben; das darf ich an dieser Stelle einmal sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden noch in diesem Jahr die Familienpflegezeitregelung der Tarifbeschäftigten auf die Beamten des Bundes übertragen. Wir wollen, dass auch Beamte die Pflege von nahen Angehörigen und ihre Berufstätigkeit vereinbaren können. Vielleicht kann die Bundesverwaltung hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere beamtenpolitischen Initiativen in dieser Legislaturperiode stellen eine Erfolgsbilanz dieser christlich-liberalen Koalition dar, wie sie sich viele Beamtinnen und Beamte in einigen rot-grün geführten Bundesländern geradezu wünschen würden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Oh! Eine böse Spitze!) - Es kommt noch besser. - Wir wollen heute, sozusagen auf der Zielgeraden dieser Wahlperiode, eine weitere Gesetzesinitiative auf den Weg bringen, die es guten Bewerbern noch attraktiver erscheinen lässt, in der Bundesverwaltung anzuheuern. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lachhaft!) Wir wollen den Wechsel zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft zukünftig in beide Richtungen erleichtern. In der Koalition haben wir uns auf den vorliegenden Gesetzentwurf - Herr Dr. Ruppert, zugegebenermaßen intensiv - geeinigt, (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Ja, allerdings! - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: "Intensiv"? Das provoziert Zwischenfragen!) auf einen Gesetzentwurf übrigens, mit dem wir endlich die Dienstrechtsreform von 2009 komplettieren wollen. Wir wollten das eigentlich schon damals machen. Jetzt sind wir so weit. Wir wollen den Austausch zwischen Staat und Wirtschaft beleben und die besten Köpfe für den öffentlichen Dienst gewinnen, ihnen dabei aber nicht den Eindruck vermitteln, sie müssten sich von Beginn an für ihr ganzes Leben unwiderruflich verpflichten. Die Bundesverwaltung wird damit für Berufseinsteiger deutlich attraktiver. - Warum? Wenn aktive Beamte bisher einen Wechsel in die Privatwirtschaft erwogen haben, mussten sie im Rahmen der dann fälligen gesetzlichen Nachversicherung mit derart hohen Abschlägen in der Alterssicherung rechnen, dass die meisten von diesem Schritt abgehalten wurden. Das bleibt natürlich auch potenziellen Bewerbern nicht verborgen. Deshalb - das ist der Zustand heute - werden sich diejenigen, die sich eine berufliche Flexibilität von vornherein nicht verbauen wollen, nicht dafür entscheiden, in die öffentliche Verwaltung zu gehen. Genau diesen Bewerbern möchten wir die Option eröffnen, möglicherweise nur einen Teil ihres beruflichen Lebens als Beamter zu arbeiten und die damit erworbenen Versorgungsansprüche wie in der Privatwirtschaft quasi mitzunehmen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Regelung nicht nur mehr Gerechtigkeit bringt, sondern vor allen Dingen auch mehr Bewerber. Von diesen neu gewonnenen Bewerbern werden deutlich mehr bleiben als gehen. Erfahrene Fachkräfte oder Studienabsolventen werden den öffentlichen Dienst, wenn sie erst einmal drin sind, als attraktiven Arbeitgeber erleben und sich wohlfühlen. Deshalb ist das Thema Portabilität für mich ein Modell zum Einstieg. Mit der jetzigen Gesetzesinitiative will die Union dafür sorgen, dass Beamte, die freiwillig ausscheiden wollen, ihre bis dahin erdienten Pensionsansprüche nicht in erheblichem Umfang verlieren. Der bis zum Ausscheiden erworbene Anspruch soll weitgehend mit dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze als Altersgeld ausgezahlt werden. Das Lebenszeitprinzip bleibt für uns ein wichtiger Grundsatz. Wir wollen keine falschen Anreize setzen; deshalb haben wir einen Abschlag in Höhe von 15 Prozent der Altersgeldansprüche und eine Mindestverwendungszeit von sieben Jahren im Gesetz verankert. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Damit doch ja keiner geht!) Entstandene Ausbildungskosten sollen vom Staat gegebenenfalls zurückgefordert werden können. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Dann können Sie das gleich ganz lassen!) Mehr Austausch zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft bringt beiden Seiten Vorteile; dies zeigen die positiven Erfahrungen der christlich-liberalen Gesetzesinitiative von 2011 zur Einführung der Portabilität in Baden-Württemberg. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Macht doch das!) Weitere Länder werden dem folgen. Ich betrachte diesen Reformschritt deshalb als eine zukunftsorientierte Fortentwicklung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Auch die SPD, Herr Hartmann, wollte dieses Vorhaben eigentlich schon immer umsetzen, hat es aber nicht geschafft. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das ist an der CDU gescheitert!) Geschätzter Herr Kollege, um Ihnen doch ein wenig Erfolg zu gönnen, darf ich sinngemäß zitieren, was Sie heute morgen in anderem Zusammenhang sagten: dass es einem modernen Gesetzgeber gut zu Gesicht stünde, wenn er die Wirkungen seiner Gesetze regelmäßig bewerten würde. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So schlaue Sachen sage ich oft!) - Das ist wirklich schlau. Deswegen werden wir die Auswirkung dieses Gesetzes auf Personalbestand und Budgets zum 31. Dezember 2016 überprüfen. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sehr gut!) Das heißt, die SPD darf uns getrost zustimmen und uns fortan, wie Sie es heute morgen getan haben, als modernen Gesetzgeber bezeichnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Heiterkeit des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD] - Otto Fricke [FDP]: Wenn die SPD zustimmt, ist auch sie ein moderner Gesetzgeber!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben unseren Beamtinnen und Beamten, Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten in der Vergangenheit viel zugemutet durch Neuorganisationen, Reformen, Aufgabenerweiterungen und Stellenkürzungen. Das haben sie alles unter vollen Segeln bewerkstelligt, sodass wir uns glücklich schätzen dürfen, über sehr gut funktionierende Behörden zu verfügen. Dass das ein unschätzbarer Standortvorteil für Deutschland ist, sehen wir sehr gut an den EU-Ländern, die jetzt in der Krise sind: Dort gibt es - neben anderen Problemen - auch deutliche Defizite im öffentlichen Gemeinwesen. Unsere Verwaltung ist effizient und verlässlich, sie trägt wesentlich zum Erfolg des Standorts Deutschland bei. Weil unsere Beamten uns dies mit ihren Leistungen tagtäglich garantieren, wollen wir das auch angemessen honorieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Monetär, aber eben auch durch attraktive und moderne Arbeitsbedingungen zu motivieren, das war unser beamtenpolitisches Ziel. Nach Auffassung vieler Interessenverbände ist das dieser Koalition in dieser Legislatur sehr gut gelungen. Die Einführung eines Altersgeldes ist nur ein Beleg dafür, wie wir den öffentlichen Dienst Schritt für Schritt modernisieren. Als Baden-Württemberger drängt sich mir natürlich die Frage auf - ich habe ja zwölf Minuten, Herr Hartmann -: Was wäre eigentlich die grün-rote oder die rot-grüne Alternative? Das ist jetzt einfach; denn ich habe das jeden Tag live zu Hause. Ich zitiere einmal Herrn Stich, den Chef des Baden-Württembergischen Beamtenbundes. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Der ist doch auch CDU-Mitglied! Der macht da CDU-Propaganda, oder?) Nach zwei Jahren Regierungszeit von Grün-Rot in Baden-Württemberg spricht er von einem Offenbarungseid dieser Regierung. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So schaut es aus! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er würde auch aus der Partei ausgeschlossen, wenn er was anderes sagen würde!) Ein Beispiel: In Baden-Württemberg werden, so kündigte Finanzminister Schmid am Montag, nicht einmal 48 Stunden nach der Tarifrunde, an, die Ergebnisse der Tarifrunde nicht auf die Beamten und Pensionäre übertragen. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Ungeheuerlich! - Michael Frieser [CDU/CSU]: Unfassbar!) Man habe im Haushalt nicht mit einem solchen Ergebnis gerechnet. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die haben mit nix gerechnet!) 2,65 Prozent Lohnsteigerung in diesem Jahr und knapp 3 Prozent im nächsten Jahr: Damit konnte man nicht rechnen? Hier werden die Beamten hinter die Fichte geführt. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Kein -moderner Gesetzgeber!) Wenn Sie das einmal vergleichen wollen: In Baden-Württemberg werden gerade die Eingangsämter für -Beamte abgesenkt. Mit unserem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir sie für die speziellen Fachverwendungen angehoben. Schauen Sie sich auch an, wie etwa Schleswig--Holstein und Nordrhein-Westfalen mit den Tarifergebnissen umgehen: Sie denken darüber nach, sie nicht zu übertragen. Rheinland-Pfalz hat schon entschieden, sie nicht zu übertragen. Und was sagt Bayern? Logisch: gleiche Regierung, inhaltsgleich, voll übertragen wie der Bund. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wer hat es gemacht? Wir haben es gemacht!) Auf uns, auf die CDU/CSU und die FDP, können sich der Richter, der Soldat, die Richterin, die Soldatin, der Beamte, die Beamtin und die Versorgungsempfänger verlassen. Solange wir das Land regieren, stimmt es auch im öffentlichen Dienst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das musste mal gesagt werden! - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das müsst ihr mal der Bundespolizei sagen!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine erste Rede zu beamtenpolitischen Themen in diesem Haus habe ich im September 2010 gehalten. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das macht ja nichts!) - Ja, ja. Damals haben Sie mich vielleicht gar nicht ernst genommen, aber jetzt tun Sie es, glaube ich, langsam. - Schon damals habe ich angekündigt, dass wir in dieser Wahlperiode gezielt daran arbeiten werden, den öffentlichen Dienst des Bundes attraktiver zu gestalten. Bis hierhin haben wir gegenüber den Beamten, Richtern, Soldaten und Versorgungsempfängern Wort gehalten, und für die kommende Wahlperiode haben wir noch einiges im Köcher, worauf sie sich ab Oktober wirklich freuen dürfen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Jetzt sagen die nichts mehr! Dem ist nichts hinzuzufügen! - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Mir fehlen die Worte! Ich ziehe meine Rede zurück! - Gegenruf des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt können wir aufhören! Wir können die Debatte abbrechen! Die SPD verzichtet!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Er ist voller Bewunderung!) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin noch ehrfurchtsvoll erschüttert ob des großen Selbstlobs dieser Koalition (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenn es sonst keiner macht, dann müssen wir das selber machen! - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sehr gut!) für alle vermeintlichen Wohltaten für die Beamtinnen und Beamten im Land. Aber man darf auch zu dieser Abendstunde an die Realität erinnern. Herr Schuster, Sie haben so ruhmreich erwähnt, dass das Weihnachtsgeld nun wieder eingeführt worden sei. Ich kann Ihnen sagen, warum: Beamtenbund, Gewerkschaften und auch wir sind Sturm gelaufen, und das war so einfach nicht mehr zu halten. Sie haben das Weihnachtsgeld zunächst gekürzt und es dann nur auf Druck wieder erhöht. Das ist die richtige Erinnerung an die Realität. (Beifall bei der SPD - Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das war doch unter der SPD gekürzt worden! - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, so war das nicht!) - Nein, das ist nicht wahr. Herr Binninger, regen Sie sich nicht so auf, sonst erzähle ich, wie Sie sich in der -Großen Koalition auf den letzten Metern beim Thema Mitnahmefähigkeit verhalten haben. Das tue ich aber lieber nicht. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das mache ich gleich, keine Sorge!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden heute über ein Thema, das hier im Parlament selten genug aufgerufen wird, nämlich über Beamte - und in -diesem Falle sogar über die Beamtenversorgung. In der Tat: Die Klischees sind mannigfaltig. Nichts ist beliebter als eine Schelte der angeblich faulen und überbezahlten Beamten, die ohnehin auch noch unfähig seien. Vielleicht wird das nur durch eine allgemeine Politikerschelte getoppt. Deshalb ist es gut, in der heutigen Debatte jenseits eines durchschaubaren Selbstlobs einmal festzustellen, dass vor allem ein anderer Ton angemessen ist; denn Beamte sind beispielsweise die Polizistinnen und Polizisten, die ihren Dienst in Wechselschichten versehen; die Feuerwehrleute, die Tag und Nacht unterwegs sind, und die Soldatinnen und Soldaten, die alle zusammen für unsere Sicherheit sorgen. Beamtinnen und Beamte sind auch die Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, die Personalausweise ausstellen oder Baugenehmigungen erteilen. Beamtinnen und Beamte sind im Bundesdienst beispielsweise sehr fleißige Menschen, die Rettungsschirme aufspannen, die dafür sorgen, dass Gesetze verfassungsgemäß sind, und die schnell und qualifiziert zuarbeiten. Deshalb meine ich, meine Damen und Herren: Es darf in diesem Parlament sehr deutlich ausgesprochen werden, dass das Gute an dem Berufsbeamtentum, wie wir es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erleben, der Umstand ist, dass jene Beschäftigten nur eine Verpflichtung haben, nämlich der Kommune, dem Land, der Bundesrepublik oder Europa zu dienen, und keinen anderen Zweck verfolgen. Länder wie Griechenland wären froh, sie hätten dieses Berufsbeamtentum. Und auch das ist wahr: Die Stabilität und Berechenbarkeit unseres Landes, das gute Verwaltungshandeln - das ist diesen und anderen Beamtinnen und Beamten in hohem Maße geschuldet, und dafür dürfen wir ihnen auch Dank sagen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) zumal - das vermuten manche - die Besoldung nicht beim Ministerialdirektor beginnt. Vielmehr beginnt die Besoldung beim Bund beim Oberamtsgehilfen. Dieser trägt ungefähr 1 800 Euro brutto nach Hause. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Brutto kommt er damit nie nach Hause!) Es sind also keine Riesensummen und -beträge. Ich sage das, weil der Reflex gegen Beamte meistens in eine andere Richtung weist. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Man sollte über die kalte Progression mal im Bundesrat nachdenken!) Allerdings ist es so, dass auch das Berufsbeamtentum in unseren Zeiten einem Wandel unterliegt, dass die Anforderungen wesentlich andere sind und dass die Uhren bei - Herr Schuster, da sind wir beieinander - der -Gewinnung von Fach- und Nachwuchskräften in Konkurrenz mit der gewerblichen Wirtschaft und angesichts des demografischen Wandels anders gestellt werden müssen. Dazu sind wir bereit, und dem müssen wir uns stellen. Allerdings sagen wir sehr deutlich in Richtung des Bundesinnenministeriums, dass die Gralshüter des klassischen hoheitlichen Berufsbeamtentums irren, wenn sie erwarten, dass diesem nun mit der Mitnahmefähigkeit der -Untergang droht. Diese Argumentation hörten wir in der Großen Koalition - Herr Binninger, unter Ihrem wesentlichen Mittun -, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nicht von mir!) als wir bei der Einführung der Mitnahmefähigkeit auf den letzten Metern durch CDU/CSU ausgebremst wurden. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nicht von mir!) Also tun Sie nicht so, als seien Sie die Motoren gewesen. Der größte Widerstand gegen das, was wir jetzt auf den Weg bringen, sitzt im Bundesinnenministerium. Sie mussten denen all das auf unseren Druck hin abringen, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Wir haben es gemacht!) Jedenfalls droht mit der Mitnahmefähigkeit nicht der Untergang des Berufsbeamtentums, ganz im Gegenteil: Die Zukunftsfähigkeit wird damit hergestellt. Denn diese klassische Denke "Einmal Beamter, immer Beamter" und "Wer vorher geht, nimmt Netzwerkwissen, seine Ausbildung und anderes mehr mit und wird das schändlicherweise in der gewerblichen Wirtschaft verwenden" stammt aus dem 19. Jahrhundert. Diese Denke hält junge Menschen eher davon ab, Beamter werden zu wollen, als dass sie zum Exodus der Menschen aus dem Berufsbeamtentum führt, wie manche unterstellen. Insofern ist es bereits in der derzeitigen Situation so, dass Beamtinnen und Beamte gehen. Aber das sind meistens diejenigen, die sehr weit oben in der Besoldung angesiedelt sind, und es sind jene, die mit ihrem zukünftigen Arbeitgeber vereinbaren können, dass sie das, was ihnen verloren geht, anderweitig als Ausgleich erhalten. Aber jetzt stellen wir uns einen Moment lang einmal vor, in der gewerblichen Wirtschaft würde jemand sagen: Deine Betriebsrente, die du erworben hast, darfst du, wenn du Firma A verlässt und zu Firma B gehst, nicht mitnehmen. Du verlierst alles, was du bisher an Betriebsrente erworben hast. - Was würden wir dann -sagen? Wir haben durchgesetzt, dass es diese Mitnahmefähigkeit in der gewerblichen Wirtschaft und für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gibt, und deshalb ist es nur konsequent, diese endlich auch auf das Berufsbeamtentum auszudehnen. (Beifall bei der SPD) Es kann nicht sein, dass ein Beamter ewig an das Beamtentum gekettet ist und bestraft wird, wenn er geht. Vielmehr wollen wir junge Leute gewinnen, junge Leute, die sagen: Wir sind vielleicht interessiert, bei einer Sicherheitsbehörde, bei einer Verwaltungsbehörde, bei einem Ministerium unsere hohen Kenntnisse -beispielsweise im IT-Bereich einzubringen. Aber wir wollen nicht bis ans Ende unserer Tage dort sein, und wenn wir bis ans Ende aller Tage dort sein müssen oder anderenfalls unsere Bezüge verlieren, dann fangen wir dort erst gar nicht an. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Mitnahmefähigkeit nicht als eine Schleuse ansehen, die alles öffnet, damit Beamte abwandern können. Es ist keine Ausstiegsklausel aus dem öffentlichen Dienst, sondern vielmehr eine Einstiegsklausel in den öffentlichen Dienst, um junge Leute für diesen zu gewinnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden den weiteren Prozess aktiv und intensiv mitbegleiten. Wir werden Sie darin unterstützen, gegen alle Kritiker in Ihren Reihen und in unseren Reihen das Beamtenrecht modern zu gestalten. Aber wir werden das Ganze nur wirklich voranbringen können, wenn wir den Mut haben, zu sagen, dass das, was Beamtinnen und Beamte in oftmals schwierigen Situationen leisten, nicht etwa Schimpf und Schande verdient, sondern Anerkennung. Die SPD ist bereit, unseren Berufsbeamten, unseren Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst diese Anerkennung entgegenzubringen, und ist deshalb nicht erst seit gestern, sondern schon lange für die Mitnahmefähigkeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss sagen, Herr Hartmann, das war eine ausgesprochen gute Rede, weil Sie unser Gesetzesvorhaben so ausdrücklich gelobt haben. Ich verstehe Sie, dass Sie diese Rede gerne vor vier oder viereinhalb Jahren gehalten hätten. Es ist immerhin anzuerkennen, dass Sie heute loben, was wir hier tun. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Neulich diskutierten wir mit dem dbb und mit Verdi über beamtenrechtliche Fragen. Es wurde die Föderalismusreform kritisiert und die Frage aufgeworfen, ob sich das Beamtenrecht zwischen dem Bund und den Ländern und auch den Ländern untereinander zunehmend aus-einanderentwickelt. Herr Schuster hat einige wichtige Hinweise darauf gegeben, dass in der Tat dort, wo bürgerliche Koalitionen regieren, mittlerweile die Leistungen für das Berufsbeamtentum um bis zu 20 Prozent höher sind als dort, wo Rot-Rot oder Rot-Grün regieren, und dass es ein Auseinanderdriften der Systeme und der Besoldung und der Attraktivität gibt. Den armen Beamten kann man also leider nur sagen: Es ist im Moment ein wenig Pech, in einem Land zu wohnen, wo keine bürgerliche Regierung die Geschicke bestimmt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur den Beamten kann man das sagen!) Ich habe in diesen Jahren hier im Deutschen Bundestag, aber auch schon davor ein sehr positives Bild vom deutschen Berufsbeamtentum gewonnen: viele sehr leistungsfähige Mitarbeiter in den Ministerien, aber auch bei der Bundespolizei und andernorts. Ich glaube, wir können auf ein leistungsfähiges Berufsbeamtentum zu Recht stolz sein. Wir sollten darauf achten, dass das Berufs-beamtentum dort aktiv ist, wo es wirklich um hoheitliche Aufgaben geht, und nicht darüber hinaus. Wir haben ein Leitbild des Berufsbeamtentums, das nicht darauf angelegt ist, jemanden, der sich einmal für den öffentlichen Dienst entschieden hat, sein ganzes Leben an diese Tätigkeit zu binden. Ich nenne ein Beispiel. Eine Bundespolizistin ist in Sachsen tätig, bekommt zwei Kinder und ist vielleicht mit A 9 besoldet. Als sie wieder in den Beruf einsteigen will, merkt sie, dass ihr nächster Dienstort vielleicht der Frankfurter Flughafen sein könnte. - Wir stellen immer wieder fest, dass in diesen Fällen gar kein Wiedereinstieg in den Beruf erfolgt, weil man nicht umziehen will oder weil man sagt, man kann diese Flexibilität, was die Mobilität angeht, nicht aufbringen. Wenn diese Bundespolizistin den öffentlichen Dienst verlassen würde, würde sie wie eine Straftäterin behandelt. Sie würde nach dem Sozialgesetzbuch nachver-sichert und würde einen Großteil ihrer Altersver-sorgungsansprüche verlieren. Das ist eine echte Gerechtigkeitslücke. Herr Hartmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass jemand, der von Siemens zu IBM wechselt, seine Altersversorgungsansprüche natürlich nicht verliert. Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch kein Interesse daran, dass manche - neudeutsch würde man von "Jobhopping" reden - alle zwei oder drei Jahre ihren Beruf wechseln und immer dann, wenn die Zeiten vielleicht etwas schwieriger sind, in den öffentlichen Dienst gehen, um in besseren Zeiten wiederum in die Privatwirtschaft zu wechseln. Deswegen haben wir klar-gemacht: Es muss eine siebenjährige Mindestdienstzeit im öffentlichen Dienst geben, und es muss einen Abschlag gegenüber den normalen Pensionsansprüchen geben. Aus unserer Sicht hätte man auch mit fünf Jahren Mindestzeit leben und auf den Abschlag verzichten können. Aber es muss klar sein, dass ein Wechsel alle zwei Jahre von uns nicht toleriert wird. Die FDP fordert diese Portabilität seit 20 Jahren; das steht seit 20 Jahren in unserem Programm. Wir sind sehr froh, dass es heute, nach über 20 Jahren, endlich zu mehr Flexibilität beim Wechsel zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst kommen wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Ruppert, nehmen Sie eine Frage des Kollegen Hartmann an? Dr. Stefan Ruppert (FDP): Gern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Hartmann. Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Danke, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Ruppert. - Herr Ruppert, ich habe ein Problem mit dieser Argumentation, die häufiger zu hören ist. Wenn es so ist, dass wir die Portabilität wirklich einführen wollen, warum haben Sie dann in dem, was jetzt in erster Lesung zur Diskussion gestellt und hoffentlich noch verbessert wird, 15 Prozent Abschlag und eine Wartezeit von sieben statt fünf Jahren vorgesehen und außerdem noch angekündigt, dass Ausbildungskosten ebenfalls erstattet werden müssen? Glauben Sie tatsächlich, dass noch jemand ernsthaft bereit ist, die Mitnahmefähigkeit in Anspruch zu nehmen, wenn dafür so hohe Hürden aufgebaut werden? Warum macht man es nicht wie in Baden-Württemberg, das Sie, Herr Schuster, als glühendes Beispiel und großes Vorbild gelobt haben? Warum lässt man die Leute nicht einfach nach fünf Jahren gehen und alles mitnehmen, was sie bis dahin erworben haben? Last, but not least: Ist es denn nicht wahr, dass in Baden-Württemberg entgegen der großen Befürchtung aller Gralshüter des Berufsbeamtentums in 2011 gerade einmal 80 Leute gegangen sind, und zwar in den Besoldungsgruppen A 8 bis A 10? Eine Person mit B 3 war dabei. Warum gehen Sie nicht den richtigen Schritt, statt halbherzig zu agieren und am Schluss doch wieder die Portabilität zu verbauen und gar nicht einzuführen? Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Hartmann, das ist ein Einstieg. Wir haben eine gründliche Analyse durch die Fachleute, die wir bei den Bundesbehörden und Bundesministerien in großer Zahl haben, vornehmen lassen und haben festgestellt, dass es einige Bereiche gibt, in denen wir darauf angewiesen sind, dass man sich für einen längeren Zeitraum für die Tätigkeit als Beamter im öffentlichen Dienst entscheidet. Ich hätte mir auch das baden-württembergische Modell vorstellen können. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Dann machen wir es zusammen! - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sozialliberal!) Am Ende sind solche Dinge auch Kompromisse. Ich finde, es ist richtig, wenn man so etwas erstmals einführt - dafür ist die Sache zu ernst -, das nicht als reines Experimentierfeld anzusehen, sondern zu sagen: Wir führen es jetzt mit sieben Jahren und 15 Prozent Abschlag ein, evaluieren es dann - das haben wir ja ebenfalls vorgesehen -, stellen fest, wie es sich in der Praxis ausgewirkt hat, und die nächste schwarz-gelbe Bundesregierung wird dann in der nächsten Legislaturperiode entweder noch weitergehende Schritte tun, oder wir werden feststellen, dass das schon der Weisheit letzter Schluss war. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da drohen Sie mit dem Schlimmsten!) - Nein, keine Angst. Jeder kann helfen durch seine Zweitstimme, die wir gerne annehmen. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Auch noch!) - Ja, ich glaube, wenn Sie nachdenken, kommen Sie zumindest als beamtenpolitischer Sprecher irgendwann zu der Einsicht, dass es Ihr Gewissen gebietet, dass man eigentlich lieber Schwarz-Gelb wählt, weil es dann den Beamten etwas besser geht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ich bin für Freiheit! - Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) - Herr Kurth weist zu Recht darauf hin, Herr Hartmann: Das gilt nicht nur für die Beamten, sondern auch für die große Mehrheit der Gesellschaft. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da fragen Sie mal die große Mehrheit!) Ich will noch einen Punkt erwähnen: die Soldaten auf Zeit. Das ist ein wichtiger Regelungsbereich. Wir könnten uns vorstellen, dass auch bei den Soldaten auf Zeit, etwa bei SaZ 12, noch eine solche Regelung eingeführt werden kann. Auch das wäre ein Thema für eine Anhörung und gegebenenfalls Anlass für ein Tätigwerden in der nächsten Legislaturperiode. Bei uns besteht der klare politische Wille, zu sagen: Wir wollen als ein wichtiges Instrument bei der Bundeswehrreform auch die Soldaten auf Zeit noch miteinbeziehen. Wir werden sehen, ob sich da jetzt etwas machen lässt oder ob wir das in der nächsten Legislaturperiode machen. Wahrscheinlich werden wir auch hier sagen: Erst einmal machen wir es bei den Berufsbeamten und Soldaten auf Lebenszeit, und in einem zweiten Schritt beziehen wir auch noch die SaZler ein. Insgesamt ist das für uns Liberale nach 20 Jahren programmatischer Forderungen nach Portabilität ein wirklich guter Tag, weil wir jetzt in diese Dinge einsteigen, wie übrigens auch die Landesregierung in Hessen und die frühere schwarz-gelbe Landesregierung in Baden-Württemberg. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Die neue Regierung der SPD in Hamburg! Niedersachsen!) - Man kann sich nur wünschen, dass Ihre Landesregierungen diesen Schritt auch außerhalb von Hamburg gehen. - So geht es den Beamten in den schwarz-gelb regierten Ländern auch in Zukunft besser als in rot-grün oder in rot-rot regierten Ländern. Insofern ist dies eine gute Legislaturperiode für das deutsche Berufsbeamtentum. Ich freue mich darüber, dass Sie uns unterstützen - herzlichen Dank dafür. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Gaudium maximum!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Frank Tempel. (Beifall bei der LINKEN) Frank Tempel (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der öffentliche Dienst muss attraktiver werden. Darin sind wir uns offensichtlich einig. Das ist auch kein Wunder: Denn das bekommen wir von den Gewerkschaften ständig mit auf den Weg. Das ist auch die logische Konsequenz aus der Debatte rund um den demografischen Wandel, den prognostizierten Fachkräftemangel und aus der Summe verschiedener Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Fehlentscheidungen der letzten Regierung. Der Grund dieser Debatte ist ganz einfach die Sorge, auch in den nächsten Jahren eine ausreichende Zahl an Nachwuchskräften für den öffentlichen Dienst zu gewinnen. In einem Punkt sind wir uns alle wohl einig: "Attraktiver" heißt nicht immer mehr Geld und mehr Vergünstigungen. Es bedeutet hier vielmehr: modernisieren, flexibilisieren und entwickeln. Wer das Berufsbeamtentum verändern will, löst oft Panikattacken aus. Der Untergang des Berufsbeamtentums und der Niedergang der hergebrachten Grundsätze werden in einem solchen Fall schnell prophezeit. Wer aber genau hinschaut, erkennt, dass das Berufsbeamtentum ohne Modernisierung und ohne Weiterentwicklung bald nicht mehr zukunftsfähig sein wird. Das Lebenszeitprinzip ist ein Grundsatz, der die Zukunftsfähigkeit gefährdet. Setzen junge Menschen in Zukunft bei der Berufswahl - Sie haben es eben beschrieben - eher auf die Sicherheit einer lebenslangen Anstellung, oder geht der Trend nicht doch eher in Richtung flexiblere, offenere Lebensgestaltung? Ich will das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Ich bin als Polizeibeamter Beamter auf Lebenszeit. Während ich mein Bundestagsmandat ausübe, ruht mein Dienst. Aber nach Beendigung meiner Abgeordnetentätigkeit würde ich normalerweise den Dienst als Polizeibeamter wieder antreten. (Zuruf von der FDP) - Bei dem, was ich dann vielleicht vorhätte, würden Sie sich das vielleicht sogar wünschen. Nehmen wir Folgendes an: Hier habe ich einige Jahre im Bereich der Drogenpolitik gearbeitet. Ich habe festgestellt, dass bei diesem Thema ein erhebliches Bildungsdefizit bei der Bundesregierung besteht. Ich erkenne also eine Marktlücke und würde mich selbstständig machen, um als Berater für die Bundesregierung zu arbeiten. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein schönes Beispiel!) Dann würde ich freiwillig aus dem Beamtendienst ausscheiden. Nach gegenwärtiger Rechtslage würde ich bei der Nachversicherung in die Rentenversicherung einen erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Mit dem hier richtigerweise vorgeschlagenen Altersgeld - abgesehen von der Ausgestaltung - würde dieser Nachteil ausgeglichen werden, was erst einmal zu begrüßen wäre. Es bliebe - das ist von Herrn Ruppert richtigerweise angesprochen worden - dann noch die Frage der Zersplitterung in unterschiedliches Landes- und Bundesrecht offen; denn als Landesbeamter von Thüringen fiele ich gar nicht unter die hier zu beschließende Regelung. Hier besteht weiterhin Diskussionsbedarf. Das vorgeschlagene Altersgeld ist also ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn man aber den Reformbedarf insgesamt sieht, dann muss man sagen, dass es sich eher um einen ganz kleinen Schritt handelt. Wenn wir über einen leichteren Wechsel vom öffentlichen Dienst in die Privatwirtschaft reden, dürfen wir den Wechsel von der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst nicht vergessen. Auch hier müssen modernere Ansätze her. Denn ist es für einen dringend benötigten Experten wirklich attraktiv, im Alter von Mitte 40 zum Beispiel zum Bundeskriminalamt zu wechseln? Angesichts der im öffentlichen Dienst benötigten Fachkräfte besteht hier dringender Diskussionsbedarf. Es ist dringend erforderlich, die sozialen Belange mehr im Auge zu behalten. Herr Schuster, hier ist das Schulterklopfen beendet. Sie wissen sicherlich, was ich meine: Immer mehr Aufgaben und immer weniger Personal, das war ein Trend der letzten Jahre. Das hat den Staatsdienst nicht gerade erstrebenswerter gemacht. Wenn infolgedessen von hohen Krankenständen, Burn-out-Syndrom und innerer Kündigung berichtet wird, ist das ganz sicher keine Werbung für den öffentlichen Dienst. Gerade hier hilft eine Ausbildungs- und Einstellungsoffensive. Gerade der öffentliche Dienst sollte Vorreiter für familienfreundliche Regelungen - auch das Problem hat Herr Ruppert angesprochen, allerdings ohne Lösungen anzubieten - und flexible Lebensarbeitszeitlösungen sein. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]) Die Linke ist gern bereit, solche kleinen Schritte, wie hier vorgeschlagen, mitzugehen. Wir stellen auch gern Hinweise als Gehhilfe zur Verfügung. Aber wer den Weg nicht zu Ende geht, kommt auch nicht ans Ziel. (Beifall bei der LINKEN - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Der bleibt im Morast stecken!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Altersgeld ist keine Erfindung dieser Koalition. Es ist auch nicht das Ergebnis irgendeines heldenhaften Kampfes, weder der FDP noch des Kollegen Ruppert. Die Einführung der Möglichkeit einer Mitnahme von Versorgungsanwartschaften bei freiwilligem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis ist ein seit Jahren - auch hier im Bundestag - diskutierter und längst überfälliger Reformvorschlag. Wem haben wir es zu verdanken, dass die über ein Jahrzehnt alten Vorschläge - ich zitiere den Gesetzentwurf - zur Erhöhung von Mobilität und Flexibilität der Beamten und zum Austausch mit der Wirtschaft erst heute im Plenum liegen? (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht?) Wolfgang Schäuble! Wolfgang Schäuble war es, meine Damen und Herren, (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Die wahre Wahrheit! Und Binninger war sein Helfershelfer!) der noch 2008 eine solche Portabilität grundsätzlich ablehnte - Herr Ruppert, Sie waren es nicht - und so den damaligen Koalitionspartner SPD vorführte. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das tut heute noch weh!) Wolfgang Schäuble und der CDU/CSU haben wir es also zu verdanken, dass die dem Altersgeld zugeschriebenen nahezu magischen Kräfte in Sachen Fachkräftegewinnung sich im letzten halben Jahrzehnt nicht haben entfalten können. (Otto Fricke [FDP]: Da musste erst wieder die FDP kommen!) Wie aber geht das mit dem Satz zusammen, mit dem sich der Kollege Krings gern zitieren lässt? (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Aha!) Ich zitiere: Wir wollen mit der Reform die besten Köpfe für den öffentlichen Dienst gewinnen und den Austausch zwischen Staat und Wirtschaft beleben. Meine Damen und Herren, die Antwort: Das lässt sich überhaupt nicht zusammenbringen. (Heiterkeit der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Da kann man Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, auch heute die Frage nicht ersparen: Wenn das Altersgeld, Herr Kollege Schuster, so eine tolle Sache ist, wie Sie das hier heute vertreten, warum haben Sie es dann jahrelang im Keller liegen lassen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: NRW! Rheinland-Pfalz!) Tatsächlich geht es hier um materielle Gerechtigkeit. Es geht um die Anerkennung von Realitäten und um eine lange überfällige, allseits geforderte Facette der Modernisierung des Beamtenrechts. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Oh, ein Satz, länger als 160 Zeichen!) Diese Anwartschaften müssen prinzipiell verlustfrei mitgenommen werden können. Die vorgelegten Rechtfertigungen für die genannten Einschränkungen überzeugen uns nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war aber mal ein langer Satz!) Dabei räumen die Gewerkschaften ein, dass es allenfalls in wenigen Bereichen der Bundesverwaltung, wie zum Beispiel der IT, überhaupt eine entsprechende Wechselstimmung gibt und insgesamt wohl keine große Nachfrage zu erwarten sein wird. Das ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zu den Superlativen des Wettbewerbs um die besten Köpfe und der Art und Weise, wie Sie sich für dieses Gesetzchen hier feiern lassen. Die Gewerkschaften haben mit Recht angemerkt: Die im vorliegenden Entwurf gewählte Ausgestaltung des Altersgeldes erst ab einer altersgeldfähigen Dienstzeit von sieben anstelle von fünf Jahren erscheint will-kürlich. Vor allen Dingen an die CDU/CSU gerichtet sage ich: Die Vorgängerregierung - auch unter Frau Merkel! - hat einen Bericht in Auftrag gegeben, und in diesem Bericht wird genau für eine fünfjährige Mindestdauer plädiert, von der Sie jetzt abweichen. Dasselbe gilt für den pauschalen Abschlag von 15 Prozent auf den Gesamtanspruch. Die Sorge, hier werde ein Aussteigerprogramm für Beamte gestartet, das außer Kontrolle geraten könnte, scheint nur auf den ersten Blick plausibel; wahrscheinlich ist das aber nicht, wie ich schon gesagt habe. Meine Damen und Herren, dieser Tage gab es einen interessanten Artikel auf Zeit Online über die heranwachsende Generation Y, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Bundeswehr, oder was?) über gut ausgebildete, hoch motivierte junge Leute, die es doch tatsächlich wagen, gerade nicht die Bezahlung und Versorgung, sondern die Qualität ihres Arbeitsplatzes insgesamt in den Mittelpunkt ihrer Berufswahl zu stellen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Habe ich auch getan!) Diese sogenannten High Potentials gehen einfach wieder, wenn sie zum Beispiel auf starre Hierarchien und Chefs von gestern treffen. Was hat diese Koalition diesen jungen Menschen in Sachen öffentlicher Dienst zu bieten? Und was haben Sie als Koalition dem öffentlichen Dienst im Hinblick auf die Gewinnung dieser Fachkräfte zu bieten? (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Deutlich mehr als ihr!) Gar nichts haben Sie denen zu bieten, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das ist keine Reform für die Arbeitswelt von morgen. Was Sie hier vorgelegt haben, sind überfällige Konzepte von gestern, ohne wirklichen Gestaltungs- und Reformauftrag. Auch im Bereich des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungsrechts haben Sie wertvolle vier Jahre vertan. Das ist schade. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Rheinland-Pfalz, NRW, null!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 25 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe - Drucksache 17/12685 - ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen - Drucksache 17/12684 - ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe für die Opfer - Drucksache 17/12692 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 16. März 2013 jährt sich zum 25. Mal ein grauenhaftes Verbrechen am kurdischen Volk, der Giftgasangriff von Saddam -Hussein auf die Stadt Halabdscha. Irakische Kampfflugzeuge vom Typ MiG und Mirage bombardierten die Stadt mit Giftgas, mit VX, Sarin und Senfgas, töteten 5 000 Menschen; 10 000 wurden verletzt. Noch heute leiden die Menschen in Halabdscha an den Folgen, an physischen und psychischen Krankheiten, an Missbildungen und Traumata. Ich möchte einen Vertreter dieses geschundenen Volkes auf der Zuschauertribüne begrüßen, Herrn Amin -Babasheikh von der Patriotischen Union Kurdistans. Herzlich willkommen! (Beifall) Zudem habe ich erfahren, dass eine Delegation des Parlaments aus Arbil anwesend ist. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen zu dieser Diskussion! (Beifall) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir springen mit dem von uns vorgelegten Antrag zu kurz. Es gilt die Morde an den Kurden durch Saddam Hussein als Völkermord anzuerkennen, (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) wie es jüngst das britische Parlament, die norwegische Regierung sowie die Parlamente von Schweden und Kanada getan haben. In Frankreich wird auch darüber nachgedacht. Insofern bin ich über unseren Kleinmut ein wenig beschämt. In der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ist Völkermord definiert als Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Halabdscha war ein Völkermord mit Ansage. Der Cousin von Saddam -Hussein, Ali Hassan al-Madschid, genannt Chemie-Ali, kündigte den Giftgasangriff an und verhöhnte dabei gleichzeitig die internationale Völkergemeinschaft. Man kann sich das in einem Video auf Youtube ansehen. Human Rights Watch berichtete 1991 von weiteren Giftgasangriffen auf kurdische Siedlungen. Der Angriff auf Halabdscha war nur ein Teil der Vernichtungskampagne gegen Kurden. In der sogenannten Anfal-Kampagne wurden etwa 1 800 Männer, Frauen und Kinder umgebracht und verscharrt. Ich habe 1993 Irakisch-Kurdistan bereist und mit eigenen Augen einige dieser Massengräber gesehen. Heute werden immer neue Massengräber gefunden; die Leichen werden exhumiert, identifiziert und anschließend begraben. Tausende von Dörfern wurden zerstört. Die Überlebenden Anfal-Witwen wurden in Gettostädten zusammengetrieben. Nach 1991, als die Flugverbotszone Schutz bot und Saddam sich mit seiner gesamten Administration aus den kurdischen Gebieten zurückgezogen hatte, hatten die Kurden - auch mit deutscher Hilfe - begonnen, ihr Land wieder aufzubauen. Ich habe 1993 einige dieser Frauen getroffen, die sich mühsam mit der Hilfe internationaler Projekte durchschlagen konnten und mussten. 2011 habe ich mit meinem Kollegen Wolfgang Tiefensee Halabdscha besucht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das dortige Mahnmal und die damit verbundene Ausstellung zerreißen einem das Herz. Die vom Giftgas getroffenen Menschen starben in ihren Häusern, auf den Straßen, auf der Flucht, und zwar qualvoll. In Nachbildungen und Fotografien ist alles dokumentiert. Auch über dieses Verbrechen gibt es auf Youtube zahlreiche Dokumentationsvideos, die aber nichts für zarte Gemüter sind. Das will ich hinzufügen. Es besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einem Genozid zu tun haben. Im Irak wurde die Anfal-Kampagne vom Hohen Irakischen Kriminaltribunal als Genozid anerkannt. In Großbritannien gab es eine Kampagne einer überfraktionellen Parlamentariergruppe, die Unterschriften für eine Petition gesammelt hat. Mithilfe der Repräsentantin der kurdischen Regionalregierung fand Aufklärung und Werbung für diese Petition statt. Am 28. Februar 2013 hat das britische Parlament einstimmig, über alle Parteien hinweg, beschlossen, die Anfal-Operation als Genozid anzuerkennen. Das ist allerdings noch kein Präjudiz für die Anerkennung durch die Regierung; ich glaube, das muss man wissen. Ich stehe etwas beschämt vor der Tatsache, wie zögerlich wir hier vorgehen. Ich glaube, es gebricht uns ein wenig an Mut. Man kann es allerdings nicht so machen wie die Linke. Sie fordert eine Entschädigung der Opfer wegen Mitschuld der Bundesregierung. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Die Lieferung von Chemikalien war illegal. Firmen und Firmenchefs standen vor Gericht; zum Teil wurden sie verurteilt und haben ihre Strafen abgesessen. Andere sind freigesprochen worden; das ist richtig. Die Exporte von Fabrikanlagen, zum Beispiel von der Firma Kolb, wurden mit falschen Angaben - etwa mit Verweis auf die Produktion von Pestiziden - angemeldet und dann genehmigt. Als der Verdacht aufkam, dass die Anlagen missbraucht werden könnten, hat die Bundes-regierung die Genehmigung zurückgezogen. Die Firma Kolb zog vor Gericht, bekam recht und durfte exportieren. Das tut uns sehr weh; aber das ist Tatsache. Als nach dem ersten Golfkrieg durch die Inspektoren der UNSCOM aufgedeckt wurde, wozu die von der Firma Kolb exportierten Fabrikanlagen gedient hatten, wurde die Firma angeklagt und vor Gericht gestellt. Es erfolgte ein Freispruch mangels Beweisen; in letzter Minute hatte sich ein Schweizer Gutachter entschieden, keine Aussage vor Gericht zu machen. Damals war ich sehr betroffen; diese Firma ist in meinem Wahlkreis, meinem Heimatort ansässig. Die Bundesrepublik war nicht Täter, Mittäter oder indirekt mitschuldig. Ob die an den illegalen Lieferungen Beteiligten zu belangen sind, muss geprüft werden. Es gab viele Länder, aus denen geliefert wurde; ich glaube, sie müssen in eine Prüfung einbezogen werden. Nach diesen Erfahrungen hat die damalige Regierung die Exportgesetze verschärft und die Kontrollen verbessert. Ich stehe wahrlich nicht im Verdacht, eine Apologetin der Regierung Kohl zu sein; aber ich finde, man muss bei der Wahrheit bleiben und darf die Dinge nicht verdrehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich bin nicht einverstanden, dass wir uns - das sieht man zum Beispiel am Antrag der CDU/CSU - so knappsig geben und die Taschen zuknöpfen. Das, was wir leisten können, ist doch in der Tat, etwas mehr für die geschundenen Opfer dieser Verfolgung, dieses Terrors zu tun. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte gerne, dass auch wir eine überfraktionelle Gruppe bilden, die sich mit diesem Genozid beschäftigt und darüber diskutiert, sodass wir hier im Bundestag zu einer Beschlussfassung kommen können. Der Kollege Hans-Werner Ehrenberg - das habe ich im Internet gelesen - hat sich bereits vor Ort informiert und gesagt, er werde für die Anerkennung als Genozid kämpfen. Herr Ehrenberg, wir sind an Ihrer Seite. (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal Frau Zapf für ihr Engagement danken, nicht nur, was die Begleitung des Themas im Ausschuss angeht, sondern insbesondere für die Beharrlichkeit im Hinblick auf die guten Beziehungen Deutschlands zum kurdischen Volk. Herzlichen Dank dafür, dass Sie das Thema jetzt schon über so viele Jahre begleiten. Das wird in unserer Fraktion mit großem Wohlwollen gesehen. Herzlichen Dank, dass Sie dieses Thema aufgegriffen haben. (Beifall im ganzen Hause) Wir gedenken heute zu später Uhrzeit - immerhin gehen die Reden nicht zu Protokoll - eines Ereignisses, das in Deutschland fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist, nämlich des Giftgasanschlags vor 25 Jahren, der durch den Diktator Saddam Hussein verübt worden ist. Damals sind in Halabdscha 5 000 Menschen getötet worden; indirekt waren durch die Aggression von -Saddam Hussein 50 000 bis 100 000 Kurden betroffen. Die Schätzungen dazu gehen bis heute weit auseinander. Allein das zeigt schon, wie schwierig es ist, diese Verbrechen, die damals im Staat Irak stattgefunden haben, überhaupt in Zahlen zu kleiden, weil vieles verschleiert worden ist und man vielen Opfern gar nicht mehr nachgehen kann. Die Mitglieder des Hauses, die schon einmal die Gelegenheit hatten, selbst in Kurdistan zu sein, wissen, dass die meisten Dörfer durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichnet sind. Das ist das eigentlich Schlimme. Es geht nicht nur um das Ereignis in Halabdscha selbst, sondern auch um die große Dimension, darum, dass von Bagdad aus systematisch gegen ein Volk vorgegangen worden ist, mit Folgen bis heute. Die körperlichen Deformationen bei den Menschen, die von diesem Giftgasanschlag betroffen waren, sind bis heute zu sehen. Es besteht nach wie vor ein erhöhtes Krebsrisiko, und es gibt viele Vorfälle von Atemwegserkrankungen. Das deutsche Generalkonsulat im Nordirak unterstützt ja auch aktiv Ärzte, die dort helfen, und ist auch sehr aktiv, um den Austausch zwischen deutschen Krankenhäusern und ärztlichen Einrichtungen vor Ort voranzubringen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass die Bundesregierung die Hilfen ausgebaut und stabilisiert hat. Wir arbeiten gerne und erfolgreich mit dem Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin und auch mit dem Halabja Center for Victims of Chemical Attacks zusammen. Das sind konkrete Dinge, die wir tun. Durch die finanzielle Hilfe des Auswärtigen Amts wird aktuell das Kirkuk-Center für Folteropfer unterstützt. Seit 2010 gibt es dort medizinische und psychologische Betreuung vor Ort. In den letzten drei Jahren haben immerhin 1 500 Betroffene das medizinische Angebot in Anspruch genommen. Das zeigt, dass wir vor Ort sehr konkret Hilfe leisten. Sieben angestellte Ärzte, sieben Psychologen und Sozialarbeiter und ein Physiotherapeut haben mit der finanziellen Unterstützung auch dieser Regierung ein Fundament gelegt für die weitere Unterstützung der Opfer von Halabdscha, und das 25 Jahre danach. Dass selbst 25 Jahre danach dieser enorme medizinische Aufwand betrieben werden muss, zeigt auch das Ausmaß dieser Katastrophe. Ich glaube, darauf sollten wir uns nicht ausruhen. Vielmehr sollten wir alles tun, dieses Engagement fortzuführen. Es ist für uns politisch nicht unerheblich, dass ein so schlimmes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Verbrechen gegen das kurdische Volk, durch Saddam Hussein verübt worden ist, weil auch heute chemische Waffen aktuelle Bedrohungen bei Themen darstellen, mit denen wir uns hier im Deutschen Bundestag beschäftigen. Auch in Syrien steht die Frage im Raum, ob Assad die chemischen Waffen, die er hat, nicht auch nutzen würde. Das ist ein Punkt, den wir in unserer Syrien-Politik immer im Blick haben müssen. Dass es in der Region schon einmal vorgefallen ist, dass von einer Assad nicht ganz fern stehenden politischen Kraft in einem erheblichen Maße chemische Waffen eingesetzt worden sind, ist etwas, was uns immer gegenwärtig sein sollte, auch wenn wir hier im Westen Europas nach 60 Jahren ohne kriegerische und militärische Auseinandersetzung manches gar nicht mehr für denkbar halten. Halabdscha ist bei uns in Europa undenkbar. Es war vor 25 Jahren brutale Realität und hat das Leben vieler Menschen sehr negativ beeinflusst. Wir fordern deshalb die syrische Regierung auch heute auf, auf chemische Waffen zu verzichten. Wir stehen fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde, insbesondere von Präsident Obama, der gesagt hat, dass das nach wie vor eine rote Linie ist, die nicht überschritten werden darf. Zur Stunde wird ja über die Syrien-Politik der Europäischen Union diskutiert. Bei allen Schwierigkeiten, die es in diesem Konflikt gibt, wird die westliche Gemeinschaft stärker gefordert sein, als dies momentan der Fall ist, da wir uns durch die Handlungsunfähigkeit der UNO selber Grenzen auferlegt haben. Ich möchte auf die aktuelle kurdische Politik eingehen und auf die aus meiner Sicht hervorragende Arbeit, die die kurdische Regionalregierung leistet. In diesen Tagen jährt sich zum zehnten Mal die umstrittene Entscheidung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der die Invasion und die Befreiung des Iraks vorangetrieben hat. Bis heute ist dies ein politisches Streitthema, nicht nur bei uns, sondern vor allem auch in den USA. Bis heute sind sich die Historiker uneinig darüber, wie dieses Ereignis einzuordnen ist. Ich glaube, diese Debatte wird uns noch lange beschäftigen. Heute, zehn Jahre nach der Befreiung von Saddams Diktatur, ist auch aufgrund der hervorragenden Arbeit des kurdischen Präsidenten Massud Barsani und seiner Regierung festzustellen, dass die Verhältnisse in Kurdistan eindeutig besser geworden sind, und zwar in wirtschaftlicher und in politischer Hinsicht. Es gibt dort trotz aller Schwierigkeiten ein Maß an Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, das man kaum irgendwo anders im Nahen Osten findet. Mir ist kaum ein Land im Nahen Osten bekannt, wo der Zugang zum Bildungssystem für Mädchen und junge Frauen so unproblematisch geregelt ist. Es gibt wirtschaftliche Prosperität und Chancen in Kurdistan, die ihresgleichen suchen. Ich wünschte mir, wir würden über den ganzen Irak reden, wenn wir auf das positive Bild von Kurdistan blicken. Leider muss ich das Gegenteil feststellen: dass in Bagdad immer mehr politische Prozesse verschleppt werden, dass man sich auch bei wichtigen Themen wie Öl- und Gasexporten nicht einigen kann, was zu einem höheren Wohlstandsniveau für alle Menschen im Irak führen würde. Ich glaube, dass das Hin und Her zwischen den einzelnen Machtfaktoren, das in Bagdad, zum Teil von Teheran beeinflusst, stattfindet, etwas ist, was uns nicht unberührt lassen kann. Gerade wenn wir Themen wie Hisbollah behandeln, stellen wir immer häufiger fest, dass die Zentralregierung in Bagdad leider kein zuverlässiger Partner ist, sondern häufig Probleme verschärft. Das ist etwas, was uns große Sorgen bereitet und was sicherlich auch zur historischen Einordnung der Intervention gehören wird. Schließlich kann man nicht außer Acht lassen, dass wir, wenn wir über den südlichen Teil Iraks reden, mittlerweile über einen Failed State, also über eine Region ohne funktionierende staatliche Strukturen, sprechen. In Kurdistan, insbesondere rund um Arbil, erleben wir hingegen das glatte Gegenteil. Das ist etwas, was wir in unserer außenpolitischen Strategie definitiv berücksichtigen müssen. Insofern ist es richtig, dass wir den Kurden im Irak und den Kurden in Syrien, aber auch den Kurden in der Türkei die Hand reichen und uns weiterhin stark für ihre Rechte einsetzen. Sie reklamieren für sich das Recht auf ein eigenes Land. Sie tragen das zugegebenermaßen nicht mit der Schärfe vor, wie dies andere ethnische Gruppierungen auf der Welt tun, sondern sehr moderat. Sie verweisen auf die Rechte, die ihnen im Rahmen der Schaffung der autonomen Region Kurdistan im Nordirak eingeräumt worden sind, und versuchen, das Beste daraus zu machen. Wir dürfen bei unserer außenpolitischen Konzeption nicht vergessen, dass es sich bei diesem Partner um einen wirklich verlässlichen Partner, auch im Antiterrorkampf, handelt, mit dem wir gemeinsam die Sicherheit Israels gewährleisten können. Unsere Kanzlerin hat dies als einen der Punkte unserer Staatsräson beschrieben, was ich vorbehaltlos unterstütze. Auch da sage ich, dass es im Nahen Osten kaum noch einen Partner gibt, der unsere Politik so vorbehaltlos unterstützt. Ich werbe dafür, dass wir die enge Freundschaft zu Kurdistan verstetigen. Ich werbe dafür, alles zu tun, dass sich der Fortschritt, der in Kurdistan stattfindet, auf den Gesamtirak ausdehnt. Ich werbe dafür, dass wir die bilateralen Maßnahmen zu verstärken versuchen. Wir haben im vergangenen Jahr das Deutsch-Irakische Wirtschaftsforum in Bagdad aufgebaut. Wir arbeiten engagiert mit unserem Konsul in Arbil zusammen. Wir haben in diesem Haus unter der Führung von Michael Glos, unserem früheren Bundeswirtschaftsminister, einen deutsch-kurdischen Freundeskreis gegründet. Ich muss auch sagen, dass sich gerade diejenigen aus unseren Reihen, die ein besonders gutes Verhältnis zur Türkei haben, sehr große Verdienste erworben haben, wenn es darum geht, bei unseren türkischen Partnern um Verständnis für die Rechte der kurdischen Minderheit und für die kurdische Regionalregierung im Nordirak zu werben. Dieses Thema ist für die Tagesordnung unserer Nahostpolitik wichtig, selbst wenn es von der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wird. Ich finde, diese Debatte heute Abend ist wichtig, um auf dieses Thema hinzuweisen. Herzlich Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Delegation aus dem kurdischen Irak, ich freue mich, dass Sie heute hier sind. Als eine, die seit über zehn Jahren in diese Region fährt und daher Halabdscha und die dortige Bevölkerung sehr gut kennt, bin ich sehr froh, dass es heute, 25 Jahre nach dem Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe auf die kurdische Stadt Halabdscha, gelungen ist, dass alle Fraktionen den Opfern ihr Mitgefühl ausdrücken und dass alle Fraktionen verurteilen, dass deutsche Firmen die irakische Giftgasproduktion erst ermöglicht haben; (Beifall bei der LINKEN) denn in Halabdscha bewahrheitete sich erneut der Spruch: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. (Zurufe von der FDP: Na ja!) Doch nur die Linke fordert - Frau Zapf hat es eben schon gesagt - eine Anerkennung der Anfal-Operationen und des Giftgasangriffs auf Halabdscha als Völkermord. Damit greifen wir die zentralen Forderungen von Delegationen des kurdischen Volkes im Irak, aber auch von Menschenrechtsorganisationen auf. Der Angriff auf Halabdscha stellt schon für sich genommen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Es wurde schon gesagt: 5 000 Menschen starben qualvoll in dem Gift. In Verbindung mit den Anfal-Operationen im gleichen Jahr handelt es sich aber eindeutig um einen Genozid im Sinne der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Genozid wird darin definiert als eine Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Dies war bei den Anfal-Operationen definitiv der Fall. Der als Chemie-Ali bekannt gewordene Oberbefehlshaber Ali Hassan al-Madschid gab den Befehl zur Tötung aller zeugungsfähigen kurdischen Männer. 180 000 Kurden, vor allen Dingen junge Männer, wurden verschleppt oder ermordet. 4 000 Dörfer, also 90 Prozent der Dörfer, wurden zerstört. In über 40 Fällen kam es zu Giftgasangriffen. International wurde dieses Verbrechen bereits durch das irakische, das schwedische und das britische Parlament als Völkermord verurteilt und anerkannt. Eine solche Anerkennung durch Deutschland würde für die Opfer und ihre Hinterbliebenen eine späte moralische Kompensation bedeuten. Eine solche Anerkennung könnte die Tür öffnen für eine weitere strafrechtliche Verfolgung der Händler des Todes wegen Beihilfe zum Völkermord. Das steht im Wesentlichen in unserem Antrag und nicht, dass es die Hauptschuld der Bundesregierung ist, liebe Frau Zapf. Eine juristische Ahndung fand in Deutschland - anders als es im CDU/CSU-Antrag suggeriert wird - leider nicht statt. Obwohl die Bundesregierung seit 1984 über die Beihilfe deutscher Firmen zum irakischen Chemiewaffenprogramm informiert war, hatte sie nichts -dagegen unternommen. Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz wurden jahrelang verschleppt. Prozesse endeten mit Einstellungen wegen Verjährung, Bewährungsstrafen und Freisprüchen. Ich habe in Halabdscha mit vielen Überlebenden des Angriffs gesprochen. Diese fordern vor allen Dingen Gerechtigkeit. Es geht hier nicht in erster Linie um Geld, sondern vor allen Dingen um Gerechtigkeit. Es geht natürlich auch darum, dass die Firmen verurteilt werden. Auch wenn uns die Anträge der anderen Fraktionen nicht weit genug gehen, werden wir ihnen zustimmen, weil wir der Meinung sind, dass es heute, nach 25 Jahren, ein historischer Tag ist, diesen Angriff zu verurteilen. (Beifall des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir sind es den Menschen schuldig, dass der Bundestag endlich ein einheitliches Signal setzt und seine Mitverantwortung an diesen Verbrechen zeigt. Das ist eine historische Chance. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hans-Werner Ehrenberg (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Irak und seine besorgniserregenden ethnischen, aber vor allem auch religiösen Probleme beschäftigen uns fast täglich. Die vielen blutigen Anschläge in Bagdad und in anderen Städten des Irak halten unsere Sorge um dieses wichtige Land wach. Doch all diese grausamen und unsinnigen Bombenattentate können ein viel schlimmeres Verbrechen nicht verdecken. Der schreckliche Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirak hat auch heute, 25 Jahre danach, nichts von seinem Grauen verloren. Nichts von diesen unvorstellbaren Ereignissen ist vergessen. Ich selber war vor einigen Wochen vor Ort und habe mir aus erster Hand von den Gräueltaten jener Tage im März 1988 berichten lassen. Ich habe mir die Zerstörung in der Stadt und im Umland angesehen, habe mit Hinterbliebenen sprechen dürfen. Es war unvorstellbar. Noch heute leidet die Region unter der damaligen systematischen Zerstörung der Lebensgrundlagen der kurdischen Bevölkerung, unter der gezielten Vertreibung und Vernichtung durch Saddam Hussein und seiner Regierung. Das Massaker in Halabdscha setzte dieser jahrzehntelangen Aggression gegen die Kurden eine traurige Krone auf. Bis zu 5 000 Menschen wurden allein in Halabdscha auf qualvolle Weise ermordet. Den gesamten Anfal-Operationen fielen nach internationalen Schätzungen insgesamt zwischen 50 000 und 100 000 Kurden zum Opfer. Wie sehr meine Fraktion und ich die schrecklichen Verbrechen des Diktators Saddam Hussein und seiner Baath-Partei verabscheuen und verurteilen, brauche ich an dieser Stelle nicht zu wiederholen, wohl aber, dass meine Fraktion und viele andere - ich würde sagen, alle hier im Hause - den Opfern der Anfal-Kampagne und ihren Hinterbliebenen an dieser Stelle ihr tiefes Mitgefühl aussprechen. (Beifall im ganzen Hause) Es muss immer eine Maxime unserer Außenpolitik sein, sich rückhaltlos dafür einzusetzen, dass so etwas niemals wieder geschehen kann. Heute befindet sich Halabdscha immer noch im Wiederaufbau und erholt sich nach und nach von den Angriffen vor 25 Jahren. Ich habe dort aber immer noch viel Armut gesehen. Die bewegende Geschichte dieser Stadt soll uns und alle daran erinnern, weshalb wir hier und jetzt zusammengekommen sind: Niemals soll anderen Menschen das Gleiche widerfahren wie den Menschen in Halabdscha. Ich habe aber in meinen Gesprächen vor Ort keine Atmosphäre der Rache und des Hasses, sondern der Hoffnung und Zuversicht erfahren dürfen, etwas, was mich sehr berührte. Daher ist es auch sehr wichtig, dass die Bundesregierung den Irak weiterhin durch eine Vielzahl von Projekten bei Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung unterstützt. Herr Mißfelder hatte das im Einzelnen ausgeführt, ich will das nicht wiederholen. Das Gedenken an Halabdscha sollte aber auch zur Konsequenz haben, dass wir uns alle dafür einsetzen, die internationale Kontrolle von Massenvernichtungswaffen weiter voranzutreiben. Unser Außenminister hat dies seit seinem Amtsantritt sehr vorbildlich getan. Es war aber auch richtig und wichtig, dass illegale Lieferungen deutscher Firmen in den Irak in der Vergangenheit gerichtlich geahndet worden sind. Sollten in der Zukunft weitere Fälle auftauchen, werden wir dafür sorgen, dass auch diese zur Anzeige gebracht werden. Dies allerdings gleichzusetzen mit einer Verantwortung der Bundesregierung oder deutsche Firmen gar zu Entschädigungszahlungen zu zwingen - das sage ich Ihnen ganz offen -, halte ich nicht für angebracht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU]) Das Gedenken an Halabdscha sollte auch dazu dienen, vor den Gefahren zu warnen, die den Irak aktuell bedrohen. Wir alle haben ein Interesse an einem stabilen und sicheren Irak in Frieden und Einheit. Da hat der radikale Islamismus, wie wir ihn derzeit in vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wieder aufflammen sehen, keinen Platz. Wir sollten die Kurden daher nicht nur in ihrer Vergangenheitsbewältigung im Irak unterstützen - hier tut die Bundesregierung bereits sehr viel -, sondern vor allem auch föderale und gemäßigte Strömungen in der aktuellen irakischen Politik fördern. Dazu gehört auch, dass wir mit der kurdischen Autonomiebehörde auf Augenhöhe sprechen. Unsere amerikanischen, französischen oder russischen Freunde haben da weniger Berührungsängste. Ich bedauere außerordentlich, dass wir keinen interfraktionellen Antrag zustande bekommen haben. Ich will das hier aber gar nicht weiter kommentieren, sondern betonen, dass ich mich über die würdigen Beiträge aller Fraktionen hier freue. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte ganz besonders Frau Zapf nennen und ihren Vorschlag, einen überfraktionellen Antrag zu erarbeiten. Ich glaube, damit würden wir dem Thema gerecht. Das haben aus meiner Sicht die Opfer von Halabdscha verdient. Schönen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Halabdscha ist noch immer eine offene Wunde. 5 000 Kurdinnen und Kurden starben bei den kaltblütigen, menschenverachtenden Angriffen der Saddam-Diktatur. Viele wurden nachhaltig traumatisiert. Die Menschen in der Region können und wollen die schrecklichen Verbrechen auch ein Vierteljahrhundert danach nicht vergessen. Die Giftgasangriffe in Halabdscha sind ein düsteres Kapitel der jüngeren Geschichte, das seine Schatten weit über den Irak hinaus wirft; denn die Saddam-Diktatur wäre ohne die Technologie aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, gar nicht in der Lage gewesen, die Chemiewaffen zu entwickeln, die am 16. März 1988 in Halabdscha eingesetzt wurden. Deshalb trägt auch Deutschland eine moralische Mitverantwortung für das, was geschehen ist. Dieser Verantwortung stellen wir uns mit unserer Debatte im Deutschen Bundestag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vieles ist noch nicht abgegolten. Die Strafen für die Firmen, die hier tätig waren, und ihre verantwortlichen Mitarbeiter waren gering und konnten nicht zu einer umfassenden Aufarbeitung beitragen. Die Frage nach der Verantwortung der Unternehmen für die Opfer blieb unbeantwortet. Aber die Spätfolgen der Vernichtungspolitik Saddams sind bis heute spürbar. Viele Menschen leiden an Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen, viele Kinder und Jugendliche an Missbildungen. Auch die psychischen Spätfolgen der damaligen Gewalt sind nicht überwunden, und die Schicksale vieler Vermisster und Getöteter sind noch immer nicht aufgeklärt. Dabei ist es uns ein wichtiges Anliegen, auch an die Verantwortung Deutschlands zu erinnern, insbesondere an die laxen Waffenexportregelungen und eine Politik, die sich beim Umgang mit Dual-Use-Technologien an rein geschäftlichen Interessen orientiert. Genau diese Blindheit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich das Saddam-Regime ein Arsenal an Chemiewaffen zulegen konnte. Aus dieser Erfahrung müssen wir endlich lernen und für eine striktere Rüstungsexportkontrolle sorgen. Tödliche Waffen sind eben nicht grundsätzlich ethisch neutral, wie uns der Verteidigungsminister kürzlich glauben machen wollte. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie können die Chemiefabrik doch nicht vergleichen mit Fregatten!) Jenseits der Forderungen in unserem Antrag treten wir für eine proaktive Politik ein und für unterstützende Initiativen aus Deutschland, die der Gedenkkultur in der Region Kurdistan neue Impulse verleihen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]) Ein Beispiel dafür ist das neue Mahnmal für die Opfer der sogenannten Anfal-Operationen von Saddams Armee in Chamchamal. Es ist uns ein besonderes Anliegen, deutlich zu machen, dass wir die Opfer der Unter-drückungs- und Vernichtungsmaschinerie von Saddam und seinem Unrechtsregime nicht vergessen dürfen. Erfahrungen aus dem Prozess der Aufarbeitung unserer Geschichte können wir weitergeben, zum Beispiel mit Blick auf die Sicherung und Auswertung von Dokumenten, die Einbeziehung von Zeitzeugen und die pädagogische und museale Bearbeitung der Vorgänge. Wir sollten in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut das Gespräch darüber mit den Verantwortlichen in der -Region intensivieren. Ohne Angst vor weiterführenden Debatten und ohne Scheuklappen kann Deutschland mit dieser Art von Unterstützung viel zur Aufarbeitung beitragen und deutlich machen, wie wichtig uns ein kritisches Erinnern auch an die deutsche Mitverantwortung für dieses Verbrechen ist. Zum Abschluss möchte ich sagen: Ich teile den Vorschlag der Kollegin Zapf, in Anbetracht der vorliegenden Anträge eine interfraktionelle Gruppe einzurichten. Letztlich sind die Unterschiede in den Anträgen auffällig gering. Die eine Seite fügt dem Text des Antrags von Rot-Grün ein wenig Lob an die Bundesregierung bei. Die Forderung nach Anerkennung als Völkermord - das ist der entscheidende Punkt - halte ich durchaus für berechtigt. Nach Prüfung der Sachlage habe ich wenig Bedenken, das juristisch so einzuordnen. Der Antrag der Linken ist an der Stelle der Haftungsverantwortung - Abgrenzung zwischen Bundesregierung, Unternehmen und Diktatur - nicht ganz klar. Sie haben aber gesagt, dass es nicht Ihre Absicht war, die Bundesregierung in Haftung zu nehmen. Von daher wird es vielleicht möglich sein, zu einer gemeinsamen Formulierung zu kommen. Das würde ich sehr begrüßen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12685 mit dem Titel "25 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/12684 mit dem Titel "Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen angenommen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 9, Abstimmung über den Antrag der Fraktion der Linken auf Drucksache 17/12692 mit dem Titel "Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe für die Opfer". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes - Drucksache 17/10422 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 17/12722 - Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Brandt Kirsten Lühmann Manuel Höferlin Frank Tempel Dr. Konstantin von Notz Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.2 Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/12722, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10422 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen - Drucksache 17/10810 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.3 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/10810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsordnung) - Drucksache 17/12670 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Sonja Steffen Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Volker Beck (Köln) Hierzu liegen zwei gemeinsame Änderungsanträge der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4 - Sie sind damit offensichtlich einverstanden. Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/12670. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12698. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12699. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12701. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12702. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt -dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Schneider, Kai Gehring, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Queere Jugendliche unterstützen - Drucksache 17/12562 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Gesundheit Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.5 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12562 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 10 auf: 17 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes - Drucksache 17/12619 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen - Drucksachen 17/11664, 17/12671 - Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Peter Ramsauer das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen hochverehrte unerbittlich verbliebene Zuhörer und Besucher auf den Rängen! Fordern und Fördern - das sind genau die tragenden Säulen unserer Politik, mit denen wir zur Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudebereich beitragen wollen. Das Resümee aus den Jahren seit Einführung der KfW--Förderung im Jahr 2006 - ich nehme dies einmal als Maßstab - ist, dass sich diese Kombination aus Fördern und Fordern als eine ausgezeichnete erfolgsträchtige Kombination erwiesen hat. Dank der Förderinstrumente unseres CO2-Gebäudesanierungsprogramms werden wir schon sehr bald - man höre und staune - die stolze Zahl von 3 Millionen energetisch sanierten Wohnungen erreichen. Der erste Monitoringbericht zur Energiewende, den wir im vergangenen Dezember vorgelegt haben, bestätigt - jetzt kommt eine sehr interessante Zahl -: Der Energieverbrauch für Heizung und auch für Kühlung - es werden immer mehr Klimaanlagen in Häuser eingebaut -, für Warmwasser, für Beleuchtung usw. sank von 40 Prozent Anteil am Primärenergiebedarf - das war jahrelang die Marke - auf inzwischen 34 Prozent. 6 Prozentpunkte weniger Primärenergiebedarf, das ist eine großartige Zahl. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage fairerweise dazu: Diese Entwicklung hat 2006 angefangen, also in der Zeit vor dieser Regierung. Wir sollten in diesem Hause nicht immer so tun, als wäre alles, was vorher gemacht worden ist, falsch gewesen. Nein, hier sind gute Wurzeln gelegt worden. Ich hätte dies gern auch meinem hochgeschätzten Vorgänger Wolfgang Tiefensee gesagt; gerade habe ich ihn noch hier gesehen. Wenn man das zusammennimmt, heißt das: Die von uns ergriffenen Maßnahmen entfalten ihre Wirkung. Man kann mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht weltweit an der Spitze der Bewegung für Energieeinsparung und für mehr Energieeffizienz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wir können und wollen uns darauf nicht ausruhen. Unsere Ziele sind bekannt. Der Wärmebedarf im Gebäudebereich muss um 20 Prozent und der Primärenergiebedarf bis 2050 muss um etwa 80 Prozent weiter sinken. Das heißt, wir wollen die Gebäude in Deutschland bis 2050 weitestgehend klimaneutral halten. Neben der Förderung - auch das ist ganz klar - müssen natürlich auch ordnungsrechtliche Maßnahmen einen Beitrag leisten. Mit der jetzt vorgelegten Anpassung der Energieeinsparverordnung auf der Basis des Energieeinsparungsgesetzes vollziehen wir hier einen wesentlichen und wichtigen Schritt. Das Ziel des Gesetzes ist die Einführung einer Grundpflicht zur Errichtung von Neubauten im Niedrigstenergiestandard ab dem Jahr 2019 für öffentliche Gebäude bzw. ab 2021. Wir orientieren uns dabei strikt am bewährten Gebot der Wirtschaftlichkeit. Investitionen müssen sich auch in Zukunft für die Gebäudeeigentümer wirtschaftlich lohnen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und sie müssen für die Mieter bezahlbar sein; ich füge dies ausdrücklich hinzu, weil ich gerade unter anderem mit der Kollegin Petra Müller von einer Veranstaltung des Deutschen Mieterbundes komme. Einen Sanierungszwang nach ideologischem Muster, wie ihn sich manche vorstellen - ich sage auch das in aller Klarheit und Entschiedenheit -, lehnen wir ab, und ihn wird es mit mir als Bauminister auch nicht geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denn er hätte - wenn man die wirtschaftliche Praxis ein bisschen kennt, weiß man das, meine sehr geehrten Damen und Herren - fatale Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft in diesem Bereich. Anspruchsvollere Effizienzstandards definieren wir deshalb nur für Neubauten. Im Gebäudebestand sehen wir bewusst von einer Verschärfung ab, vor allem, weil die tatsächlich erzielbaren Einsparungen an Primärenergie nur geringfügig wären, und das bei exorbitantem Kosteneinsatz, der manchmal geradezu absurd wäre und zu nicht vertretbaren Grenzkosten führen würde. Zudem, meine Damen und Herren, ist der wirtschaftlich vertretbare und zumutbare Spielraum für Anhebungen im Bestand wesentlich stärker begrenzt, als dies bei Neubauten - aus den verschiedensten Gründen - der Fall ist. Wir müssen auch berücksichtigen - das haben viele, so scheint es, vergessen -, dass seit der letzten EnEV-Novelle im Jahr 2009 noch nicht einmal vier Jahre vergangen sind. Mehr Transparenz ist uns ein wichtiges Anliegen. Die Angabe energetischer Kennwerte in Immobilienanzeigen wird künftig ebenso verpflichtend sein wie die Übergabe des Energieausweises an den Käufer oder an den neuen Mieter. Lassen Sie uns also jetzt konstruktiv in die parlamentarischen Beratungen einsteigen und die Reform des Energieeinsparrechts zum Erfolg führen! Ich bin sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Handlungsfelder Bauen und Wohnen als wichtige und wesentliche Werkbänke der Energiewende erweisen werden. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Sören Bartol für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sören Bartol (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Debatte über den rechtlichen und den doch sehr technokratischen Ordnungsrahmen der Energieeinsparverordnung gibt, finde ich, dem Parlament auch zu einer so späten Stunde den dankbaren Anlass, in Ruhe Luft zu holen und vielleicht einmal generell zu schauen, wie es eigentlich mit der Energiewende aussieht. (Otto Fricke [FDP]: Dann hol erst mal Luft!) Noch einmal zur Erinnerung: Die Energiewende wird nur ein Erfolg, wenn wir den Energieverbrauch im Gebäudebereich drastisch senken. Im Wohnungsbereich müssen wir, um dieses Ziel zu erreichen, natürlich vor allen Dingen an den Bestand herangehen und ihn energetisch sanieren. Sie versuchen ja immer, uns im wahrsten Sinne den Schwarzen Peter für das Scheitern der steuerlichen Förderung zuzuschieben. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Wie nett, dass Sie uns daran erinnern!) Dabei haben Sie die Verhandlungen am Ende vor die Wand gefahren. Die Zeche sollten die Länder zahlen. Nachdem Sie damit für reichlich Zeitverzug gesorgt haben, sind Sie ja nun endlich auf den von uns schon seit langem geforderten Kurs der KfW-Förderung eingeschwenkt. Die Aufstockung der Mittel für das KfW-Programm "Energieeffizient Sanieren" erfolgt allerdings etwas halbherzig und vor allen Dingen viel zu spät. Der Umfang bleibt trotz des angekündigten Zusatzprogramms im Umfang von 300 Millionen Euro weit zurück hinter den 2 Milliarden Euro, die für die energetische Gebäudesanierung mindestens nötig wären. Nur so wären die Anforderungen im Gebäudebereich aber zu stemmen, und nur so könnten wir die nötigen Energie- und CO2-Einsparungen im Gebäudebereich erzielen. Die KfW-Förderung hat sich bewährt. Sie berücksichtigt Fördergrundsätze wie Technologieoffenheit und qualifizierte Beratung. Bereits jetzt werden rund 70 Prozent der im Rahmen des KfW-Programms "Energieeffizient Sanieren" geförderten Wohneinheiten von privaten Eigentümern saniert. Das zeigt, dass KfW-Programme gut angenommen werden. Trotz der Ergänzungen des Förderprogramms bleiben wichtige Fragen von der Bundesregierung unberücksichtigt. Energetische Stadtsanierung besteht nicht nur aus dem Sanieren einzelner Wohneinheiten, sondern muss sich auf den gesamten Stadtteil beziehen: von der Energieversorgung bis hin zur effizienten Nutzung und -Speicherung erneuerbarer Energien in dezentralen Strukturen. Deswegen ist eine Verzahnung von Städtebauförderung und energetischer Gebäudesanierung so wichtig. (Beifall bei der SPD - Petra Müller [Aachen] [FDP]: Und welches Programm ist das? "Energetische Stadtentwicklung"?) Lassen Sie mich zusammenfassen: Unter SPD-Regierungsbeteiligung standen für die entsprechenden KfW-Programme am Ende mehr Mittel im Haushalt zur Verfügung, als dies jetzt nach der Aufstockung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung der Fall ist - und das, obwohl Sie vollmundig eine allumfassende Energiewende angekündigt haben. Die Realität Ihrer Politik sieht allerdings so aus, dass die Energiewende schon auf den ersten Metern im Sande verläuft. Kommen wir zum Energie- und Klimafonds - noch so eine grandiose Meisterleistung -: Ab 2013 sollen auch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds für die energetische Stadtsanierung und für die energetische Gebäudesanierung zur Verfügung stehen. Die SPD hat immer angemahnt, die Finanzierung von wichtigen Maßnahmen zur Verwirklichung der Energiewende auf eine solide und vor allen Dingen auf eine verlässliche Grundlage zu stellen. Was machen Sie? Sie gründen einen Schattenhaushalt, dessen Einnahmen so konstant sind wie das Wetter im April. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Besser als Steuererhöhungen!) Die alleinige Einnahmebasis des EKF stellt der Erlös aus dem Handel mit CO2-Zertifikaten dar. Ich habe Ihnen schon damals gesagt: Das kann nur schiefgehen. - Und das geht jetzt auch schief: Der Preis für CO2-Zertifikate liegt derzeit weit unterhalb des von der Bundesregierung angenommenen Betrags. Ungeachtet der Einnahmerisiken hält die Regierungskoalition immer noch an ihren Erlösprognosen für 2013 fest, die von einem Preis für CO2-Zertifikate von ungefähr 10 Euro ausgehen. Dabei hatte sich schon im vergangenen Jahr gezeigt, dass diese Kalkulation auf deutlich überhöhten Preiserwartungen beruht. Zahlreiche Umwelt- und Klimaschutzprogramme, die sich aus dem Sondervermögen EKF speisen, mussten bereits 2012 Mittelkürzungen verkraften; viele Projekte mussten eingestellt werden. (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Hört! Hört!) Betroffen sind wichtige Bereiche wie Energieeffizienz, kommunaler Klimaschutz, CO2-Gebäudesanierung und natürlich auch Marktanreizprogramme. Ungeachtet der Einnahmerisiken sollen nach Ihrem Willen immer neue Programme über den Energie- und Klimafonds finanziert werden. Angesichts dessen, dass sich bereits zu Jahresbeginn 2013 erneut Mindereinnahmen in Höhe von bis zu 1 Milliarde Euro abgezeichnet haben, muss die Bundesregierung langsam einmal darlegen, wie sie die Finanzierung dieser erfolgreichen Programme und damit - das will ich hier noch einmal deutlich sagen - das Herzstück der Energiewende in Deutschland sichern will. (Otto Fricke [FDP]: Die Programme sind also doch erfolgreich!) Im Haushaltsentwurf für 2014 steht nun auch noch eine globale Minderausgabe für den Energie- und Klimafonds. Waren die EKF-Einnahmen bisher schon sehr unsicher, so ist das nun die große Katastrophe. Das trifft das CO2-Gebäudesanierungsprogramm am Ende ebenso wie die energetische Stadtsanierung. Was das Allerschlimmste ist: Die Investoren verunsichert es völlig. Es ist schon interessant, dass Sie immer noch an der Bewertung festhalten, dass ein derart gestalteter Energie- und Klimafonds eine solide Finanzierungsgrundlage bildet. Vielleicht erinnern Sie sich an den Satz von Albert Einstein: Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom. (Otto Fricke [FDP]: Zertrümmerung von Programmen im Zusammenhang mit der Energiewende? Ui, ui, ui!) Vom Zertrümmern von Atomen wollen wir weg. Vielleicht schaffen Sie es, auch Ihre vorgefasste Meinung schleunigst zu überdenken. Ich muss an dieser Stelle nämlich sagen: Union und FDP haben keine Konzepte. Nach außen wird eine nachhaltige Klimaschutzpolitik propagiert; aber dazu fehlt Ihnen eigentlich das entsprechende Klima. Sie haben noch nicht einmal begriffen - doch das ist Ihnen völlig fremd -, dass Eigentum eine gesellschaftliche Verpflichtung mit sich bringt; das ist übrigens schon dem Grundgesetz zu entnehmen. Sie gönnen noch nicht einmal den Mietern, die von Sanierung betroffen sind und durch Sanierung belastet werden, das für uns alle selbstverständliche Mietminderungsrecht. (Otto Fricke [FDP]: Erst sagst du, wir sollen Investoren nicht verunsichern! Jetzt willst du, dass wir sie verunsichern! - Gegenruf der Abg. Petra Müller [Aachen] [FDP]: Du sollst ihn nicht duzen!) Ich glaube, dass Sie damit ein negatives Klima schaffen. Sie stigmatisieren die Mieter; denn auch mit anderen Änderungen im Mietrecht haben Sie sozusagen einen Pauschalverdacht eingeführt. Sie sehen den Mieter nicht als Partner; doch wir brauchen die Mieterinnen und Mieter als Partner bei der Mammutaufgabe der energetischen Sanierung. Nötig wäre eigentlich eine Sanierungsquote von 3 Prozent pro Jahr. Wir sind jetzt ungefähr bei 0,7 Prozent pro Jahr. Ich glaube, Sie wissen ganz genau wie ich, dass das vorne und hinten nicht ausreicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Legen Sie doch endlich ein Programm dafür vor, wie wir die Energiewende - hierbei geht es nämlich nicht nur um Strom; wir reden hier im Deutschen Bundestag viel zu oft über Strom - gerade im zentralen Gebäudebereich zum Erfolg führen können. Das, was Sie bis jetzt auf diesem Weg vorgelegt haben, reicht vorne und hinten nicht aus. Das wird auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf nicht verändern. (Beifall bei der SPD - Dr. Sascha Raabe [SPD]: Guter Mann, der Bartol! Der sollte Minister sein, nicht der Grauhaarige!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Petra Müller (Aachen) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Sie alle zu später Stunde hier so zahlreich zu sehen. Gäste haben wir auch. Herzlich Willkommen! Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes setzt die christlich-liberale Koalition ihren Weg zur Energiewende fort. Wie? Umsichtig, nachhaltig, kontinuierlich. Wir tun dies umsichtig, weil wir energie- und sozialpolitische Fragen gemeinsam betrachten. Genau das tun wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen. Das fordern Sie auch in Ihren Anträgen und auf Ihrer Webseite. Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist aber eine andere. Wir wollen hier einen anderen Weg gehen; denn angesichts der hohen Wohnraumnachfrage in verschiedenen Teilen unseres Landes führt jede Verschärfung der Energieeffizienz im Gebäudebestand zwangsläufig zu steigenden Mieten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das genau erreichen Sie mit Ihrer Forderung. Das ist für mich übrigens kein Ausdruck sozialer Verantwortung. Die Verschärfung von Standards fördert im Neubaubereich das Hochpreissegment, also genau das, was Sie nicht wollen. Mit Ihren Forderungen regen Sie das aber an, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Sie spitzen die Wohnungssituation für Menschen mit mittleren und kleinen Einkommen - Studenten, Rentnern, jungen Familien usw. - zu. (Torsten Staffeldt [FDP]: Ja, die haben keine Ahnung!) Mit diesem Weg, den Sie vorschlagen, erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie wollen. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, werden weiterhin darauf achten, dass die Mindestanforderungen für die Bauten im Bestand nicht steigen, sondern da bleiben, wo sie jetzt sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Anforderungen an den Effizienzstandard von Neubauten werden in zwei Stufen - 2014 und 2016 - angehoben, und zwar um jeweils 12,5 Prozent Jahresprimärenergiebedarf und 10 Prozent Wärmedämmung der Gebäudehülle. Mehr nicht! Der Niedrigstenergiegebäudestandard wird für Bürogebäude ab 2019 und für alle übrigen Neubauten ab 2021 verpflichtend. (Torsten Staffeldt [FDP]: Das ist Politik mit Augenmaß!) - Ganz genau. Vielen Dank, Herr Kollege Staffeldt. In Bezug auf den Gebäudebestand gibt es keine neuen Anforderungen - nicht hinsichtlich der Modernisierung der Außenhülle und auch keine neuen Nachrüstpflichten. Ich glaube, das ist eine wichtige Nachricht für alle Hausbesitzer, ob klein oder groß. Damit tragen wir der Wirtschaftlichkeit von Gebäuden Rechnung. Wirtschaftlichkeit ist ein Begriff, der dem einen oder anderen vielleicht fremd ist, aber ich kann das ja noch einmal erklären. Wenn ich investiere, dann muss sich das in der Miete irgendwann auch niederschlagen, sonst passt das Geschäft für keinen von beiden Partnern. So ist das nun einmal. (Kirsten Lühmann [SPD]: Irgendwann! Nur wann?) Gleichzeitig müssen in Bezug auf diese Wirtschaftlichkeit auch bautechnische und ästhetische Fragen berücksichtigt werden. Auch das ist wichtig; das sollte man nicht aus den Augen lassen. Technologieoffenheit und Wahlfreiheit für Investoren bzw. Eigentümer müssen gewahrt bleiben. Das nenne ich liberale Politik. Das ist die Politik unserer Koalition, und das ist umsichtig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sören Bartol [SPD]: Sehr umsichtig!) - Ja, das ist es. Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist nachhaltig, und Nachhaltigkeit ist heutzutage wirklich mehr als nur Energieeinsparung. Markt und Politik fordern viel von Eigentümern und Investoren, und es sind nicht immer nur die Großen, sondern auch die Kleinen betroffen. Hier müssen wir uns doch nichts vormachen. Die Anpassung der Gebäude an älter werdende Gesellschaften und an den demografischen Wandel, das Wohnumfeld, das verbessert werden soll und muss, stabile Nachbarschaften - hier denke ich auch an die Quartiere -, bessere Sicherheitsstandards - auch das ist heute eine Anforderung an Investoren und Eigentümer -, bessere Mess- und Gebäudetechnik, weil wir damit doch Energie sparen, Qualitätssicherung, Energiemanagement, technische Überwachung: Das ist ein ganzes Maßnahmenpaket. Das sind Aufgaben und steigende Ansprüche. Diese erfordern aber auch Ausgewogenheit. Deshalb ist die Wirkung unserer Gesetzesvorlage so nachhaltig, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) weil sie umfassende Forderungen im Einzelfall zulässt, aber nicht behindert, und weil sie mit Augenmaß vorgeht, aber nicht überfordert. Bei aller Notwendigkeit zur energetischen Sanierung, bei allen sinnvollen Standards: Wir wollen, dass in Deutschland auch weiterhin gebaut werden kann und auch gebaut wird. Genau deshalb werden wir den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in die Präambel zur Energieeinsparverordnung aufnehmen. Wir wollen für Investoren Startblöcke aufstellen, aber keine Hemmschuhe an sie verteilen. Das alles möchten wir in den nächsten Jahren kontinuierlich fortsetzen. Deshalb will die christlich-liberale Koalition vor 2018 auch keine weiteren Novellierungen. Denn das ist das wichtige Signal in den Markt hinein: die Planungssicherheit, die sich positiv auf Neubau und Sanierung auswirken wird. Diese wird sich auf den gesamten Wohnungsmarkt auswirken und schafft Stabilität und das Klima für Neubauten. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, vielleicht noch ein Wort ganz zum Schluss zur Markttransparenz: Es wird einen Energieausweis geben. Der wird in ein paar Jahren genauso normal sein wie die Ampel an jedem Elektrogerät. Jeder Mieter oder Erwerber eines Gebäudes wird sich danach richten und kann auf dieser Grundlage seine Kaufentscheidung bedenken. Ich glaube, auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt bei der Energiewende. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf meine nächste Kollegin. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetzentwurf erhebt die Bundesregierung den Anspruch, die Richtlinie der Europäischen Union und des Europäischen Rates vom 19. Mai 2010 über die Gesamteffizienz von Gebäuden umzusetzen. Aber genau das Gegenteil tut sie. Herr Ramsauer, Sie haben es tatsächlich hinbekommen, in Ihrem Eingangsstatement nicht ein einziges Mal die EU zu erwähnen. Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, entspricht in keiner Weise den Ansprüchen, die wir in einem gemeinsamen Europa miteinander vereinbart haben. (Beifall bei der LINKEN) Im Gegenteil: Sie verwässern die Zielsetzungen der EU zum Klimaschutz und verstümmeln diese Richtlinie auf wenige, willkürlich ausgewählte Aspekte. Die Bundesregierung verstößt mit vielen der hier vorgesehenen Regelungen sowohl gegen ihre eigenen Zielmarken als auch gegen die mit der EU vereinbarten Zielmarken. Die Bundesregierung ignoriert die von der EU angebotenen Hilfen und Vorgaben zur Schaffung angemessener Finanzierungsinstrumente zur Beschleunigung in Richtung einer besseren Gesamteffizienz von Gebäuden. Dass der Minister das nicht hören mag, kann ich mir vorstellen. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung hält sich nicht einmal an den vereinbarten Zeitrahmen für die Umsetzung der Richt-linie in deutsches Recht und müsste sich nach Art. 27 der EU-Richtlinie deswegen schon heute selbst mit Sanktionen belegen. Aber der Reihe nach. Die Bundesregierung will erstens die primärenergetischen Anforderungen an Neubauten in zwei Stufen jeweils um 12,5 Prozent bis 2016 verschärfen. Die EU-Richtlinie fordert aber 20 bis 30 Prozent bis 2020. Diese Vorgabe ist so überhaupt nicht zu erfüllen. Die Bundesregierung will zweitens die Anforderungen an die Gebäudehülle in zwei Stufen jeweils um 10 Prozent bis 2016 verschärfen - aber nur bei Neubauten. Die EU-Richtlinie fordert in Art. 6 und Art. 7, dass alle Neubauten und Bestandsgebäude einzubeziehen sind. In Art. 9 fordert sie, dass bis 2020 alle Neubauten und bis 2018 alle öffentlichen Gebäude dem Niedrigstenergiestandard entsprechen sollen. (Torsten Staffeldt [FDP]: Das ist schön, dass Sie vorlesen können, Frau Kollegin! Ich bin schwer beeindruckt!) Die Bundesregierung will drittens keinen eigenen -Finanzrahmen für die Förderung dieser Ziele festschreiben. (Torsten Staffeldt [FDP]: Ihre Rede ist ein Plagiat! Sie lesen nur von anderen ab!) Die EU-Richtlinie schreibt in Art. 10 aber genau dieses vor. Herr Schäubles Eckwerte für den Haushalt 2014 - Herr Bartol hat es hier schon einmal näher ausgeführt - haben die Unterdeckung des EKF bereits deutlich werden lassen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Sie in diesem Gesetzentwurf nicht einmal mehr eine verlässliche Förderung für Investoren, auf die Sie, Frau Müller, so sehr abzielen, vorsehen. (Sören Bartol [SPD]: Kein Mensch investiert!) Die Bundesregierung ignoriert viertens, dass die Frist zur Umsetzung der EU-Richtlinie bereits am 9. Juli 2012 abgelaufen ist, wie es die EU-Richtlinie vorschreibt. Darin werden auch Sanktionen für denjenigen gefordert, der diese Richtlinie nicht bis zum 9. Januar 2013 umgesetzt hat. Also sollten wir uns heute schon einmal darüber unterhalten, welche Sanktionen wir unserer eigenen Bundesregierung auferlegen, weil sie diesen Termin schon längst verpasst hat. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb jetzt dieser Schnellschuss ohne Sinn und Verstand, wahrscheinlich aus reiner Angst vor zukünftigen Sanktionen der EU. Die Linke schließt sich mit ihren Forderungen den Vorschlägen des NABU zur Novellierung des Energieeinsparungsgesetzes und auch der Energieeinsparverordnung in weiten Teilen an. So werden durch Ihre herabgesetzte Verordnung, Frau Müller, die Mieterinnen und Mieter eben nicht geschützt, sondern sie sollen zusätzlich belastet werden; denn wenn es in den Gebäudebeständen zu keinerlei zusätzlicher Sanierung im energetischen Bereich kommt, werden die Mieterinnen und Mieter an dieser Stelle auch nicht entlastet, sondern weiterhin hohe Nebenkosten zahlen müssen. Diese bleiben letztlich auf der Strecke. (Beifall bei der LINKEN) Diesen Gesetzentwurf kann man aus den von mir genannten Gründen einfach nur ablehnen. Er ist nicht nur den Mieterinnen und Mietern und auch den Investoren gegenüber unfair. Er ist auch gegenüber den vereinbarten Zielen in Europa unfair. Das kann man mit der Linken in diesem Land nicht machen. (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt habe ich gedacht: Wenn zu so später Stunde der Minister hier ist, dann wird ein Feuerwerk abgebrannt. Er hat aber nicht einmal ein Streichholz entzündet. (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Wir zünden doch keine Häuser an! Wir wollen sie sanieren! - Zurufe von der FDP) Ich komme gleich zu dem, was Sie hier vorlegen, Herr Minister. Ihre Schönrederei beim Thema Gebäudesanierung kann man Ihnen nicht durchgehen lassen. Wenn wir Mitte des Jahrhunderts einen halbwegs klima-neutralen Gebäudebestand haben wollen - das müssen wir, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen -, dann brauchen wir eine Sanierungsrate von 3 Prozent. Das, was diese Bundesregierung zustande bringt, hat eine Null vor dem Komma. Das sind null Komma irgendwas, vielleicht sogar 1,2 Prozent, aber von 3 Prozent sind wir Welten entfernt. Dass Sie sich hier auf die Schulter klopfen, ist ein bisschen lächerlich, Herr Ramsauer. Es tut mir leid, das so zu sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier jetzt vorlegen, löst die Probleme beim Gebäudebestand kaum. Der Gesetzentwurf bezieht sich in erster Linie auf Neubauten. Das Wesentliche jedoch, was im Gebäudebereich passieren muss, ist die Sanierung des Bestands. Dafür bringt das, was Sie hier in notdürftiger Umsetzung einer EU-Richtlinie vorlegen, gar nichts. (Torsten Staffeldt [FDP]: Zwangssanierungen, die keiner bezahlen kann!) Vor allen Dingen packen Sie all die Probleme, die gerade in der Fachwelt diskutiert werden und die Sie von den Praktikern hören, dass es ein Durcheinander zwischen Energieeinsparungsgesetz, Energieeinsparverordnung und Erneuerbare-Wärme-Gesetz gibt, dass es hier teilweise widersprüchliche Regelungen gibt, dass Planungen doppelt gemacht werden, an dieser Stelle nicht an. Der Bundesrat hat es Ihnen mit einer klaren Mehrheit ins Stammbuch geschrieben: Die Umsetzung dieses Gesetzes führt zu Akzeptanzproblemen. Das führt nicht dazu, dass wir am Ende klimafreundlicher bauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Otto Fricke [FDP]: Blockade!) - Zum Thema Blockade: Lesen Sie einmal, was Ihnen der Bundesrat aufgeschrieben hat. Vielleicht haben wir im weiteren Verfahren noch die Gelegenheit, hier einiges zu verbessern. Das, was Sie bisher vorgelegt haben, bietet überhaupt keine Perspektive. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will Ihnen das anhand des Beispiels der Energieausweise erklären. Wir brauchen endlich einen verpflichtenden Bedarfsausweis. Es muss klar sein, dass der Ausweis tatsächlich vorhanden sein und vorgelegt werden muss, dass es keine Ausnahmen und Sonderregelungen geben darf. Auch da liefern Sie nicht. Das Problem gehen Sie nicht an. Sie machen das ganze Thema zu einem reinen Papiertiger, und dann feiern Sie sich dafür, dass in Zukunft der energetische Standard eines Gebäudes in den Immobilienanzeigen dargestellt werden soll. Ja, das ist eine richtige Sache. Aber in Frankreich und Großbritannien ist das seit Jahren Standard. Sie hinken hinterher. Das alles bringt am Ende überhaupt nichts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der FDP) - Dann nennen Sie mir ein anderes Thema. Ein anderes schönes Thema, zu dem Sie nicht liefern, ist das Erneuerbare-Wärme-Gesetz für den Bestand. Das haben Sie im Koalitionsvertrag vereinbart. Wo bleibt es? Sie hätten jetzt die Chance, etwas vorzulegen. Ihr Kollege Kauch fordert das seit Jahren. Er sagt immer: Die Bundesregierung wird liefern. - Es kommt nichts. Sie liefern nichts. Sie liefern am Ende einen Papiertiger, und das ist viel zu wenig. Da können Sie so lange schreien, wie Sie wollen. Das wird Sie an der Stelle nicht voranbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Otto Fricke [FDP]: Du hast schon deine ganze Fraktion aus dem Saal gejagt! Deine Leute sind alle geflohen!) Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist ein Energieeffizienzfonds. Wir brauchen über die 2 Milliarden Euro für die energetische Gebäudesanierung im Rahmen der KfW hinaus einen Energieeffizienzfonds. Wir haben dazu den Vorschlag gemacht, dass wir ihn mit 3 Milliarden Euro ausstatten, finanziert aus dem Abbau umweltschädlicher Subventionen. Das kann man in den Gebäudebestand investieren und beispielsweise den Kommunen für Quartiere, wo es schwierig ist, zur Verfügung stellen. Das alles kriegen Sie nicht hin. Sie liefern seit Jahren nicht, und auch mit diesem Gesetzentwurf werden Sie den Herausforderungen der energetischen Gebäudesanierung überhaupt nicht gerecht. Das ist ein Flop. Vielleicht haben wir die Chance, in den Ausschussberatungen noch etwas zu verbessern, aber ich sehe es nicht. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Energieeinsparungsgesetz und Energieeinsparverordnung sind zwar hochtechnische Begriffe, aber man muss an der Stelle klarmachen: Es betrifft uns alle, sowohl den Mieter als auch den Selbstnutzer im Eigenheim und natürlich auch die gewerbliche Wohnungswirtschaft. Die Debatte eben hat mir gezeigt: Die Argumente der Opposition sind sehr schwach. Das heißt, wir sind auf dem richtigen Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung folgt vor allen Dingen unseren politischen Grundsätzen. Ich möchte sie noch einmal zusammenfassen. Minister Ramsauer hat es bereits ausgeführt, und auch Petra Müller hat es deutlich gemacht: Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist für uns von ganz großer Bedeutung, genauso wie die Vorgabe, dass es keine Sanierungspflicht für den Bestand geben darf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Denn man stelle sich vor, wir setzen einen Ordnungsrahmen, der die Eigentümer verpflichtet, zu sanieren. Gerade diejenigen mit kleinem Geldbeutel wie Witwen oder Alleinstehende, die ihr Eigentum erhalten wollen, müssten dann zwangsläufig ihr Eigentum aufgeben. Das kann beim besten Willen nicht sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will das denn?) Das beste Mittel, um das zu verhindern, ist - wenn wir die Wirtschaftlichkeit tatsächlich in den Mittelpunkt stellen - Technologieoffenheit. Wir sollten es den Menschen vor Ort überlassen, mit welchen geeigneten Maßnahmen sie das, was wir vorschreiben, umsetzen. Wir sollten nicht hineinregieren. Es gibt regionale Unterschiede, und es gibt Unterschiede in der Gebäudesub-stanz. Deshalb wollen wir das. Ganz wichtig ist die Planungssicherheit. In der Zeit, seit ich im Deutschen Bundestag bin, habe ich in kurzen Zeitabständen eine EnEV 2007 und eine EnEV 2009 mitgemacht. Wir reden jetzt über eine EnEV 2014. Wir müssen sie angehen, weil wir die EU-Gebäuderichtlinie umsetzen müssen. Aber jetzt kommt es darauf an, für einen Zeitraum in diesem Jahrzehnt für Sicherheit zu sorgen. Dafür sorgen wir, indem wir auch vernünftige Verschärfungen im Neubau zum Ansatz bringen. Zweimal 12,5 Prozent in 2014 und 2016 sind machbar, wenngleich ich an der Stelle sage: Wir sind sehr hart an der Grenze zu dem, was man wirtschaftlich vertreten kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der sogenannten Transmission, also beim Wärmedurchgang, sagen: Bei der Außendämmung reichen zweimal 10 Prozent. Mehr ist wirtschaftlich vertretbar nicht umzusetzen. Den Bestand muss man differenziert betrachten. Wir wollen keine Sanierung, was den Bestand anbetrifft; wir setzen vielmehr auf Förderung, Beratung und Information. Das ist der große Unterschied zwischen uns und der Opposition. Die Opposition, allen voran die Grünen, will die verpflichtende Sanierung in einem bestimmten Zeitraum. Das ist der falsche Weg und widerspricht letztlich der Eigentumsgarantie, die uns das Grundgesetz vorschreibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die EU-Gebäuderichtlinie schreibt Informationen, Kennwerte für den Immobilienbereich und verschärfte Aushangspflichten für den Energieausweis nicht nur in öffentlichen Gebäuden, sondern auch in Gebäuden mit öffentlichem Charakter wie Kinos und Kaufhäusern vor. Ich denke, das ist für die wirtschaftlich Beteiligten machbar. Förderung heißt aus unserer Sicht, einen höheren Sanierungsanreiz in den Bereichen zu setzen, in denen es um Freiwilligkeit geht. Das hilft, die Wirtschaftlichkeitslücke da, wo sie entsteht, zu schließen. Wir sorgen des Weiteren dafür, dass die CO2-Gebäudesanierungsprogramme weiter bedient werden, dass sie oberste Priorität bei der Ausschöpfung des Energie- und Klimafonds haben. Wir stellen zusätzlich 300 Millionen Euro für die nächsten acht Jahre zur Verfügung. Ich appelliere an die Kollegen von SPD und Grünen, das noch einmal aufzugreifen und die Möglichkeiten der steuerlichen Abschreibung der Kosten der energetischen Gebäudesanierung erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Ich weiß, dass Sie damit bislang bei den von SPD und Grünen geführten Ländern nicht haben punkten können. Greifen Sie es noch einmal auf, um hier eine Sanierungsmöglichkeit zu schaffen! Herr Krischer, Sie haben davon gesprochen, dass eine Sanierungsquote von 3 Prozent wahrscheinlich nicht erreicht wird. Wenn wir hier das Potenzial, vor allem das private Kapital, besser heben könnten, wäre die Sanierungsquote sicherlich sehr viel höher. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch einige Worte zum Sanierungsfahrplan bis 2050 sagen. Das Ziel ist, bis dahin 80 Prozent der bislang benötigten Energie einzusparen. Die EnEV, die wir jetzt auf den Weg bringen, ist ein wichtiger Baustein für das Erreichen der Ziele bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Die Menschen wissen nun, in welche Richtung es geht. Wenn wir mit der EnEV 2014 den Niedrigstenergiehausstandard entsprechend der EU-Gebäuderichtlinie etablieren - und zwar ab 2019 für den öffentlichen Bereich und ab 2021 für alle Gebäude -, dann ist das ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Sanierungsfahrplans bis 2050. Wir werden gemeinsam mit allen Akteuren, also sowohl mit denjenigen, die davon betroffen sind, als auch mit denjenigen, die es umsetzen müssen, weiterhin an diesem Sanierungsfahrplan arbeiten. Wir werden ihn den Menschen als Handlungsempfehlung an die Hand geben. Ein allerletztes Wort zum Regelwerk. Der Kollege Krischer hat es angesprochen: Ja, es ist richtig, dass unser Regelwerk zu kompliziert ist. Das hat sich an der Beteiligung der Bundesländer und der Verbände gezeigt. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll ist, die Regelwerke, die es im Bereich der Energieeffizienz und für die erneuerbaren Energien im Baubereich gibt, zu einem einheitlichen, einfacheren Regelwerk zusammenzuführen. Aber das ist nicht Aufgabe in den nächsten Wochen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Die Aufgabe in den nächsten Wochen ist, das Energieeinsparungsgesetz und die EnEV auf den Weg zu bringen. Wir wollen das im Deutschen Bundestag zügig erarbeiten. Ich bitte die Opposition, konstruktiv daran mitzuarbeiten, damit wir eine Lösung hinbekommen, noch im Sommer eine Entscheidung im Bundesrat fällen und so für Planungssicherheit sorgen können. Das hilft dem Klima und unserer Wirtschaft, insbesondere den Handwerkern in den Regionen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12619 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12671, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11664 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkte 18 a und b: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten - Drucksache 17/12634 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz - Drucksache 17/11691 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt - ebenso wie derjenige des Bundesrates - auf eine Förderung und deutliche Ausweitung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Bundesregierung und Bundesrat sind sich darüber einig, dass die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs in den vergangenen Jahren weit hinter den Erwartungen -zurückgeblieben ist. Als Gründe werden fehlendes -Nutzungsvertrauen, aber auch mangelnde Akzeptanz der elektronischen Signatur genannt. Hinzu kommt, dass die Einreichung von Dokumenten per elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach nicht bei jedem deutschen Gericht möglich ist. Angedacht ist eine technologieoffene Regelung in der ZPO und anderen Verfahrensordnungen, um der Justiz die Möglichkeit zu geben, auf zukünftige -Entwicklungen der IT-Branche zeitnah reagieren zu können. Das auf E-Mail-Technik beruhende, hiervon aber technisch getrennte, und durch einen Verschlüsselungskanal gesicherte Kommunikationsmittel De-Mail ebenso wie das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, EGVP, sollen den Verzicht auf eine qualifizierte elektronische Signatur möglich machen. Teile der Praxis gehen allerdings davon aus, dass eine qualifizierte elektronische Signatur einen zuverlässigen elektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwaltschaft und Justiz besser fördert. Gründe für eine -zurückhaltende Nutzung seien vielmehr eine fehlende oder verbesserungswürdige Fachsoftware, Diskrepanzen innerhalb der Verfahren von Bundesland zu -Bundesland sowie der fehlende Austausch von Strukturdaten. Ebenso wird angeführt, dass gewährleistet sein müsse, dass ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach unterschiedliche Nutzungsberechtigungen erkennt, sprich: zwischen Anwalt und Angestellten unterscheiden kann. Das Personal müsse in der Lage sein, gerichtliche Schriftstücke einzusehen, die in das elektronische Postfach eingelegt wurden, und müsse berechtigt sein, solche Schriftstücke aus dem Postfach zu entnehmen und in die kanzleiinternen Arbeits-abläufe einzuspeisen. Andererseits müsse sichergestellt sein, dass nur solche Schriftstücke an das Gericht übermittelt werden, die der Anwalt autorisiert hat. Die qualifizierte elektronische Signatur stelle somit das Äquivalent zur persönlichen Unterschrift dar. In den weiteren parlamentarischen Beratungen wird zu -klären sein, inwieweit sich das Verfahren rund um das besondere elektronische Anwaltspostfach von dem derzeitigen unterscheidet. Auch heute sind in der Regel Angestellte in Kanzleien dafür zuständig, Schriftstücke zu versenden und entgegenzunehmen. Wichtig wäre dann, dass einer vom Provider qualifiziert elektronisch signierten Absenderbestätigung ein ausreichender -Beweiswert zukommen kann. Eng mit der Übertragung beweissicherer elektronischer Erklärungen verbunden ist die geplante Fortentwicklung des Zustellungsrechts. Geplant ist eine -Anpassung an die technische Entwicklung in der Form, als zukünftig gerichtliche Dokumente über De-Mail und EGVP rechtssicher, schnell und kostengünstig an das neu zu errichtende elektronische Anwaltspostfach zugestellt werden können. Eine automatisch übermittelte Eingangsbestätigung soll in diesem Zusammenhang den erforderlichen Zustellungsnachweis erbringen. Während eine solche Regelung vonseiten der Justiz ausdrücklich begrüßt und eine deutliche Vereinfachung der gerichtlichen Praxis erwartet wird, ist die Anwaltschaft der Ansicht, dass eine tatsächliche Kenntnisnahme des elektronischen Dokuments durch den Rechtsanwalt für die Akzeptanz des elektronischen Rechtsverkehrs in der Anwaltschaft unverzichtbar ist. Des Weiteren soll eine technikoffene Vorschrift in Bezug auf rechtssicheres ersetzendes Scannen geschaffen werden. Die erheblichen Vorteile einer elektronischen Archivierung gegenüber einem Papierarchiv sollen genutzt und durch eine neue Beweisvorschrift abgesichert werden. Bei allen technischen Neuerungen ist es heutzutage selbstverständlich, dass ein barrierefreier Zugang zu den Gerichten als zentrale Bedingung für die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit -Behinderungen gesehen wird. So bekennt sich der -Regierungsentwurf klar zur Barrierefreiheit und hält diese für gesichert. Der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. sieht dagegen weiteren Regelungsbedarf. Natürlich werden wir auch dies genau prüfen. Um die Rechtswegs- und Verwaltungsvereinfachungen zu erreichen, wird es letztendlich darauf ankommen, in absehbarer Zeit eine bundesweite flächendeckende Umsetzung der Maßnahmen, ohne föderale Zersplitterung, zu erreichen. In diesem Punkt konnte man Unterschiede bei den Initiativen von Bundesrat und Bundesregierung ausmachen. Es ist aber davon auszugehen, dass hier eine Annährung - auch durch die guten Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission sowie des EDV-Gerichtstages - stattfinden wird. Über die genaue Ausgestaltung - auch vor dem Hintergrund von Länderöffnungsklauseln - wird intensiv zu diskutieren sein. Betrachtet man in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Überlegungen zur Einführung eines länderübergreifenden Schutzschriftenregisters, zu dem die Gerichte elektronischen Zugang erhalten sollen, macht eine schnellstmögliche Harmonisierung Sinn. Die Kosten des Projekts für Gerichte, vor allem auch für Anwälte, sind schwer zu beziffern. Auf -längere Sicht wird dem technischen und organisatorischen Umstellungsaufwand aber eine nachhaltige Kostenreduzierung gegenüberstehen, welche den -anfänglichen einmaligen Aufwand mehr als kompensieren wird. Zahlreiche Punkte des Regierungsentwurfs, aber auch des Bundesratsentwurfs, gehen auf Missstände ein und zielen auf deutliche Verbesserungen gegenüber dem Status quo. Natürlich werden auch einige Fragen insbesondere zu Beweiswerten aufgeworfen, die wir im Rahmen der geplanten öffentlichen Expertenanhörung im Rechtsausschuss diskutieren werden, seien sie nun technischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur. Dr. Edgar Franke (SPD): Das Bundeskabinett hat am 19. Dezember 2012 den "Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten" beschlossen. Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf soll der elektronische Rechtsverkehr mit und innerhalb der Justiz gefördert werden. Damit verbunden soll es zu Zeit- und Kostenersparnissen kommen, gleichzeitig soll mehr Bürgernähe geschaffen werden. Dies soll insbesondere durch eine Vereinfachung der Signaturerfordernisse und der Kommunikationswege verbunden mit der Schaffung elektronischer Postfächer für Anwälte erreicht werden. Bei den Kontakten zwischen Gerichten und Anwälten soll der elektronische Rechtsverkehr in großem Umfang verpflichtend werden. Die Kommunikationswege Post und Fax werden zurückgedrängt. Bei den Gerichten sollen dann auch die Akten elektronisch -geführt werden. Zu diesen Zwecken müssen die Zivilprozessordnung sowie die anderen Gerichtsordnungen geändert werden. Ihr Entwurf geht auf die Initiative einer Ländergruppe im Deutschen Bundesrat zurück, deren Entwurf in weiten Teilen übernommen worden ist. Demnach wird bei der Bundesrechtsanwaltskammer für jeden Anwalt ein sicheres elektronisches Anwaltspostfach eingerichtet. Dann soll auch jedes deutsche Gericht grundsätzlich ab dem Jahr 2018 elektronisch erreichbar sein, und zwar barrierefrei. Die Länder können diesen Zeitpunkt bis spätestens 1. Januar 2022 hinausschieben, aber nur einheitlich für alle Länder. Hier weichen Sie von der Position der Länder ab. Der Bundesrat will aber, dass die Länder selbst bestimmen, wann die elektronische Kommunikation mit den Gerichten vorgeschrieben werden soll, und behalten sich sogar vor, hierzu erste Erfahrungen mittels -Pilotprojekten zu machen. Die ursprüngliche Länderinitiative sieht die flächendeckende Einführung der elektronischen Kommunikation in kürzerer Zeit vor. Sie dagegen verlängern diese Einführung. Sie sehen eine obligatorische Einführung erst ab 2020 vor. Eine Pflicht zur Nutzung für Rechtsanwälte und Behörden ist dann ab 2022 vorgesehen. Diese Verlängerung der Einführungszeit ist offensichtlich einem Umstand geschuldet: Die verpflichtende Einführung soll bundeseinheitlich erfolgen - im Interesse der Anwaltschaft. Damit soll eine Zersplitterung der Vorschriften vermieden werden. Die Öffnungsklausel der Länderinitiative führt dagegen zu einer Rechtszersplitterung, die automatisch auch zu Rechtsunsicherheit führt, da das Vertrauen der Nutzer erheblich geschwächt würde. In der Tat ist die Vermeidung von Vorleistungspflichten einzelner beteiligter Personengruppen wichtig und richtig. Der saure Apfel, in den dafür gebissen werden soll, ist die Verlängerung der Zeit der Einführung. Ob es nicht doch schneller gehen kann, ist zu -prüfen. Ich denke, hier liegt es eher an der Befähigung der Gerichte, sich grundsätzlich auf elektronischen Rechtsverkehr einzustellen und elektronische Gerichtsakten zu führen. Dann müssen eben die Gerichte hierzu befähigt werden. Die Kommunikation erfolgt heute bereits teilweise technologieneutral per De-Mail, über EGVP, das Elek-tronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, oder andere sichere Kommunikationswege. Am Ende soll das Ganze für die professionellen Einreicher - also besonders für die Anwälte - verpflichtend sein, für die Bürger jedoch nicht. Doch dass einige Gerichte je nach Umsetzung in den Ländern elektronisch erreichbar sind, andere nur per Post und das bei nicht darauf abgestimmten Fristen, ist nicht sachgerecht. Hier geben wir Ihnen recht. Wenn der elektronische Rechtsverkehr verpflichtend wird, muss das bundeseinheitlich erfolgen. Parallel liegt uns der Bundesratsentwurf mit gleicher Zielrichtung vor. Die Länder argumentieren, sie wünschten sich mehr Freiräume. Es sollen auch Pilotprojekte für einzelne Gerichtszweige, für einzelne Gerichtsbezirke oder auch einzelne Gerichte möglich sein. Das können wir auf der einen Seite zwar nachvollziehen, auf der anderen Seite sollten wir einen verwirrenden Flickenteppich an vorgeschriebenen Kommunikationswegen vermeiden. Deshalb haben wir Verständnis für das Anliegen der Bundesregierung, die nach mehr Einheitlichkeit bei der Einführung strebt. Die Einführung muss für alle verpflichtend sein, weil Angebote auf freiwilliger Basis eben nicht von allen oder auch nur zögerlich angenommen werden. -Sogenannte Medienbrüche, das Nebeneinander von elektronischer Kommunikation und Papier, bedeuten letztlich nur einen Mehraufwand. Generell ist der sichere gegenseitige Austausch von Daten zwischen allen Beteiligten vorzusehen. Die Einrichtung von sicheren elektronischen Anwaltspostfächern ist ein wesentlicher Baustein hierzu. Problematisch erscheint daher, dass das Empfangsbekenntnis von Zustellungen bei den Rechtsanwälten abgeschafft und durch eine durch das künftige elektronische Postfach der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte automatisch ausgelöste Eingangsbestätigung ersetzt werden soll - so § 174 Abs. 4 ZPO-E. Auf die haftungsrechtliche Bedeutung für die Anwaltschaft, die hier entsteht, weist die Bundesrechtsanwaltskammer zu Recht hin. Haftungs- und Sicherheitsaspekte dürfen nicht einseitig durch Effizienzaspekte infrage gestellt werden. Die Justizverwaltungen der Länder haben bereits in der Vergangenheit den elektronischen Rechtsverkehr vorangebracht. Überall dort, wo er verpflichtend eingeführt worden war, sind Effizienzgewinne festzustellen, so zum Beispiel im elektronischen Mahnverfahren sowie beim Handelsregister. Dies haben mir auch tätige Anwälte und Notare bestätigen können. Wir begrüßen daher das Ziel, den elektronischen Rechtsverkehr weiter nachhaltig zu fördern und am Ende überall zum Regelfall zu machen. Nur so können Rationalisierungspotenziale genutzt werden, die die moderne elektronische Kommunikation ermöglicht. Was die Bürgerinnen und Bürger angeht: Hier ist keine Verpflichtung zum elektronischen Verkehr vorgesehen. Bürger können weiterhin in Papierform mit den Gerichten kommunizieren. Allerdings soll die elektronische Kommunikation auch für sie ermöglicht und eingerichtet werden. Das ist der richtige Weg. Das Nutzervertrauen ist zu sichern; denn oftmals sind es ja rein praktische Gründe sowie unterschiedliche Standards in den einzelnen Bundesländern, die dazu führen, dass die bereits heute möglichen elektronischen Übermittlungsformen nicht genutzt werden. Generell ist der elektronische Rechtsverkehr mit und innerhalb der Justiz notwendig, und die Länderinitiative sowie der vorliegende Gesetzentwurf sind daher zu begrüßen. Wir werden die Dauer der Einführung und weitere Einzelheiten im weiteren Beratungsverlauf noch zu prüfen haben. An einer bundeseinheitlichen Einführung ist dabei unbedingt festzuhalten. Jens Petermann (DIE LINKE): Bundesrat und Bundesregierung wollen mit den hier vorliegenden Gesetzentwürfen den elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten voranbringen, da in den letzten zehn Jahren die Angebote zu wenig genutzt worden sind. Man beruft sich auf fehlendes Nutzer-vertrauen in die tatsächlichen und rechtlichen -Rahmenbedingungen. Diese wollen Sie nun schaffen, damit das Potenzial der jüngsten technischen Entwicklung genutzt werden kann. Wenn man sich die tatsächlichen Gegebenheiten bei den deutschen Gerichten auch hinsichtlich der technischen Ausstattung anschaut, dann stellt man fest, dass die Gesetzentwürfe eine Farce sind und die Leiter der Gerichte fragend zurücklassen. So haben wir erst gestern in der öffentlichen Anhörung zum Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetz den Direktor eines Amtsgerichts in Nordrhein-Westfalen als Sachverständigen gehört. Er hatte über die Ausstattung seines Gerichts Folgendes zu berichten: Die vorhandene Computertechnik an seinem Gericht - und das ist auch an vielen anderen Gerichten so - sei derart veraltet, dass nicht einmal die einfachsten Spracherkennungsprogramme auf den Personalcomputern liefen. Jetzt erklären Sie mir, meine sehr geehrten Damen und Herren der -Koalition, einmal: Wie wollen Sie das Potenzial der jüngsten technischen Entwicklungen hinsichtlich des elektronischen Rechtsverkehrs auf prozessualem Gebiet nutzen, wenn die Gerichte mit Technik aus dem letzten Jahrhundert arbeiten müssen? Hier machen Sie wieder den zweiten Schritt vor dem ersten. Es ist ja kein Wunder, dass der elektronische Weg beim Rechtsverkehr nicht genutzt wird, wenn es die Technik gar nicht erlaubt. Sie müssten vielmehr erst einmal viele Justizgebäude baulich und technisch auf einen akzeptablen Stand bringen, um dann die neuesten technischen Entwicklungen erproben zu können. Die Landesfinanzminister werten das anders: Von der Justiz kann man jedes Jahr neue Einsparungen verlangen, Teilbereiche privatisieren, wie zum Beispiel die Übertragung von Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare, bei den Bedürftigen sparen, wie zum Beispiel durch die Begrenzung der Prozesskosten- und Beratungshilfe. Und das sind nur die aktuellen Sparansätze, von den in den letzten Jahren schon durchgesetzten ganz zu schweigen. Das Problem der Justiz ist, dass sie trotz all dieser Sparmaßnahmen -immer noch funktioniert. Lange können das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr ausgleichen. Irgendwann ist die Justiz kaputtgespart und das Personal verschlissen. Zurück zu den geplanten Änderungen: Als erster Schritt soll eine Verwendungspflicht für alle professionellen Einreicher geschaffen werden, später für alle Einreicher. Das heißt auf gut deutsch: Wenn ihr unsere Angebote, für die wir ohne Bedarfsplanung, Praktikabilitätstests und erkennbare Vorteile bereits Millionen ausgegeben haben, nicht nutzen wollt, zwingen wir euch dazu. - Das ist meines Erachtens der falsche -Ansatz. Großprojekte müssen von langer Hand geplant, genügend erprobt und die technischen Voraussetzungen vorher geschaffen werden. Aber nicht nur die Gerichte und deren Verwaltungen werden hier überfordert. Mit "professionellen -Anwendern" sind vor allem Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gemeint. Diese wurden in der Vergangenheit mehrfach dafür benutzt, digitale Phantasien des Staates auszubaden, ohne dass vorher sinnvolle Strukturen aufgebaut, technologische Standards -verabschiedet und vor allem ein Mehrwert und eine Arbeitserleichterung erkennbar wurden. Stattdessen hatten die Anwälte mit jahrelangen Betatests, Sanktionen und Ausfällen der Infrastruktur und einer uneinheitlichen Implementierung des Zugangs zu kämpfen. Das mag den solventen Großkanzleien, die sich ohnehin auf technisch modernstem Niveau bewegen, zwar relativ egal sein; doch wir müssen auch an die Einzelanwältinnen und Einzelanwälte denken, die den Großteil der Anwaltschaft in Deutschland ausmachen. -Gerade für kleine Kanzleien und für Berufsanfänger ist die Anschaffung der speziellen Software schwer zu schultern. Wenn Sie schon alles digitalisieren wollen, dann müssen Sie die Gerichte vorher ordentlich ausstatten und den Einzelkanzleien bei der Einrichtung unter die Arme greifen. So herum wird ein Schuh -daraus. Eine positive Seite hat dieses Vorhaben wenigstens: Die Bundesländer werden gezwungen, die IT-Infrastruktur der Gerichte zumindest auf den technischen Stand zu bringen, der ein Funktionieren der Spracherkennung und des elektronischen Rechtsverkehrs theoretisch ermöglichen könnte. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Internet und die zunehmende Digitalisierung verändern nicht nur das Leben von Menschen und deren Verhältnis zur Gesellschaft. Sie verändern auch die Rolle und Funktionsweise des Staates. Meine Fraktion und ich begreifen diese Entwicklung als Chance für unsere Demokratie, als Chance für mehr Legitimation bei staatlichem Handeln, als Chance für mehr Partizipation. Heute befassen wir uns mit der Nutzung elektronischer Technologien im Bereich der Justiz. Der erste allgemeine Rechtsrahmen für den Einsatz elektronischer Verfahren in der Justiz wurde vor knapp 13 Jahren gelegt. Unter der damals rot-grünen Bundesregierung hat der Bundestag 2001 beschlossen, auf der Posteingangs- und der -ausgangsseite der Justiz den Einsatz elektronischer Verfahren zu ermöglichen. Ebenfalls unter der rot-grünen Bundesregierung folgte eine weitere Öffnung der Justiz mit dem 2005 beschlossenen Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz. Nun beraten wir über zwei Gesetzentwürfe zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz bzw. mit den Gerichten. Klar ist: Es besteht Handlungsbedarf. Die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs im Bereich der Justiz muss weiter gefördert werden. Hier gibt es noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Beide Gesetzentwürfe, sosehr sie in ihrem Ziel zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs zu begrüßen sind, werfen aber auch Fragen auf. Diese Fragen betreffen die Teilhabe von Menschen mit Behinderung, das Zivilprozessrecht und den Datenschutz. Sie müssen im weiteren parlamentarischen Verfahren geklärt werden. Deutschland hat am 24. Februar 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit zugleich verpflichtet, gemäß Art. 4, 9 und 13 der Konvention alle geeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung einen gleichberechtigen Zugang zur Justiz und eine selbstbestimmte Teilhabe an allen modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, die elektronisch bereitgestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu ermöglichen. Außerdem sollen vorhandene Zugangshindernisse und -barrieren beseitigt werden. Die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Änderungen für mehr Barrierefreiheit sind ein Schritt in die richtige Richtung. Exemplarisch zu nennen ist die Regelung zu § 31 a Abs. 1 Satz 2 BRAO, wonach das besondere elektronische Anwaltspostfach barrierefrei ausgestaltet sein soll. Gleichwohl genügen die Änderungen nicht den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. Nicht geregelt wird, dass auch das elektronische Postfach und die elektronische Poststelle des Gerichts nach § 130 a Abs. 4 Nr. 2 ZPO barrierefrei ausgestaltet werden müssen, um den barrierefreien Übermittlungsweg zu gewährleisten. Beide Gesetzentwürfe zielen darauf ab, durch den Einsatz elektronischer Zustellungsmöglichkeiten die zivilrechtliche Gerichtspraxis zu vereinfachen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Jedoch ist dabei stets das Interesse aller am Prozess Beteiligten schonend zu berücksichtigen. Die Änderung des § 174 Abs. 4 ZPO führt zu einem erheblichen Paradigmenwechsel. Das Empfangsbekenntnis muss nun nicht mehr persönlich zurückgesandt, sondern soll durch eine automatisch generierte Eingangsbestätigung ersetzt werden. Dabei soll die Zustellung nach drei Werktagen ab Eingang der Schriftstücke im elektronischen Postfach der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als bewirkt gelten, es sei denn, eine frühere Zustellung wird durch ein Empfangsbekenntnis nachgewiesen. Der Wertung der aktuellen Rechtslage würde es eher entsprechen, wenn zugleich mit dem zuzustellenden Dokument ein Empfangsbekenntnis im XJustiz-Standard zugestellt wird, welches nach Kenntnisnahme des Dokuments an das elektronische Gerichtspostfach zurückgesendet wird. Vor diesem Hintergrund sehen wir Grünen an dieser Stelle noch Klärungsbedarf. Die zunehmende Digitalisierung führt auch zu einem Bedeutungszuwachs für den Datenschutz im Zivil- und Strafprozess. Im Bereich der Justiz ist die Kommunikation besonders vertraulich zu behandeln und entsprechend zu sichern. Eine Abkehr vom Standard der qualifizierten elektronischen Signatur, wie es der Regierungsentwurf zu § 130 a Abs. 3 ZPO vorsieht, halten wir vor diesem Hintergrund für problematisch. Die Übermittlung im Wege einer De-Mail bietet grundsätzlich eine Leitungsverschlüsselung, jedoch keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Somit ist diese im Regierungsentwurf in § 130 a Abs. 4 Nr. 1 ZPO als "sicherer Übermittlungsweg" markierte De-Mail keineswegs so sicher wie eine qualifizierte elektronische Signatur. An der weiteren Gesetzesberatung werden wir Grünen uns konstruktiv beteiligen. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Wir alle leben mittlerweile in einer digital vernetzten Gesellschaft. Die Entwicklung der Informationstechnologie schreitet in großer Geschwindigkeit voran und -revolutioniert mit immer neuen technischen Möglichkeiten unser Alltagsleben. E-Justice und E-Government sind Zukunftsthemen einer Bundesregierung, die die Nutzung neuer effizienter Informationstechnologien aktiv vorantreibt. Mit den zur Beratung anstehenden Entwürfen soll der rechtliche Rahmen für die digitale Justiz den neuen technischen Möglichkeiten angepasst werden. Die Justiz soll klare und bürgerfreundliche Regelungen erhalten, die Rechtssicherheit herstellen, aber auch Raum für die weiter voranschreitende technische Innovation lassen. Die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit der Justiz ist ein gemeinsames Ziel von Bund und den Ländern. Zwar liegen Ihnen zwei Entwürfe von Bundesrat und Bundesregierung zu dieser Thematik vor. Wir haben aber in intensiven Gesprächen mittlerweile weitgehende Einigkeit mit den Ländern erzielen können. Das wird erkennbar an der moderaten Stellungnahme des Bundesrates und der weitgehend positiven Gegenäußerung der Bundesregierung. Kennzeichnend für die gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist der Kompromiss, den wir hinsichtlich des Fahrplans für das Inkrafttreten der Regelungen erzielen konnten. Hier war es notwendig, die unterschiedlichen Interessen der Länder auszugleichen, denn noch immer besteht ein sehr unterschiedliches IT-Ausstattungsniveau bei den Gerichten. Der Gesetzgeber hatte vor zehn Jahren einen ersten Anlauf zur Förderung des elektronischen Rechts-verkehrs gemacht und die rechtlichen Grundlagen für E-Justice geschaffen. Die damals geschaffenen Möglichkeiten haben sich indes in der Praxis nicht flächendeckend durchsetzen können. Woran liegt dies? Die qualifizierte elektronische Signatur, die bislang noch für elektronische Einreichungen bei der Justiz erforderlich ist, wird vielfach als zu teuer und auch als zu kompliziert abgelehnt. Außerdem ist immer noch längst nicht jedes deutsche Gericht elektronisch erreichbar. Einige Bundesländer wie Hessen, Sachsen und Berlin haben bereits alle Gerichte für elektronische Eingänge geöffnet; dagegen ist in anderen Ländern außer den Mahn- und Registergerichten noch gar kein Gericht online. Diese Zersplitterung produziert Rechtsunsicherheit. Um die Verfahrensbeteiligten zur Nutzung des digitalen Zugangs zur Justiz zu bewegen, brauchen wir eine bundesweite Öffnung aller Gerichte für elektronische Eingänge zu möglichst einfachen und klaren Bedingungen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung definiert zu diesem Zweck sichere Übermittlungswege zu den Gerichten und regelt dies einheitlich für alle Verfahrensordnungen. Die Justiz wird ab 2018 bundesweit über De-Mail oder für Rechtsanwälte über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach erreichbar sein. Durch Verordnung können auch andere Technologien als sichere Übermittlungswege zugelassen werden. Der Entwurf sieht vor, dass die Bundesrechtsanwaltskammer für jeden Rechtsanwalt bis 2016 ein Postfach auf der Grundlage eines sicheren Verzeichnisdienstes einrichtet. Auch für Behörden ist eine solche Lösung denkbar, wenn ein sicherer Verzeichnisdienst eingerichtet ist. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eng verzahnt mit der E-Government-Initiative, die derzeit im Innenausschuss beraten wird. Beide Gesetzentwürfe sind in kontinuierlicher Abstimmung miteinander entstanden. Der digitale Zugang zu Gerichten einerseits und Behörden andererseits wird vergleichbar ausgestaltet. Der vorliegende Entwurf enthält überdies neue Beweisregeln für eine De-Mail-Nachricht, die der angestrebten Nutzung von De-Mail für die Kommunikation der Behörden an den Bürger erst die notwendige Rechtssicherheit verleihen. Außerdem wird das ersetzende Scannen in der Verwaltung gefördert, indem eine Vermutung für die Echtheit einer aus einer öffentlichen Urkunde gewonnenen Scandatei begründet wird, wenn die Urkunde in einer Behörde oder durch einen Notar gescannt worden ist. Durch die elektronische Abwicklung der Korrespondenz mit der Justiz wollen wir einen wichtigen Beitrag für eine moderne und bürgerfreundliche Justiz leisten. Ein Kernanliegen der Regelungen ist dabei, technische Lösungen dort einzusetzen, wo in der Papierwelt derzeit noch eine manuelle und zeitaufwendige Tätigkeit der Gerichte erforderlich ist. Der Gesetzentwurf sieht daher für professionelle Verfahrensbeteiligte wie Rechtsanwälte und Behörden einen Zustellungsnachweis durch eine automatische Eingangsbestätigung vor. Der Entwurf sieht eine Frist von drei Werktagen nach Eingang als Zustellungszeitpunkt vor. Damit wird das Empfangsbekenntnis in Papierform für die elektronische Welt weiterentwickelt. Diese Regelung ist in der Anwaltschaft indes auf Kritik gestoßen. Diese nehmen wir zum Anlass, im Rahmen der jetzt anstehenden parlamentarischen Beratungen nach Lösungen zu suchen, die sich für die Gerichte ebenso effizient administrieren lassen, aber das im Empfangsbekenntnis enthaltene voluntative Element bewahren. Mit den vorliegenden Gesetzgebungsvorhaben befinden wir uns auf einem guten Weg. Sie geben den Landesjustizverwaltungen die dringend benötigte -Planungssicherheit für den digitalen Ausbau der -Justiz. Ich wünsche uns konstruktive und zielführende Beratungen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/12634 und 17/11691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 19: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Negativbilanz nach zwei Jahren im UN--Sicherheitsrat - Drucksachen 17/11576, 17/12242 - Berichterstattung: Abgeordnete Erich G. Fritz Dr. Rolf Mützenich Marina Schuster Stefan Liebich Kerstin Müller (Köln) Wie in der Tagesordnung vorgesehen, sind die Reden zu Protokoll genommen. Peter Beyer (CDU/CSU): Unter dem Titel "Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat" wird im vorliegenden Antrag aufgelistet, was aus Sicht der SPD in den Jahren 2011/2012 versäumt wurde. Auffällig ist dabei die Wahl der Kritikpunkte, bei denen sich der Leser fragt, was nun der spezifisch deutsche Anteil, also deutsches Nichthandeln, sein soll. Die Feststellung, dass die Zusammensetzung des Sicherheitsrates dem Spiegelbild der politischen Kräfteverhältnisse von 1945 entspricht, ist seit langem bekannt. Reformen sind daher unerlässlich, um Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit dieses wichtigsten Entscheidungsgremiums der Vereinten Nationen zu sichern. Deutschland setzt sich - gemeinsam mit anderen Staaten - seit langem genau dafür ein. Wie aber bei vielen weltpolitischen Herausforderungen sind auch hier strategische Geduld und kontinuierliche Anstrengung erforderlich. Im Antrag der SPD werden genau die Hürden aufgelistet, welche -genommen werden müssen, um den Sicherheitsrat zu reformieren. Es handelt sich dabei aber nicht um -Lappalien: So müssen zwei Drittel der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einer Änderung der UN-Charta zustimmen, um die Zusammensetzung des Sicherheitsrates zu ändern. Wie bereits ausgeführt, lässt sich so ein Schritt nicht innerhalb von zwei Jahren ausführen. Deutschland - und insbesondere die Bundesregierung - dafür zu kritisieren, hier nicht -genug getan zu haben, ist daher ein überflüssiger -Vorwurf. An der Lösung des Syrien-Konfliktes ist Deutschland ebenfalls - in unterschiedlichen Gremien - sehr aktiv beteiligt. Hinsichtlich des deutschen Engagements bei der Konfliktlösung im Sicherheitsrat sei -darauf hingewiesen, dass gegen das Veto zweier ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates - in diesem Falle Chinas und Russlands - kaum Handlungsspielraum existiert. Deutschland hat sich daher sehr darum -bemüht, den Sicherheitsrat regelmäßig über die Geschehnisse in Syrien zu informieren. Ebenfalls setzte sich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern erfolgreich dafür ein, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen in mehreren Resolutionen die Gewalt verurteilte und eine politische Lösung forderte. Am Rande sei zudem erwähnt, dass Deutschland zu den Gründungsmitgliedern der "Freundesgruppe des syrischen Volkes" gehört. Auch der Vorwurf, im Falle Syriens nicht genug getan zu haben, ist somit gegenstandslos. Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Antrag der SPD nur en passant die gewaltigen politischen Umbrüche in der arabischen Welt der Jahre 2011/2012 erwähnt. Somit wird auch nicht ausreichend gewürdigt, dass sich Deutschland von Anfang an auch im Sicherheitsrat mit der Arabellion befasst hat. Im Zuge der deutschen Sicherheitsratspräsidentschaft im September 2012 hat sich Deutschland beispielsweise erfolgreich um die Ausrichtung einer Debatte zum Thema "Frieden und Sicherheit im Nahen Osten" bemüht. Auch war es Deutschland, das sich stets für die Einbindung regionaler Akteure, wie der Arabischen Liga und des Golfkooperationsrates, eingesetzt hat. Ebenso findet der Leser des Antrages keinen -Hinweis darauf, dass sich Deutschland intensiv um Konfliktlösungen auf dem afrikanischen Kontinent bemühte. Auch hier hat Deutschland von Anfang an auf die Stärkung regionaler Kräfte, wie der Afrikanischen Union, gesetzt. Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass Deutschland seine Zeit im obersten Entscheidungs-gremium der Vereinten Nationen konstruktiv genutzt hat. Die in dieser Zeit erbrachten Leistungen sind auch ein deutliches Signal dafür, dass Deutschland sich zu seinen internationalen Verpflichtungen bekennt und zur Leistung entsprechender Beiträge bereit ist. Neben seinem starken politischen Engagement gehört unser Land auch nach wie vor zu den wichtigsten Beitragszahlern. Ebenfalls leistet Deutschland erhebliche -Unterstützung als Truppensteller bei einer Vielzahl von Missionen der Vereinten Nationen. Dass die Staatengemeinschaft unsere Verdienste würdigt, kann an dem Ergebnis bei der Wahl im November 2012 in den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gesehen werden: Hier hat Deutschland das beste Ergebnis aller europäischen Kandidaten erzielt. Von einer "Negativbilanz" der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - wie von der SPD konstatiert - kann also bei weitem nicht die Rede sein. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Nach zwei außenpolitisch sehr erfolgreichen Jahren als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zieht die SPD in ihrem Antrag eine negative Bilanz der deutschen Errungenschaften. Wie ich schon in meiner Rede zu diesem Antrag am 29. November 2012 ausführte, kann davon nicht die Rede sein. Damals habe ich bereits auf die meines -Erachtens nach wichtigsten Erfolge Deutschlands im Sicherheitsrat verwiesen, so auf das deutsche Engagement im Sicherheitsrat für eine Unterstützung des Wandels in der arabischen Welt, auf das deutsche Engagement zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, auf deutsche Bemühungen, Klimawandel auch als sicherheitspolitische Herausforderung zu sehen, sowie auf deutsche Bestrebungen, der internationalen Schutzverantwortung zu stärkerer Beachtung zu verhelfen. Lassen Sie mich daher an dieser Stelle kurz auf drei Punkte zu sprechen kommen, die Deutschland während seiner Zeit als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied vorangetrieben hat, die mir aber in dieser Debatte bislang zu kurz gekommen scheinen: die Notwendigkeit einer UN-Reform, die auch das Engagement Deutschlands angemessen widerspiegelt, die Einbettung deutscher UN-Politik in EU-Politik sowie das Engagement Deutschlands bezüglich der Frage des iranischen Atomprogramms. Eine Reform des UN-Systems, die nicht ausreichend die Realität des geopolitischen Engagements der einzelnen Staaten widerspiegelt, läuft Gefahr, zu kurz zu greifen und die Legitimität des UN-Systems infrage zu stellen. Deutschland ist als einer der wichtigsten Beitragszahler der Vereinten Nationen in allen UN-Gremien und Politikbereichen an vorderster Front engagiert. Daher gehört aus unserer Sicht auch eine formelle Aufwertung der Rolle Deutschlands im UN-System zu den essenziellen Bestandteilen einer Reform der Vereinten Nationen. Wir unterstützen daher eine erneute Kandidatur als nichtständiges Mitglied sowie die fortgesetzten Bemühungen der Bundesregierung um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Die EU ist einer der wichtigsten Kooperationspartner der UN und ihrer Unterorganisationen. Ein einheitliches Auftreten der EU-Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen stärkt nicht nur die Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch die UN, da es sie handlungsfähiger macht. Um in Zukunft gemeinsame Interessen und Positionen der EU-Mitgliedstaaten noch besser identifizieren zu können, hat sich Deutschland für die erstmalige Erstellung eines Strategiepapiers eingesetzt, das im Mai 2012 angenommen wurde. Deutsche UN-Politik ist auch europäische UN-Politik! Lassen Sie mich abschließend noch auf die Frage des iranischen Atomprogramms zu sprechen kommen, das der internationalen Staatengemeinschaft in den zwei Jahren, in denen Deutschland im Sicherheitsrat war, kontinuierlichen Anlass zur Sorge gegeben hat. Deutschland hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Expertengremium, das dem Iran-Sanktions-ausschuss zuarbeitet, zunächst um ein Jahr und danach nochmals bis Juli 2013 verlängert wurde. Diesem Expertengremium gehört nun auch ein deutscher Experte an. Die Bundesregierung hat sich 2011 auch dafür eingesetzt, dass die EU ihre Sanktionsmaßnahmen gegen den Iran erheblich verstärkt. Darüber hinaus warb Deutschland erfolgreich für die Annahme mehrerer Resolutionen der Internationalen Atomenergie-Organisation, IAEO, in denen Iran zu einer besseren Kooperation mit der IAEO aufgefordert wurde. Diese Liste der erfolgreichen Initiativen Deutschlands als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied ließe sich noch lange fortsetzen, beispielsweise mit der Unterstützung Deutschlands für Maßnahmen der Friedenssicherung, mit dem Engagement der Bundesregierung für einen internationalen Waffenhandelsvertrag, mit dem Engagement Deutschlands für die Post-2015-Millenniumsentwicklungsziele oder mit dem deutschen Engagement für die Agenda 21 und die UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung. Eine negative Bilanz sieht anders aus! Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Die "Süddeutsche Zeitung" titelt in einem -Kommentar zu Deutschlands Ausscheiden aus dem UN-Sicherheitsrat vom 1. Januar 2013: "Deutschland hat sich sehr bemüht". Würde die Bundesregierung die Schulbank drücken, müsste sie bei dieser Beurteilung um ihre Versetzung bangen. Wie wir in unserem Antrag darstellen, hat die -Bundesregierung nach zwei Jahren im obersten VN-Gremium eine Negativbilanz vorzuweisen. Ich möchte nicht auf alle Punkte eingehen, da vieles bereits bei der ersten Lesung des Antrages zur Sprache kam, sondern einige wichtige herausgreifen. Nehmen wir zum Beispiel die Reform des UN--Sicherheitsrates. Es ist ihr in dieser Frage nicht -gelungen, irgendein Ergebnis vorzuweisen. Gerade die immer noch andauernde Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Syrien zeigt jedoch, wie wichtig dieses -Unterfangen ist. Um eine Blockade des UN-Sicherheitsrates durch Vetomächte wie Russland und China zukünftig zu erschweren, muss auf eine schrittweise Überwindung des Vetorechts hingewirkt werden. Deutschland als ein bedeutender Beitragszahler sollte mit mehr Gewicht im Rat vertreten sein. Da erscheint es wie blanker Hohn, wenn die Regierungskoalition auf diese Kritik antwortet, man wolle sich für die Jahre 2019/2020 wieder um eine Kandidatur als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat bewerben. Gemäß dem Motto "Dabei sein ist alles" scheint es ihr wichtiger zu sein, hin und wieder in einen sportlichen Wettstreit mit anderen Staaten zu treten. Sie lässt jeglichen Gestaltungsanspruch vermissen, da sie nicht erklärt, wie sie die Reform des Sicherheitsrats strategisch voranbringen möchte. Konzeptlosigkeit und einen fehlenden Gestaltungsanspruch kann man der Bundesregierung auch in anderen Bereichen ihrer VN-Politik attestieren. So hat sie zwar die Umbrüche in der arabischen Welt auf die -Tagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt, allerdings hat sie sich bei der Abstimmung über ein Vorgehen der internationalen Gemeinschaft in Libyen zum Schutz der Zivilbevölkerung enthalten. Über die Enthaltung zu Libyen ist schon viel gesagt und geschrieben worden, was ich nicht alles wiederholen möchte. Aber es ist nur schwer erträglich, wie Außenminister Westerwelle sich nach dem Sturz Mubaraks auf dem Tahrir-Platz in Ägypten von den Menschen dort umjubeln lassen konnte, aber sich beim Schutz von Libyerinnen und Libyern vor den mordenden Truppen -Gaddafis im Sicherheitsrat einfach wegduckt. Der Fall Libyen ist eng mit der internationalen Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, verknüpft, da sie in der UN-Resolution zu Libyen erstmals als Begründung für ein Vorgehen genommen wurde. Das Konzept erfuhr dadurch insgesamt eine unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten bedeutende Aufwertung. Allerdings darf die Schutzverantwortung nicht auf ein militärisches Vorgehen verkürzt werden. Diese Norm, wie sie von der UN-Generalversammlung im Jahre 2005 verabschiedet wurde, ist mit drei Säulen konzipiert worden: der Verantwortung, vorzubeugen, der Verantwortung, zu handeln und der Verantwortung, aufzubauen. Ein militärisches Eingreifen ist -dabei als letztes Mittel zum Schutz vor massiven -Menschenrechtsverletzungen zu sehen, wenn andere, präventive Maßnahmen nicht greifen. Die Bundesregierung muss sich zur Schutzverantwortung bekennen. Sie muss aktiv zu ihrer Akzeptanz und Weiterentwicklung beitragen und darf nicht die bloße Mitgliedschaft in diversen Freundesgruppen vorschieben. Bislang hat die Bundesregierung es auch versäumt, eine aktivere Rolle bei der Lösung des Kernkonflikts in der arabischen Welt, des Nahostkonflikts, einzunehmen. Nach der Entscheidung der UN, Palästina als Beobachterstaat in die Vereinten Nationen aufzunehmen, hat die israelische Regierung erneut Beschlüsse zur Ausweitung von Siedlungsgebieten getroffen, die mit dem Recht der Palästinenser in Konflikt stehen und die gegen internationales Recht verstoßen. Statt folgenloser Appelle an die Adresse der israelischen Regierung wäre es sinnvoller, im UN-Sicherheitsrat entsprechende Initiativen zu starten. Wer sich eine wertegeleitete Außenpolitik auf die Fahnen schreibt und sich zum Freund der arabischen Welt stilisiert, wie es Außenminister Westerwelle gemacht hat, der darf dann auch nicht kneifen, wenn es darum geht, den dort notleidenden Menschen unmittelbar zu helfen. So wiederhole ich das, worum ich -Außenminister Westerwelle auch schon persönlich gebeten habe: Die Bundesregierung muss ein Zeichen der Menschlichkeit setzen und syrischen Staatsangehörigen, deren Familienangehörige in Deutschland -leben oder die besonders schutzbedürftig sind, -Aufnahme gewähren. Die Beratungen haben leider gezeigt, dass die Regierungskoalition sich unserer Kritik verschließt. Sie wird unseren Antrag ablehnen. Angesichts ihrer dürftigen zweijährigen Bilanz im UN-Sicherheitsrat sollte die Bundesregierung die ihr verbleibende Zeit nutzen, andere wichtige UN-Initiativen voranzubringen. Gerade die Umbrüche in der arabischen Welt haben uns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig einheitliche Standards beim Import, Export und Transfer von konventionellen Waffen zum Schutz vor weltweiter Aufrüstung und Destabilisierung von Regionen sind. Die Bundesregierung ist daher angehalten, die nächste Woche beginnenden Verhandlungen für einen internationalen Waffenhandelsvertrag zum Erfolg zu führen. Gleiches gilt für die Verwirklichung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die Konferenz für eine solche Zone, die eigentlich schon im Jahr 2012 hätte stattfinden sollen, in 2013 endlich Realität wird. Sie muss alles daran setzen, die Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 umzusetzen. Dazu gehört vor allem, ausreichende Mittel für Entwicklungsfinanzierung bereitzustellen. Die Bundesregierung hat aber ihr Versprechen, die Mittel entsprechend zu erhöhen, nicht eingehalten. Jetzt werden auch die Weichen für die Festlegung neuer Entwicklungsziele gestellt. Die Bundesregierung darf diese Entwicklung nicht verschlafen. Sie muss eine Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der UN-Millenniumsentwicklungsziele zu Zielen der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals) einnehmen. Diese neuen Entwicklungsziele müssen Teil eines neuen Rahmenwerks für globale Entwicklungspolitik von 2015 bis 2030 werden. Bijan Djir-Sarai (FDP): "Ich sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen, vielen Dank." Schon in meiner letzten Rede zu dem vorliegenden Antrag habe ich mit diesem markanten Zitat begonnen. Und das nicht umsonst: Diese Worte bringen den Erfolg des deutschen Vorsitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen prägnant auf den Punkt. Gesagt hat sie Nabil al-Arabi, Generalsekretär der Arabischen Liga, gemäß dem Protokoll am Ende der letzten Sicherheitsratssitzung, die Bundesaußenminister Guido Westerwelle leitete. Diese beiden Sätze drücken tiefe Dankbarkeit aus: Dankbarkeit für das deutsche Engagement in der Syrien-Krise, Dankbarkeit für die deutschen Schlichtungsversuche im Nahen Osten, Dankbarkeit für die Aufwertung der arabischen Welt auf der UN-Agenda. Und was wird seitens der Opposition der Bundesregierung in diesem Antrag vorgeworfen? Deutschland hätte sich weder im Syrien-Konflikt noch im Nahen Osten durchsetzen können und wäre an einer Reform der Vereinten Nationen gescheitert. Insgesamt unterstellt man der deutschen Bundesregierung mangelndes Engagement. Da sind wohl der Generalsekretär der Arabischen Liga sowie unter anderem auch der marokkanische Außenminister, der sich bei Herrn Westerwelle auf Deutsch ebenfalls bedankte, anderer Meinung. Anscheinend sind die Gesandten des Auslands alles andere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht. Ich werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum. Unsere Bilanz sieht in wenigen Worten folgendermaßen aus: Während unseres Vorsitzes hat Deutschland Initiativen zum Klimaschutz und zur globalen Abrüstung geleitet. Wir haben eine Resolution zum Schutz von Kindern in bewaffneten Gebieten eingebracht. Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen im Nahen Osten unterstützt und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga durchgesetzt. Es mutet schon realitätsfremd an, wenn man der Bundesregierung vorwirft, nicht genug für den Nahen Osten zu tun, wenn gleichzeitig Außenminister Westerwelle vor Ort Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Hamas führt. Genauso wirklichkeitsfremd scheint die Forderung, Deutschland hätte während des Vorsitzes die Vereinten Nationen reformieren sollen. Diese Erwartung ist schlicht unerfüllbar. Natürlich, wir setzen uns für einen ständigen Sitz der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat ein und wir unterstützen die Reformpläne der Vereinten Nationen, die der heutigen globalen Machtverteilung gerecht werden. Aber diese Forderungen kann man nicht alleine im Marschschritt durchsetzen. Das Interesse der Vetomächte an einer grundlegenden Reform - und damit einhergehend einer Beschneidung ihrer derzeitigen Machtposition - ist äußerst gering. Daher bedarf es einer breit aufgestellten, umfassenden Bewegung unter den Mitgliedern der Vereinten Nationen, um den Druck auf die Vetomächte zu erhöhen. Es schmeichelt ja, dass uns die Opposition zutraut, innerhalb von zwei Jahren die Weltorganisation umzukrempeln, aber leider muss ich an dieser Stelle dann doch etwas mehr Realitätssinn fordern. Wir verfolgen weiterhin das langfristige Ziel, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. An dieser Prämisse hat sich nichts geändert. Wir haben daran gearbeitet, wir werden daran weiterarbeiten. Aber es geht eben nicht über Nacht. Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und deren friedensstiftenden Einfluss auf die internationalen Beziehungen ist ungebrochen. Als Beweis der internationalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung wurde Deutschland in den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Das ist aller Ehren wert. Und zudem eine Bestätigung für unsere gute Arbeit im UN-Sicherheitsrat. Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutsche Vorsitz in dem Gremium sind eine Erfolgsgeschichte dieser Bundesregierung. Wo die Opposition hier eine Negativbilanz erkennt, ist fraglich. Wir sehen sie nicht, die Gesandten in der arabischen Welt sehen sie nicht, die UN-Mitglieder sehen sie nicht. Und nur noch einmal zur Bestätigung möchte ich wieder mit den Worten des Generalsekretärs der Arabischen Liga enden: "Ich sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen, vielen Dank." Stefan Liebich (DIE LINKE): Die Fraktion der SPD legt uns einen Antrag vor, der die Überschrift trägt: "Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat". Sie möchte eine "ernüchternde Bilanz" der Bundesregierung feststellen lassen. Wenn es nur darum ginge, könnten wir dem Antrag ohne Weiteres zustimmen. Doch dabei bleibt es nicht. Schwerpunkt eins der Kritik der SPD an der Bundesregierung ist der mangelnde Einsatz der Bundes-regierung für einen ständigen Sitz Deutschlands im -Sicherheitsrat der Weltorganisation. Hier sind wir anderer Auffassung. Eingebettet darin ist eine Kritik am fehlenden Engagement der Bundesregierung für eine Reform des Sicherheitsrates. Diese Kritik jedoch teilen wir. Zweiter Punkt ist die - aus Sicht der SPD - falsche Entscheidung der Bundesregierung, der Resolution, die den Militäreinsatz in Libyen 2011 legitimierte, nicht zuzustimmen. Das kritisieren wir nun überhaupt nicht, sondern diese Entscheidung der Bundesregierung findet unsere ausdrückliche Zustimmung. Punkt drei der Kritik: fehlendes Engagement für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Das sehen auch wir so. Punkt vier: keine Initiativen der Bundesregierung zur Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Richtig. Hier könnte man mehr tun. Und schließlich Punkt fünf: das Nichtzustandekommen des Waffenhandelsvertrags bzw. der mangelnde Einsatz der Bundesregierung für sein Zustandekommen. Auch hier hätte die SPD unsere Unterstützung. Sie sollte aber besser selbst handeln, wenn sie es denn kann. Ergo: Die Linke teilt die Kritik an der schleppenden Reform der Vereinten Nationen, vor allem die fehlende Repräsentanz des globalen Südens im Sicherheitsrat. Ein Streben nach einem deutschen Sitz wird hier allerdings keine Abhilfe schaffen. Ganz im Gegenteil, und deshalb lehnen wir dies auch ab. Völlig im Widerspruch zur antragstellenden Fraktion sind wir aber, wenn es um den Einsatz in Libyen geht. Wir finden, dass die Bundesregierung sich, wie auch die Regierung Schröder/Fischer, als es um den Irakkrieg ging, grundsätzlich richtig verhalten hat. Gerade an den Entwicklungen in Mali sehen wir, dass der Militäreinsatz in Libyen keine wirkliche Lösung für ein komplexes und tiefergehendes Problem war. Im Übrigen meine ich, dass wir auch am Afghanistan-Einsatz, der uns damals von SPD und Grünen als humanitärer Einsatz verkauft wurde, sehen: Militärische Gewalt schafft neues Leid und trägt eben nicht nachhaltig zur Lösung von Problemen bei. Das kann unseres Erachtens nur ein andauernder Dialog, wie ihn die SPD eben auch zwischen Palästina und Israel fordert, wo sich die Bundesregierung, als es um den Beobachterstatus Palästinas ging, nur der Stimme enthalten hat. Auch meiner Fraktion wäre eine Zustimmung lieber gewesen. Was Abrüstung, insbesondere atomare Abrüstung, angeht, hat sich die Bundesregierung mit Absichtserklärungen ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Folgen hatte dies bekanntlich keine. Unsere Position zu Waffenexporten dürfte bekannt sein, doch ich wiederhole sie gern: Wir wollen, dass Deutschland keine Waffen mehr exportiert; ein erster Schritt könnte ein Verbot von Waffenexporten in Kriegs- und Krisengebiete sein. Die Kritik der SPD an der Waffenexportpolitik der Bundesregierung höre ich wohl, teile sie auch; allein mir fehlt der Glaube an besseres Handeln. Bereits im ersten Jahr der SPD-geführten Bundesregierung, 1999, verdoppelte sich der Wert der exportierten Kriegswaffen von 683 Millionen Euro auf 1,454 Milliarden Euro. In den Jahren der Großen Koalition 2006 bis 2009 gab es kein Jahr, in dem es weniger als 1,3 Milliarden Euro waren. Internationale Verträge zur Begrenzung internationalen Waffenhandels wären nicht schlecht, aber eigenes Handeln wäre noch besser. Hier hätte Deutschland unter SPD-Kanzlern und mit der SPD in der Bundesregierung selbst aktiv werden können. Nicht nur an dieser Stelle ist der Antrag inkonsequent. Deshalb bleibt für uns nur eins: Wir werden gegen ihn stimmen, auch wenn wir uns natürlich eine bessere Bilanz der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat gewünscht hätten. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 1. Januar 2011 war Deutschland in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt worden. Am 17. März kam es schon zum ersten Stresstest: In Libyen tobte der Bürgerkrieg, die Armee des Diktators Muammar al-Gaddafi stand vor den Toren Bengasis und drohte der Zivilbevölkerung mit Massakern. Der Sicherheitsrat stimmte darüber ab, ob die Staatengemeinschaft gemäß der Schutzverantwortung intervenieren sollte. Deutschland hat sich enthalten - an der Seite von Russland, China, Brasilien und Indien, gegen Frankreich und die Vereinigten Staaten. Das war der prägende Eindruck unserer zwei Jahre im Sicherheitsrat. Das Signal an unsere traditionellen Bündnispartner: Wenn es ernst wird, dann ist auf Deutschland kein Verlass. Ungeachtet dieses diplomatischen Fauxpas bemängeln deutsche Kritiker gern, dass der Sicherheitsrat ja dysfunktional sei, dass Strukturreformen nötig seien, zum Beispiel indem man das Vetorecht abschafft. Am Beispiel des Syrien-Konfliktes könne man ja sehen, wie Russland und China mit ihrem Veto den Sicherheitsrat in die Handlungsunfähigkeit führen können. Drei Thesen zu dieser Kritik: Erstens. Eine Reform des Sicherheitsrats, die die neuen Gewichte in der Welt besser abbildet, wäre sicher angemessen. Sie ist aber äußerst riskant, weil die Generalversammlung dafür die Charta ändern müsste. Da ist es unberechenbar, ob nicht gleich weitere Kernprinzipien, wie der Schutz der Menschenrechte, mit erodieren würden. Zweitens ist aber auch die Forderung nach einem permanenten Sitz Deutschlands nicht mehr zeitgemäß. Mehr Zusammenarbeit mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern ist nötig - keine Alleingänge, wie in der Causa Libyen. Schließlich entschuldigt der Verweis auf Reformbedarf nicht mangelndes Engagement. Deutschland muss im bestehenden VN-System aktiver werden. Als Mitglied der Europäischen Union ist unsere Außenpolitik multilateral. Mit einem multilateralen, europäischen Ansatz wollen wir deshalb auch die Vereinten Nationen im bestehenden System stärken. Unsere zentrale Forderung lautet: Europa muss im Sicherheitsrat mit einer Stimme sprechen. Die VN könnten schon jetzt viel besser sein, wenn Deutschland und Europa engagierter in den Gremien der VN arbeiten würden. Niemand bestreitet die Notwendigkeit, die VN ständig den neuen Gegebenheiten anpassen zu müssen, also zu reformieren. Ganze Kontinente, vor allem Afrika, sind unterrepräsentiert. Aufstrebende Regionen und Staatenverbünde, wie die BRICS-Staaten, müssen stärker einbezogen werden. Sonst droht die Gefahr, dass die dahinter stehenden Staaten sich einseitig zurückziehen. Eine Fragmentierung der Vereinten Nationen wäre die Folge. Doch anstatt die Rolle multilateraler Verbände im Sicherheitsrat zu fördern, setzen einzelne Mitgliedstaaten immer noch auf nationalstaatliche Repräsentanz. Deutschland ist nach wie vor mit Japan, Indien und Brasilien in der Gruppe der G 4 aktiv. Man unterstützt sich gegenseitig darin, jeweils einen permanenten Sitz zu beanspruchen, und spaltet damit mehr, als dass man eint. Deutschland hat viel Energie darauf verschwendet, einen eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen. Es hat nichts gebracht. Deutschland sollte sich von dieser Forderung explizit verabschieden. Der nationale Traum eines permanenten deutschen Sitzes im Sicherheitsrat ist ausgeträumt. Realistisch ist es, die nichtständigen europäischen Sitze unter Einbeziehung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs als permanente europäische Vertretung auszubauen. Ein neuer diplomatischer Stab soll die Arbeit der Europäer intern vorbereiten, koordinieren und abwickeln. Die Repräsentation im Sicherheitsrat kann dann rotieren. Für diese Europäisierung auf Arbeitsebene wäre keine Reform des Sicherheitsrats nötig, nur europäischer Wille zur Zusammenarbeit. Alle Länder der EU und die EU als Ganzes müssen sich vertreten fühlen und in die interne Sicherheitsratskoordination aktiv und permanent eingebunden sein. Das sieht die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Vertrag von Maastricht vor. Der Art. 34 des Lissabon-Vertrages bekräftigt es. Entsprechend treten wir dafür ein, dass auch gemeinsame europäische Sitze in den Aufsichtsgremien der Unterorganisationen, Sonderorganisationen, Programmen und Fonds der VN angestrebt werden. Ein Friedensnobelpreisträger Europa mit geeinter Stimme im Sicherheitsrat könnte unser gemeinsames Streben nach Frieden unterstützen und den Menschenrechten weltweit zu mehr Geltung verhelfen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12242, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11576 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Regierungskoalition und der Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung - Drucksache 17/12637 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Mechthild Heil (CDU/CSU): Den neuen Bestseller, die Skiausrüstung oder ein schickes Paar Schuhe - heute bestellt man solche Produkte europaweit im Internet so einfach wie eine Pizza beim Lieferdienst um die Ecke. Das ist ein Wachstumsmarkt - zum Leidwesen mancher Innenstädte. Einkaufen im Internet geht meist schneller und ist vor allem bequemer als der Einkaufsbummel durch die Kaufhäuser. Innerhalb weniger Stunden kommt die bestellte Ware zum Kunden nach Hause - und das ohne langes Warten vor den Umkleidekabinen oder Anstehen an der Kasse. Das ist ein Grund, warum der -Onlinehandel in Europa in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist - mit steigender Tendenz. 2011 wurden innerhalb Europas 5,5 Milliarden Pakete versendet. In Deutschland wurden 2012 Waren im Wert von etwa 30 Milliarden Euro im Internet bestellt. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Zuwachs von etwa 30 Prozent. Nach aktuellen Schätzungen wird es auch in diesem Jahr wieder einen kräftigen Zuwachs geben. Dies ist ein beachtlicher Erfolg, und zwar umso mehr, wenn man bedenkt, dass wir innerhalb der EU keine einheitlichen Rechtsvorschriften haben. Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie werden im Wesentlichen die Bereiche Verbraucherverträge und besondere Vertriebsformen sowie Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen neu gefasst. Die Richtlinie zielt in erster Linie darauf, das Verbraucherschutzniveau zu erhöhen und zu einem besseren Funktionieren des Binnenmarkts für Geschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern beizutragen. Wir schaffen Klarheit für Kunden und Händler. Bisher hatten wir in Europa einen Mindestharmonisierungsansatz. Es bestanden beispielsweise keine einheitlichen Widerrufsfristen. Dies sorgte aufseiten der Händler und der Verbraucher für Rechtsunsicherheit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie wird der Handel für beide Seiten einfacher und sicherer. Das Widerrufsrecht wurde umfassend überarbeitet: Die Widerrufsfrist wird europaweit auf 14 Tage vereinheitlicht und ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen; die Unternehmer müssen den Kunden zukünftig ein Widerrufsformular bereitstellen und sind verpflichtet, sie über das Bestehen oder auch Nichtbestehen bzw. Erlöschen des Widerrufsrechts verständlich und umfassend zu informieren; die Widerrufsfrist für die Kunden beginnt erst, wenn die komplette Ware bei ihm eingetroffen ist und der Unternehmer seinen gesetzlichen Informationspflichten zum Widerrufsrecht nachgekommen ist; Voreinstellungen, die der Verbraucher aktiv ablehnen muss, damit keine Zusatzleistungen entstehen, sind nicht zulässig. Auf der anderen Seite wird auch die Rechtssicherheit für die Unternehmer verbessert: Der Kunde muss kenntlich machen, wenn er vom Widerrufsrecht Gebrauch machen will, die bloße Rücksendung ist nicht ausreichend. Zudem trägt der Verbraucher zukünftig die Kosten der Rücksendung, sofern der Händler sich nicht bereit erklärt, diese zu übernehmen, weil das ja durchaus auch ein Wettbewerbsvorteil ist. Da es für kleinere Unternehmen schwierig sein kann, selbst eine gesetzeskonforme Widerrufsbelehrung zu formulieren, enthält der Richtlinienvorschlag sogar ein Muster. Durch die Angleichung der Rechtsvorschriften -sorgen wir in Europa für eine Vollharmonisierung. Den Mitgliedstaaten wird aber ermöglicht, durch -Öffnungsklauseln in verschiedenen Bereichen, ein noch höheres Verbraucherschutzniveau vorzusehen. Dies hilft sowohl den Verbrauchern als auch den Händlern und sorgt auch weiterhin für einen florierenden Onlinehandel! Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Das Potenzial ist riesig, das Internet macht es möglich: Der grenzüberschreitende Warenverkehr steht fast noch in den Startlöchern seiner Entwicklung. Viele Verbraucher zögern jedoch vor dem Abschluss eines Kaufvertrages gerade mit einem ausländischen Anbieter. Sie zögern nicht nur, wenn der Vertragspartner in den USA oder im fernen China sitzt, sondern oftmals auch bereits dann, wenn dieser seine Ware von Frankreich, Holland oder einem anderen benachbarten EU-Land aus anbietet. Die Gründe hierfür sind vielfältig, reichen von Sprachbarrieren über Nichtkenntnis ausländischer Rechtssysteme bis hin zur latenten Befürchtung, im Falle verspäteter oder gar Nichtlieferung bereits bezahlter Güter einem fremden Rechtssystem "ausgesetzt" zu sein, das hinter dem bekannten nationalen Verbraucherschutzniveau zurückbleibt. Aufgrund der Fragmentierung der Verbraucherschutzregeln in den EU-Mitgliedstaaten fehlt es vielen Verbrauchern - ebenso wie kleineren Unternehmern - in erster Linie an Vertrauen, außerhalb des Landes einzukaufen bzw. zu verkaufen. Speziell im voranschreitenden Onlineverkehr ist dies nicht weiter verwunderlich. Die aktuellen EU-Vorschriften zum Verbraucherschutz wurden vor der "digitalen Revolution" verabschiedet. So sind insbesondere die Verbraucher nicht ausreichend geschützt. Rechtssicherheit ist jedoch aus Sicht von Verbrauchern wie Unternehmern gleichermaßen ein wesentliches Element für das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie, zur Änderung des Verbrauchsgüterkaufrechts und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung werden Rechte und Pflichten der Beteiligten am Erwerb von Waren oder Dienstleistungen europaweit vereinheitlicht. Mit dieser Verbesserung der Rahmenbedingungen wollen wir das Vertrauen in den Markt stärken. Die Bundesregierung setzt damit um, wofür sie - in Person der Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger - im politischen Brüssel bereits im Vorlauf der Erarbeitung der Verbraucherrechterichtlinie konsequent eingetreten ist: mit einheitlichen Regeln die Attraktivität des grenzüberschreitenden Handels insbesondere über das Internet zu stärken, dabei aber das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau zu wahren. In diesem Sinne wurde bereits auf Drängen der Bundesregierung eine Regelung gegen Kostenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr in die am 12. Dezember 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechterichtlinie aufgenommen. Nach der sogenannten Schaltflächenlösung kommt ein im Internet geschlossener Vertrag nur dann zustande, wenn dem Verbraucher alle wesentlichen Informationen verständlich zur Verfügung gestellt werden, bevor er einen unmissverständlich als zahlungspflichtige Bestellung ausgewiesenen Button anklickt. Aufgrund des dringenden Handlungsbedarfs haben wir diese Regelung dann auch bereits in Rekordzeit im August 2012 vorzeitig umgesetzt. Mit dem heutigen Gesetz wird der restliche Vorgabenkatalog der Verbraucherrechterichtlinie, der die Situation für Verbraucher und Unternehmer beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen im Fernabsatz oder außerhalb von Geschäftsräumen weiter verbessern wird, geregelt. Insbesondere bei Einkäufen in Internetshops im EU-Ausland gelten künftig grundsätzlich dieselben Informations- und Widerrufsrechte wie bei Einkäufen in deutschen Internetshops. Die Frist, innerhalb derer Verbraucher im Fernabsatz oder an der Haustür geschlossene Verträge ohne Angabe von Gründen widerrufen können, wird europaweit einheitlich auf 14 Tage festgelegt. Bisher war lediglich eine Mindestfrist von sieben Tagen vorgegeben, die EU-weit mehrheitlich genutzt wurde. Das bislang "ewige" Widerrufsrecht bei unterlassener oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung erlischt künftig nach einem Jahr und 14 Tagen. Dies gibt Unternehmern mehr Rechts- und Planungssicherheit, kommt im Ergebnis aber auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute, da Missbrauch ausgeschlossen wird. Der Richtlinienvorschlag enthält zudem eine gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung, da die korrekte Widerrufsbelehrung insbesondere für kleinere Unternehmen schwierig sein kann. Ferner vereinheitlicht werden künftig die Informationen, die ein Unternehmer dem Verbraucher vor Abschluss eines Fernabsatzvertrages oder Haustürgeschäftes unaufgefordert zur Verfügung zu stellen hat. Sie sind in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger zu geben oder - bei Fernabsatzverträgen - entsprechend nach Vertragsschluss zu bestätigen. Dabei gelten für Verträge, die bei einem bestellten Besuch geschlossen werden, sowie bei sofort durchgeführten Reparaturen oder Wartungsarbeiten erleichterte Anforderungen an die Informationspflicht, wenn der Wert weniger als 200 Euro beträgt. Verwendet ein Unternehmer im Internet Voreinstellungen, die der Verbraucher ablehnen muss, um eine Vereinbarung über eine Zusatzleistung wie zum Beispiel eine Reiserücktrittsversicherung etc. zu vermeiden, muss der Verbraucher diese Zusatzleistung nach der neuen Richtlinie nicht bezahlen. Vorab angekreuzte Felder sind in der Europäischen Union künftig unzulässig. Ein sehr wichtiger Punkt. Eine weitere wesentliche Veränderung besteht in der Regelung, dass der Verbraucher die Kosten der Rücksendung einer bestellten aber nicht mehr gewollten Ware grundsätzlich zu tragen hat. Die bisherige Regelung, wonach der Händler ab einem Rücksendewarenwert von 40 Euro die Rücksendekosten zu tragen hat, fällt. Der Verbraucher muss über eine Kostentragungspflicht jedoch ausdrücklich informiert werden. Es ist zu erwarten, dass die Übernahme der Rücksendekosten ein Wettbewerbsfaktor sein wird, Verbraucher künftig hiervon also weiter profitieren können. Die Grenze war allerdings nicht begründbar. Die Verbraucherrechterichtlinie leitet das Prinzip der umfassenden Vollharmonisierung. Im Rahmen der Vereinheitlichung konnte die Bundesregierung erfolgreich für die Bewahrung des hohen Verbraucherschutzniveaus des deutschen Rechts werben. Aufgrund von vereinzelten Öffnungsklauseln können wir dieses national an einigen Stellen sogar noch weiter verbessern. Im Sinne des Bürokratieabbaus wird dabei andererseits insbesondere dort unnötige Bürokratie abgeschafft, wo die Pflichten für Unternehmer in keinem Verhältnis zum Nutzen für die Verbraucher stehen. Der Gesetzentwurf ist bereits ein weitgehend gelungener Kompromiss zwischen Verbraucherrechten und Interessen der Wirtschaft. Im parlamentarischen Verfahren werden wir die letzten kleinen Kanten schleifen. Die Umsetzungsfrist für die Verbraucherrechterichtlinie läuft bis 13. Juni 2014. Die christlich-liberale Bundesregierung will das Gesetz frühzeitig im Gesetzesblatt haben, nicht zuletzt, um den Adressaten ausreichend Vorbereitungszeit zu geben. Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Endlich, endlich legt die Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie vor. Grundsätzlich begrüßen wir diesen Gesetzentwurf; denn es ist in der Tat gelungen, im Rahmen der sehr wünschenswerten und notwendigen Vollharmonisierung im Bereich Verbraucherschutz das hohe Schutzniveau des deutschen Verbraucherschutzes zu erhalten. Es ist aber auch wirklich an der Zeit gewesen, endlich die Umsetzung auf den Weg zu bringen und für einen besseren Schutz von Verbraucherinnen und -Verbrauchern zu sorgen. Die verbraucherpolitischen Baustellen sind zahlreich, und vielerorts wäre Regierungshandeln dringend nötig. Doch die Bundesregierung handelt in Verbraucherschutzfragen leider oft nur dann, wenn sie von Europa dazu aufgefordert wird, wieder einmal ein Lebensmittelskandal die Menschen aufschreckt oder die Opposition zu Verbesserungen antreibt. Heute reden wir über die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie, zu der wir durch europäische Vorgaben verpflichtet sind. Verbraucherinnen und -Verbraucher sollen beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen europaweit einheitliche Rechte erhalten. Es können europaweit einheitliche Muster für die Widerrufsbelehrungen genutzt werden, und die Informationspflichten sind vollständig harmonisiert. So werden deutsche Verbraucher in Zukunft zum Beispiel beim Einkauf in EU-ausländischen Onlineshops in den Genuss derselben Informations- und -Widerrufsrechte kommen wie beim Einkauf in inländischen Onlineshops. Das ist sehr gut für die Kunden. Auch dass Verbraucherverträge, die im Fernabsatz oder an der Haustür geschlossen wurden, künftig europaweit ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Tagen widerrufen -werden können, ist sehr begrüßenswert. Was die Bundesregierung aber dringend überprüfen sollte, ist die neue Regelung, wonach das Widerrufsrecht bei unterbliebener oder nichtordnungsgemäßer Belehrung über das Widerrufsrecht zwölf Monate nach Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist erlöschen soll. Bislang erlöscht das Widerrufsrecht nämlich in einem solchen Fall gar nicht. Der Gesetzentwurf enthält zahlreiche gute Vorschläge. Allerdings möchte ich mit Blick auf die Verbraucherinnen und Verbraucher auch feststellen, dass die Ausgestaltung bisweilen in wenig verständlicher Art und Weise formuliert wird. Als ein sehr bezeichnendes Beispiel ist § 312 g zu nennen. In Abs. 2 Nr. 5 geht es um Alkoholverkauf, wo das Widerrufsrecht nicht bestehen soll für "Verträge zur Lieferung alkoholischer Getränke, deren Preis bei Vertragsschluss vereinbart wurde, die aber frühestens 30 Tage nach Vertragsschluss geliefert werden können und deren aktueller Wert von Schwankungen auf dem Markt abhängt, auf die der Unternehmer keinen Einfluss hat". Nicht nur hier wäre wirklich eine verständlichere Ausdrucksweise erforderlich. Auch teile ich die Bedenken des Bundesrates bezüglich notariell beurkundeter Verträge und der fraglichen Notwendigkeit eines Widerrufsrechts. Ich fordere die Bundesregierung aber auch auf, dringend über eine Anpassung der Regelungen zur Nacherfüllung im Verbrauchsgüterkaufrecht nachzudenken. Denn diese Regelung genügt den verbraucherschützenden Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht vollständig. Im Referentenentwurf zu dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, war eine Neu-regelung der Nacherfüllung noch enthalten. In diesem Zusammenhang sollte die Bundesregierung auch ernsthaft darüber nachdenken, im Rahmen der nach den Vorgaben des EuGH erforderlichen Neuregelung des § 439 BGB die Vorschrift nicht lediglich mit Wirkung zugunsten der Verbraucher abzuändern, sondern eine Regelung vorzusehen, die uneingeschränkt gilt, also auch für Unternehmer. Ich hoffe für unsere Fraktion auf fruchtbare Beratungen. Caren Lay (DIE LINKE): Mit diesem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtline hat die Bundesregierung leider die Chance vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher in zentralen Bereichen besserzustellen. Die Liste der verpassten Gelegenheiten ist lang: Erstens: Widerrufsrecht bei Telefonverträgen. Wir als Linke finden es besonders bedauerlich, dass auch diesmal keine Regelung zu telefonisch geschlossenen Verträgen existiert, sondern lediglich ein Widerrufsformular. Das ist ein Fortschritt gegenüber der bestehenden Situation. Dennoch müssen die potenziell Betrogenen hier selbst aktiv werden, wenn ihnen am Telefon etwas angedreht wurde. Verbraucherinnen und Verbraucher sind allerdings leider nach wie vor windigen Callcenterfirmen ausgeliefert. Immer noch genügt ein falsches Wort am Telefon oder einmal nicht richtig hingehört zu haben, und schon hat man ein Zeitschriftenabo oder etwas Ähnliches, was sie nie wollten. Das bereits seit August 2009 geltende Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung hat sich als ineffektiv erwiesen. Verbraucherverbände sprechen nach wie vor von einer großen Anzahl unerlaubter Anrufe, die sogar oft unter falscher Flagge segeln und sich als vermeintlich seriöse Firmen und Institutionen ausgeben. Dabei liegt die Lösung einfach und praktikabel auf der Hand liegt: Telefonisch geschlossene Verträge müssen noch einmal schriftlich und in Ruhe bestätigt werden. Eine Bestätigungslösung fordert die Linke bereits seit Anfang 2009. Unser damaliger Antrag wurde von CDU/CSU, SPD und FDP im Plenum abgelehnt, und seitdem ist nichts mehr passiert. Ob ein Widerrufsformular sich in der Praxis überhaupt bewährt, bleibt dabei die offene Frage. Die Bestätigungslösung hätte sich auf jeden Fall bewährt. Mehr noch: Die EU-Richtlinie hätte diese Möglichkeit eröffnet, aber die Bundesregierung nutzt diese Chance nicht. Zweitens: Kaffeefahrten. Oder nehmen wir das Beispiel der sogenannten -Kaffeefahrten. Es ist kein Geheimnis, dass Verkaufsveranstaltungen ein wesentliches Element dieser Ausflüge sind. Statt die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher bei Kaffeefahrten zu verbessern, verschlechtern sie sich sogar. Noch kann man vom Kauf einer Rheumadecke oder einer Pauschalreise zurücktreten. Tritt dieses Gesetz in Kraft, kann man die Decke zurückgeben, die Pauschalreise aber nicht mehr. Was einmal unterschrieben ist, hat Gültigkeit. Ein Widerruf ist künftig nicht mehr möglich. Die Bundesregierung eröffnet hier nun ein riesiges neues Geschäftsfeld für Betrüger, die ihre vermeintlichen Reisegäste mit überteuerten Reiseangeboten prellen können. Drittens: Beweislastumkehr und Gewährleistungen. Die Bundesregierung versäumt, die Gewährleistungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Gewährleistung für ein gekauftes Produkt geht zwar theoretisch über zwei Jahre; in der Praxis ist dieses Recht bereits nach sechs Monaten wertlos. Das heißt: Einen neugekauften Toaster kann man theoretisch zwei Jahre lang zurückgeben, wenn er kaputtgeht. Aber schon nach einem halben Jahr muss man beweisen, dass der Defekt schon vorher da war. Da die wenigsten von uns Ingenieure sind, ist das praktisch unmöglich. Die Chance wurde hier vertan. Der vorliegende Entwurf ist ein verwässertes Papier mit zahllosen Ausnahmen. Beim Wohneigentum, bei den Reise- und Beförderungsleistungen, den Telefonverbindungen, den Finanzdienstleistungen, bei Versicherungen sowie bei Behandlungsverträgen: Verbraucherinnen und Verbrauchern werden weiterhin Informationen vorenthalten. Dabei sind das zentrale Bereiche, die fast ausnahmslos jeden Menschen betreffen. Durch ihre Untätigkeit liefert die schwarz-gelbe Koalition weiterhin Millionen Bürgerinnen und Bürger der Abzocke aus. Insgesamt gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Regeln, die für den juristisch nicht vorgebildeten Normalverbraucher weder verständlich noch nachvollziehbar sind. Es ginge auch einfacher. In Österreich gibt es das Konsumentenschutzgesetzbuch, welches nur 42 Paragrafen enthält und dennoch den Verbraucherschutz umfassend regelt. Eine derartige Transparenzoffensive wünschen sich sowohl Juristinnen und Juristen als auch die Linke. Wieder einmal hat diese Bundesregierung bewiesen, dass sie kein Interesse an der Stärkung der Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern hat. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Gesetzentwurf soll die EU-Verbraucherrechterichtlinie umsetzen, die die Regelungen zu Haustür- und Fernabsatzgeschäften europaweit zusammenführen und überarbeiten soll. Neben einigen Verbesserungen bringt die Richtlinie für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher auch Verschlechterungen mit sich. Unter anderem sind das Verschlechterungen bezüglich der Widerrufsrechte im Versandhandel. Kosten für die Rücksendung von Produkten beim Widerruf können künftig komplett den Verbrauchern aufgebürdet werden, während bislang die Rücksendekosten ab einem Warenwert von 40 Euro vom Verkäufer übernommen werden mussten. Hier hätte die Bundesregierung in Brüssel härter kämpfen müssen. Doch auch jetzt - bei der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht - macht die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht ordentlich. Obwohl die Richtlinie grundsätzlich auf europaweite Vollharmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften ausgelegt ist, lässt sie den Mitgliedstaaten in einigen Artikeln durch Öffnungsklauseln die Möglichkeit, Regelungen einzuführen oder beizubehalten, die ein höheres Verbraucherschutzniveau beinhalten. Diese Chance nutzt die Bundesregierung nicht. Im Gegenteil! Der Gesetzentwurf verschlechtert das Verbraucherschutzniveau an einigen Stellen sogar: Erstens. Die Richtlinie ermöglicht explizit die Einführung einer sogenannten Bestätigungslösung für -telefonisch geschlossene Verträge auf nationaler Ebene. Diese Möglichkeit lässt Schwarz-Gelb ungenutzt. Angesichts der immensen Anzahl der infolge von Cold Calling untergeschobenen Verträge ist die Einführung der Bestätigungslösung dringend erforderlich. Auch im gestern im Kabinett verabschiedeten -Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäftspraktiken wird dies nur halbherzig umgesetzt. Es soll zwar in -Zukunft eine Bestätigung für am Telefon geschlossene Gewinnspielverträge verbindlich werden, doch alle anderen Verträge bleiben weiter außen vor. Unseriösen Unternehmen wird damit nicht das Handwerk gelegt. Zweitens. Auch die vorgesehenen Ausnahmen beim Widerrufsrecht sind unnötige und unverständliche -Verschlechterungen der Verbraucherrechte. So sollen beispielsweise Verträge über Pauschalreisen, die vor allem alten Menschen auf sogenannten Kaffeefahrten untergejubelt werden, nach dem Willen der Bundesregierung künftig nicht mehr widerrufen werden können. Auch Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln oder Getränken - wie zum Beispiel Biokisten oder Getränkelieferungen ins Büro - sollen selbst bei längerer Laufzeit nicht mehr widerrufbar sein. Die bisherige Möglichkeit, zumindest laufzeitgebundene Lebensmittelabos, die bei Haustürgeschäften geschlossen wurden, zu widerrufen, soll damit gestrichen werden. -Anstatt hier die Rechte weiter zu beschneiden, wäre eine Ausdehnung des Widerrufsrechts notwendig. Drittens. Nachgebessert werden muss auch bei den Informationspflichten im Fernabsatz bezüglich möglicher zusätzlicher Fracht-, Liefer- und Versandkosten, sodass der Verbraucher weiß oder zumindest berechnen kann, welche Kosten im Gesamten auf ihn zukommen. Viertens. Auch die notwendigen Änderungen im -Gewährleistungsrecht wurden nicht vorgenommen. Hier muss klargestellt werden, dass Verbraucher in Zukunft tatsächlich ihr Recht auf zweijährige Gewährleistung wahrnehmen können und nicht mehr, wie heute faktisch oft, eine Gewährleistung nur innerhalb von sechs Monaten; danach müssen sie beweisen, dass ein Defekt oder Kaputtgehen nicht selbst verschuldet ist. Da dies in der Praxis häufig unmöglich ist, ist eine volle Beweislastumkehr notwendig. Auch bezüglich der Garantieregelungen muss klargestellt werden, dass die Rechte der Käufer gegenüber Verkäufern nicht durch eine Abhilfe durch den Hersteller eingeschränkt werden dürfen. Käufer dürfen auch bei Inanspruchnahme einer Herstellergarantie keine Nachteile bezüglich ihrer Gewährleistungsrechte gegenüber dem Verkäufer erfahren. Fünftens. Daneben sind auch die im Gesetzentwurf vorgenommenen Änderungen des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb zu schwach und beheben die in der Praxis bestehenden Probleme der Verbraucherverbände, etwa bezüglich der Abschöpfung von Unrechtsgewinnen, nicht. Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, auch Passagen, die unbestimmt und damit nicht rechtssicher formulier sind. Aber die Auswahl macht deutlich: Hier besteht noch dringender Nachbesserungsbedarf. Die beim Widerrufsrecht vorgenommenen Ausnahmen müssen gestrichen oder zumindest erheblich nachgebessert werden. Eine Bestätigungslösung ist bei allen Telefonverträgen einzuführen. Rechtsunsicherheiten und unbestimmte Rechtsbegriffe müssen verhindert und nachgebessert werden. Die Legislatur ist nicht mehr allzu lang; insofern muss die Bundesregierung zügig nachlegen und im Zuge der Anhörung und der Beratungen in den Ausschüssen die berechtigte Kritik aufnehmen und aus dem mäßigen Gesetzentwurf ein gutes Gesetz machen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung die europäische Verbraucherrechterichtlinie in das innerstaatliche Recht umsetzen. Hierdurch schaffen wir Rechtssicherheit, erhöhen das Vertrauen in den grenzüberschreitenden Einkauf und verbessern sowohl die Situation der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Situation der Unternehmerinnen und Unternehmer. Die umzusetzende Verbraucherrechterichtlinie folgt dem Grundsatz der Vollharmonisierung; das heißt, die Mitgliedstaaten dürfen im von der Richtlinie erfassten Bereich grundsätzlich weder strengere noch weniger strenge Regelungen erlassen oder aufrechterhalten. Hierdurch wird die bislang uneinheitliche Rechtslage bei Verträgen, die im Fernabsatz oder außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen werden, europaweit vereinheitlicht. Allein hierin liegt schon ein Vorteil für Unternehmen, die in Zukunft ohne hohe Rechtsberatungskosten grenzüberschreitend tätig werden können. Spiegelbildlich werden auch die Verbraucher von einem erhöhten grenzüberschreitenden Angebot profitieren können. Aber wir nutzen auch die uns durch die Richtlinie eröffneten Spielräume in Form von Bereichsausnahmen und Öffnungsklauseln konsequent und intelligent: Auf der einen Seite erhalten wir das im europäischen Vergleich hohe Verbraucherschutzniveau des deutschen Rechts aufrecht und heben es an verschiedenen Stellen sogar noch an. Auf der anderen Seite setzen wir konsequent darauf, Bürokratie für Unternehmen dort zu vermeiden, wo ihr kein Vorteil für Verbraucher gegenübersteht. Damit erkennen wir Win-win-Situationen und beweisen, dass Verbraucherschutz und Bürokratieabbau kein Gegensatzpaar sind. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Erstens. Die verbraucherschützenden Regelungen des geltenden Rechts für Fernabsatzverträge über -Finanzdienstleistungen gelten zukünftig auch für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge über Finanzdienstleistungen. Der Verbraucher ist in beiden Situationen in gleicher Weise schutzbedürftig. Unternehmer haben den Vorteil, dass sie bei beiden Vertriebsformen einheitliche Informationsunterlagen verwenden können. Zweitens. Obwohl soziale Dienstleistungen und -Gesundheitsdienstleistungen von der Verbraucherrechterichtlinie vollständig ausgenommen sind, soll dem Verbraucher nach unserem Entwurf auch in diesen Bereichen ein Widerrufsrecht zustehen. Denn auch hier kann der Verbraucher überrumpelt werden, zum Beispiel beim Verkauf von Medizinprodukten auf -Kaffeefahrten. Ausgenommen sind aus gutem Grund Hausbesuche des Arztes. Drittens. Unternehmer werden in Zukunft eine europaweit einheitliche Musterwiderrufsbelehrung verwenden können. Hierdurch werden Kosten und Risiken im Fall eines grenzüberschreitenden Angebots deutlich verringert. Auch für Verbraucher ist es hilfreich, in einheitlicher Weise über ihr Widerrufsrecht belehrt zu werden. Viertens. Im Fall einer fehlenden oder falschen -Widerrufsbelehrung erlischt das bislang "ewige" -Widerrufsrecht zukünftig nach Ablauf eines Jahres. Dies gilt auch für Altverträge, also Verträge, die vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen worden sind. Hierdurch erhalten Unternehmen mehr Rechts- und Planungs-sicherheit. Verbraucher haben im Fall einer nicht -ordnungsgemäßen Belehrung ein Jahr Zeit, zu entscheiden, ob sie den Vertrag widerrufen wollen. Fünftens. Schließlich nutzen wir solche Bereichsausnahmen konsequent aus, durch die wir weitere -Bürokratie verhindern können. So werden zum Beispiel im Laden geschlossene Geschäfte des täglichen -Lebens, die sofort erfüllt werden, auch zukünftig keinen umfangreichen Informationspflichten unterliegen. Diese wären im Verhältnis zum Wert des Geschäfts -unverhältnismäßig. Auch die Verbraucher erwarten in diesem Fall keine umfangreichen Informationen, die zudem mitunter noch eingepreist würden. Die Bundesregierung hat eine gute Grundlage -vorgelegt. Als Gesetzgeber sind wir nun gemeinsam dazu aufgefordert, die für die Umsetzung notwendigen Vorschriften bis zum 13. Dezember dieses Jahres zu -erlassen. Ich bitte Sie, sich engagiert und konstruktiv daran zu beteiligen, damit wir dieses Ziel gemeinsam erreichen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene - Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988, 17/8386 - Berichterstattung: Abgeordneter Werner Simmling Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die -Reden zu Protokoll genommen. Ulrich Lange (CDU/CSU): Eine zukunftsorientierte Verkehrsinfrastruktur und die damit verbundene Mobilität von Personen und Gütern bildet eine entscheidende Grundlage für den Wohlstand in unserem Land. Das stellt auch die SPD in ihrem Antrag fest. Da es der christlich-liberalen Koalition in den letzten Jahren gelungen ist, Wachstum zu kreieren, Beschäftigung zu schaffen und Arbeitslosigkeit drastisch abzubauen, haben wir nach der Definition der SPD eine gute Verkehrsinfrastruktur geschaffen und eine gute Verkehrspolitik betrieben. Für dieses Lob möchten wir uns bedanken. Ja, Deutschland ist mit seinen geringen Rohstoffreserven, der zentralen Lage in der Mitte Europas und seiner sehr exportorientierten Wirtschaft auf eine leistungsfähige und moderne Infrastruktur angewiesen. Deshalb hat diese Bundesregierung große Anstrengungen unternommen, die Verkehrsinfrastruktur nicht nur zu erhalten, sondern auch auszubauen. Auch aus diesem Grunde haben wir die Infrastrukturbeschleunigungsprogramme I und II in Milliardenhöhe gestartet, um den Ausbau voranzutreiben. Sie sehen, wir bauen unsere Infrastruktur immer weiter aus. Wir ruhen uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit aus, sondern passen die Verkehrspolitik immer wieder den neuen Gegebenheiten an. Deshalb arbeiten wir derzeit am Bundesverkehrswegeplan 2015. Gemeinsam mit den Ländern erstellt das Bundesverkehrsministerium ein Konzept für die Zukunft; denn wir wissen, dass eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur das Rückgrat eines starken und dynamischen Wirtschaftsstandortes Deutschland ist. Aber wir haben natürlich auch die Haushaltskonsolidierung und insbesondere die Schuldenbremse zu berücksichtigen. Plan- und maßlose Forderungen aufzustellen, ist einfach unseriös. Die Linken stellen einen Forderungskatalog auf, ohne zu berücksichtigen, dass die Haushaltskonsolidierung die Höhe des Gesamt- und Verkehrsetats massiv beschränkt. Einen Wunschkatalog abgeben ohne Rücksicht auf die Kosten, ist zu einfach und bei den Linken rein ideologisch motiviert. Zudem sind die Forderungen teilweise von der Realität überholt. So hat die Bundesregierung eine Förderung der Investitionen in den Ersatz der Schienenwege der öffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen im Schienengüterfernverkehrsnetz schon längst beschlossen. Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreundlichsten Verkehrsmittel ist, das Fahrrad einmal ausgenommen. Weder Pkw noch Lkw, geschweige denn das Flugzeug, sind so klimaschonend wie die Bahn; denn sie weist unter dem Gesichtspunkt Energieeffizienz eindeutige Vorteile auf. Deshalb ist es auch im Interesse des Umwelt- und Klimaschutzes unser Ziel, einen großen Teil des in Zukunft zusätzlich anfallenden Güterverkehrsaufkommens auf die Schiene zu verlagern. Auch dies gehört zu unserem Konzept zur Vermeidung von CO2-Emissionen und zum Erreichen unserer Klimaschutzziele. Die Bahn der Zukunft wird in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle spielen. Wir wissen, dass es bis 2025 im Personenverkehr einen Zuwachs von circa 26 Prozent und im Güterverkehr von circa 65 Prozent geben wird. Aus diesem Grund setzen wir uns auch für den Ausbau des Schienennetzes ein, um mehr Güter auf die Schiene zu bekommen, um mehr Menschen zu gewinnen, das Auto stehen zu lassen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Um die Bahn aber wirklich attraktiver zu machen, ist es notwendig, das Schienennetz auszubauen. Und genau hier setzt meine Kritik an den Grünen an. In Berlin stellen sich die Grünen hin und fordern den Ausbau zahlreicher Schienenwege, sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr. Wenn es dann aber vor Ort um die konkrete Umsetzung geht, tauchen die Grünen nicht einfach unter. Nein, sie wechseln die Position und sind auf der Seite der Ausbaugegner zu finden. Teilweise organisieren die Grünen den Widerstand sogar. Gründe lassen sich immer finden. Mal ist es ein Biotop, das nicht berührt, dann ist es ein wertvoller Wald, der nicht beeinträchtigt werden darf. Es stellt sich die Frage: Ist es Taktik? Fehlt den Grünen einfach der Gesamtüberblick und verlieren sie sich im Kleinklein, oder ist es Politikstrategie und Arbeitsteilung: In Berlin für den Ausbau, vor Ort gegen jegliche Änderungen? Es gibt noch Baustellen, an denen wir arbeiten. Derzeit verhandeln wir die Fortsetzung der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung sowie des Eisenbahnregulierungsgesetzes. Seien Sie versichert, dass diese Koalition auch weiterhin sicherstellen wird, dass Investitionen in unsere Verkehrsinfrastruktur dorthin gelenkt werden, wo sie den größten Nutzen für unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Wirtschaft haben. Reinhold Sendker (CDU/CSU): Ich danke Ihnen ausdrücklich für die heutige -Debatte, in der wir uns mit unserer Verkehrsinfrastruktur und ihrer Weiterentwicklung beschäftigen. Geben Sie uns damit doch die Gelegenheit, einmal aufzuzeigen, wie erfolgreich wir doch in den letzten dreieinhalb Jahren die Infrastrukturpolitik in diesem Land weiter nach vorne gebracht haben - und das trotz großer Herausforderungen im Rahmen der Haushaltskonsolidierung. Während andere vorher unsere Infrastruktur auf Verschleiß gefahren haben, hat die unionsgeführte Bundesregierung in der Infrastrukturpolitik eindeutig dem Erhalt Priorität eingeräumt, also Erhalt vor -Ausbau. So haben wir die Mittel für Erhalt und Sanierung massiv aufgestockt. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Wenn dort aktuell Brückensperrungen an der A 1 vorgenommen werden müssen und teilweise Brücken für den Schwerlastverkehr nicht befahrbar sind, dann sind das heute die Folgen Ihrer Politik, nicht rechtzeitig investiert zu haben. Die enormen Staus im Kölner Raum und anderswo, die aktuell täglich gemeldet werden, sind nicht nur eine Belastung für Mensch und Umwelt, sie verursachen auch einen nicht bezifferbaren volkswirtschaftlichen Schaden und sind das Erbe eines Jahrzehnts SPD-dominierter Verkehrspolitik. Hingegen danke ich unserem Minister ausdrücklich, dass er sich mit dem Brückensanierungsprogramm dieser Thematik angenommen hat, und hoffe sehr, dass so weitere Brückensperrungen vermieden werden können. Bei engen finanziellen Spielräumen stehen bei den Bedarfsmaßnahmen die Engpässe, Verkehrsknoten sowie Lückenschlüsse ganz oben auf der Agenda. Mit den vorhandenen Investitionsmitteln gilt es vor allem, die Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straße und Wasserwegen zu sichern. Mit Blick auf die schon erwähnte Haushaltskonsolidierung sind wir stolz, dass es uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, die Investitionslinie auf hohem Niveau über 10 Milliarden Euro zu verstetigen. Mit den Infrastrukturbeschleunigungsprogrammen haben wir in den letzten beiden Jahren noch einmal fast 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen können. Das sind deutlich mehr investive Mittel für die Verkehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise, und das ist ein Erfolg, den wir uns auch hier und heute in dieser Debatte nicht zerreden lassen! Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Verkehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzen der Optimierung von Bestand und Ausbau mit großem Interesse gegenüber, vor allem wenn sie Einsparpotenzial und mehr Transparenz bieten. Hier sind öffentlich-private Partnerschaften ein ausgezeichneter Ansatz. Dazu bringen die Koalitionsfraktionen in dieser -Woche einen Antrag ein. Nach den ersten vier erfolgreichen Pilotprojekten läuft die zweite Staffel mit weiteren acht teilweise -modifizierten Projekten. Durch die Bündelung der baubedingten Staus auf einen kürzeren Zeitraum ist ÖPP von enormem volkswirtschaftlichem Nutzen und eine echte wirtschaftliche Alternative zum konventionellen Bau. Allerdings sehen auch wir Verbesserungspotenziale: So gilt es, die Transparenz zu erhöhen; denn Transparenz schafft mehr Akzeptanz. Hierzu zählen genauso eine frühzeitige Information und Beteiligung der Öffentlichkeit wie auch eine möglichst weitreichende Transparenz während der Betriebsphase. Mehr Information, mehr Kommunikation, mehr Dialog zwischen Auftraggeber, Öffentlichkeit und Betroffenen vor Ort sollen die Variante öffentlich-privater Partnerschaft noch attraktiver machen. Interessant ist, dass auch die SPD im heute debattierten Antrag die Fortentwicklung dieser Beschaffungsvariante fordert, unter anderem auch in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen, jedoch weiter Vorbehalte gegen diese Variante des Ausbaus äußert. ÖPP ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte, und die christlich-liberale Koalition hat ÖPP weiter vorangebracht. Mehr Transparenz hat die Koalition auch mit dem Finanzierungskreislauf Straße hergestellt, und das ist gut so! Die Koalitionsvereinbarung der christlich-liberalen Regierung sieht einen Prüfauftrag zur Herstellung -eines Finanzierungskreislaufs Straße unter direkter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG vor. Genau das haben wir umgesetzt. Die Einnahmen aus der Lkw-Maut fließen jetzt eins zu eins zurück in die Straße. Mit Interesse schauen wir auf die Ergebnisse der Daehre-Kommission. Gleichwohl gilt es, richtige Ansätze zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammenzuführen und die Lasten gezielt zu verteilen. Ferner gilt es, den gegebenen Rechtsrahmen zu berücksichtigen. Diese Koalition kämpft um mehr Mittel für die Verkehrsinfrastruktur. In dieser Legislatur haben wir viel erreicht; diese erfolgreiche Politik werden wir in den nächsten Jahren fortsetzen! Sören Bartol (SPD): Mit der heutigen Debatte über die uns vorliegende Beschlussempfehlung schließt sich der Kreis einer seit dem Beginn der Legislaturperiode laufenden Diskussion über die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für unser Land und die dafür notwendige Finanzierung. Die heutige Diskussion gibt uns die Chance, eine Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung und der sie tragenden Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP in der Verkehrspolitik zu ziehen. Bereits vor zwei Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion allen Fraktionen im Deutschen Bundestag vorgeschlagen, in einer konzertierten Aktion eine Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung in Deutschland einzurichten. Unser Ziel war es, den damals nach wenigen Monaten bereits vorhandenen Stillstand in der Verkehrspolitik zu überwinden, der mit dem damals neuen Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer und der schwarz-gelben Regierungskoalition eingetreten war. Ich denke, damals wie heute sind wir uns fraktionsübergreifend einig, dass eine gute Verkehrsinfrastruktur das wirtschaftliche Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Deutschland sichert. Sie ermöglicht eine bezahlbare Mobilität für alle und garantiert den Unternehmen, den Transport ihrer Waren und Produkte sicher zu organisieren. Sie sichert den Menschen in unserem Land gesellschaftliche Teilhabe am öffentlichen Leben wie auch die notwendige räumliche Flexibilität, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können. Obwohl die Verkehrspolitiker von CDU/CSU und FDP in dem ersten Entwurf des Koalitionsvertrags im Herbst 2009 bereits den Vorschlag einer Regierungskommission selbst in die Diskussion gebracht hatten, hat die Mehrheit der Regierungskoalition im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages unseren Vorschlag nicht aufgegriffen und unseren Antrag abgelehnt. Bereits damals wurde offensichtlich, dass es Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer an dem notwendigen Mut fehlt, sich den drängenden Fragen einer modernen Politik für die Verkehrsinfrastruktur und deren Finanzierung zu stellen. Dabei war die schwarz-gelbe Regierungskoalition ambitioniert gestartet. In den Verhandlungen des Verkehrshaushalts im Frühjahr 2010 forderten die Vertreter von CDU/CSU und FDP im Verkehrsausschuss mit einem eigenen Antrag den Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auf, ein Finanzierungskonzept vorzulegen. Dabei definierten sie Eckpunkte. Schauen wir heute gemeinsam zurück auf die Zeit der schwarz-gelben Bundesregierung und die Bilanz in der Verkehrspolitik seit 2009, erkennen wir eine große, weite Leere. Zentrale Forderungen des Koalitionsvertrags waren schon in der ersten Hälfte der Legislaturperiode klammheimlich beerdigt worden. Es fehlte die Kraft, sie ernsthaft - auch im Konflikt mit dem Bundesumweltminister oder Bundesfinanzminister - durchzusetzen. Ich will an dieser Stelle nur einige Punkte aufzählen: Die Kreditfähigkeit der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, VIFG, kommt nicht. Die Direktzuweisung der Lkw-Maut an die VIFG kommt nicht. Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straße ist Verkehrspolitik aus dem 20. Jahrhundert. Mit großem Impetus verkündet, besteht er de facto nur auf dem Blatt Papier und wird bei sinkenden Lkw-Mauteinnahmen zum Bumerang, der den Verkehrsträger Straße und den dort notwendigen Investitionen massiv schadet. Eine klare Prioritätensetzung bei den Projekten des Bundesverkehrswegeplans heißt bei Bundesverkehrsminister Ramsauer, die Investitionsmittel nach Gutsherrenart zu verteilen. Bei dem Ausbau von ÖPP-Projekten verheddert sich der Bundesverkehrsminister mit intransparenten Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, und die Regierungsfraktionen brauchen über drei Jahre, um in einem Antrag ihre eigene Position im Deutschen Bundestag zum Thema zu finden. Bei der Abstufung von Bundesfernstraßen schafft es der Bundesverkehrsminister, sich mit den Bundesländern lediglich auf rund 2 000 Kilometer zu einigen. Möglich und notwendig wäre eine Länge von bis zu 20 000 Kilometern. Die Einführung einer Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, LuFV, Straße ist im Gestrüpp von Zuständigkeiten zwischen Bundesverkehrsministerium, externen Beratern und Bundesländern geendet. Ob die geplanten Modellvorhaben den notwendigen Erfolg bringen, ist mehr als zweifelhaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich habe damals nicht verstanden, warum Sie als Vertreter der Regierungskoalition auf unseren Vorschlag nicht eingegangen sind. Das mag sicherlich dem Reflex geschuldet sein, dass man Vorschläge einer Oppositionsfraktion pflichtschuldig von vornherein ablehnt. Dass die Bundesregierung jedoch dem mit schwarz-gelber Mehrheit beschlossenen Auftrag des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages vom Frühjahr 2010 nicht nachgekommen ist und ein umfassendes Konzept zur Finanzierung unserer Verkehrsin-frastruktur verweigert hat, finde ich ignorant. Ich bin mir sicher, dass Sie vor drei Jahren eine Chance verpasst haben. Die Diskussion über ein zukunftsfähiges Konzept wurde damit nicht dort geführt, wo sie hingehört: in die Bundesregierung und in den Deutschen Bundestag. Es bildeten sich Nebenschauplätze wie die Daehre-Kommission der Verkehrsministerkonferenz. In letzter Konsequenz haben sich Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und die schwarz- gelbe Regierungskoalition aus der Diskussion über eine auskömmliche Finanzierung unserer Verkehrsin-frastruktur und die dafür notwendigen Strukturreformen verabschiedet. Damit haben die Vertreter von CDU/CSU und FDP einen Stillstand der Verkehrspolitik zu verantworten, der einzigartig ist. Während der Bundesverkehrsminister zu schwach war, entscheidende Reformen auf den Weg zu bringen, ist die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag aktiv geworden. Unser Ziel: ein neuer gesellschaftlicher Konsens für unsere Verkehrsinfrastruktur. Mit unserem Projekt "Infrastrukturkonsens 2020" hat meine Fraktion einen neuen Politikstil bestritten: Neue Politikinhalte haben wir im regelmäßigen Dialog mit Bürgerinnen und Bürger wie auch mit Vertretern von Verbänden und Unternehmen entwickelt, breit diskutiert und in neuen Konzeptpapieren vorgelegt. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer kannte in den letzten Jahren nur eine Debatte: die Einführung der Pkw-Maut. Damit stellte er die weitere Belastung der Nutzer in den Vordergrund. Wir haben eine andere Reihenfolge der Diskussion gewählt: Wir haben erst über das "Was" und die Prioritäten diskutiert und damit eine breite Basis für einen Konsens gelegt, welche Verkehrsprojekte vorrangig finanziert werden sollten. Darauf aufbauend haben wir mit allen Beteiligten über das "Wie" diskutiert und damit über notwendige Strukturreformen gesprochen, die für eine effektive Verwendung der Mittel notwendig sind. Aus meiner Sicht sind diese beiden Schritte die Voraussetzung dafür, dass wir mit allen Vertretern von Verbänden und Unternehmen über neue Modelle der Finanzierung reden können. Auch hier haben wir in dieser Woche unsere Vorschläge vorgelegt. Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit. Wir wollen nach vier Jahren Stillstand in der deutschen Verkehrspolitik wieder die Verantwortung in unserem Land übernehmen. Unsere Vorschläge liegen für alle transparent auf dem Tisch. Alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen, was wir wollen. Während Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer ideenlos in Richtung Bundestagswahl stolpert, machen wir konkrete Vorschläge, die wir nach der Bundestagswahl am 22. September 2013 umsetzen wollen. Das breite Interesse unter den Menschen in unserem Land, aber auch unter den Vertretern der Verbände und Unternehmen für unsere Ideen des Projekts "Infrastrukturkonsens 2020" gibt uns recht: Wir haben die besseren Konzepte als die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Während dort Leere herrscht, ist unser Instrumentenkoffer voll gefüllt. Das Konzept zur Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung ist ein gutes Bespiel dafür, wie es uns gelungen ist, in der Verkehrspolitik einen neuen Konsens zu schaffen und zugleich eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Denn wir waren die Ersten im Bund, die ein solches Konzept vorgelegt haben. Wir ziehen damit die Konsequenzen aus den gesellschaftlichen Konflikten aus Großvorhaben wie Stuttgart 21. Aber nicht in dem Sinne, dass wir diese verhindern wollen, sondern dass wir sagen: Die für unser Land notwendige Infrastruktur schaffen wir nur, wenn wir sie frühzeitig zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutieren und auf den Weg bringen. Das Konzept enthält deshalb konkrete Vorschläge, wie die Bürgerbeteiligung bei Planungsverfahren durch frühzeitige Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger verbessert und zugleich Planungsverfahren beschleunigt werden können. Es geht uns um eine neue Kommunikations- und Planungskultur, Transparenz statt Planung hinter verschlossenen Türen und einen Dialog auf Augenhöhe. Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung sind dabei für uns keine Gegensätze. Wir machen eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich Planungen weiter verkürzen lassen. So sollten wir Dopplungen bei der Untersuchung der Umweltverträglichkeit vermeiden. Wir sind aber überzeugt, dass wir die Gesamtplanungs- und Umsetzungszeiten gerade für umstrittene Projekte am besten dadurch verkürzen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger frühzeitig in Entscheidungen über Infrastrukturvorhaben einbinden und Transparenz über die Planung herstellen. Dies betrifft sowohl die Entscheidung bei der Bundesverkehrswegeplanung, welche Projekte überhaupt gebaut werden, also auch die Festlegung der konkreten Trassen und der Dimensionierung. Hier wollen wir im Fachplanungsrecht die Verpflichtung aufnehmen, dass alle interessierten Bürgerinnen und Bürger bei Neubauvorhaben bereits vor dem Planfeststellungsverfahren zu beteiligen sind. Wir sind dabei der -Meinung, dass man es Behörden und öffentlichen -Planungsträgern nicht freistellen kann, ob sie nun die Bürgerinnen und Bürger beteiligen oder nicht. Wir brauchen vielmehr verbindliche Standards; denn nur dann haben die Bauträger auch Rechtssicherheit. Ich will mit Blick auf die Finanzierung unserer Bundesverkehrswege aber auch betonen: Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass jedes Wunschprojekt finanzierbar ist, wenn man nur lange genug wartet. Verkehrspolitik muss im eigentlichen Wortsinn wieder Wirtschaftspolitik werden. Wirtschaftlich handeln bedeutet: mit knappen Mitteln möglichst viel Nutzen herausholen. Und: Wir müssen deutlich effizienter bauen mit einer überjährigen Projektfinanzierung und einem verbesserten Management. Am Ende werden wir jedoch auch bei einer klaren Prioritätensetzung und einer realistischen Projektplanung mehr Geld benötigen. Baukostensteigerungen, Bürgerbeteiligung, verbesserter Lärmschutz erhöhen in der Summe die Kosten der einzelnen Projekte. Eine Erhöhung des Etats innerhalb des Rahmens der Schuldenbremse kann aber nur unter der Beteiligung der Steuerzahler und der Nutzer erfolgen. Allein durch das Umschichten von Mitteln im Bundeshaushalt werden wir eine auskömmliche Finanzierung nicht erreichen. Die SPD-Bundestagsfraktion schlägt daher vor, die Steuern dort, wo es verträglich ist, für einige wenige zu erhöhen und einen Teil der Mehreinnahmen in unsere Verkehrswege zu investieren. Das wird jedoch auch nicht ausreichen. Bei der Lkw-Maut sehe ich daher grundsätzlichen Überprüfungsbedarf. Wir werden nach dem vierjährigen Mautmoratorium in der nächsten Legislaturperiode die Lkw-Maut fortentwickeln müssen. Dies gilt übrigens für alle möglichen Regierungsparteien von FDP über Union bis zu den Grünen. Unser Ziel ist die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Ich hoffe, dass die aktuelle Bundesregierung einer neuen Folgeregierung die dafür notwendigen Voraussetzungen -hinterlässt. Das sich andeutende Desaster um die Nachfolge des derzeit geltenden Maut-Konzessionsvertrags mit dem Unternehmen Toll Collect lässt mich Schlimmstes erwarten. In dieser Legislaturperiode haben sich die Fraktionen der CDU/CSU und FDP einer Reformdebatte verweigert. Ich hoffe, dass sich dies in der kommenden Legislaturperiode nicht fortsetzen wird. Noch einmal können wir uns vier verschenkte Jahre nicht leisten. Werner Simmling (FDP): Die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsfraktionen beziehen sich nicht auf punktuelle Änderungen in der Verkehrspolitik, sondern befassen sich - indem sie die Infrastruktur thematisieren - mit ganz grundsätzlichen Weichenstellungen der Verkehrspolitik. Neu sind uns allerdings Ihre Positionen nicht. Sie werden von Ihnen in regelmäßigen Abständen übermittelt, und so kommt es mir vor, als hätte ich diese Rede in Reaktion auf Ihre Forderungen schon einige Male gehalten. Was mir insbesondere an dem Antrag der SPD deutlich missfällt, ist, dass Sie auf der einen Seite ein grundsätzlich neues Konzept der Verkehrsinvestitionspolitik fordern, auf der anderen Seite aber wenig konkrete Vorschläge anbieten. Vollmundig sprechen Sie von einem Stillstand in der Verkehrspolitik, ohne aber aufzuzeigen, an welchen Stellschrauben Ihrer Meinung nach gedreht werden müsste. Sie fällen Globalurteile, aber bieten keine Lösungsvorschläge. Wie Sie selbst wissen, orientiert sich die effektive Politikgestaltung an dem politisch Machbaren. Ihr Antrag ist daher Wahlkampf, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den verkehrspolitischen Notwendigkeiten. Was davon abgesehen aber sicherlich zu konstatieren ist, sind die zentralen Probleme der Infrastrukturpolitik. Über diese herrscht auch durchaus interfraktioneller Konsens. Dabei handelt es sich erstens um die frappierende Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur, die bereits seit vielen Jahren die Regierungen beschäftigt, zweitens die unbedingte Notwendigkeit von Effizienz im Mitteleinsatz und drittens die zunehmenden Anforderungen an ökologische Kriterien. Diese Feststellungen dürfen wohl als "common sense" bezeichnet werden. Vor uns hat sie bereits die Pällmann-Kommission artikuliert, und die jetzige Bundesregierung hat sie in den Koalitionsvertrag geschrieben. Was Sie bei aller Fundamentalkritik in Ihren Anträgen allerdings unterschlagen, sind die maßgeblichen Schritte, die bereits eingeleitet worden sind! Erstens. Die Bundesregierung hat jüngst ihre Neukonzeption des Bundesverkehrswegeplanes vorgelegt. Der nächste BVWP gilt als entscheidende Richtschnur für die zukünftige Infrastrukturentwicklung, und er wird dank der aktuellen Bundesregierung das erste Mal eine effiziente Gesamtnetzplanung darstellen. Die neue Grundkonzeption legt eine verkehrsträgerübergreifende Netzstrategie fest, sodass den verkehrlichen Anforderungen sehr viel besser entsprochen werden kann. Wichtigste Aufgabe in der Grundkonzeption ist die Entwicklung von Kriterien zur Priorisierung der Verkehrsinfrastrukturinvestitionen, um ein realistisches und finanzierbares Gesamtkonzept aufzustellen. Kernstück des Regierungsvorschlags ist daher die bedarfsgerechte Priorisierungsstrategie, die jetzt zuerst dem Erhalt die nötige Priorität vor dem Neu- und Ausbau zusichert und dann erst die verbleibenden Finanzmittel auf die drei Verkehrsträger verteilt - und dies nicht nach ideologischen Kriterien, so wie es Oppositionspolitik ist, sondern nach dem Kriterium der Gesamtwirkung des Budgetplans. Das beinhaltet die Aufteilung des Budgets sowohl aus gesamtwirtschaftlicher als auch aus umwelt- und naturschutzfachlicher Sicht. Um weiterhin sicherzustellen, dass die Projekte innerhalb der einzelnen Verkehrsträger nach Umsetzungsdringlichkeit unterschieden werden, wird eine zusätzliche Dringlichkeitsstufe "Vordringlicher Bedarf Plus" eingeführt. Darunter werden die Projekte zusammengefasst, die aus fachlicher Sicht eine hohe Bedeutung haben. Die Länderquoten sind damit ein großes Stück weit ausgehebelt! Die Grundkonzeption der Bundesregierung ermöglicht so eine Mittelverwendung nach Bedarf und nicht nach Proporz! Zweitens. Auch das Thema Finanzierung ist die Bundesregierung angegangen. Es ist unumstritten, dass die Umstellung auf die sogenannte Nutzerfinanzierung im Sinne des Mittelzuwachses wäre, dass aber die Einführung weiterer Fahrzeugklassen oder zusätzlicher Straßen, die mit der Maut taxiert würden, als hochkompliziertes Unterfangen gilt. Die Ausweitung der Maut ist sowohl technisch risikobehaftet als auch ein ernsthaftes Akzeptanzproblem in der autofahrenden Bevölkerung. Rot-Grün stand in seinen vergangenen Amtszeiten bekanntlich vor denselben Herausforderungen und hat in sieben Jahren Regierungsverantwortung das Problem nicht gelöst. Wir sind in dieser Legislaturperiode hingegen schon einige wichtige Schritte gegangen. Am 15. April 2011 hat der Deutsche Bundestag den Gesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen angenommen. Die Einführung der Bundesstraßenmaut wurde zum 1. August 2012 umgesetzt. Sie artikulieren an dieser Stelle gerne den Vorwurf: Die Einführung eines Finanzierungskreislaufes Straße durch die Bundesregierung, der die Einnahmen aus der Lkw-Maut lediglich für Investitionen in die Straße vorsieht, schwächt das Gesamtverkehrsnetz und macht die Schiene damit komplett von den Steuereinahmen der öffentlichen Hand abhängig. Wir sagen: Die Schiene hat gezeigt, dass es positiv sein kann, wenn Mautmittel, also Trassenentgelte (Schienenmaut), für Investitionen zur Verfügung stehen, weil sie von den Begehrlichkeiten der jährlichen Haushaltsplanung entkoppelt werden und ein verlässlicher Finanzierungskreislauf entsteht. Die Straße ist erheblich konjunkturanfälliger als die Schiene - eine verlässlichere Finanzierungsgrundlage für die Unterhaltung und den Ausbau der Bundesfernstraßen ist entsprechend dringlich. Den Finanzierungskreislauf Straße hat man uns zu verdanken. In dem Kontext sei noch bemerkt: Wir ergänzen die fehlenden Mautmittel bei Schiene und Wasserstraße durch zusätzliche Haushaltsmittel. Der wirksamste und auch gerechtfertigte Weg, um die Mittel für die Schiene zu erhöhen, ist die Kappung der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge. Die FDP hält, wie auch die Europäische Kommission, an einer stärkeren Unabhängigkeit der DB Netz AG von der Konzernmutter fest. Der integrierte Konzern kann zwar bestehen bleiben, aber nicht in der heutigen Form. Innerhalb der Bundesregierung gibt es keine gegenteilige Festlegung. Aus Sicht der FDP ist eine stärkere Unabhängigkeit des Netzes notwendig, um mehr Wettbewerb auf die Schiene zu bringen und um einen unangemessenen Finanzmittelabfluss aus dem Netz zu verhindern. Drittens. Wir haben auch im ökologischen Kontext eine erhebliche Entscheidung gefällt. Die Grünen argumentieren doch gerne, dass die Verlagerung transportierter Güter von der Straße auf die Schiene eines der wichtigsten verkehrspolitischen Ziele sei, weil das einen wichtigen Effekt im Sinne des Klimaschutzes bedeute. Um dieses Ziel zu erreichen - so ihre Argumentation weiter - müsste der Schutz von Bahnlärm verbessert und der Schienenbonus abgeschafft werden. Und wie so oft bei den Anträgen der Opposition in der Vergangenheit ist die Regierungskoalition auch hier in ihren Überlegungen und Maßnahmen schon viel weiter. Wir, die Koalitionsfraktionen von Union und FDP, haben in unserem Antrag zum Ausbau der Rheintalbahn die Abschaffung des Schienenbonus und die Einführung lärmabhängiger Trassenpreise im November 2011 verankert und beschlossen. Es ist der Bundesrat, der die Wirksamkeit des Beschlusses bislang hemmt. Mein Fazit auf Ihre Anträge ist also: Einer differenzierten Betrachtungsweise halten Ihre Kritik und Forderungen nicht stand. Die Regierung hat bis hierhin gute Arbeit geleistet. Sabine Leidig (DIE LINKE): Die Verkehrsinvestitionspolitik muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Es ist Unsinn, dem schädlichen Verkehrswachstum hinterherzubauen. Ausgangspunkt einer grundlegend neuen Ausrichtung müssen klare Zielvorgaben sein, denen der Einsatz der öffentlichen Mittel dienen muss: Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und gute Arbeitsplätze. Die drei Oppositionsanträge zur Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik stammen aus dem Juni 2010. Wir werden unsere Positionen und Vorschläge sicher in der nächsten Wahlperiode wieder einbringen. Die Chance, einen Richtungswechsel einzuleiten - weg vom Straßen- und Flugverkehr, weg von Verkehrswachstum, hin zur Schiene und Verkehrsvermeidung -, hat diese Bundesregierung gänzlich vertan. Dass in der Verkehrsinvestitionspolitik einiges im Argen liegt, darüber sind sich alle einig. Bei der Schiene braucht es für die Realisierung des Bedarfsplans noch fast 40 Milliarden Euro. Der Horizont liegt hier also etwa beim Jahr 2050. Das macht keinen Sinn, das weiß eigentlich auch jede und jeder, nur sträubt sich die Regierung vor dem Offenbarungseid. Bei der Straße sieht es nicht besser aus. Eine Antwort auf eine Nachfrage zum Haushalt 2010 ergab, dass derzeit planfestgestellte Projekte mit einem Volumen von knapp 3,5 Milliarden Euro nicht gebaut werden können. 2012 können keine neuen Projekte in den Straßenbauplan aufgenommen werden. Während aber die Koalition und leider auch die SPD Defizite vor allem darin sehen, dass es zu wenig Mittel für den "bedarfsgerechten Ausbau" der Verkehrsinfrastruktur gibt, ziehen wir grundsätzlich andere Schlussfolgerungen aus der derzeit offenkundigen misslichen Lage: Die Lösung besteht nicht darin, mehr Geld ins System zu pumpen. Nein, es geht auch hier ums UmFAIRteilen - nach sozial-ökologischen Kriterien. Weil die Teilhabe aller Menschen an Mobilität mit den Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz verbunden werden muss, ist eine weitgehende Abkehr vom Neu- und Ausbau von Straßen hin zum deutlichen Ausbau des öffentlichen Verkehrsangebotes und der Verbesserung der Bedingungen des nichtmotorisierten Verkehrs nötig. Der am meisten klimaschädliche Flugverkehr weist seit Jahren die größten Zuwachsraten auf. Eine Vulkan-aschewolke hat sichtbar gemacht, dass mehr als die Hälfte aller Flüge innereuropäisch sind; ein Viertel ist innerdeutscher Luftverkehr. Statt des unkoordinierten und hochsubventionierten Ausbaus von (Regional-)Flughäfen braucht es ein zukunftsweisendes europäisches Konzept "SchieneEuropa2025", das die Verlagerung eines Großteils der innereuropäischen Flüge ermöglicht. Beim Erhalt von Fernstraßen könnte man mit einer "Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung Straße" langfristig jährlich rund 500 Millionen Euro sparen. Und bei allen Verkehrsträgern müssen die Bedarfs- bzw. Ausbaupläne auf den Prüfstand. Wer heutzutage noch Autobahnen (aus-)baut, handelt unverantwortlich gegenüber den künftigen Generationen. "Güterzüge auf die Autobahn" wäre das zeitgemäße Motto. Wir brauchen eine klare Priorität, die Anwohnerinnen und Anwohner vor Lärm schützt, zum Beispiel durch siedlungsferne Trassen, und den Lkw-Verkehr ersetzt. Bei der Schiene haben wir seit Jahren nur noch eine Verwaltung des Mangels, gepaart mit völlig falschen Investitionsprioritäten: Der Bedarfsplan wimmelt von milliardenschweren Neubaustrecken, die praktisch nur dem ICE-Verkehr dienen. Es ist doch Wahnsinn, dass für maximal 50 ICE am Tag eine Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln gebaut wurde, während Hunderte Güterzüge weiterhin durchs Rheintal schleichen und dort Hunderttausenden Menschen das Leben unerträglich machen, vom Milliardengrab Stuttgart 21 mit angeschlossener Neubaustrecke ganz zu schweigen. Unter dem Motto "klug kleckern statt klotzen" stehen wir - mit Bürgerinitiativen und Bewegungen auch in anderen Ländern Europas - gegen "grande opere inutili" - große unnütze Projekte -, bei denen Milliarden verbaut werden, wenige profitieren und die Versorgung in der Fläche auf der Strecke bleibt. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Anträge der Fraktionen von SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen, die in diesem Tagesordnungspunkt behandelt werden sollen, sind sehr verschieden ausgerichtet. Sie widmen sich unterschiedlichen Aspekten der Investitionspolitik des Bundes und benennen ganz unterschiedliche Ziele. Eines haben sie allerdings gemeinsam: Sie setzen bei der katastrophalen Investitionspolitik im Verkehrssektor an. Zu Recht; denn dieses "Gewurschtel" im Hause Ramsauer ist unerträglich. Die prekäre finanzielle Situation wird besonders vor dem Hintergrund eines immer enger werdenden Verkehrsbudgets deutlich. Und während die Bundesregierung die Investitionsmittel sinken lässt, steigen die Bedarfe für den Erhalt der vorhandenen Infrastruktur stetig. Die Straßen bröckeln weiter, Brücken verlieren ihre Tragfähigkeit, die Anzahl der Langsamfahrstellen der Bahn nimmt zu. Dennoch lässt die Verkehrspolitik der Bundesregierung auch in dieser kritischen Situation keine Struktur erkennen. Ihr fehlen Ziele, Prioritäten und Umsetzungsstrategien. Entgegen ihren Ankündigungen haben weiterhin Neubaumaßnahmen Vorrang vor Erhaltungsinvestitionen. Beredte Beispiele sind die sogenannten Infrastrukturbeschleunigungsprogramme: Spatenstiche werden finanziert, die Umsetzung der Neubaumaßnahmen jedoch ist finanziell überhaupt nicht abgedeckt. Dazu kommt, dass die zu wenigen Erhaltungsmittel des Bundes für die Fernstraßen teilweise durch die Bundesländer für Neubaumaßnahmen genutzt werden. Die Bundesregierung duldet dies sehenden Auges. Priorität haben politisches Potenzial und Öffentlichkeitswirksamkeit von Herrn Ramsauers Investitionsentscheidungen, nicht etwa volkswirtschaftlicher Nutzen oder Zukunftsfähigkeit. Besonders deutlich wird dies beim Blick auf das Schienennetz. Auf der Schiene stehen nach wie vor Prestigeprojekte für die Bundesregierung im Vordergrund, egal was sie kosten und wie sinnvoll sie sind. Stuttgart 21 ist dafür nur ein Beispiel. Internationale Verpflichtungen wie die zum Ausbau der Rheinschiene oder effektive Ausbaumaßnahmen an Knoten müssen nach Herrn Ramsauers Politikverständnis zurücktreten. Gerade für die Eisenbahn sehe ich ein hohes Entwicklungspotenzial. Außerdem halte ich den Ausbau dieses Verkehrsträgers aus Sicht des Umwelt- und -Klimaschutzes für dringend geboten. Schließlich ist sie sehr viel energieeffizienter als der Pkw. Auf der Schiene hat sich die Elektromobilität längst bewährt. Die Bahn ist sicherer als das Auto. Nur muss sie insgesamt attraktiver werden und stärker zum Umsteigen einladen. Eine Reihe von Maßnahmen sind dafür dringend erforderlich. Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern. Das heißt für uns ins-besondere die Ausweitung der Lkw-Maut. An den Einnahmen ist die Schiene auch künftig zu beteiligen. Externe Kosten sind bei allen Verkehrsträgern zu internalisieren; auch das stärkt die Bahn. Die Investitionen in das Schienennetz sind aufzustocken. Dabei sollten auch die nichtbundeseigenen Netze mit Bundesmitteln gefördert werden. Wir benötigen einen Deutschland-Takt im Schienenpersonenverkehr. Der Schwerpunkt der Investitionen muss zunächst auf der Beseitigung von Flaschenhälsen liegen, nicht auf der Errichtung unnötiger Prestigeprojekte. Wir wollen einen angemessenen Lärmschutz erreichen; denn der schafft Akzeptanz für diesen Verkehrsträger. Der Schienenbonus gehört endlich abgeschafft. Wir fordern, dass die internationalen Korridore rasch mit dem Zugleit- und -sicherungssystem ERTMS/ETCS ausgestattet werden. Analog zur Straße gehören regionale Schienennetze in die Hand der Bundesländer. Wir brauchen eine bessere Kontrolle der Deutschen Bahn AG. Derzeit gleicht sie einer Black Box. Dafür ist die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung entsprechend zu korrigieren. Außerdem sollte die Bundesnetzagentur mit besseren Kontrollrechten ausgestattet werden. Und nicht zuletzt gehören die unsäglichen Quersubventionierungen abgeschafft. Gewinne der Infrastrukturen müssen ins Netz reinvestiert werden und dürfen in Zukunft nicht in andere Sparten gepumpt werden. Allein bei Betrachtung des Verkehrsträgers Schiene wird deutlich: Es ist höchste Zeit, die Investitionspolitik neu auszurichten. Ich habe allerdings keine Hoffnung, dass Minister Ramsauer in den verbleibenden Monaten bis zum Ende der Legislaturperiode hierzu einen Erkenntniszuwachs erlangt. Herrn Ramsauers Erbe aus der jetzigen Wahlperiode ist leider eine schwere Bürde für die künftige Hausspitze; denn sie muss eine Reihe von Fehlentscheidungen ausbügeln. Umso dringender ist der Handlungsbedarf der künftigen Bundesregierung, die Investitionen im Verkehrssektor zukunftsträchtig zu tätigen. Wir brauchen zum Ende des Jahres endlich eine ambitionierte und couragierte Verkehrspolitik. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Drucksache 17/8386. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5022 mit dem Titel "Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1971 mit dem Titel "Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des -Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1988 mit dem Titel "Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren - Drucksache 17/12578 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Der Europäische Rat hat in seiner Entschließung vom 30. November 2009 einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren vorgesehen. Die in diesem Fahrplan vorgesehenen Maßnahmen A und B sind das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sowie das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist in der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 festgehalten. Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 regelt das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren sollen die diesbezüglichen europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden. Nach deutschem Recht bestehen schon jetzt weitgehende Regelungen zu den in der Richtlinie geforderten Informations- und Teilhaberechten von beschuldigten Personen in Strafverfahren. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Bundesrepublik Deutschland sich schon immer für die Schaffung dieser gemeinsamen Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union eingesetzt hat. Es besteht mithin nur in wenigen Teilen Anpassungsbedarf. Dies sind Bereiche, in denen durch die europäischen Vorgaben einzelne, dem geltenden Strafverfahrens- und Gerichtsverfassungsrecht bereits bekannte, Gewährleistungen noch weiter ausgebaut werden. Hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren konzentriert der vorliegende Gesetzentwurf die notwendigen Anpassungen in § 187 GVG. Bereits aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK ergibt sich der grundlegende Anspruch einer beschuldigten oder verurteilten Person auf unentgeltliche Übersetzungs- oder Dolmetschleistungen während des gesamten Strafverfahrens. Schon nach bisheriger Rechtslage und Praxis wurde diesem grundlegenden Anspruch Rechnung getragen. Der Gesetzentwurf schlägt daher in § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG-E lediglich eine geringfügige sprachliche Anpassung der derzeit geltenden Regelung vor und ergänzt einen neuen § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG-E. Die Richtlinie 2012/13/EU sieht in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d eine Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen vor. Diese Vorgabe wird im neuen Satz 2 normiert. In § 187 Abs. 2 GVG-E wird der Anspruch auf Übersetzung inhaltlich ausgestaltet. Dieser Anspruch auf Übersetzung dient der Umsetzung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU. In der Regel ist nach dem Gesetzentwurf eine schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nichtrechtskräftigen Urteilen erforderlich. Eine lediglich auszugsweise Übersetzung reicht nach § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG-E aber dann aus, wenn schon dadurch die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person ausreichend gewahrt werden. Ein vollständiges Absehen von der schriftlichen Übersetzung soll schließlich nach Maßgabe der Sätze 4 und 5 möglich sein. Hiernach kann dem Beschuldigten anstelle der schriftlichen Übersetzung lediglich eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt werden, soweit das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK gewährleistet ist. Als Regelbeispiel für die fehlende Notwendigkeit einer schriftlichen Übersetzung nennt § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG-E den Fall des verteidigten Angeklagten. Gemäß § 187 Abs. 3 GVG-E kann die beschuldigte Person auf die Übersetzung verzichten, wenn sie zuvor belehrt wurde. Belehrung und Verzicht sind zu dokumentieren. Mit dieser Regelung wird Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie 2010/64/EU umgesetzt. § 187 Abs. 4 GVG-E entspricht dem bisher geltenden § 187 Abs. 2 GVG. Auch § 189 GVG wird geringfügig geändert. Es wird ein neuer Abs. 4 eingefügt. Dieser dient der Umsetzung des Art. 5 der Richtlinie 2010/64/EU. Im neuen Abs. 4 wird festgelegt, dass der Dolmetscher oder Übersetzer "über Umstände, die ihm bei seiner Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, Verschwiegenheit wahren" muss. Diese Ergänzung ist notwendig, da die Verpflichtung aller herangezogenen Dolmetscher zur Verschwiegenheit nach aktueller Rechtslage nicht einheitlich normiert ist. Hinsichtlich des Rechts auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren wurden nur punktuell Erweiterungen der Vorschriften der StPO vorgenommen. So findet sich in § 37 Abs. 3 StPO-E nun die Regelung, dass in den Fällen des § 187 Abs. 1 und 2 GVG-E "das Urteil zusammen mit der Übersetzung" zuzustellen ist. § 114 b Abs. 2 Satz 2 StPO-E legt fest: "Ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, ist in einer verständlichen Sprache darauf hinzuweisen, dass er nach Maßgabe des § 187 Absatz 1 bis 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann." Durch diese Regelung wird die in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen umgesetzt. § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E schließlich ergänzt die bisherige Rechtslage um den Zusatz "und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers beanspruchen". Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2012/13/EU schreibt eine Belehrung des Beschuldigten über einen möglichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung vor. Ein solcher Hinweis erfolgte nach geltender Rechtslage grundsätzlich nicht. Daher ist eine entsprechende Ergänzung notwendig. Am 1. Februar 2013 nahm der Bundesrat zu dem Gesetzentwurf Stellung. In seiner Stellungnahme kritisiert er die drei folgenden Punkte: Zunächst wirft der Bundesrat die Frage auf, ob die Regelung in § 189 Abs. 4 GVG-E nicht klarer gefasst werden müsste und ob sie in § 189 GVG richtig verortet ist. Weiter meint der Bundesrat in seiner Stellungnahme, dass die in § 114 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 a StPO-E vorgesehene Belehrung über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO im Widerspruch zur Vorschrift des § 141 Abs. 1 und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers während des Vorverfahrens bis zum Abschluss der Ermittlungen (§ 169 a StPO) grundsätzlich nur auf -Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in diesem Verfahrensstadium lediglich als Anregung an die Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen. Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus. Schließlich führt der Bundesrat aus, dass die in § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E vorgesehene Belehrung über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO im Widerspruch zur Vorschrift des § 141 Abs. 1 und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers während des Vorverfahrens bis zum Abschluss der Ermittlungen (§ 169 a StPO) grundsätzlich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in diesem Verfahrensstadium lediglich als Anregung an die Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen. Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus. Zu der vom Bundesrat unter Punkt eins angebrachten Kritik führt die Bundesregierung zutreffend aus, dass im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens noch zu prüfen ist, ob der gewünschte Regelungsinhalt des § 189 Abs. 4 GVG-E über die Verpflichtung der Dolmetscher und Übersetzer zur Verschwiegenheit im Wortlaut noch klarer zum Ausdruck gebracht werden kann. Auch bei einer etwaigen Änderung der Norm werden indes der Ausnahmecharakter der bundesgesetzlichen Vorschrift, der die Dolmetschergesetze der Länder unberührt lässt, sowie die generelle Hinweispflicht des Gerichts als Kernelemente der Regelung beizubehalten sein. Hinsichtlich des Standorts der Regelung besteht allerdings kein weiterer Prüfbedarf. Den anderen beiden in der Stellungnahme des Bundesrates angesprochenen Punkten ist nach meiner Meinung auch im parlamentarischen Verfahren zuzustimmen. Änderungsbedarf besteht insoweit allerdings nicht, da die Gesetzesbegründung hierzu alles Notwendige ausführt. Wir werden in dem nun anstehenden parlamentarischen Verfahren alle noch offenen Punkte zu klären wissen. Damit wird der vorliegende Gesetzentwurf ein weiterer Erfolg der christlich-liberalen Koalition werden. Nach dem gerade verabschiedeten Gesetz zur Intensivierung der Videokonferenztechnik in staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Verfahren wird es uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingen, weitere maßgebliche Verbesserungen in Strafverfahren zu implementieren. Burkhard Lischka (SPD): Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Umsetzung zweier EU-Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zum Gegenstand hat. Dabei handelt es sich zum einen um die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren und zum anderen um die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Diese Richtlinien aus den Jahren 2010 und 2012 dienen dem langfristigen Ziel, Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zu stärken. Hierzu hatte die EU bereits 2009 einen umfassenden Fahrplan aufgestellt. Der Gesetzentwurf, der lediglich die Richtlinien umsetzt, sieht überwiegend nur punktuelle inhaltliche oder nur sprachliche Änderungen vor, da die angestrebten Mindeststandards von Verfahrensrechten in Deutschland bereits fester Bestandteil des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung sind. Es gibt einige wichtige Neuerungen. Zu nennen sind die neuen Belehrungs- und Dokumentationspflichten. Insbesondere die Belehrungspflichten greifen jetzt früher und sind weiter gefasst. Beschuldigte müssen in Zukunft bereits bei der Festnahme über mögliche Rechtsbehelfe und die Möglichkeit zur Einsichtnahme in Aktenabschriften bei fehlender Verteidigung unterrichtet werden. Das sind zweckmäßige und wichtige Regelungen. Insgesamt werden in diesem Gesetzentwurf die EU-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt. Die Regelungen sind meiner Ansicht nach auch richtig und notwendig. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung europäischen Rechts. Dabei geht es zum einen um das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren und zum anderen um das Recht auf Belehrungen und Unterrichtungen in Strafverfahren. Die Erweiterung der Rechte des Beschuldigten im Hinblick auf Belehrungspflichten sowie Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen sind positiv zu bewerten. Sie tragen dazu bei, dass die Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird. Die durch die vorliegenden Richtlinien auf europäischer Ebene nun endlich in Angriff genommene europaweite Herstellung von einheitlichen Mindeststandards bei Verfahrensrechten von Beschuldigten erfolgt zwar sehr spät, nämlich nach bereits umgesetzten Rechtsakten zur Anerkennung von - nach hiesigen Maßstäben nicht rechtsstaatlich zustande gekommenen - ausländischen Haftbefehlen und anderen Verfolgungsmaßnahmen. Dennoch sind die damit verbundenen Verbesserungen für die Beschuldigten zu begrüßen. Insbesondere die Verschwiegenheitspflicht für Dolmetscher erscheint uns angemessen und sinnvoll. Dolmetscher agieren in den in Rede stehenden Fällen quasi als Scharnier. Diese Scharnierfunktion macht es aus unserer Sicht notwendig, sie der Verschwiegenheitspflicht zu unterwerfen. Dies insbesondere deshalb, weil auch für die Beschuldigten Vertrauen in Dolmetscher eine Voraussetzung ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Auch die Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie im Bereich der förmlichen Belehrungen und der Frage der Akteneinsicht finden wir begrüßenswert. Hier zeigt die Bundesregierung, dass ein Interesse an Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird. Den positiven Umsetzungsakten stehen allerdings Regelungen gegenüber, die Wirkung zulasten der Beschuldigten entfalten. Es ist aus unserer Sicht nicht hinzunehmen, dass die Neureglung in § 187 Abs. 2 GVG davon ausgeht, dass eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung wesentlicher Unterlagen im Regelfall ausreicht, sofern der Beschuldigte einen Verteidiger hat. Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU -besagt eindeutig: "Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten." Zu den "wesentlichen Unterlagen" zählen nach der Richtlinie aber eben "jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil". Der Wortlaut "jegliches Urteil" heißt dann aber eben auch rechtskräftige Urteile. Aus unserer Sicht kann sich die Bundesregierung bei der Neu-regelung des § 187 Abs. 2 GVG gerade nicht auf die Ausnahme der Richtlinie berufen. Diese erlaubt eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung gerade nur, wenn dies "einem fairen Verfahren nicht entgegensteht". Die pauschale Annahme der Bundesregierung, sofern ein Verteidiger zur Verfügung stehe, reiche eine mündliche Zusammenfassung oder Übersetzung aus, ist aus unserer Sicht nicht von der Ausnahmeregelung gedeckt. Sachgerechter wäre aus Sicht der Linken gewesen, die Formulierung der Ausnahme in die Neuregelung des § 187 Abs. 2 GVG zu übernehmen um somit im Einzelfall eine Abwägung treffen zu können, ob eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung ausreichend ist. Die Tatsache, dass die juristische Sprache an sich schon für viele Menschen mit gewissen "Übersetzungsschwierigkeiten" verbunden ist, macht es aus unserer Sicht notwendig, dem Beschuldigten eine Auseinandersetzung in seiner eigenen Sprache im Detail und nicht im Rahmen einer Zusammenfassung oder gar mündlichen Übersetzung zu gewähren. Nur das sichert aus unserer Sicht wirkliche Waffengleichheit. Insbesondere die Tatsache, dass bei rechtskräftigen Urteilen nicht einmal eine mündliche Übersetzung oder Zusammenfassung vorgesehen ist, scheint uns mit der Richtlinie nicht vereinbar zu sein. Wie das so ist, wenn einerseits positive Dinge und andererseits negative Dinge in Gesetzentwürfen stehen, werden wir uns bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Es sei denn, Sie denken über die Änderung des § 187 Abs. 2 GVG noch einmal nach. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Vertrag von Lissabon hat mit Inkrafttreten am 1. Dezember 2009 den Weg frei gemacht für eine demokratisch besser legitimierte und an gemeinsamen Grundsätzen orientierte Innen- und Justizpolitik der Europäischen Union. Auf dem Weg zu gemeinsamen rechtsstaatlichen Mindeststandards wurde von uns Grünen wiederholt angemahnt, das Ungleichgewicht zwischen Regelungen im exekutiv-repressiven Bereich und der effektiven rechtlichen Absicherung der Verfahrensrechte zu beseitigen. Der große Wurf in Form einer umfassenden Richtlinie zur Stärkung der Verfahrensrechte auf europäischer Ebene ist jedoch gescheitert. Stattdessen hat die Europäische Kommission im November 2009 einen "Fahrplan zur Stärkung der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren" vorgelegt. Von sechs Maßnahmen dieses Fahrplans sind bisher Richtlinien zu lediglich zwei Maßnahmen verabschiedet worden: die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Die Richtlinie über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme befindet sich noch im europäischen parlamentarischen Verfahren. Andere Maßnahmen, wie die besonderen Garantien für schutzbedürftige Beschuldigte, ein Grünbuch für die Untersuchungshaft und insbesondere gemeinsame Mindeststandards für die Prozesskostenhilfe, stehen noch aus. Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Vorgaben der Richtlinien bezüglich der Dolmetscherleistungen und Übersetzungen sowie der Belehrungen in Strafverfahren umsetzen soll. In der Begründung des Gesetzentwurfs schätzt die Bundesregierung den Umsetzungsbedarf in diesen Bereichen der Beschuldigtenrechte in Deutschland als gering ein und erklärt, es seien lediglich punktuelle Änderungen des deutschen Rechts notwendig. Die Konsequenzen dieser Fehleinschätzung zeigen sich in den grundlegenden Mängeln des Gesetzentwurfs. Die Bundesregierung setzt die Richtlinienvorgaben vollkommen unvollständig und nach dem Motto: "So viel wie unbedingt nötig, so wenig wie irgendwie möglich" um. Dabei verkennt die Bundesregierung nicht nur, dass auf dem Gebiet der Schaffung einer europäischen Rechtsstaatlichkeit mehr getan werden muss als das unbedingt Notwendige, sondern sie ignoriert auch, dass der Gesetzentwurf wesentliche Vorgaben beider Richtlinien für Mindeststandards der Verfahrensrechte unterschreitet. So werden beispielsweise Richtlinienvorgaben bezüglich des Rechts auf Belehrung im Zusammenhang mit dem Verfahren des europäischen Haftbefehls überhaupt nicht umgesetzt. Die Rechte Beschuldigter im Auslieferungsverfahren, welches auf der Festnahme aufgrund eines europäischen Haftbefehls erfolgt - diese sieht die Richtlinie ausdrücklich vor -, kommen im Gesetzentwurf der Bundesregierung ebenso wenig vor wie die gesetzliche Regelung, dass der Betroffene eine schriftliche Übersetzung des gegen ihn erstellten europäischen Haftbefehls erhält. Auch bei der Ausgestaltung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses im Rahmen der schriftlichen Übersetzung von wesentlichen Unterlagen geht der Umsetzungsentwurf der Bundesregierung am Geist der Richtlinie vorbei. Andererseits ist bisher das Verfahren der Beantragung und Beschlussfassung der Dolmetscherbestellung samt Rechtsmitteln in Deutschland überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Die Umsetzung gibt den Anlass, hier nachzuarbeiten. Aber der Entwurf enthält dazu nichts. All diese offenen Punkte und ihre Umsetzung müssen dringend in einer Sachverständigenanhörung geklärt werden. Alles in allem hat der Gesetzentwurf der Bundesregierung seinen Titel nicht verdient. Von einer Stärkung der Verfahrensrechte kann hier bisher wohl kaum die Rede sein. Vielmehr ist der Entwurf offensichtlich lediglich aus der Kostenvermeidungsperspektive heraus geschrieben worden. Solche Discount-Verfahrensrechte dürfen sich Deutschland und Europa nicht erlauben. Wir Grüne wollen keine europäische Justiz-politik auf dem kleinsten Nenner, sondern in Deutschland und Europa hohe Standards, Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung muss im parlamentarischen Verfahren dringend rechtsstaatlich angereichert werden. In dieser Form kann er von uns nur abgelehnt werden. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Wir beraten heute mit dem Gesetz zur Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren die nationale Umsetzung der ersten beiden EU-Richtlinien zur Schaffung europäischer Mindeststandards für Beschuldigte. Deutschland hat sich bei der Erarbeitung der sogenannten Roadmap "Beschuldigtenrechte" stets vehement für solche Regelungen eingesetzt. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt die wenigen in unserem Recht erforderlichen Anpassungen zeitgerecht, also noch in dieser Legislaturperiode, vornehmen. Dabei haben wir sowohl im Bereich der Übersetzungs- und Dolmetschleistungen als auch bei den Informations- und Belehrungsrechten des Beschuldigten insgesamt nur geringen Umsetzungsbedarf. Denn die deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichte haben bereits bisher die Vorgaben an Übersetzungen und Belehrungen, die namentlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellt hat, respektiert und beachtet. Das deutsche Strafverfahrensrecht ist von dem Grundsatz geprägt, dass der Beschuldigte kein bloßes Objekt des Verfahrens sein darf. Vielmehr muss er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen können. Das deutsche Recht nimmt daher schon heute besondere Rücksicht auf Personen, die nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen oder hör- bzw. sprachbehindert sind. Soweit dies erforderlich ist, räumt es ihnen einen Anspruch auf Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers ein. Auch die Information des Beschuldigten über seine Verteidigungsrechte ist bereits nach geltender Rechtslage Pflicht für sämtliche Ermittlungsbehörden. Deutschland verfügt also im Bereich der Mindestrechte des Beschuldigten im Strafverfahren bereits über ein hohes Schutzniveau. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht deshalb nur in wenigen Teilbereichen, in denen durch die europäischen Vorgaben einzelne, dem geltenden Verfahrensrecht bereits bekannte Gewährleistungen noch weiter konkretisiert werden. Kernpunkt bei der Umsetzung der Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ist die Schaffung einer ausdrücklichen gesetzlichen Pflicht zur schriftlichen Übersetzung verfahrenswichtiger Dokumente, insbesondere von Strafurteilen. Der Neuregelung liegt dabei folgender Gedanke zugrunde: Liegt ein für die Wahrung der Verteidigungsrechte wichtiges Dokument vor, ist dieses grundsätzlich schriftlich zu übersetzen. Das entspricht dem Leitbild der Richtlinie. Der Gesetzentwurf führt hierzu beispielhaft weitere wichtige Dokumente an, etwa den Strafbefehl oder die Anklageschrift. Hierdurch wird einerseits das in der Praxis zu beachtende Schutzniveau konkretisiert, ohne andererseits die Rechtspflege mit einem starren Katalog an einer sachgerechten Lösung des Einzelfalles zu hindern. Abweichungen vom Grundsatz der Übersetzungspflicht sind - entsprechend den in der Richtlinie verankerten Ausnahmetatbeständen - möglich, bedürfen aber gesonderter Begründung. Dabei muss das Gericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, ob eine lediglich teilweise schriftliche Übersetzung oder die bloß mündliche Übertragung eines Dokuments die Verteidigungsrechte des Beschuldigten ausreichend wahrt. Der Gesetzentwurf nennt hierfür exemplarisch den Fall, dass der Beschuldigte durch einen Verteidiger bei der Wahrung seiner Rechte unterstützt wird. Verkürzt lässt sich zusammenfassen: Die vorgeschlagene Regelung dient einer praxisgerechten Ausgestaltung der neuen EU-Vorgaben zur Übersetzungspflicht. Der Beschuldigte kann grundsätzlich eine vollständige Übersetzung der für seine Verteidigung notwendigen Dokumente verlangen. Das Gericht kann aber im begründeten Einzelfall hiervon abweichen. Die Praxis und nicht zuletzt auch die Haushalte der Bundesländer sollen also nicht mit einer starren und von der Richtlinie in diesem Umfang auch keineswegs geforderten generellen Übersetzungspflicht belastet werden. Weiterhin sieht die Neuregelung die Möglichkeit eines Verzichts des Beschuldigten auf die schriftliche Übersetzungsleistung vor, wobei sie sich auch hier eng am Wortlaut der Richtlinie orientiert. Zudem soll die jeweils als Dolmetscher oder Übersetzer eingesetzte Person zur Verschwiegenheit angehalten werden, soweit dies nicht bereits aufgrund einer landesrechtlichen Regelung geschehen ist. Bei der weiteren jetzt umzusetzenden Richtlinie, die Belehrungs- und Unterrichtungsrechte des Beschuldigten betrifft, sind ebenfalls nur wenige Detailregelungen nötig: Der Gesetzentwurf beschränkt sich hier auf die Ergänzung des geltenden Verfahrensrechts um dort bislang nicht enthaltene Belehrungen und Dokumentationspflichten. Ihnen liegt nach alledem ein sehr kompakter und praxistauglicher Gesetzentwurf vor, der die Vorgaben der beiden Richtlinien effektiv in nationales Recht umsetzt. Ich bin überzeugt, dass der Gesetzentwurf einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den europäischen Verpflichtungen auf der einen Seite und den Anforderungen der Rechtspflege auf der anderen Seite darstellt. Das Vorhaben fügt sich zudem in das gewohnte und bewährte Regelwerk des Strafverfahrens ein, ohne die personellen und finanziellen Ressourcen der Bundesländer aus dem Blick zu verlieren. Für die Umsetzung des ersten Teils EU-weiter Mindeststandards für Beschuldigte bitte ich Sie daher um Ihre Zustimmung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12578 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationale Stelle zur Verhütung von Folter stärken - Drucksachen 17/11207, 17/12730 - Berichterstattung: Abgeordnete Frank Heinrich Christoph Strässer Marina Schuster Katrin Werner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhütung von Folter - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter - Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377, 17/9802 Nr. 5, 17/10085 - Berichterstattung: Abgeordnete Frank Heinrich Christoph Strässer Marina Schuster Katrin Werner Volker Beck (Köln) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die -Reden zu Protokoll genommen. Frank Heinrich (CDU/CSU): Auch wenn heute ein eher formales Thema auf der Tagesordnung steht, nämlich die finanzielle Ausstattung einer Bundesstelle, so steht dahinter doch nicht weniger als ein Thema von hoher Brisanz und menschenrechtlicher sowie völkerrechtlicher Relevanz: Wir reden über Folter. Folter zerstört Leben. Wer Menschen foltert, zielt darauf ab, eine Persönlichkeit in ihrer Substanz zu erschüttern und zerstören. Professor Volker Faust führt dazu aus (www.psycholsoziale-gesundheit.net): "Um ihr Ziel zu erreichen, gehen die Folterer planmäßig vor. Die psychische Zermürbung muss schrittweise erfolgen. Das ist ein genau kalkulierter Prozess, der kaltblütig und den individuellen Eigenschaften des jeweiligen Opfers entsprechend durchgeführt wird. Es hätte wenig Sinn, sofort mit den härtesten Maßnahmen zu beginnen. Dem Opfer muss man genügend Zeit lassen, damit es die Qualen und Erniedrigungen ausgiebig erlebt, sich mit ihnen identifiziert und stückweise den Willen zum Widerstand verliert: ‚Zuerst dachte ich, sie würden mich totschlagen, darauf war ich gefasst. Und hätten sie es doch nur getan. Aber das schlimmste waren die Pausen' (Zitat). Der Gefolterte muss völlig hilflos jeden inneren Halt und jedes Selbstbewusstsein verlieren, er muss weinen und um Gnade betteln, er muss in panischer, unkontrollierter Angst Urin und Stuhl lassen, er muss wünschen, endlich getötet zu werden, anstatt so dahinzuvegetieren. Grausamer als der Schmerz ist oft auch das Alleinsein nach der Folter. Dabei wird man fast verrückt. Man fühlt sich wie ein Tier, abhängig von der Gnade seines sadistischen Herrn. So findet sich das Opfer selbst nach seiner Entlassung als körperlich noch irgendwie lebendig wieder - jedoch seelisch zerstört. Das ist der Sinn der modernen Folter." Die Folgen von Folter können neben den augenfälligen oder versteckten körperlichen Schädigungen auch vielfältige traumatische Störungen sein: phobische Ängste, Lähmungen, Beziehungsstörungen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen und vieles mehr. Wer Menschen foltert, zerstört ihr Leben. Neben den Auswirkungen auf den einzelnen Menschen hat Folter auch gravierende zivilisatorische Konsequenzen. Folter ist ein Kernmerkmal jeder Diktatur. Eine Gesellschaft, die systematisch Folter anwendet, schüchtert die Menschen ein, verunsichert sie in ihrem Sicherheits- und Rechtsbewusstsein. Eine folternde Regierung hintergeht die Rechtsstaatlichkeit auf perfide und grausame Weise, sei es, dass diese Folter aktiv von staatlicher Gewalt angewendet wird, oder aber dass durch einen Staat Folter billigend in Kauf genommen wird. Wer Folterer nicht strafrechtlich verfolgt, macht sich zum Mittäter. Auch die Glaubwürdigkeit eines Rechtssystems wird durch unter Folter erzielte Aussagen unterminiert. Wer Menschen unter seelischen oder körperlichen Druck setzt, um Informationen zu bekommen, kann sich ihres Wahrheitsgehaltes nie wirklich sicher sein. Folter zerstört Wahrheit und damit Rechtssicherheit. Daher verabschiedeten die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1984 vor dem Hintergrund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte eine völkerrechtlich verbindliche Anti-Folter-Konvention. Nach dieser Konvention bezeichnet Folter "jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen ...". Auch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte enthält in Art. 3 ein niedergeschriebenes Folterverbot. Nach Art. 2, Abs. 1 der VN-Anti-Folter-Konvention gibt es darüber hinaus eine Aufforderung zur Prävention von Folter: "Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern." Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage wurde die Bundesstelle zur Verhütung von Folter im November 2008 eingerichtet und damit den Verpflichtungen Deutschlands nachgekommen. Dies stellt der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auch fest. Allerdings nehmen die Verfasser und die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter eine zu geringe personelle und auch multidisziplinär unausgewogene sowie eine mangelnde finanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter wahr. Und je nach Maßstab für die Notwendigkeiten der Auftragserfüllung ist dies auch nachvollziehbar. Sie fordern daher eine Änderung der Verwaltungsvereinbarung des Bundes und der Länder über die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, um die Mittel für diese erhöhen zu können. Die Stelle wird zu einem Drittel vom Bund und zu zwei Dritteln von den Ländern finanziert. Insgesamt stehen durch die gemeinsame Finanzierung von Bund und Ländern dieser nationalen Einrichtung zur Verhütung von Folter 300 000 Euro im Jahr 2013, wie auch schon 2012, zur Verfügung. Der Antrag schließt sich an den Änderungsantrag zum Bundeshaushalt aus dem Monat September 2012 an. Darin wurde eine Erhöhung des Ansatzes für die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von 100 000 Euro - Einzelplan 07, Titel 63205 - auf 300 000 Euro gefordert - eine legitime Forderung der Opposition, deren Angemessenheit hier allerdings zur Debatte steht. Was wir dabei nicht diskutieren - und ich bitte, dies fein säuberlich zu trennen -, ist die fachliche Qualität und die Kompetenz der Mitarbeiter der Präventionsstelle, über deren Arbeit uns die Berichte vorliegen und über die ich mir bei Begegnungen im Bundestag und beim Besuch einer Justizvollzugsanstalt auch ein eigenes Bild machen konnte. Hier wird hervorragende Arbeit geleistet! Doch nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Die Bundesstelle hat durch die große Zahl der zu besuchenden Gewahrsamseinrichtungen einen umfangreichen Aufgabenbereich. Diese sind jedoch nicht innerhalb einer bestimmten Frist zu inspizieren. Die Inspektion kann und soll spontan und stichprobenartig erfolgen. Die Erkenntnisse der Untersuchungen lassen sich zusammenfassend positiv beschreiben: Die menschenrechtliche Situation in den deutschen Gewahrsamseinrichtungen gibt keinen Anlass zur großen Sorge. Die baulichen, fachlichen und personellen Standards in Deutschland sind, vor allem im Vergleich zu anderen Staaten der Welt, sehr hoch. Die menschenrechtliche Situation Inhaftierter ist mindestens gut. Und sollte tatsächlich ein Verstoß gegen die Anti-Folter-Konvention vorliegen, bietet Deutschland alle rechtsstaatlichen Mittel, sich dagegen zur Wehr zu setzen, wie der Teilerfolg des Kindermörders Magnus Gäfgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGM, im vergangenen Jahr zeigte. Schon für die Androhung von Folter durch Polizisten wurde die Bundesrepublik verurteilt. Gerade dieser Einzelfall zeigt die Seltenheit entsprechender Vorkommnisse. Daher gilt: Prävention ist wichtig, eine Ausweitung der Arbeit der Bundesstelle ist angesichts der Faktenlage zur Folter, der menschenrechtlichen Gesamtsituation sowie der verfügbaren Rechtsmittel in Deutschland aber nicht notwendig. Insofern besteht auch für eine Erhöhung des Betrags im Haushalt kein aktueller Anlass. Wir halten die momentane Praxis der Stichproben und Reaktionen auf Hinweise für ausreichend, um die Pflichten der VN-Anti-Folter-Konvention zu erfüllen. Das geht insbesondere aus den vorliegenden Jahresberichten der Bundesstelle hervor. Im Jahresbericht 2009/2010 wurden auf der Grundlage von Besuchen bei der Bundespolizei und der Bundeswehr sowie in Zusammenarbeit mit der Länderkommission zur Verhütung von Folter Empfehlungen abgegeben. Diese Empfehlungen zeigen, auf welch hohem Niveau der Gewahrsam und der Strafvollzug in Deutschland durchgeführt werden. Tatsächliche Folter konnte nicht erkannt werden, stattdessen wurden Empfehlungen wie die nachfolgende gegeben: Bei künftigen Neubauten solle unbedingt auf einen Tageslichtzugang in den Gewahrsamszellen geachtet werden. Auch bei kurzfristigen Aufenthalten werde dies als dringend notwendig erachtet. Weiter heißt es, die Hausordnung solle durch das Bundespolizeipräsidium in die gängigen Sprachen übersetzt und allen Dienststellen zur Verfügung gestellt werden. Beide Empfehlungen sind richtig und wichtig, verdeutlichen aber, dass bereits stichprobenartige Besuche durch die Mitarbeiter der Bundesstelle ausreichen, um die strukturellen Standards zu überprüfen und Verbesserungen vorzuschlagen. Noch deutlicher sind die Feststellungen im Jahresbericht 2010/2011: Nach Besuchen von Einrichtungen der Bundespolizei und der Bundeswehr gibt die Bundesstelle Empfehlungen ab. Dem Bericht zufolge wird die Beantwortung von Anregungen und Empfehlungen in der Regel hochrangig wahrgenommen, jedoch nicht immer zeitgerecht. Die Aufsichtsbehörden zeigten sich jedoch häufig gegenüber den Empfehlungen sehr aufgeschlossen. Laut dem Bericht sind keine Hinweise auf Folter oder entwürdigende Behandlung festgestellt worden. All dies zeigt: Die Bundesstelle arbeitet gut, sie legt Ergebnisse vor, und ihre Ergebnisse werden von den Empfängern angemessen rezipiert und grundsätzlich umgesetzt, auch wenn es zu zeitlichen Verzögerungen kommt. Angesichts dieser Situation kann man nicht von einer Unterfinanzierung der Bundesstelle zur Verhütung der Folter sprechen. Meine Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab. Nichtsdestotrotz bleibt auch in Deutschland das Thema Folter auf der Agenda, und das ist gut so. Wir dürfen hinter unser erreichtes Niveau nicht zurück. Daher begrüße ich ausdrücklich den Besuch des UN-Unterausschusses für Folterprävention vom 8. bis 12. April in Deutschland. Bei diesem Besuch wird es auch um die Frage der Ausgestaltung und Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung der Folter gehen. Die Justizministerkonferenz wird sich im Anschluss - am 24./25. April - ebenfalls mit der Ausstattung der Nationalen Stelle beschäftigen. Sollten hier neue finanzielle Notwendigkeiten sichtbar werden, zeigt sich auch meine Fraktion gesprächsbereit; denn eines gilt es in aller Deutlichkeit zu sagen: Folter zerstört. Daher ist sie zu verurteilen und zu unterbinden - um der Menschen willen und zum Schutze der Demokratie. Christoph Strässer (SPD): Ich möchte meiner Rede ein Zitat voranstellen, welches Anliegen und Inhalt des Antrages, den wir heute debattieren, ziemlich genau auf den Punkt bringt. Albert Schweitzer hat das Wichtigste dazu gesagt, was man sagen kann; ich zitiere: "Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige." Ich möchte, dass Sie dieses Zitat im Hinterkopf behalten, wenn wir über die Ausstattung unserer deutschen Stelle zur Verhütung von Folter reden. Welches Beispiel geben wir in einer Welt ab, in der der Ruf und die Reputation von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde gerade aufgrund des Verhaltens eben dieser Rechtsstaaten nicht nur in Konfliktregionen, sondern auch in ihren eigenen Gesellschaften auf dem Spiel stehen, in einer Situation, in der wir Deutsche oft genug in Richtung anderer zeigen und auf die vollständige Umsetzung internationaler Menschenrechtsnormen - zu Recht übrigens - drängen? Die Legitimität dazu haben wir aber nur dann, wenn wir auch zu Hause unsere Aufgaben erledigen. Die bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden angesiedelte Nationale Stelle zur Verhütung von Folter besteht aus der 2008 eingerichteten Bundesstelle und der 2010 geschaffenen Länderkommission. Beide kooperieren eng miteinander. Die Bundesstelle ist für die etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes - Bundespolizei, Bundeswehr, Zoll - zuständig, die Länderkommission für die weit über 1 000 Gewahrsamseinrichtungen der Länder - Polizei, Justiz, Psychia-trien, Heime. Grundlage der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention. Für Deutschland ist es am 3. Januar 2009 völkerrechtlich in Kraft getreten. Es verpflichtet Deutschland, einen nationalen Präventionsmechanismus für alle Einrichtungen zu schaffen, in denen Menschen die Freiheit entzogen ist. Dies ist geschehen - aufgrund der föderalen Struktur institutionell und finanziell zweigleisig mit der Bundesstelle und der Länderkommission. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist laut ihrem Bericht in Deutschland auf keine Anzeichen von Folter gestoßen. Dies ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass sie personell und finanziell absolut unzureichend ausgestattet ist und ihren gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen kann. Die SPD-Fraktion hat die mangelhafte Ausstattung schon mehrmals scharf kritisiert und bereits letzten Herbst bei den Haushaltsberatungen für 2012 eine Aufstockung beantragt. Und um dies noch einmal zu betonen und kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht nicht darum, zu bezweifeln, dass in deutschen Gewahrsamseinrichtungen auf allen Ebenen hohe menschenrecht-liche Standards eingehalten werden. Es geht darum, dafür Sorge zu tragen, dass das auch so bleibt - es geht um Prävention! Von Anbeginn an litt der nationale Präventionsmechanismus in Deutschland an unzureichender finanzieller und personeller Ausstattung. Bei einem Budget von insgesamt 300 000 Euro (100 000 Euro vom Bund, 200 000 Euro von den Ländern) kann die Nationale Stelle mit fünf ehrenamtlichen Mitgliedern, einer Bürokraft und drei wissenschaftlichen Mitarbeitern ihre umfangreichen Aufgaben nicht erfüllen. Damit ist das Zusatzprotokoll zwar möglicherweise formal umgesetzt, nicht aber materiell. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, in der Beschlussempfehlung zum Antrag der Grünen heißt es - ich zitiere: "Der Deutsche Bundestag begrüßt die Empfehlungen der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter sowie das oft umgehende Aufgreifen und nachfolgende Umsetzen der Empfehlungen durch die Bundes- und Ländereinrichtungen. Die intensive Auseinandersetzung der zuständigen Bundes- und Ländereinrichtungen mit dem Bericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter und die Umsetzung der Empfehlungen in einer Vielzahl von Fällen sind Beleg für die große Bedeutung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter innerhalb Deutschlands." Und weiter heißt es dort: "Der Deutsche Bundestag zeigt sich erfreut, dass die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter nach eigener Aussage ,auf allen Handlungsebenen auf Offenheit und positive Resonanz' gestoßen ist. Darüber hinaus nimmt der Deutsche Bundestag erfreut zur Kenntnis, dass der UN-Antifolterausschuss in seinem nach Art. 19 des Übereinkommens vorgelegten Bericht die Schaffung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ausdrücklich lobt." Aufgrund der totalen Unterfinanzierung dieser Stelle müssen diese Freude und dieses Lob durch die Bundesregierung in den Ohren der Verantwortlichen, derjenigen, die den Auftrag zu erledigen haben, wie blanker Hohn klingen. Schlimmeres ist in der Stellungnahme der Union nachzulesen. Zitat: "Nach Auskunft des Leiters der Bundesstelle zur Verhütung von Folter, Klaus Lange-Lehngut, könnten in drei Jahren 10 Prozent der Einrichtungen besucht werden. Möglicherweise habe dies ja doch einen ausreichenden präventiven Effekt, schließlich verfahre man in anderen gesellschaftlichen Be-reichen genauso, so zum Beispiel in der Gastronomie. Es sei unmöglich, alle Restaurants und sonstigen gastronomischen Einrichtungen regelmäßig zu kontrollieren." Es ist schon ein Skandal, dass Sie hier einen Vergleich zwischen der Situation von Gastronomien und der Verhütung von Folter herstellen. Natürlich ist es äußerst wichtig, in Deutschland eine qualitativ hochwertige Gastrowirtschaft zu haben. Aber bei der Folter geht es um beabsichtigte Gewaltstraftatbestände auf Kosten von Leib und Leben der Betroffenen. Es mag sein, dass eine schlechte Gastronomie den Gesundheitszustand ihrer Gäste gefährdet, aber dass sie es auf die gezielte Schmerzzufügung oder gar den Tod ihrer Gäste abgesehen hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Ganz abgesehen von der desaströsen Außenwirkung, die eine fehlende Ausstattung unserer Stelle zur Verhütung von Folter weltweit haben kann - auch das ist in der Gastronomiewirtschaft wahrscheinlich eher weniger der Fall. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union, diesen Vergleich hätten Sie sich wirklich sparen können. All das muss bei den Verantwortlichen einen verheerenden Eindruck hinterlassen haben. Nicht ohne Grund hat Professor Hansjörg Geiger im August 2012 seinen ehrenamtlichen Vorsitz in der Länderkommission niedergelegt. Nämlich aus Protest gegen die chronische Unterfinanzierung der Nationalen Stelle. Zum Vergleich: Den 300 000 Euro für die deutsche Stelle zur Verhütung von Folter stehen mehr als 3 Millionen Euro für den nationalen Präventionsmechanismus Frankreichs gegenüber. Innerhalb von drei Jahren konnte in Frankreich fast ein Drittel aller Gewahrsamseinrichtungen besucht werden. Daran sollten wir uns orientieren! Bereits in ihrem Jahresbericht 2009/2010 beschreibt die Bundesstelle, dass sie ihre Aufgaben "nur ansatzweise" erfüllen konnte, da die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen unzureichend seien. Trotz dieser Kritik wurde die personelle und finanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle nicht verbessert. Die Nationale Stelle bemängelt dies daher in ihrem Jahresbericht 2010/2011 weiterhin. Die Präventionsmechanismen Deutschlands zur Verhütung von Folter dürfen kein Feigenblatt sein. Deshalb haben wir uns auf Bundesebene mehrfach für eine Erhöhung des Bundesanteils eingesetzt, beim Haushaltsentwurf 2013 auf 180 000 Euro. Unsere Änderungsanträge wurden stets von Schwarz-Gelb abgelehnt, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den korrespondierenden Anteil der Länder. Deshalb muss das Problem von Bund und Ländern gemeinsam gelöst werden. Anfang April wird der UN-Unterausschuss für Folterprävention nach Deutschland kommen und sich mit dem nationalen Präventionsmechanismus befassen. Die Peinlichkeit der Fragen und noch mehr der Antworten wird hoffentlich zu einer Verbesserung der Ausstattung durch Bund und Länder führen. Deutschland setzt sich weltweit dafür ein, dass möglichst viele Staaten das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention ratifizieren und einen nationalen Präventionsmechanismus schaffen. Bei dessen Ausgestaltung sollte Deutschland beispielhaft vorangehen; denn wir befürchten, dass sich menschenrechtlich problematische Vertragsstaaten an der knappen hiesigen Ausstattung orientieren könnten. 63 Staaten haben das Zusatzprotokoll bislang ratifiziert, unter anderem Aserbaidschan, Mali und Mexiko. Ein schwacher nationaler Präventionsmechanismus geht zulasten jener Menschen, für die das Zusatzprotokoll geschaffen wurde. Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesem Zusammenhang kein gutes Bild ab; denn - ich komme auf mein Ausgangszitat zurück -: "Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige." Marina Schuster (FDP): Ende des 19. Jahrhunderts war Folter als Praxis des europäischen Strafrechts so unüblich geworden, dass Victor Hugo gar zu dem Schluss kam, Folter habe "aufgehört zu existieren". Hugos Feststellung beschreibt jedoch leider eher einen Trend als eine abgeschlossene Entwicklung. Zwar hatte die Zahl der Vorfälle von Folter in Europa im 19. Jahrhundert im Vergleich zum Mittelalter tatsächlich stark abgenommen, gleichzeitig wurden jedoch in europäischen Kolonien weiterhin Foltermethoden angewandt. Und auch heute ist Folter in vielen Staaten immer noch Praxis. Laut Amnesty International werden in mehr als 150 Ländern weltweit Gefangene gefoltert oder misshandelt. Das Verbot der Folter ist ein absolutes Menschenrecht. Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte legt fest: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden." Dieses Verbot gilt ausnahmslos und unmissverständlich, es ist sogenanntes zwingendes Völkerrecht. Folter ist mit unserem Verständnis von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten unvereinbar. Die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen legt eine Reihe von Maßnahmen fest, die den Schutz vor Folter gewährleisten und durchsetzen sollen. Sehr genau müssen zum Beispiel die Menschenrechte von Personen, die in Gewahrsam genommen sind, in den Blick genommen werden. Das asymmetrische Machtverhältnis macht sie besonders schutzbedürftig. Im Rahmen des Europarates gibt es mit dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe bereits seit über 20 Jahren eine unabhängige Kontrollinstanz, die unangekündigte Inspektionen jeglicher Gewahrsamseinrichtungen in allen Mitgliedstaaten vornehmen kann. Das Zusatzprotokoll der VN-Anti-Folter-Konvention greift diesen Mechanismus auf internationaler Ebene auf und führt ein System unabhängiger Kontrollen durch internationale und nationale Institutionen ein. Gerade in einem Rechtsstaat wie Deutschland müssen wir immer wieder sicherstellen, dass die Menschenrechte besonders Schutzbedürftiger ausreichend Aufmerksamkeit erfahren. Mit der Einrichtung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter 2008 hat Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Zusatzprotokoll der VN-Anti-Folter-Konvention erfüllt und eine unabhängige Kontrollinstitution auf den Weg gebracht. An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern der Bundesstelle und der Länderkommission für ihren herausragenden Einsatz danken. In den vergangenen vier Jahren haben sie zahlreiche Gewahrsamseinrichtungen in ganz Deutschland überprüft. 2010 und 2011 führte die Nationale Stelle insgesamt 42 Inspektionsbesuche von Justizvollzugsanstalten, psychiatrischen Kliniken, Abschiebehafteinrichtungen sowie Gewahrsamseinrichtungen der Polizei, der Bundeswehr und des Zolls durch. Zwar vermerkten die Kontrolleure keine Vorfälle von Folter; sie stellten jedoch in mehreren Fällen inakzeptable Missstände fest. Es ist dringend notwendig, dass wir die Beanstandungen der Nationalen Stelle sehr ernst nehmen. Ich begrüße es sehr, dass die Empfehlungen, die im Anschluss an die jeweiligen Inspektionen an die zuständigen Aufsichtsbehörden weitergeleitet wurden, bereits zu einer ganzen Reihe von Verbesserungen geführt haben. Ich weiß, dass die finanzielle und personelle Ausstattung der Nationalen Stelle immer wieder in der Kritik steht. Nicht zuletzt die Nationale Stelle selbst hat vermehrt auf ihre schwierigen Arbeitsbedingungen hingewiesen. Auch die Bundesregierung ist sich der Thematik der Ausstattung durchaus bewusst. Der 10. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik vom Oktober letzten Jahres schlägt eine Überprüfung der Ausstattung nach dem Vorliegen erster Praxisberichte vor. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Bundesregierung hier nicht allein in der Verantwortung steht. Die Ausstattung der Nationalen Stelle wird durch eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern geregelt. Diese legt nicht nur ein Finanzierungsverhältnis von eins zu zwei, sondern auch die genauen Summen fest. Zur Finanzierung werden durch den Bund 100 000 Euro und durch die Länder 200 000 Euro zur Verfügung gestellt. Um eine bessere Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter zu gewährleisten, muss zunächst diese Verwaltungsvereinbarung geändert werden. Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, Sie stellen diesen Umstand in Ihrem Antrag richtig fest, denken ihn aber nicht bis zur letzten Konsequenz zu Ende. Eine einseitige Anhebung der Haushalts-mittel durch die Bundesregierung ist nicht möglich. Bisher gab es zu einer Änderung der bestehenden Verwaltungsvereinbarung unter den Ländern keine einheitliche Position. Diese kann die Bundesregierung auch nicht erzwingen. Der Vorstoß durch Hessen, das 2012 den Vorsitz der Justizministerkonferenz innehatte, ist jedoch ein positives Signal. Auf der Justizministerkonferenz im letzten November wurde eine Überprüfung der Ausstattung der Nationalen Stelle beschlossen. Hessen prüft nun unter Beteiligung des Bundes, ob eine Verbesserung der Ausstattung notwendig ist, und erarbeitet einen Vorschlag, wie diese umgesetzt werden kann. Die Empfehlung soll auf der Konferenz der Amtschefinnen und Amtschefs im April diskutiert werden. Wir sollten dieser Prüfung nicht vorgreifen. Bevor wir Forderungen stellen, sollten wir die Bestandsaufnahme abwarten und uns dann am Vorschlag der Justizministerkonferenz orientieren. Der vorliegende Antrag ist daher abzulehnen, auch wenn ich klar sage: Wir unterstützen die Arbeit der Stelle ausdrücklich! Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt aufmerksam machen. Obwohl die finanziellen und personellen Kapazitäten der Nationalen Stelle immer wieder bemängelt werden, gibt es gleichzeitig Bestrebungen, ihren Aufgabenbereich auszuweiten. Erst im Januar wurde bekannt gegeben, dass die Nationale Stelle in Zukunft auch Kontrollen in deutschen Pflegeheimen durchführen soll. Ich halte dieses Vorhaben für nicht unproblematisch. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte keinesfalls abstreiten, dass es Missstände in Pflegeheimen gibt, dass Pflegebedürftige einen besonderen Schutz genießen müssen und dass eine Überwachung inhaltlich dem Mandat der Nationalen Stelle zugeordnet werden kann. Allerdings werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung sowie den Prüfdienst der privaten Krankenversicherungen bereits regelmäßige Kontrollen durchgeführt. Bevor wir der Nationalen Stelle neue Aufgaben zuweisen, sollte der Fokus darauf liegen, sie für ihr jetziges Mandat bestmöglich auszustatten. Katrin Werner (DIE LINKE): Das Folterverbot ist in allen zentralen Menschenrechtsverträgen verankert: in Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie in Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. -Darüber hinaus haben gegenwärtig 146 Staaten auch die UN-Anti-Folter-Konvention ratifiziert. Damit sind ausreichende vertragsvölkerrechtliche Grundlagen vorhanden, um die Geißel der Folter endgültig aus der Welt zu schaffen. Durch die langjährige Anwendungspraxis ist das Folterverbot zudem inzwischen als Völkergewohnheitsrecht zu interpretieren. Es ist einerseits ein beachtlicher Erfolg, wenn mittlerweile offenbar selbst zahlreiche autoritäre Regime meinen, das Folterverbot als Verhaltenskodex akzeptieren zu müssen. Gleichwohl gilt auch hier: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Es ist unbestreitbar, dass in zahlreichen Unterzeichnerstaaten zum Teil massiv bzw. systematisch gegen das Folterverbot verstoßen wird: Kasachstan, Belarus, Sri Lanka und Saudi-Arabien sind einige solcher Fälle. Jedoch müssen eben auch die USA mit zu diesem Kreis gezählt werden wegen ihrer bekannt gewordenen "Verhörmethode" des "Waterboarding" und den anderen schrecklichen Folterpraktiken, die vor allem gegenüber Terrorverdächtigen in Guantanamo systematisch praktiziert wurden. Das Beispiel Guantanamo lehrt zudem, dass auch Demokratien nicht per se vor Rückfällen in antihumanistische Zustände gefeit sind, auch wenn dies bei -Diktaturen systembedingt häufiger der Fall ist. Wenn die Demokratie die Auseinandersetzung mit der Diktatur aber für sich entscheiden will, muss sie sich als das humanere, politisch freiere und sozial gerechtere Gesellschaftssystem behaupten. Dies verlangt von allen Demokratien eine Vorbildrolle bei der Einhaltung der Menschenrechte und hohe Standards zu deren Umsetzung und Anwendung in der gesellschaftlichen Alltagsrealität. Leider muss bei dem wichtigen Thema Folterprävention festgestellt werden, dass Deutschland seine Vorbildfunktion als Demokratie geradezu sträflich vernachlässigt. Es gibt zwar formal seit Ende 2008 eine Bundesstelle zur Verhütung von Folter mit Sitz in -Wiesbaden, die den gesetzlichen Auftrag hat, Orte der Freiheitsentziehung aufzusuchen und auf mögliche Missstände zu untersuchen. Bereits in ihrem ersten Jahresbericht 2009/2010 hat die Bundesstelle jedoch darauf hingewiesen, dass sie wegen unzureichender personeller und finanzieller Ressourcen ihren gesetz-lichen Auftrag bestenfalls "nur ansatzweise" erfüllen könne. Der Jahresbericht 2010/2011 knüpft hieran nahtlos an. Die Bundesstelle ist allein für 360 Gewahrsamseinrichtungen zuständig. Ihr bisheriges Budget in Höhe von 100 000 Euro ermöglicht lediglich die Anstellung von maximal drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Vollzeit sowie einer Fachangestellten für Bürokommunikation. Zusammen mit den jeweiligen Länderkommissionen müssten sogar mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen in Deutschland überwacht werden, was mit dem gegenwärtigen Personaltableau faktisch unmöglich ist. Unser Nachbar Frankreich gibt übrigens bei einer deutlich geringeren Gesamtbevölkerungszahl in diesem Bereich jährlich rund 3,3 Millionen Euro aus! Das ist nicht nur Ausdruck der typischen Placebopolitik von Schwarz-Gelb, die wir beim Thema Menschenrechte schon zur Genüge kennen. Die Vernachlässigung der Folterprävention in Deutschland ist vielmehr ein handfester politischer Skandal, weil die Bundesregierung damit bewusst riskiert, dass schlimmstenfalls schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in bundesdeutschen Gewahrsamseinrichtungen unentdeckt bleiben und die Betroffenen unter menschenrechtslosen Umständen leben müssen. Hierbei hilft letztlich nur die regelmäßige Kontrolle von außen und durch unabhängige Dritte, um zu verhindern, dass sich menschenrechtswidrige Praktiken dauerhaft etablieren können. Genau darum geht es bei der Folterprävention. Es entspricht einer schallenden Ohrfeige für die Bundesregierung, dass der UN-Ausschuss gegen Folter in seinen abschließenden Bemerkungen vom 12. Dezember 2011 zum Fünften Staatenbericht Deutschlands eben diese Defizite gerügt hat. Wer die UN-Anti-Folter-Konvention ernst nimmt, kann diese Kritik nur begrüßen. Solange die Bundesregierung nämlich immer nur bestimmte Länder wie vor allem Russland, China, Vietnam, Kuba, Venezuela, Aserbai-dschan, Serbien, Belarus oder die Ukraine wegen ihrer Menschenrechtsdefizite durch den Kakao zieht, aber zu Menschenrechtsverletzungen in befreundeten, westlichen bzw. prowestlich orientierten Ländern vornehm schweigt und ihre eigenen Hausaufgaben unerledigt lässt, ist sie vollkommen unglaubwürdig. Dies gilt ebenfalls für die anderen Oppositionsfraktionen. Wie dem aktuellen "Spiegel" zu entnehmen ist, betätigen sich schon seit geraumer Zeit prominente Sozialdemokraten als eifrige Lobbyisten für das Nasarbajew-Regime in Kasachstan, in dessen Gefängnissen Folter auf der Tagesordnung steht und das friedliche Gewerkschaftsproteste zusammenschießen lässt. Wie will die SPD eigentlich die Defizite bei der Folterprävention in Deutschland kritisieren, wenn sie gleichzeitig einem ausländischen autoritären Folterregime dabei hilft, sein Prestige im Westen aufzupolieren? Der "Spiegel" bezeichnet Kasachstan sogar als die "Lieblingsautokratie" der Sozialdemokratie. So sieht also die Doppelmoral der SPD aus: Menschenrechtsverstöße in Ländern mit unabhängigen politischen Führungen werden skandalisiert und diejenigen in prowestlichen kooperationswilligen Diktaturen dürfen sogar noch schlimmer sein, ohne dass aus der SPD auch nur ein Laut ertönt! Für die Linke ist klar: Menschenrechtsverstöße müssen überall und gegenüber jeder Regierung thematisiert werden, die hierfür die politische Verantwortung trägt - allerdings ohne dabei in der Pose des Oberlehrers und Moralapostels aufzutreten, die uns ohnehin niemand abnimmt. Die praktische In-strumentalisierung der Menschenrechte und die Verwendung von doppelten Standards beruhen immer auf politischem Kalkül. Dafür gibt es von uns keine Unterstützung! Der aktuelle Antrag der Grünen weist dagegen zu Recht auf die Missstände bei der Folterprävention in Deutschland hin. Er ist im Analyse- wie im Forderungsteil richtig. Ich will an dieser Stelle auch erwähnen, dass sich die Grünen und die Linke in den -zurückliegenden Haushaltsberatungen im Menschenrechtsausschuss wechselseitig bei ihren Änderungsanträgen zu Mittelerhöhungen für die nationale Anti-folterstelle unterstützt haben. Dies zeigt, dass trotz fortbestehender politischer Unterschiede zwischen den beiden genannten Oppositionsfraktionen dennoch Sachentscheidungen zugunsten der Betroffenen möglich sind. Parteitaktische Abgrenzungsrituale sind beim Thema Menschenrechte völlig fehl am Platz. Und selbstverständlich stimmt vor diesem Hintergrund die Linke auch dem vorliegenden Antrag der Grünen zu. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung ist eine der wichtigsten Menschenrechtsgarantien und ein Teil von verschiedenen Menschenrechtsverträgen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat. Um unserer menschenrechtlichen Verantwortung gerecht zu werden und um glaubwürdig für Menschenrechte eintreten zu können, müssen auch wir in Deutschland immer weiter an der Umsetzung und Verwirklichung des Folterverbots arbeiten. Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und das Zusatzprotokoll zu dem Übereinkommen ratifiziert. Dieses Zusatzprotokoll fordert, den Schutz vor Folter und Misshandlung zu verstärken. Dazu müssen alle Staaten nationale Präventionsmechanismen errichten. In Deutschland haben wir diese Verpflichtung durch die Errichtung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter allerdings nur der Form nach erfüllt. Sie hat die Aufgabe, Orte der Freiheitsentziehung aufzusuchen, auf Missstände aufmerksam zu machen und den Behörden Empfehlungen zu unterbreiten. Mit den von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Mitteln kann die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter aber ihre Kontrollpflichten nicht erfüllen und damit auch ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommen. Mit insgesamt weniger als zehn Mitarbeitern für Bund und Länder, darunter fünf ehrenamtliche Mitglieder, können nicht mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen in Deutschland regelmäßig besucht und Missstände aufgedeckt werden. Das ist einfach nicht möglich, auch wenn die wenigen Mitarbeiter mit den begrenzten Ressourcen eine hervorragende Arbeit leisten. Für die ehrenamtliche Leitung der Bundesstelle ist nur eine einzige Person und noch nicht einmal eine Stellvertretung vorgesehen. Bei der Abwesenheit des Bundesstellenleiters, zum Beispiel wenn er krank ist, können gar keine Inspektionsbesuche durchgeführt werden. Er allein ist für etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes zuständig. Auf Landesebene sieht es leider nicht besser aus: Nur vier ehrenamtliche Mitarbeiter können für die Länderkommission Kontrollen der Gewahrsamseinrichtungen der Länder durchführen. Das sind fast 2 000 Gewahrsamseinrichtungen, von denen wir hier reden - die geschlossenen Abteilungen in Altersheimen noch nicht einmal mitgezählt. International ist Deutschland damit ein Negativbeispiel. Frankreich gibt beispielsweise das Zehnfache aus und stellt über 3 Millionen Euro für seinen nationalen Präventionsmechanismus zur Verfügung. Im Gegensatz zu Deutschland sind nicht fünf ehrenamtliche Mitglieder angestellt, sondern 16 hauptamtliche Kon-trolleure in Vollzeit und zusätzliche 16 Kontrolleure in Teilzeit. Das Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter fordert regelmäßige Besuche. In der Praxis jedoch können Gewahrsamseinrichtungen im Schnitt nur alle 15 Jahre aufgesucht werden. Von regelmäßigen Kontrollen kann also hier keine Rede sein. Oft denken wir, das Thema Folter sei in Europa nicht mehr aktuell. Aber gerade im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung und den außergerichtlichen CIA-Flügen wurde deutlich, dass auch hier, mitten in Europa, die Verhinderung von Folter eine Aufgabe bleibt, die wir weiter ernst nehmen müssen. Und darum brauchen wir die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter. Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt werden. Sie leistet wertvolle Arbeit. Dennoch wird die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von der Bundesregierung nicht ausreichend gewürdigt, ja gar stiefmütterlich behandelt. Auch der VN-Ausschuss gegen Folter kritisiert in seinen "Abschließenden Bemerkungen" vom 12. Dezember 2011 die mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle und empfiehlt der Bundesregierung diese "mit angemessenen personellen, finanziellen, technischen und logistischen Mitteln auszustatten". Der VN-Ausschuss gegen Folter macht deutlich, dass die Nationale Stelle durch die fehlenden Ressourcen "an einer angemessenen Erfüllung ihres Überwachungsauftrags gehindert wird". Aus Protest gegen die defizitäre Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist im September 2012 Hansjörg Geiger als Mitglied der Länderkommission zurückgetreten. Sein Rücktritt war und ist blamabel für die Bundesregierung. Seine Entscheidung überrascht jedoch nicht. Obwohl die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter schon in ihrem ersten Jahresbericht von 2009/2010 die mangelnde Ausstattung kritisiert hat, wurden die Mittel nicht erhöht. Sie musste daher ihre Kritik in ihrem Jahresbericht 2010/2011 wiederholen: "Mit nur fünf ehrenamtlichen Mitgliedern und Mitteln für nur drei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie einer Fachangestellten für Bürokommunikation sind die Kapazitäten für die regelmäßige Prüfung mehrerer tausend Gewahrsamseinrichtungen absolut unzureichend." Auch an der multidisziplinären Aufstellung des Personals, die das Zusatzprotokoll fordert, fehlt es bisher noch. Insbesondere für Inspektionsbesuche ist es wichtig, dass der Nationalen Stelle Mitglieder mit medizinischem und psychiatrischem Sachverstand angehören. Dies ist bisher nicht der Fall, sodass auf externe Sachverständige zurückgegriffen werden muss. Bis heute ist die Bundesregierung diesen Forderungen der Nationalen Stelle und des VN-Ausschusses gegen Folter nicht nachgekommen. Wir Grüne haben bereits am 26. September 2012 einen Haushaltsantrag eingereicht, der die finanzielle und personelle Ausstattung verbessert hätte. Die Bundesregierung hat unseren Haushaltsantrag abgelehnt, selbst aber keine konstruktiven Schritte vorgenommen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb dazu auf, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Fakultativprotokoll zum VN-Übereinkommen gegen Folter nachzukommen. Der Anteil des Bundes muss auf mindestens 300 000 Euro erhöht werden, um die Bundesstelle in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in angemessener Weise zu erfüllen. Menschenrechtsinstrumente dürfen kein Feigenblatt sein. Im Mai 2013 findet zum zweiten Mal im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Überprüfung Deutschlands in der Universal Periodic Review statt. Die Bundesregierung sollte diese Chance ergreifen und zeigen, dass sie zu der menschenrechtlichen Verantwortung Deutschlands steht. Das UPR-Verfahren bietet der Bundesregierung eine Plattform, deutlich zu machen, dass sie glaubwürdig für Menschenrechte eintritt - im eigenen Land und in der Welt. Der Preis für eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist sehr gering im Vergleich zu dem hohen Wert an Integrität und Glaubwürdigkeit, den Deutschland dadurch gewinnt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "Nationale Stelle zur Verhütung von Folter stärken". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12730, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11207 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/10085 zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung mit den Titeln "Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhütung von Folter" und "Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter". Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtungen auf den Drucksachen 17/3134 und 17/9377 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Professorenbesoldungsneuregelungsgesetz) - Drucksachen 17/12455, 17/12662 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Am 14. Februar 2012 hat das Bundesverfassungsgericht der Klage eines hessischen W-2-Professors stattgegeben und entschieden, dass dessen Besoldung nicht den Anforderungen an eine amtsangemessene Alimentation im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG entspricht. Aufgrund unserer föderalen Ordnung sind die Länder für die Besoldung der großen Mehrheit der Professorinnen und Professoren in Deutschland verantwortlich. Auch gilt das Urteil unmittelbar nur für das Land Hessen. Jedoch besteht aufgrund ähnlicher Rechtsgrundlagen auch Änderungsbedarf auf Bundesebene. Hier werden in erster Linie Professoren der Bundeswehrhochschulen sowie das Spitzenpersonal außeruniversitärer Forschungseinrichtungen von der Neufassung des Gesetzes profitieren. Mit der Verabschiedung des Professorenbesoldungsgesetzes im Jahr 2002 wurde ein zweigliedriges Vergütungssystem eingeführt, bestehend aus einem festen Grundgehalt und variablen Leistungsbezügen. Ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass das BVerfG am zweigliedrigen Vergütungssystem keinen Anstoß genommen hat. Deshalb soll es auch beibehalten werden. Zum 1. Januar 2005 löste schließlich die W-Besoldung die alte C-Besoldung ab. Um bei gleichbleibenden Ausgaben finanzielle Spielräume für die Vergabe von Leistungsbezügen zu erhalten, wurden die W-Grundgehälter gegenüber der C-Besoldung abgesenkt. Das BVerfG hat in seinem Urteil festgestellt, dass diese Leistungsbezüge keinen alimentativen Charakter im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG haben und folglich bei der Klärung der Frage, ob die Besoldung eines Professors den Anforderungen an eine amtsangemessene Alimentation genügt, nicht einbezogen werden dürfen. Bei der Urteilsfindung zog das BVerfG Vergleiche mit den Bezügen in der Besoldungsgruppe A. Das Gericht kritisierte insbesondere, dass das Grundgehalt eines W-2-Professors lediglich der Besoldung eines 40-jährigen Oberregierungsrats entspreche und somit unterhalb der Eingangsstufe A 15 bzw. der Endstufe A 13 läge. Beim Vergleich zwischen den Besoldungsgruppen A und W stünden Qualifikation und Besoldung in einem Missverhältnis. Mithilfe von drei Veränderungen wollen wir dieses Missverhältnis nun beseitigen und dem Urteil Rechnung tragen: Erstens sollen die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2 und W 3 angehoben werden. Wie stark werden die Grundgehälter erhöht? In der Urteils-begründung wurde deutlich, dass das BVerfG die maßgebliche Vergleichsgruppe für W-2-Professoren in Beamten der Besoldungsgruppe A 15 sieht; für W-3-Professoren sind es Beamte der Besoldungsgruppe A 16. Auf dieses Niveau werden die Grundgehälter für W-2- und W-3-Professoren künftig angehoben. Mit diesem ersten Schritt stellen wir die vom BVerfG angemahnte amtsangemessene Alimentation sicher. Zweitens werden diese Grundgehälter in Erfahrungsstufen gestaffelt. Vorgesehen sind drei Stufen mit einer Laufzeit von jeweils sieben Jahren; die Endstufe wird folglich nach 14 Jahren erreicht. Künftig erhält ein W-2-Professor in Stufe 1 ein Grundgehalt in Höhe von 5 100 Euro, in Stufe 2 sind es 5 400 Euro und in Stufe 3 schließlich 5 700 Euro. Aufgrund des aus Art. 33 Abs. 5 GG hergeleiteten Abstandsgebotes - ein W-3-Professor muss auch in Zukunft mehr verdienen als ein W-2-Professor - werden zudem die Grundgehälter von W-3-Professoren erhöht. Sie erhalten künftig ein Grundgehalt in Höhe von 5 700 Euro, Stufe 1, bzw. 6 100 Euro, Stufe 2, und 6 500 Euro, Stufe 3. Die beiden vorgeschalteten Erfahrungsstufen dienen in erster Linie dem Zweck, bei in etwa gleichbleibenden Gesamtausgaben auch in Zukunft in möglichst großem Umfang Mittel für Leistungsbezüge zur Verfügung zu haben. Drittens werden bislang gewährte Leistungsbezüge zum Teil auf die neuen Grundgehälter angerechnet. Hierbei wird jedoch - aus gutem Grund - zwischen verschiedenen Leistungsbezügen unterschieden. Besondere Leistungsbezüge, die Professorinnen und Professoren für hervorragende Leistungen in Forschung und Lehre gewährt werden, bleiben von der Anrechnung ebenso ausgenommen wie Funktionsleistungsbezüge, die für die Übernahme von Aufgaben im Rahmen der Hochschulleitung und der Hochschulselbstverwaltung - zum Beispiel Rektor, Prorektor, Dekan, Prodekan etc. - erfolgen. Angerechnet werden hingegen Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge. Aus Sicht der Wissenschaft halte ich dies für eine gute Regelung, da auch in Zukunft finanzielle Anreize gesetzt werden, um hervorragende Leistung und die Übernahme verantwortungsvoller Ämter zu belohnen. Insgesamt entstehen dem Bund durch das neue Gesetz Mehrkosten in Höhe von voraussichtlich 0,6 Millionen Euro pro Jahr. Diese Summe ist überschaubar und muss in die Hand genommen werden, um das Verfassungsgerichtsurteil vonseiten des Bundes umzusetzen. Zudem stehen diesen Ausgaben einmalige Entlastungen in Höhe von 0,2 Millionen Euro gegenüber. Als Vertreter der Bildungs- und Forschungspolitiker ist es mir wichtig, hervorzuheben, dass gegenüber dem ersten Referentenentwurf vom 19. November 2012 bereits zwei Verbesserungen im Sinne der Wissenschaft Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Zunächst ist es gelungen, zu erreichen, dass bei der Anrechnung von Erfahrungszeiten, die zur Eingruppierung in eine Erfahrungsstufe maßgeblich sind, auch hauptberufliche wissenschaftliche Tätigkeiten an einer öffentlich geförderten in- oder ausländischen Forschungseinrichtung berücksichtigt werden. Durch diese Regelung tragen wir sowohl den politischen Zielen der Internationalisierung als auch dem Austausch zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung Rechnung. Zweitens werden, wie bereits dargelegt, besondere Leistungsbezüge - die für sehr gute Leistungen in Forschung und Lehre gewährt werden - nicht auf das neue Grundgehalt angerechnet. Demgegenüber sah der Referentenentwurf noch vor, besondere Leistungsbezüge maximal bis zur Hälfte auf das neue Grundgehalt anzurechnen. Eine solche Verrechnung wäre mit dem Leistungsprinzip in der W-Besoldung jedoch nicht zu vereinbaren. Durch die neue Regelung werden auch weiterhin Spitzenleistungen von Professorinnen und Professoren in Forschung und Lehre belohnt und die richtigen Anreize gesetzt. Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten: Für uns Bildungs- und Forschungspolitiker ist dieser Gesetzentwurf eine gute Verhandlungsgrundlage für das bevorstehende parlamentarische Gesetzgebungsverfahren. Wolfgang Gunkel (SPD): Heute beraten wir ein ganzes Bündel dienstrechtlicher Vorschriften, die geändert werden sollen. Der Änderung der Professorenbesoldung liegt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2012 zur Professorenbesoldung im Land Hessen zugrunde. Die strukturell ähnlichen Regelungen des Bundes müssen entsprechend ebenso geändert werden. Die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2 und W 3 werden erhöht, um den amtsangemessenen Unterhalt sicherzustellen. Es werden drei Erfahrungsstufen eingeführt. Auf die zusätzlichen leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile soll auch künftig kein Rechtsanspruch bestehen. Ein zweiter und ausdrücklich begrüßenswerter -Bestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfs ist die rückwährende Gewährung des Familienzuschlags bei eingetragenen Lebenspartnerschaften. Auch dieser Gesetzesänderung liegt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. In diesem Fall hatte das Gericht am 19. Juni 2012 entschieden, dass die Ungleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ist. Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des -Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestellten Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001 zu beseitigen. Allerdings wird hier der Anspruch nur gewährt, wenn er bereits in der Vergangenheit geltend gemacht wurde und noch nicht bestandskräftig abgelehnt wurde. Deshalb ist die Zahl der Empfänger auch sehr überschaubar. Nichtsdestotrotz ist dies ein wichtiges politisches Signal. Weiterhin enthält der vorgelegte Gesetzentwurf -Änderungen zur Praxis der Dienstpostenbündelung. Diese soll nun nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 geändert werden. Dass eine rechtssichere Regelung nun gefunden werden soll, ist durchaus zu begrüßen. Ob der vorliegende Gesetzentwurf diesen Anforderungen gerecht wird, ist zu prüfen. Insofern verweise ich auf die Anhörung des Innenausschusses zu diesem Gesetzentwurf und weiteren Änderungen im Dienstrecht am 18. März 2013. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Professorenbesoldung setzt die christlich-liberale Koalition einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um. Im Februar 2012 hatte das Gericht die Vergütung von Professoren im Bundesland Hessen wegen eines zu niedrig angesetzten Grundgehalts in der Besoldungsgruppe W 2 für verfassungswidrig befunden und die zweite Komponente der Professorenvergütung in Form flexibler Leistungsbezüge nicht für ausreichend anerkannt, um die Defizite bei den Grundgehältern zu kompensieren. Insbesondere kritisierte das Gericht, dass mit dem Grundgehalt der Besoldungsgruppe W 2 weder der Ausbildung oder dem Dienstrang eines Professors noch der Verantwortung, die mit seinem Amt verbunden ist, angemessen Rechnung getragen wird. Dies lässt sich insofern nachvollziehen, als im Vergleich die Vergütung eines W-2-Professors niedriger war als die eines jungen Gymnasialdirektors oder eines dienstälteren Grundschullehrers. Aus dem Urteil ergab sich gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht nur für Hessen, sondern auch für die übrigen Bundesländer und den Bund. Betroffen von der Bundesreform sind die rund 850 Professoren in den Hochschulen des Bundes, zum Beispiel an den Bundeswehruniversitäten oder der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, und in Forschungseinrichtungen, die vom Bund mitfinanziert werden, wie -beispielsweise die Institute der Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft oder der Helmholtz-Gemeinschaft. Mit der Reform führt die Koalition in der Bundesbesoldungsordnung W für die Besoldungsgruppen W 2 und W 3 drei Erfahrungsstufen mit einer Dauer von je sieben Jahren ein. Professoren können also die höchste Erfahrungsstufe bereits nach 14 Jahren erreichen. Das Grundgehalt wird für die erste Erfahrungsstufe um gut 400 Euro angehoben; für W-2-Professoren, die bereits 14 Jahre im Amt sind, beläuft sich die Erhöhung auf rund 1 000 Euro, für W-3-Professoren auf der höchsten Erfahrungsstufe um rund 830 Euro. Durch die Stufenregelung wird die zunehmende Berufspraxis honoriert; besonders leistungsstarke Professoren können jedoch auch vor Ablauf der sieben Jahre in die nächsthöhere Stufe aufsteigen. Gleichzeitig besteht weiterhin die bewährte Möglichkeit, flexible Leistungsbezüge als Anreiz oder zur Motivation zu vergeben, erstens bei Berufungs- und Bleibeverhandlungen, zweitens wegen besonderer Leistungen in Forschung und Lehre und drittens bei Übernahme eines Hochschulamtes. Während die -besonderen und die Funktionsleistungsbezüge anrechnungsfrei bleiben, sollen Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge voll auf das erhöhte Grundgehalt angerechnet werden. Das heißt, bisher gewährte -Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge werden um den gleichen Betrag reduziert, wie sich das Grundgehalt erhöht. Übersteigt der Leistungsbezug diese Erhöhung, bleibt der restliche Betrag dem Professor erhalten. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen des Gesetzentwurfs muss aus Sicht der FDP-Fraktion und nach meiner persönlichen Meinung bei der Anrechnung der Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge nachgesteuert werden. Wir Liberale setzen uns dafür ein, das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst weiter zu stärken. Würden Bleibeleistungsbezüge, die zeigen, dass ein Professor überdurchschnittliche Arbeit leistet, nach der Reform komplett verrechnet, setzte das aus unserer Sicht ein falsches Zeichen. Benachteiligt würden diejenigen, die in der Vergangenheit diese besondere Anerkennung erhalten haben, gegenüber denjenigen ohne solche Leistungsbezüge, deren Grundgehalt erhöht wird. Wir schlagen deshalb eine bloß anteilige Anrechnung nach Vorbild der Gesetzesvorlage aus Sachsen vor, wo ein Sockelbetrag von mindestens 30 Prozent unangetastet bleibt. Damit erhalten wir den wesentlichen Anreiz des Leistungsbezugs; neue Professoren werden im Gegensatz zu bereits berufenen aber auch nicht dauerhaft benachteiligt. Denn wegen des erhöhten Grundgehalts werden - das haben Hochschulen bereits angekündigt - die Leistungsbezüge künftig niedriger ausfallen als in der Vergangenheit. Über diese und weitere Anpassungen im Dienstrecht wird im Zuge einer Expertenanhörung am 18. März 2013 weiter diskutiert werden, die sich neben der Professorenbesoldung mit den Gesetzesinitiativen der Koalition zur Familienpflegezeit und zum Altersgeld befassen wird. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt dafür eine gute Beratungsgrundlage dar und wird nach Abstimmung unserer Änderungsvorschläge von der Koalition sicher erfolgreich zum Abschluss -gebracht. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Derzeit wird viel über die Agenda 2010 und ihre Folgen geredet - die Folgen der Idee des "flexiblen Menschen", wie es der Soziologe Richard Sennett kritisch formulierte. Aber der Leitsatz "Fördern und Fordern" wurde nicht nur auf Erwerbslose gemünzt, die es auf die nicht vorhandenen Arbeitsplätze zu platzieren galt. Auch für Professorinnen und Professoren meinte die damalige rot-grüne Koalition diesen Leitspruch der neoliberalen Ära anwenden zu müssen. Pate stand offensichtlich das noch nie stimmige Klischee des faulen Professors, der sich im Beamtenverhältnis ausruht, mit Unlust lehrt und schon seit Jahren nichts veröffentlicht hat. Dem wollte man nun wohl auf die Sprünge helfen. Auf diese Weise entstand die W-Besoldung, die die Grundgehälter absenkte und sogenannte leistungsabhängige Entgeltbestandteile für Professorinnen und Professoren einführte. Als wäre die intrinsische Motivation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht ihr bestimmender Antrieb, musste nun der schnöde Mammon als Stimulanz herhalten. Man setzte die Hochschullehrerinnen und -lehrer in einen Wettbewerb zueinander, ohne jedoch dessen Kriterien und Rahmenbedingungen zu definieren. Ich erinnere mich gut an die damaligen Debatten. In den Hochschulen und Landesministerien zerbrach man sich den Kopf, wie ein entsprechendes Verfahren der "Leistungsbemessung" denn gestaltet und in konkrete Satzungen gegossen werden sollte. Sollte die Zahl der betreuten Promotionen ein Kriterium sein? Die der eingeworbenen Drittmittel für die Forschung? Die der gehaltenen Lehrstunden? Schnell wurde klar, dass Leistung in der Wissenschaft eine kaum trennscharf und präzise zu bewertende Maßeinheit ist. Leistung kann die eine nobelpreistaugliche Entdeckung, eine gute Personalführung, aber auch eine hervorragende Lehre sein. Sie ist nicht in Gehaltsbestandteilen abbildbar. Trotzdem wurden die entsprechenden Satzungen geschaffen. Im Ergebnis bildete sich ein föderaler Flickenteppich an Besoldungsmodalitäten heraus, der kaum noch zu überschauen ist. Wir haben mittlerweile eine große Spreizung in den Professorengehältern, die wie üblich ein starkes Nord-Süd-Gefälle aufweist. Nach einer Erhebung des Deutschen Hochschulverbands variieren die durchschnittlichen Jahresgehälter für Hochschullehrer in der Besoldungsgruppe W 2 zwischen 48 968 Euro in Berlin und 56 932 Euro in Bayern. In der Besoldungsgruppe W 3 werden zwischen 59 324 Euro (Berlin) und 67 889 Euro (Bayern) bezahlt. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich ihrerseits große Spannen. Nicht nur die einzelnen Professorinnen und Professoren, sondern auch die Bundesländer wurden in einen problematischen Wettbewerb gesetzt, der Sieger und Verlierer kennt. Dem hat das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr erste Grenzen gesetzt. Ein Grundgehalt von 3 890 Euro und eine Leistungszulage von 23,72 Euro seien zu wenig und dem Amt nicht angemessen. Geklagt hatte ein frisch berufener Professor der Chemie aus Marburg. Die Uni Marburg begrüßte das Urteil, weil die mittlerweile entstandenen Unterschiede in den Gehältern nicht mehr zeitgemäß seien. Alle Professorinnen und Professoren hätten die gleichen Dienstaufgaben. Die grassierende Wettbewerbsunkultur bekam eine klare Grenze aufgezeigt - nicht weil die Gewinner zu viel, sondern weil die Verlierer zu wenig verdienen. Das Urteil hat den Ländern, aber auch dem Bund die Aufgabe gegeben, mehr Gleichheit und mehr -Gerechtigkeit in der Bezahlung von Hochschullehrerinnen und -lehrern umzusetzen. Diese wenigen Mindestanforderungen hat die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf erfüllt - vor allem höhere Grundgehälter sowie die Wiedereinführung von Erfahrungsstufen. Der Entwurf sieht vor, dass insbesondere die Spitzenverdiener ihre in Bleibe- oder Anwerbungsverhandlungen erlangten Bezüge weiter erhalten. Niedrigere Leistungsbezüge werden mit dem nun angehobenen Grundgehalt verrechnet. Die zusätzlichen Mehrkosten sollen von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst getragen werden und könnten sich negativ auf die Beschäftigungsbedingungen des übrigen Personals auswirken. Wir meinen: Der Bund sollte die anfallenden 600 000 Euro jährlich zuschießen. Das zahlt er aus der Portokasse. Der uns hier vorliegende Gesetzentwurf kann kaum noch eine leitende Funktion für die Bundesländer beanspruchen, betrifft er doch nur die etwa 850 Lehrstuhlinhabenden an Hochschulen und Instituten des Bundes. Die Länder können, Föderalismusreform sei Dank, eigenständig auf das Urteil reagieren. Wir werden daher auch zukünftig einen intransparenten und teilweise grotesken Abwerbungswettbewerb um die vermeintlich "Exzellenten" der restlichen etwa 40 000 Professorinnen und Professoren im Landesdienst erleben. Die strukturellen Schwächen der W-Besoldung bleiben uns ebenfalls erhalten: intransparente Zulagen, der unsinnige Unterschied zwischen W 2 und W 3 oder die schlechten Bedingungen der Juniorprofessorinnen und -professoren etwa, die bei einem geringen Gehalt gar keine Leistungszulagen erhalten können. Man hat widerwillig an den Symptomen einer verkorksten Besoldungsstruktur herumgedoktert. Wir sollten nach alldem schon fragen, ob das Beamtentum für die heutigen, kollektiven Methoden von Wissenschaft in autonom agierenden Institutionen überhaupt eine angemessene Beschäftigungsform ist. Der Ordinarius erscheint doch eher wie ein historisches Relikt, nicht wie ein Zukunftsmodell. 90 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten angestellt, wiederum 85 Prozent von ihnen befristet. Kaum ein Land leistet sich eine derartige Hierarchie in seinen Hochschulen. Wer eine wünschenswerte Personalstruktur für morgen entwickelt, sollte sich um bessere Arbeits- und Tarifbedingungen für alle wissenschaftlich Tätigen bemühen. Hier sollten wir ebenso fix zu Ergebnissen kommen, und zwar ohne dass ein Verfassungsgericht dies der Politik erst ins Stammbuch schreiben muss. Meine Fraktion hat wie die anderen auch dazu Vorschläge gemacht, die der Umsetzung harren. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der große Wurf zum Recht des öffentlichen Dienstes ist Bundesregierung und Koalition in dieser Wahlperiode wahrlich nicht gelungen - aber das war bei diesem Bündnis wohl auch nicht anders zu erwarten. Teilweise richtige, aber meist viel zu zaghafte Ansätze zur Modernisierung des Dienstrechts wechseln sich bis heute mit ausgemachten Zumutungen, ja Unverschämtheiten gegenüber den Beamtinnen und Beamten des Bundes ab. Das Beamtenrecht ist zugegebenermaßen eine komplexe Materie, bei der der Teufel häufig im Detail steckt. Oft geht es darum, an kleinen Stellschrauben zu drehen. Aber auch kleine Stellschrauben lassen sich, statt plump und halbherzig, mit dem richtigen Augenmaß und der nötigen Konsequenz bewegen. Mit dem Entwurf, der uns heute vorliegt, liefert uns die schwarz-gelbe Bundesregierung bloßes Stückwerk, das es allerdings in sich hat. Ich will mit dem Thema Gleichstellung von Lebenspartnerschaften beginnen. Hier liefert die Koalition - wenn auch in anderem rechtlichen Zusammenhang - erneut ein Paradebeispiel sowohl ihrer inneren Zerstrittenheit als auch ihrer politischen Unentschlossenheit und Handlungsunfähigkeit. Der kleine Koalitionspartner würde gerne in Richtung Gleichstellung gehen; der große kommt wieder einmal mit den Errungenschaften einer modernen Gesellschaft nicht klar. Vor diesem Hintergrund bekommt es die Bundesregierung nicht hin, eine europa- und verfassungsrechtskonforme Gleichbehandlung im Besoldungsrecht des Bundes vorzulegen. Denn zutreffenderweise müssen die Leistungen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Begründung der Lebenspartnerschaft erbracht werden. Und zwar nicht nur beim Familienzuschlag, sondern, wie das BVerfG festgestellt hat, auch bei der Hinterbliebenenversorgung, Beihilfe und sonstigen Leistungen. Auch die Einschränkung auf zeitnah geltend gemachte Leistungen und abschließend entschiedene Ansprüche ist unzulässig. Wir werden dazu einen Änderungsantrag in den Innenausschuss einbringen und der Koalition so hoffentlich weiterhelfen. Nächstes Thema: Dienstpostenbündelung. Das Bundesverwaltungsgericht hat Mitte 2011 klargestellt, dass Funktionen (Dienstposten), die eine Beamtin oder ein Beamter ausübt, "nicht ohne sachlichen Grund gebündelt, das heißt mehreren Statusämtern einer Laufbahngruppe zugeordnet werden" dürfen. Gleichwohl ist anerkannt, dass sich eine Bündelung von Dienstposten sachlich rechtfertigen lässt. Leistungsprinzip, Alimentationsprinzip und vor allem der Grundsatz der amtsangemessenen Beschäftigung setzen hier aber Grenzen. In bestimmten Konstellationen wird es zur Wahrung einer optimalen Aufgabenerledigung nützlich und sinnvoll sein, auf dieses Instrument zurückzugreifen, zum Beispiel wenn aufgrund mangelnden Nachwuchses ein Dienstposten kurzfristig nicht besetzt werden kann. In Anbetracht des nach wie vor ungebremsten Aufgabenaufwuchses in manchen Teilen der Verwaltung - man denke nur an die Bundespolizei - darf die Dienstpostenbündelung allerdings nicht überstrapaziert werden. Grundsätzlich muss gelten, was wir stets betonen: Eine funktionsfähige, Bürger- und Allgemeinwohlinteressen unterstützende Verwaltung braucht Personal. Öffentlicher Dienst zum Spartarif? Dazu von uns ein klares Nein! Dies nur ganz grundsätzlich. Im Detail müssen wir insbesondere auf einen im Gesetzentwurf eher unauffälligen Punkt kritisch hinweisen. Eine pauschale Bündelung von bis zu fünf Dienstposten im Bereich der Postnachfolgeunternehmen lehnen wir ab. Genau hier droht eine Überstrapazierung der Dienstpostenbündelung. Dabei geht es nicht allein um die Zahl der Posten, die gebündelt werden können, sondern vor allem auch darum, dass die Bündelung im Falle der rund 110 000 Beamtinnen und Beamten in den Postnachfolgeunternehmen laufbahnübergreifend stattfinden kann. Auch wenn der Einsatz dieser Bundesbediensteten nicht status-, sondern aufgabenbezogen erfolgt, so sprechen wir hier nach wie vor von Bundesbeamtinnen und -beamten, vor die sich der Bund als Dienstherr schützend stellen muss. Dies haben wir bereits im Rahmen des Gesetzentwurfs zur Postbeamtenversorgungskasse ausdrücklich betont und bleiben dabei. Die betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Nachfolgeunternehmens darf nicht dazu führen, dass eine Beamtin aus dem -gehobenen Dienst per Bündelung mit Aufgaben des einfachen Dienstes betraut wird. Die kommende Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf wird Gelegenheit bieten, auch dieses Thema näher zu beleuchten. Ein Gesetzentwurf dieser Bundesregierung aber wäre natürlich nicht komplett ohne eine versteckte Boshaftigkeit. Der Entwurf enthält bezüglich der Bundesbesoldungsordnungen A und B eine Neuregelung der Stellenzulage für Soldaten und Beamte in fliegerischer Verwendung. Nach dem Entwurf sind sogenannte sonstige ständige Luftfahrtbesatzungsangehörige der Bundespolizei von der Stellenzulage, anders als bisher, ausgeschlossen. Hier zeigt sich die Bundesregierung von ihrer hinterhältigen Seite, indem sie die höchstrichterliche Feststellung, dass sogenannte Wärmebildoperatoren der Bundespolizei unter den Begriff der sonstigen ständigen Luftfahrtbesatzungsangehörigen fallen und ihnen folgerichtig eine Stellenzulage zusteht, mit einem gesetzlichen Federstrich aushebelt. Nicht nur vonseiten der polizeilichen Interessenvertretung wundert man sich über dieses Vorgehen. Man mag über eine Differenzierung der Höhe der Zulage für die sogenannte WBO sprechen; pauschal wegkürzen sollte man sie nicht. Insbesondere dann nicht, wenn man daran interessiert ist, das Nachwuchsproblem bei der fliegenden Polizei in Angriff zu nehmen. Auch wenn wir das Thema "Attraktivität des öffent-lichen Dienstes" nicht auf monetäre Aspekte reduzieren: Derartige Signale sind in jedem Fall kontraproduktiv. Auch darüber wird in der Anhörung am Montag zu reden sein. Für die eigentliche Regelung zur Professorenbesoldung nehmen wir zur Kenntnis, dass die Gewerkschaften wohl keinerlei Einwände mehr vortragen wollen. Wir wollen dagegen von Sachverständigen hören, ob angesichts der vorgesehenen, von vielen dem Gesetzgeber nicht zugetrauten Anhebung der Grundgehälter tatsächlich die Kuh vom Eis ist oder angesichts der sehr ausführlichen weiteren Vorgaben aus Karlsruhe zur Amtsangemessenheit weitere Nachbesserungen zu besorgen sind. Rechtspolitisch bleiben Leistungselemente in der Besoldung ganz zentral, wenn es um eine motivierend wirkende individuelle Einkommensgerechtigkeit geht. Diese müssen aber mit den gerichtlichen Vorgaben zum Alimentationsprinzip vereinbar bleiben. Karlsruhe hat mit seiner Entscheidung gleichwohl verdienstvoll die Tür dafür geöffnet, überhaupt Zulagensysteme als alimentationskompensierend in Betracht zu ziehen. Das ist wichtig für ein reformorientiertes Dienstrecht. Denn die Zukunft auch des Beamtentums - ich zitiere diesen Satz von Gisela Färber gerne - liegt nicht in seiner Vergangenheit. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften greift die Bundesregierung Änderungsbedarf aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstrechts auf. Im Mittelpunkt des Vorhabens steht die Neuregelung der Professorenbesoldung. Diese Neuregelung berücksichtigt die Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts vom Februar des vergangenen Jahres zur Ausgestaltung der Besoldung verbeamteter Professoren. Das Bundesverfassungsgericht hat - vereinfacht gesprochen - einen höheren Anteil der den Professoren gesetzlich garantierten Bezüge verlangt. Dies setzt der Entwurf für die direkt und indirekt betroffenen rund 850 Professoren in den Hochschulen und in den vom Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungen des Bundes um. Die Grundgehälter in den Besoldungsgruppen W 2 und W 3 werden, gestaffelt in drei Erfahrungsstufen, rückwirkend zum 1. Januar 2013 deutlich erhöht. Die bewährten leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile - dies betrifft Bezüge, die Professoren anlässlich ihrer Berufung, wegen besonderer Leistungen in -Forschung und Lehre oder bei Übernahme eines Hochschulamtes erhalten können - bleiben bestehen. Zugleich wird die besoldungsrechtliche Begrenzung für diese Leistungsbezüge, der sogenannte Vergaberahmen, abgeschafft. Die neue Gehaltsstruktur gilt sowohl für neuberufene als auch für Bestandsprofessoren. Die bereits berufenen Professoren werden sachgerecht übergeleitet; die bisherigen Leistungsbezüge werden überwiegend nicht angerechnet. Insgesamt stellen die ausgewogenen Regelungen ein positives Signal für den Wissenschaftsstandort Deutschland dar. Der Gesetzentwurf greift daneben Regelungsbedarf in einem Bereich auf, der für die personalwirtschaftliche Praxis in der Bundesverwaltung von erheblicher Bedeutung ist. Unter Bezugnahme auf ein in einem Beförderungsstreitverfahren ergangenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 haben verschiedene Instanzgerichte die Dienstpostenbündelung, das heißt die Zuordnung einer Funktion zu mehreren Ämtern, infrage gestellt. Mit dem Gesetzentwurf wird die Zulässigkeit dieses Instruments klargestellt. Die Dienstpostenbündelung trägt dem Umstand Rechnung, dass die auf einem Dienstposten wahrzunehmenden Aufgaben nicht immer einheitlich sind und einem ständigen Wechsel unterliegen können. Dies gilt in besonderem Maße für oberste Bundesbehörden, ist aber nicht auf diese beschränkt. In personalwirtschaftlicher Hinsicht gewährleistet die Dienstpostenbündelung einen kurzfristigen Personaleinsatz, weil mit ihr sichergestellt werden kann, dass die Besetzung vakanter Dienstposten nicht in Fällen scheitert, in denen eine Neubewertung des Dienstpostens kurzfristig nicht möglich ist und die bisherige Wertigkeit dem Statusamt möglicher Umsetzungsbewerber nicht entspricht. -Darüber hinaus ermöglicht sie die in der Bundes-verwaltung eingeführte und in den vergangenen Jahrzehnten von der Rechtsprechung auch nicht beanstandete Praxis von Beförderungen ohne Wechsel der Funktion. Die damit eröffneten Möglichkeiten der -Personalförderung dienen letztlich auch der Aufgabenwahrnehmung. Schließlich schafft der Gesetzentwurf neben einer rückwirkenden Gewährung des Familienzuschlags an Beamte in eingetragenen Lebenspartnerschaften auch die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verlagerung einzelner Aufgaben aus der Bundeswehrverwaltung in die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Finanzen. Ergänzt wird dieses Paket, mit dem die umfangreiche Dienstrechtsagenda für diese Legislaturperiode abgeschlossen wird, durch das Gesetz zur Übertragung der Familienpflegezeit auf Beamte sowie den von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf eines Altersgeldgesetzes. Zu allen drei Vorhaben hat die CDU/CSU-Fraktion eine Anhörung beantragt, um auf dieser Grundlage zu einem fundierten und gleichzeitig möglichst raschen Gesetzesbeschluss zu kommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/12455 und 17/12662 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 25: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung - Drucksache 17/12095 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Betrachtet man die immer wieder aufkommende Diskussion um die aktuelle Situation im Pflegebereich und besonders den jetzt zu debattierenden Antrag, stellt man fest, dass stets zu kurz kommt, dass die in der Pflege beschäftigten Menschen eine hervorragende und ausgezeichnete Arbeit machen. Hierfür möchte ich ihnen persönlich meinen Dank aussprechen. Dass die Personalsituation in der Pflege stets angespannt war und durch einen massiven Stellenabbau noch verschärft wurde, ist seit langem bekannt. Als -Reaktion hierauf wurde für die Jahre 2009 bis 2011 das sogenannte Pflegestellensonderprogramm auf-gelegt. An diesem Programm nahmen im genannten Zeitraum insgesamt 1 133 Krankenhäuser teil; das sind über zwei Drittel der anspruchsberechtigten Kliniken. Durch die Bereitstellung von insgesamt über 1 Milliarde Euro wurden so in den drei Jahren des Sonderprogramms über 14 400 zusätzliche Vollzeitpflegestellen geschaffen. Das Pflegestellensonderprogramm war also ein voller Erfolg und entschärfte die angespannte Personalsituation im Pflegebereich massiv. Um eine adäquate Qualität sicherzustellen, ist die Weiterentwicklung von Qualitätsindikatoren ein wichtiger und erforderlicher Schritt, an welchem auch die Krankenhäuser selber ein originäres Interesse haben. Ziel muss sein, die Qualität der Versorgungsleistungen noch mehr in den Vordergrund zu rücken. Zusätzlich zur Strukturqualität nehmen auch die Prozessqualität und die Ergebnisqualität eine wichtige Rolle ein. Durch sie wird verhindert, dass aufgrund der undifferenzierten Einsparung von Ressourcen vermeintlich mehr Wirtschaftlichkeit zu erzielen ist. Denn Strukturqualität bedeutet, durch qualifiziertes Personal und den am Bedarf orientierten Einsatz von Sachkosten sowie Investitionen vernünftige Bedingungen für die Behandlung der Patientinnen und Patienten zu schaffen. Hierzu gehört selbstverständlich auch die Pflege. Niemand anders kann besser beurteilen, an welcher Stelle im Krankenhaus Ressourcen optimal eingesetzt werden sollen, als das Krankenhaus selber. Darüber hinaus wird über die Definition von Prozessqualität sichergestellt, dass Leistungen und Zielsetzungen - gerade auch im Pflegebereich - objektiv beurteilt werden können. Entscheidend ist letztlich die Ergebnisqualität - also der Gesundheitsfortschritt, die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten im Rahmen der Behandlung - letztlich der Behandlungserfolg. Selbstverständlich müssen Daten zur Qualität öffentlich zugänglich sein und einfach abgerufen werden können. Damit sich Patientinnen und Patienten zukünftig über die Qualität informieren können, sollten die Ergebnisse der Qualitätssicherung, soweit diese zur Information geeignet sind, noch mehr als bisher veröffentlicht werden, beispielsweise in den Qualitätsberichten der Krankenhäuser. Ein generelles Problem, mit dem sich die Krankenhäuser in Deutschland auseinandersetzen müssen, ist der Rückzug der Länder aus der dualen Krankenhausfinanzierung. Die Bundesländer sind verpflichtet, -Mittel für Investitionen der Krankenhäuser zur Verfügung zu stellen, kommen dieser Verpflichtung allerdings in nicht ausreichendem Umfang nach. Die Mittel für den Krankenhausbereich sinken seit Jahren und Jahrzehnten stark. Dieser Rückgang führt dazu, dass Krankenhäuser notwendige Ausgaben für Investitionen durch Quersubventionen aus Krankenhausentgelten finanzieren. Diese sind hierfür nicht gedacht, und die Mittel werden vor allem durch Mengenausweitungen, also einen Anstieg der Fallzahlen, aufgebracht. Derartige Mengenausweitungen, soweit sie aus Finanzierungsgründen und nicht aus der medizinischen Notwendigkeit heraus geschehen, sind nicht zielführend und müssen vermieden werden. Laut Statistischem Bundesamt betrugen die Fallkostensteigerungen zwischen dem Jahr 2007 und dem Jahr 2011 12,7 Prozent, während die Steigerung der Fallkostenerstattung laut WIdO 13,3 Prozent betrug. Ich gehe davon aus, dass die Differenz in die Finanzierung von Investitionen floss. Das Geld fehlt jedoch im laufenden Betrieb. Hiermit sollten Pflegestellen finanziert werden. Gerade im Zusammenhang mit einer drohenden Verschärfung des Pflegenotstands war jüngst die Vermeidung eines - von der EU geplanten - erschwerten Zugangs zu Pflegeberufen ein großer Erfolg. Diese -Aktion, die zu einer Akademisierung der Ausbildung im Pflegebereich geführt hätte, konnte durch starken politischen Einsatz der Bundesregierung und unserer Kollegen der EVP-Fraktion im Europaparlament erfolgreich vermieden werden. Das Abwenden dieses Damoklesschwertes eines verschärften Ausbildungszugangs muss dabei unter dem Aspekt des demografischen Wandels betrachtet werden. Um das Niveau an Pflegekräften annähernd konstant zu halten, müssten in den nächsten Jahrzehnten - bei unveränderten Rahmenbedingungen - nach manchen Schätzungen bis zu 50 Prozent eines Schulabschlussjahrgangs in Pflegeberufen arbeiten. Dies kann man sich nur sehr schwer vorstellen. Allerdings wird der Anteil der Pflegekräfte an allen Beschäftigten von 2 Prozent im Jahr 2009 auf 8 Prozent im Jahr 2050 ansteigen. Das Gesundheitssystem im Allgemeinen und das Krankenhauswesen im Besonderen sind bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Notwendige Hilfen werden kurzfristig gewährt. In der kommenden Legislaturperiode werden wir grundlegende Strukturfragen angehen. Mechthild Rawert (SPD): Zu den zentralen Zukunftsaufgaben aller Krankenhäuser gehören die Fachkräfteausstattung, die Fachkräftesicherung und -entwicklung sowie das Vorhalten attraktiver Arbeitsplätze. Krankenhausträger tragen Verantwortung und Fürsorge für ihre Beschäftigten. Sie tragen im Rahmen ihrer Arbeitgeberfunktion -Verantwortung für die Steigerung der Attraktivität der Gesundheitsfachberufe, tragen Verantwortung für die Umsetzung von Professionalisierungsstrategien in der Pflege. Nur so wird der Sicherheit und der qualitativ hochwertigen Versorgung der Patientinnen und Patienten gedient. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt allerdings, dass die Personalsituation in den Krankenhäusern mehr und mehr an Brisanz gewinnt. Seitens der -Krankenhausträger wurde bei den Expertinnen und Experten in der Pflege dramatisch gespart. Der aus Kosteneinsparungsgründen erfolgte massive Stellenabbau insbesondere im Pflegedienst betraf nicht alle Qualifikationsniveaus gleichermaßen. Verliererinnen und Verlierer waren vor allem die Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen und -helfer -(zwischen 1999 und 2009: minus 27,7 Prozent) und Ungelernte (minus 13 Prozent), während sich Servicekräfte sowie -helferinnen und -helfer neue Beschäftigungsperspektiven erschlossen haben. Deutlich -zugenommen hat die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs, Leiharbeit, Teilzeit). Es fanden eine deutliche Leistungsverdichtung und eine Erhöhung der Arbeitsbelastung bei den Beschäftigten statt. Insbesondere der Aufwand in der Pflege ist gestiegen, unter anderem auch aufgrund der gestiegenen qualitativen Anforderungen in der Begleitung und -Betreuung von immer mehr demenziell erkrankten, hochaltrigen und multimorbiden Patientinnen und -Patienten bei gleichzeitig immer kürzer werdenden Verweildauern. Die SPD-Bundestagsfraktion steht hinter den in der Pflege Beschäftigten in den Krankenhäusern: Es ist Zeit, mehr deutliche Zeichen der Wertschätzung für die Beschäftigten in den Krankenhäusern zu setzen. Dazu gehört, dass die Beschäftigten an der allgemeinen -Tariflohnentwicklung teilhaben können. Wir brauchen leistungsgerechte tarifliche Entlohnungssysteme, die Sicherung professioneller Handlungsautonomie, flexible Arbeitszeitmodelle, qualitativ hochwertige Weiterbildungsangebote, moderne teamorientierte Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, Modelle zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Beruf und Pflege sowie alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze. All dies sind Entscheidungsfaktoren für den Einstieg bzw. den Verbleib im Berufsfeld Pflege. All dies sind angesichts der bestehenden Konkurrenz um Fachkräfte Entscheidungsfaktoren für den Verbleib an einem konkreten Krankenhaus. Zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten, zur Verbesserung einer qualitativ hochwertigen stationären Versorgung wurde von der sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Pflegestellen-Förderprogramm ins Leben gerufen. Dies war ein großer Erfolg: Auswertungen zufolge sind dadurch zwischen 2009 und 2011 über 15 000 Pflegestellen -geschaffen worden. Leider haben einzelne Krankenhausträger dieses Programm durch "Mitnahme-effekte" missbraucht. Diese Möglichkeiten sind künftig zu unterbinden. Zu verhindern ist auch, dass Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen auf Mengenausweitungen setzen, die nicht der Sicherheit und guten Versorgung der Patientinnen und Patienten dienen. Als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen wir nicht nur am Equal Pay Day die Forderungen der Beschäftigten - zumeist Frauen - in der Pflege. Wir Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns für strukturelle Verbesserungen im Interesse der Beschäftigten und der Patientinnen und Patienten ein. Deshalb machen wir uns für Personalmindeststandards in Krankenhäusern stark. Auch der Antrag "Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung" der Linksfraktion spricht wichtige Probleme der stationären Versorgung an. Ich hoffe auf eine baldige umfassende Debatte im Gesundheitsausschuss. Gespannt bin ich darauf, was Schwarz-Gelb anführen wird, um die Situation der Beschäftigten in den Krankenhäusern in den wenigen Monaten dieser Legislaturperiode noch zu verbessern; bis jetzt ist auf jeden Fall noch nichts erreicht. Ich schlage eine öffentliche Anhörung mit Beschäftigtenvertreterinnen und -vertretern, den Tarifpartnerinnen und -partnern und entsprechenden Fachverbänden vor. Die Beschäftigten in der stationären Pflege haben es verdient. Lars Lindemann (FDP): Der Antrag der Linken "Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung" ist in seiner Absicht gut. In seinem analytischen Teil beschreibt er die personelle Situation an einigen deutschen Krankenhäusern durchaus zutreffend. Man müsste blind sein, wollte man nicht sehen, dass in der Tat die Qualität der Patientenversorgung unter Personalmangel leidet. Auch die Stichwörter von "enormem wirtschaftlichen Druck" auf die Krankenhäuser und in dessen Folge "unhaltbaren Zuständen", "massiven Überstunden", "gefährlicher Pflege" und "lebensbedrohlichen Situationen" sind leider nicht nur rhetorische Übertreibung. Leider ist gut gemeint aber nicht automatisch gut gemacht. Im Gegenteil, manchmal sind die gut gemeinten Vorschläge die gefährlichsten. Es ist ein klassisch linker Ansatz, zu glauben, die beschriebenen Zustände seien durch schlichtes Vorschreiben der gewünschten Endeffekte in einem Gesetzestext zu ändern. Die Illusion, der Staat könnte in -geradezu naiver Vereinfachung der vielfältigen Wirkfaktoren der Krankenversorgung ein bestimmtes Ergebnis festlegen, ist etwas für einfache Geister. Hier meinen Sie, liebe Kollegen von der Linken, offenbar, durch die simple Vorschrift eines pauschalen Personal-Patienten-Quotienten eine so komplexe Größe wie die Qualität der Pflege nicht nur steuern, sondern auch noch restlos vereinheitlichen zu können. Dabei sprechen wir über eine enorme Vielfalt von regionalen oder lokalen Faktoren, der individuellen Organisation der einzelnen Häuser, ihres Fächer- und Leistungsspektrums, ihrer bestehenden Personalstruktur, ihrer Traditionen, ihrer Trägerschaft, ihrer Konzepte, ihres Patientenguts, ihres Versorgungsumfeldes im ambulanten und stationären Bereich, kulturelle Unterschiede und solche der flankierenden Leistungs-angebote im Umfeld und vieles andere mehr. All das ignoriert der Antrag der Linken und behauptet, die einheitliche, für alle gleiche Personaldichte würde automatisch die Pflege verbessern und überall gleichmachen. Eine Standardisierung von Personalbemessungen betreibt im Übrigen bereits das InEK durch seine kalkulierten Pflegebedarfe. Diese ändern nichts an den beschriebenen Missständen. Es ist immer wieder verblüffend: Wie gut starre Planwirtschaft funktioniert und wie wenig bedrucktes Papier wert ist, wenn die komplexe Wirklichkeit und die realen Funktionsweisen von Menschen und Organisationen außer Acht gelassen werden, sollte gerade die Linke wissen. Schließlich ist ihre Vorgängerpartei brutal daran gescheitert, Ergebnisse komplexer Prozesse staatlich festlegen und gleichschalten zu wollen, ohne die tatsächlich wirksamen Kräfte und vielfältigen Motivationen von Menschen zu beachten. Deshalb ist es beim Stichwort Motivation besonders schade, liebe Kollegen von der Linken, dass Sie in Ihrem Antrag eigentlich den entscheidenden Hinweis für eine vernünftige Problemlösung selber geben, ohne ihn aufzugreifen. Sie beklagen nämlich, dass eine hohe Qualität in der Pflege nicht gesondert vergütet werde. Sie haben vollkommen recht in diesem Befund! Leider gilt dies nicht nur bei der Pflege. Verrückterweise ziehen Sie aber daraus nicht die logische Konsequenz, dass man eben genau das tun sollte: gute Pflegeergebnisse belohnen. Stattdessen wollen Sie dieses Nichtbelohnen guter und Nichtbestrafen schlechter Pflege gar nicht antasten, sondern allen an dieser Stelle dieselbe personelle Infrastruktur vorschreiben. Absurd! Wenn wir wollen, dass in einer Situation knapper Kassen die Krankenhäuser ihre Pflege so organisieren, dass das Ergebnis dieser Pflege qualitativ gut ist, dann müssen wir erstens diese Qualität objektiv und unabhängig erfassen und zweitens dann auch belohnen. Das wäre eine echte Investition von Versorgungsforschung und Krankenkassen. Langfristig würde das nicht nur die Qualität verbessern. Gute Versorgungsergebnisse sparen auch Kosten. Zu ihrem eigenen Schaden bewegen sich die Kassen aber hier nur wenig und reagieren auf jedes Risiko kurzfristiger Mehrkosten mit einem Blockadereflex. Leider verhindert diese Kurzfristhysterie immer wieder langfristigen Nutzen. Statt hier anzusetzen, kommen Sie zu einem ganz anderen Schluss. Sie ignorieren die Finanz- und Nachwuchssituation aus Einfachheitsgründen und sagen: Wir schreiben einfach jedem Krankenhaus dasselbe Zahlenverhältnis Pflegekräfte-Patienten vor. Und dann sind Sie noch so naiv zu glauben, dies würde Ihren ultimativen Gleichheitstraum erfüllen, dass es dann keine Unterschiede mehr im Niveau der Pflege gäbe. Man kann sich nur wundern. Außerdem machen Sie weder einen Vorschlag, aus welcher Quelle das Personalplus finanziert werden soll - ich vermute, am Ende wird auch hier irgendwie schließlich doch wieder der universelle linke Deus ex Machina auftauchen, der am Ende alle linken Blütenträume finanziert, nämlich "die Reichen" -, noch erklären Sie, wie Pflegeberufe so attraktiv werden können, dass überhaupt mittelfristig genug Nachwuchs zur Verfügung steht. In Berlin war es in der letzten Legislaturperiode unter anderem Ihre linke Gesundheitssenatorin, die eine von der FDP geforderte einjährige Krankenpflegehelferausbildung abgelehnt hat, durch deren Absolventen Krankenschwestern und -pfleger von nichtpflegerischen Aufgaben hätten entlastet werden können. Auch im Bundestag sind es immer die Linken, die sich gegen differenzierte, leistungsabhängige Vergütungselemente wehren, weil eine Belohnung der Besseren eben immer auch einen Druck auf die Schlechteren bedeutet. Dafür müsste man Vielfalt und Differenzierung akzeptieren können. Das widerspricht aber diametral dem linken Gleichheitsdogma. Deshalb ist Ihnen der Ansatz der Belohnung guter Leistung so unsympathisch. In der Regel wollen sie Gutleister - "die starken Schultern" - ja mehr belasten, damit sie schwächer werden. Aber nochmals: In dem Ziel und auch der Notwendigkeit einer besseren personellen Ausstattung der Pflege sind wir uns einig. Hier muss mehr geschehen, und die begonnenen Reformschritte müssen mutig ergänzt werden. Außerdem müssen die Krankenhäuser endlich aus der fatalen Zwangslage befreit werden, ihre enormen Investitionsstaus und die daraus resultierenden Mehrkosten immer wieder durch Personaleinsparung gegenfinanzieren zu müssen. Hier sind im Übrigen in der dualen Finanzierung ganz wesentlich die Bundesländer gefragt. Sie lassen die Häuser allzu oft im Regen stehen. Berlin ist hierfür ein trauriges Beispiel: Der -Investitionsstau der Charité steigt seit Jahren rapide und liegt mittlerweile bei 1 Milliarde Euro! Der Vorstand der Charité hat klargemacht, dass die absolute Grenze des Personalabbaus erreicht und die Patientensicherheit bedroht ist, sollte hier weiterer Einspardruck entstehen. Die Tarifbewegung, die innerhalb der Charité - und übrigens nicht bundeseinheitlich für alle gleich - eine Verbesserung der Personalbemessung fordert, ist deshalb verständlich. Das Land Berlin muss hier ebenso wie andere Bundesländer seine Pflicht zur Finanzierung der Investitionskosten der Krankenhäuser erfüllen und in der Haushaltspolitik neue Prioritäten setzen. Hier verdienen die Krankenhäuser definitiv einen höheren Stellenwert. Wenn die Häuser durch die Länder von diesen Lasten befreit und von den Krankenkassen für ihre steigenden, auch sächlichen Betriebskosten fair vergütet werden, wenn zusätzlich hohe Pflegestandards und gute Ergebnisse auch belohnt werden, dann brauchen sie keine Zahlenverhältnisse vorzuschreiben, die als Papiertiger enden. Und nur dann entsteht eine originäre und langfristige Motivation zur Investition in gute Pflege. Wie das einzelne Haus dies organisiert, ist seine Sache. Die Häuser sollten nicht in totaler Ignoranz ihrer Vielfalt und regionalen Unterschiede dabei bevormundet werden. Wir Liberale wollen auch hier ausdrücklich Vielfalt; denn wenn sich gute Pflege lohnt, dann ist Vielfalt die Grundlage für bessere Pflegekonzepte, für Differenzierung, Fortschritt und Entwicklung. Evolution braucht Vielfalt, sonst stirbt das Leben aus. Das gilt auch für die notwendige Evolution der Pflege. Bevormundung der Krankenhäuser durch Gleichschaltungs- und Vorschriftswahn, Ignoranz der Realitäten und zentrale Gleichschaltung der Personalbemessung einer vielfältigen Krankenhauslandschaft würden gute Pflege erschweren. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Harald Weinberg (DIE LINKE): Mit diesem Antrag wollen wir die Pflege in Krankenhäusern verbessern. Dass da was im Argen liegt, das ist mittlerweile offenkundig. Fast jede/r, die/der in der letzten Zeit in einem Krankenhaus war, hat es bemerkt: Die Pflegekräfte sind am Limit; sie müssen von Jahr zu Jahr immer mehr Arbeit schultern. Obwohl die meisten Pflegenden sich für ihre Patientinnen und Patienten selbstaufopfernd einsetzen, bleibt am Ende einer Schicht oft ein flaues Gefühl zurück. Die Pflegekräfte wissen, dass eine bessere Pflege möglich wäre, wenn sie mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten hätten. Die "Fließband-Pflege" macht auch die Pflegenden krank: Überlastungsanzeigen und Burn outs haben sprunghaft zugenommen; kaum ein Pflegender hält durch bis zur Rente. Zu wenig und überlastetes Personal in der Pflege kann auch gefährlich sein. Wenn in der Nacht auf einer Station nur ein einziger Krankenpfleger Dienst hat, aber 2 von 30 Patientinnen gleichzeitig auf Hilfe angewiesen sind, dann wird der Pfleger entscheiden müssen, wen er vernachlässigt. Zu wenig Zeit in der Pflege bedeutet auch, dass die Hygiene, zum Beispiel die Händedesinfektion, weniger ernst genommen wird. Dazu gibt es mittlerweile Untersuchungen, die das belegen. Das führt zu mehr Infektionen der Patientinnen und Patienten mit multiresistenten Keimen, die in mehreren Hunderttausend Fällen jedes Jahr krankmachen, Amputationen nach sich ziehen können und in Zehntausenden Fällen sogar zum Tod führen. Das Schlimme ist: Diese Verhältnisse sind nicht deswegen so, weil es nicht anders ginge. Es sind die politischen Weichenstellungen der Krankenhauspolitik in den letzten 15 Jahren, die Einsparungen gerade in der Pflege zum Ziel hatten. Krankenhäuser stehen im Wettbewerb miteinander und werden nach Fällen bezahlt. Das Krankenhaus also, das möglichst viele Fälle, zum Beispiel Operationen, bearbeitet, arbeitet profitabel. Ein Krankenhaus, das auf gute Pflege setzt, wird es nicht lange geben, denn es erwirtschaftet hohe Verluste. Mit den unter Rot-Grün eingeführten Fallpauschalen wurden die Pflegedienste zu reinen Kostenstellen degradiert, die angeblich keinen Anteil an der Wertschöpfung im Krankenhausbetrieb haben. Und dementsprechend werden sie von den Krankenhausmanagern auch behandelt: Die Zahl der Patientinnen und Patienten ist von 2003 bis 2011 von 17,30 Millionen auf 18,34 Millionen gestiegen, während die Zahl der Pflegekräfte (Vollzeitäquivalente) von 2003 bis 2011 von 320 158 auf 310 817 zurückgegangen ist. Und schon 2003 war die Situation äußerst angespannt. Gegen diese Arbeitsverdichtung regt sich nun erstmals organisierter Widerstand. Die Verdi-Tarifkommission an der Charité hier in Berlin verhandelt mit dem Arbeitgeber derzeit über einen neuen Tarifvertrag. Dabei geht es nicht um höhere Löhne. Die Beschäftigten wollen unter anderem erreichen, dass für jede Station festgestellt wird, wie viel Pflegekräfte benötigt werden. Der Arbeitgeber soll sich verpflichten, dieses Minimum einzuhalten. Diese Forderung ist gut für die Beschäftigten, und sie ist gut für die Patientinnen und Patienten. Sie stellt sich aber völlig gegen die derzeitige Logik der Krankenhausfinanzierung. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen daher viel Erfolg in dieser Auseinandersetzung. Aber selbst wenn diese Forderungen durchgesetzt würden, und selbst wenn andere Krankenhäuser diesem guten Beispiel folgen würden: Es würde ein Flickenteppich aus einzelnen tariflichen Lösungen entstehen. Unter den Bedingungen der DRGs würde es den Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern sogar weiter anheizen. Die Pflegekräfte haben aber überall in der Bundesrepublik Anspruch auf gute Arbeitsbedingungen, und die Patientinnen und Patienten haben überall den Anspruch auf eine gute Pflege. Deshalb fordert die Linke in dem heute zur Debatte stehenden Antrag: Wir brauchen eine bundesweite gesetzliche Mindestpersonalbemessung für jedes Krankenhaus. Wir können nicht weiter zusehen, wie Patientinnen und Patienten darunter zu leiden haben, dass Pflegekräfte mehr leisten müssen, als sie können. Und wir können auch nicht weiter zusehen, wie die Pflegenden unter derart ungesunden und belastenden Bedingungen arbeiten. Klar ist: Das wird Geld kosten. Und ich bin mir sicher, Sie werden mir gleich vorwerfen, in dem Antrag stünde nicht, woher dieses Geld kommen soll. Aber einmal abgesehen von dem dann von mir immer wieder vorgetragenen Hinweis auf unser Bürgerversicherungskonzept: Derzeit befinden sich fast 30 Milliarden Euro Rücklagen im System. Der Finanzminister ist offenbar der Ansicht, dass das Gesundheitssystem zu viel Geld hat, sonst würde er nicht gerade diese Woche wieder weitere 1,5 Milliarden Euro für seine Haushaltssanierung entnehmen. Ich finde, dieses Geld wäre in mehr Pflegekräften, besseren Arbeitsbedingungen und gesünderen Patienten besser angelegt. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Tagen, Wochen und Monaten steht die Situation der Krankenhäuser im öffentlichen Fokus. Es wird mitunter hochemotional über Finanzhilfen, Personalmangel und Rettungsprogramme diskutiert. Leider hat die Diskussion bisher nicht dazu geführt, einmal tiefer in das System der Unter-, Fehl- und Überversorgung einzudringen. Sie führt bislang auch nicht dazu, dass die wirklichen Herausforderungen in einer immer älter werdenden Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Und es wird nicht deutlich, worin die Ursachen für den Personalmangel bei den Gesundheitsberufen im Krankenhaus bestehen. Unserer Meinung nach hapert es an einer umsichtigen Krankenhausplanung, an der berufsgruppenübergreifenden Zusammenarbeit. Es gibt keine wirklich transparente Personaleinsatzplanung. Pflege ist Austausch und Kommunikation - doch dieser Aspekt gerät immer mehr in den Hintergrund. Es fehlt der Krankenpflege an Anerkennung von oben und an Freiraum für Entscheidungen. Die kurz- wie auch die langfristige Personalplanung läuft oft völlig am tatsächlichen Bedarf vorbei. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bezifferte im Februar den Personalmangel in der Pflege auf 70 000 Vollzeitstellen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht lediglich von 3 000 Stellen. Wir wissen also noch nicht einmal, wie hoch der eigentliche Personalbedarf ist. Was wir aber wissen, ist, dass sich in den letzten Jahren die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern nicht zum Besseren entwickelt haben. Die zunehmende Arbeitsverdichtung, die Überforderung durch die wachsende Anzahl von Menschen, die nicht nur der Pflege, sondern auch der Betreuung bedürfen, weil sie zum Beispiel sehr alt oder dement sind, belasten die Gesundheitsberufe im Alltag enorm. Obendrein wurde das Pflegepersonal in einigen Krankenhäusern in den letzten Jahren noch ausgedünnt, während zugleich das ärztliche Personal weiter aufgestockt wurde. Das verstehe, wer will. Eigentlich sollte es für jedes Krankenhaus ein natürliches Anliegen sein, Personal in der Pflege auszubilden, weiterzubilden und dieses qualifizierte Personal dann auch zu halten. Eine einseitige Fokussierung auf die Sicherung der ärztlichen Belegschaft führt auf Dauer nicht zur Qualitätssteigerung der Behandlung im Krankenhaus. Eine Operation kann eben nicht stattfinden, wenn die OP-Schwestern und Pfleger fehlen, mögen dabei noch so viele Ärzte anwesend sein. Die Genesung der Patienten und Patientinnen ist nach einem gelungenen Eingriff nicht selbstverständlich, wenn danach die pflegerische Versorgung schlecht ist. Wir wissen doch, dass sich die Rationierung von Pflegeleistungen auf die Pflegequalität und somit auf die Ergebnisqualität auswirkt. Durch die Pflegestudie RN4Cast - eine der bislang umfassendsten Datensammlungen zur Personalplanung in der Pflege - wissen wir, dass die Unzufriedenheit des Pflegepersonals in den letzten Jahren zugenommen hat. Das hat viele Ursachen; eine davon ist die permanente Überlastungssituation durch Unterbesetzung. Auch die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die mangelnde Anerkennung in der Organisation und noch vieles mehr führen zu Unzufrie-denheit. Und unzufriedene Pflegekräfte erzielen schlechtere Arbeitsergebnisse. Gerade in einem so personenbezogenen Beruf ist diese Entwicklung nicht akzeptabel. Die Studie machte auch deutlich, dass eine schlechte Bedarfsplanung von Pflegekräften in einem Land die Arbeitsmigration in andere Länder erhöht. Können wir uns das leisten? Es darf nicht dazu kommen, dass innerhalb der Krankenhauspersonalplanung die Pflege als Stiefkind behandelt wird, dass die Pflege als der Bereich gilt, bei dem man als Erstes kürzen kann, wenn das Budget knapper zu werden droht. Doch genau diese Entwicklung sehen wir derzeit. Deshalb sehen auch wir Grüne die Notwendigkeit einer Personalbemessung in der Pflege. Aber wir dürfen dabei die anderen Faktoren nicht aus den Augen verlieren, die die Arbeitszufriedenheit beeinflussen. Und es muss uns klar sein, dass wir derzeit über kein wirklich gutes Instrumentarium verfügen. Die Pflege-Personalregelung, PPR, ist aus heutiger Sicht nicht mehr ausreichend. Sie ist zu oberflächlich und nicht mehr aktuell. Was wir also brauchen, ist ein neues Personalbedarfsermittlungsverfahren. Das muss sowohl den fixen Aufwand pro Patient und Patientin als auch den variablen und zusätzlichen Aufwand abbilden. So sind beispielsweise bei einer OP-Vorbereitung immer gleiche Maßnahmen notwendig, die gut kalkulierbar und planbar sind. Es gibt variable Aufwendungen, wie die -Versorgung einer Wunde, die sich unterschiedlich, unvorhersehbar, entwickeln können und auch an die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus gebunden sind. Zudem gibt es einen Zusatzaufwand, der je nach Anzahl der Erkrankungen des Patienten und der Patientin weitere Pflegetätigkeiten erfordert. All diese Positionen müssen jeweils an die unterschiedlichen Fachbereiche eines Krankenhauses angepasst werden. Das ist kein leichtes Unterfangen, und das sollten wir bei allem Eifer auch berücksichtigen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da es keine anderweitigen Vorschläge gibt, ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 26: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) - zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das -telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4, 17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238 Nr. 1.4, 17/12738 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Dirk Becker Michael Kauch Sabine Stüber Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss hat in seine Empfehlung den Vierten und Fünften Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen mit einbezogen. Diese Vorlagen sollen jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Zu der Beratung der Verordnung der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben werden. - Sie sind damit einverstanden.6 Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12738, in Kenntnis der Unterrichtungen auf den Drucksachen 17/4408 und 17/12027 der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12372 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12742. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 27: Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl ausrichten - Drucksache 17/12395 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Michael Frieser (CDU/CSU): Der Antrag der Grünen impliziert zu Unrecht, dass das Kindernachzugsrecht in Deutschland dem Kindeswohl entgegenstehen würde. Es wird ein Bild einer unmenschlichen Abwehrhaltung heraufbeschworen, das mit der Realität nichts gemein hat. Betrachten wir an dieser Stelle die Rechtslage einmal realistisch. Die Grundsätze der Familienzusammenführungsrichtlinie werden unter anderem durch die Grundrechtecharta, die UN-Kinderrechtskonvention und die Menschenrechtskonvention gewährleistet. Als Erstes zu der Forderung, die Integrationsbedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug aufzuheben. Diese Forderung sieht nur bei oberfläch-licher Betrachtung wie ein Segen für die Jugendlichen aus. Hier ist zunächst anzumerken, dass die Familien-zusammenführungsrichtlinie grundsätzlich Einschränkungen für Kinder ab 12 Jahren gestattet. Die deutsche Regelung setzt hingegen erst bei Jugendlichen ab 16 Jahren an. Je jünger Kinder bei der Einreise sind, desto ein-facher fällt ihnen das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes. In der Regel ist ihre Integrationsfähigkeit hoch, da sie bei ihren Eltern in der neuen Kultur aufwachsen. Anders ist die Situation von über 16-jährigen Jugendlichen, die bereits ein recht eigenständiges Leben führen, in ihrer Heimat sozialisiert und integriert sind und nicht wie jüngere Kinder auf ihr Elternhaus angewiesen sind. Da sich die Voraussetzungen der Kinder mit steigendem Alter zum Zeitpunkt des Nachzugs verändern, sind auch die unterschied-lichen Regelungen gerechtfertigt. Ein Jugendlicher, bei dem entweder aufgrund seiner Sprachkenntnisse oder aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse zu vermuten ist, dass er sich in die Lebensverhältnisse in Deutschland einfügen kann, kann sich in unserem Land eine Zukunft aufbauen. Das Ziel der geforderten positiven Integrationsprognose dient dem Jugendlichen, der nicht aus seiner Heimat herausgerissen werden soll, wenn die Prognose zeigt, dass er in Deutschland keine Zukunft hat. Als Integrationsbeauftragter der CDU/CSU-Fraktion weiß ich, dass Integrationspolitik erfolgreich und praktikabel organisiert werden muss, sodass wir zu einem gedeihlichen Miteinander kommen. Wer das nicht tut, wird den Menschen nicht gerecht. Nicht für alle Menschen ist der Zuzug nach Deutschland der beste Weg. Es ist weder für die Menschen noch für das Aufnahmeland praktikabel, die Möglichkeiten für den Zuzug losgelöst von der Möglichkeit einer erfolgreichen Integration zu betrachten. In einer Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration befand von 1 220 befragten Drittstaatsangehörigen in Deutschland - also die Menschen, die von der Regelung betroffen sind - eine Mehrheit von 69,8 Prozent die von den Grünen kritisierten Sprachanforderungen als hilfreich! Nur 3,3 Prozent nahmen an, dass die Anforderungen den neu zuwandernden Familienangehörigen nicht helfen, sich von Anfang an in Deutschland zurechtzufinden. Die Einzigartigkeit jeder familiären Situation bringt es mit sich, dass in Einzelfällen der Nachzug eines Kindes geboten ist, obwohl grundsätzlich kein recht-licher Anspruch gegeben ist. Für diese Fälle existiert eine Härtefallregelung in § 32 Abs. 4 AufenthG. Die Grünen fordern nun statt der Berücksichtigung einer besonderen Härte lediglich die Orientierung allein am Kindeswohl. Wie bereits ausgeführt, dienen die geforderten Integrationsbedingungen bereits dem Kindeswohl. Der Vollzug des Aufenthaltsgesetzes liegt in der Kompetenz der Länder. Bei der Anwendung der Härtefallregelung ist jeder Sachbearbeiter an Recht und Gesetz gebunden. Er muss für seine Ermessensentscheidung alle Aspekte des Einzelfalls berücksichtigen. Auch die Kritik an der Prüfung ausländischer Urkunden und der Möglichkeit, im Familiennachzugsverfahren das Verwandtschaftsverhältnis mittels DNS-Test nachweisen zu lassen, zeigt, dass die Verfasser des vorliegenden Antrags nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Antragsteller vertraut sind. Der Vorwurf, es würden pauschal Zweifel an der Echtheit von Urkunden geäußert, obwohl die Antragsteller keine Möglichkeit hätten, auf die Zuverlässigkeit des Urkundenwesens einzuwirken, zeigt das mangelnde Verständnis für den Sinn und Zweck einer Urkundenprüfung. Es geht bei der Prüfung der Echtheit von Urkunden nicht um ein eventuelles Verschulden der Antragsteller, sondern um die Tatsache, dass es Länder mit gravierenden Mängeln im Urkundenwesen gibt, die den Beweiswert der Urkunde tangieren. Für diese Fälle bieten die Auslandsvertretungen im Rahmen der Amtshilfe die Vermittlung eines Urkundenüberprüfungsverfahrens an. Wenn dennoch ein entscheidungserheblicher Nachweis der Abstammung nicht erbracht werden kann, besteht die Möglichkeit eines freiwilligen DNS-Abstammungsgutachtens. Die Forderung, diesen freiwilligen Nachweis nur noch als Ultima Ratio zuzulassen, verkennt, dass in einigen Fällen ein DNS-Beweis für die Betroffenen leichter und schneller zu erbringen ist als die vermeintlich weniger belastenden Beweismittel. Ein Zwang zur Durchführung eines DNS-Abstammungsgutachtens besteht nicht. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorliegende Antrag den praktischen Anforderungen an das Nachzugsverfahren nicht gerecht wird und deshalb abzulehnen ist. Rüdiger Veit (SPD): Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollen mit dem vorliegenden -Antrag erreichen, dass das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl ausgerichtet wird. Auch für uns ist das Wohlergehen von Kindern von besonderer Wichtigkeit. So fordern wir in unserem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht: Im Aufenthalts- und im Asylverfahrensgesetz wird klargestellt, dass bei der Rechtsanwendung das Wohl des Kindes ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist." In § 32 Abs. 2 AufenthG werden für den Nachzug von Kindern über 16 Jahren besondere - die Nachzugsmöglichkeiten beschränkende - Bedingungen erhoben. Deutschland ist der einzige Staat in der Europäischen Union, der solchermaßen verfährt. Es mag zunächst dahingestellt bleiben, ob die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 17/10279, eine befriedigende Auskunft gibt, was wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse -angeht, nach denen über 16-jährige nachziehende Kinder mehr Probleme bei der Integration in Deutschland aufwiesen als im Familienverband eingereiste Kinder. Die vage Antwort, Kinder im schulpflichtigen Alter inte-grierten sich oftmals besser als solche, die fast bis ins Erwachsenenalter in einer anderen Kultur aufwüchsen, stellt meiner Ansicht nach eher eine schlichte Behauptung dar als eine empirisch nachgewiesene Tatsache. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das im vorliegenden Antrag von den Kolleginnen und Kollegen vorgetragene Argument, dass das Spracherfordernis des § 32 Abs. 2 AufenthG für den Nachzug eines Kindes über 16 Jahren, das Beherrschen der deutschen Sprache - was laut den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz, AVwV-AufenthG, die Stufe C 1 der kompetenten Sprachanwendung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen, GER, bedeutet -, wesentlich höher ist als das für die Einbürgerung eines Ausländers geforderte Sprachniveau B 1 GER. Das ist auch in meinen Augen ein Wertungswiderspruch. Andererseits ist das Beherrschen der deutschen Sprache gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG nur ein Erfordernis für die Einreise eines über 16-jährigen Kindes. Daneben kann der Nachzug auch gewährt werden, wenn "gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse" in Deutschland wird einfügen können. Diese Alternative setzt dann nicht mehr so gute Sprachkenntnisse voraus, wenngleich Sprachkenntnisse auch hier Indizien für eine positive Integrationsprognose sind. Laut den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz soll das dann angenommen werden können, wenn das Kind in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder einem der in § 41 Abs. 1 Aufenthaltsverordnung genannten Staaten aufgewachsen ist. Warum sich Kinder aus Australien, -Israel, Japan, Kanada, der Republik Korea oder Andorra und Honduras leichter bei uns integrieren können als zum Beispiel türkische Kinder, vermag ich nicht nachzuvollziehen und finde es auch vom Ansatz her diskriminierend. Insofern ist auch diese Alternative des § 32 Abs. 2 AufenthG eher eng. Diese letztgenannten Voraussetzungen finden sich allerdings wohlgemerkt nicht im Gesetz, sondern in den Verwaltungsvorschriften. Der Gesetzestext selbst ist hier nicht so restriktiv. Der Forderung der Antragstellerinnen und -steller nach einer Angleichung der Nachzugsansprüche von subsidiär geschützten Personen an die von GFK-Flüchtlingen können wir uns anschließen. Wir teilen die Argumentation der Antragsteller auch dahin gehend, dass eine Gleichstellung von subsidiär geschützten Personen mit GFK-Flüchtlingen unter anderem deswegen erfolgen muss, weil Deutschland im September 2011 die Neufassung der sogenannten Qualifika-tionsrichtlinie beschlossen hat, in der eben gerade die Gleichbehandlung von GFK-Flüchtlingen mit Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, beschlossen wurde. Außerdem trifft die Aussage der Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zu, dass "der Schutzbedarf von Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz ... häufig zeitlich begrenzt" sei. Dies ist, soweit mir bekannt, eine nirgends nachgewiesene Behauptung. Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen wollen des Weiteren den Familiennachzug für alle Personen mit einem humanitären Aufenthaltsrecht öffnen, was bislang nicht geltendes Recht ist. Begründung hierfür war immer, dass der Aufenthalt dieser Personen ein vorübergehender ist. Die Praxis hat aber längst gezeigt, dass dies nicht zutrifft. Zudem muss auch die Trennung der Familie eines sich mit einem humanitären Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhaltenden Flüchtlings an Art. 6 GG gemessen werden. Die gesetzliche Fixierung einer quasi unüberwindlichen Trennung für diese Personengruppe erscheint im Lichte des Art. 6 GG als nicht haltbar. Allerdings vermag ich dem Antrag nicht zu entnehmen, wie der Anspruch konkret ausgestaltet werden soll, also ob das Ergebnis eine Ermessens- oder Anspruchsnorm sein soll. Eine Anspruchsnorm bedürfte wohl doch noch ein paar mehr und vor allem genauerer Voraussetzungen. Unter Nr. II Lit. 1 Buchstabe f fordern die Kolleginnen und Kollegen, den Kindernachzug in den nicht von den Abs. 1 bis 3 des § 32 AufenthG erfassten Fallkonstellationen allein am Kindeswohl zu orientieren und nicht an einer im Einzelfall nachzuweisenden Härte. Laut dem Gesetzestext ist das Kindeswohl - so wörtlich - bereits jetzt bei der Beurteilung einer besonderen Härte zu berücksichtigen. Dies wird jedoch durch die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz verschärft, wo es heißt, dass bei der nach § 32 Abs. 4 AufenthG zutreffenden Ermessensentscheidung "insbesondere das Wohl des Kindes und die einwanderungs- und integrationspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen" sind. Ich finde es schon problematisch, wenn ein Entscheider bei einem Antrag auf Kindernachzug prüfen soll, ob der Nachzug dem Kindeswohl entspricht und außerdem einwanderungspolitisch gesehen Sinn macht. Sollte er zu dem Ergebnis kommen, dass dies nicht der Fall ist, würde er dann gegen das Kindeswohl entscheiden? Mir ist klar, dass wir hier keine Verwaltungsvorschriften entwerfen, aber mein Erstaunen über die vorhandenen wollte ich an dieser Stelle doch einmal geäußert haben. Des Weiteren dringt die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen mit dem vorliegenden Antrag darauf, die Durchführung von DNS-Abstammungstests an klare Regeln zu binden und grundsätzlich nur in begründeten, nicht anders zu lösenden Einzelfällen zur Bestimmung der Familienzugehörigkeit anzuwenden. Insbesondere ist es ungerecht, einem Antragsteller, der alle ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorgelegt hat, mit dem generellen Hinweis zu begegnen, dass die von Behörden seines Landes ausgestellten Urkunden generell nicht glaubhaft seien. Das hat er schwerlich zu vertreten. Aus Datenschutzgründen und Gründen, die das Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen schützen, halten wir eine Einschränkung der Möglichkeit der Durchführung von DNS-Tests grundsätzlich für unterstützenswert. Ich kann auch nicht erkennen, dass solche Tests aufenthaltsrechtlich notwendig wären. Schließlich soll mit dem Antrag der Anspruch auf Kindernachzug auch zu einem getrennt lebenden Elternteil ermöglicht werden, wenn die Eltern das Sorgerecht gemeinsam ausüben und der andere Elternteil zugestimmt hat. Abgesehen davon, dass der Begriff des "alleinigen Sorgerechts" in vielen Staaten so nicht vorhanden ist, ist es in der heutigen Zeit bei der Vielzahl der verschiedenen Lebensentwürfe und Familienzusammensetzungen nicht mehr angebracht, die Entscheidung, wo ein Kind leben darf und wo nicht, von dem alleinigen Sorgerecht abhängig zu machen. Vielmehr sollte auch hier das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen und die Zustimmung beider Eltern dazu, wo das Kind am besten leben soll. In vielen Fragen stimmen wir den im vorliegenden Antrag erhobenen Forderungen zu. Einige sind uns jedoch noch etwas zu ungenau. Wir gehen davon aus, dass sie in den Ausschusssitzungen und laufenden Beratungen konkretisiert werden. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Wir sehen die Chancen einer durch Zuwanderung bereicherten Gesellschaft und wollen diese stärken. Zuwanderer sind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Grüne, Linke und Sozialdemokraten wollen, wie sie wieder einmal in Antragsform zeigen, etwas anderes: Sie wollen die Abschaffung einer Deutschlernpflicht für nachzugswillige Familienmitglieder. Damit werden sie, wie immer mit solchen Anträgen zur Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, indem sie falsche Erwartungen wecken und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördern. Die Oppositionsparteien und vor allem Linke und Grüne verwenden jeden beliebigen Vorgang aus der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Ausländerfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf. Wer, wie die Grünen mit dem vorliegenden Antrag, systematisch verhindern will, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, hier auch eine Lebensperspektive haben und Chancen entwickeln können, der schadet vor allem diesen Zuwanderern. Er schadet überhaupt der Öffnung Deutschlands für qualifizierte Zuwanderung. Wir sollten alle so ehrlich sein, gemeinsam anzuerkennen, dass abgeschottete Migrantenmilieus ohne jegliches Interesse an deutscher Sprache und Integration in Deutschland nicht zum friedlichen Zusammenleben in Deutschland beitragen. Wer dann noch, wie die Grünen im vorliegenden Antrag, trotz anerkannt fragwürdiger Urkundenlage in bestimmten Ländern in jedem Fall eine Einzelfallprüfung verlangt und die Kosten des Anliegens der Einwanderer dem deutschen Steuerzahler aufbürden will, der will durch uneingeschränkte Bürokratieaufblähung jegliche Kontrolle der Einwanderung unterbinden. Die Grünen freilich zielen auf eine nichtintegrierte und daher im politischen Diskurs unmündige Menschenschar ab, die sie nach Möglichkeit trotzdem am Wahlrecht teilhaben lassen wollen. Wenn die Oppositionsparteien endlich nicht nur mit Anträgen der vorliegenden Art um Migrantenstimmen buhlen würden, sondern auch einmal die Anliegen des friedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung der Gettobildung aufgreifen wollten, wäre eine solche Initiative vielleicht ernst zu nehmen. Wir Liberalen gestalten dagegen eine zukunftsträchtige Zuwanderungspolitik gemeinsam in der Koalition mit der Union. Statt politischer Nachsicht mit Integrationsfehlleistungen einerseits und daraus resultierenden Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwanderer andererseits wollen wir eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien, die die Integrationsziele klar benennt und einfordert. Wer dauerhaft hier leben und Bürgerrechte ausüben will, muss Deutscher werden wollen. Die Voraussetzungen dazu gehören dabei gerade hinsichtlich der zeitlichen Anforderungen auf den Prüfstand. Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohne Wenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur "territorial" nach Deutschland kommen, sondern in unserem Land und unserer Gesellschaft auch wirklich ankommen wollen. Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder Linke, für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort "Migrationshintergrund" stigmatisiert werden sollen. Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv denken. In dieser Hinsicht sagen natürlich auch wir: Kindernachzug ist ein wichtiges Thema. Aber wenn die Antragsteller so tun, als würde das Kindeswohl beim Nachzug missachtet, dann ist das einfach nicht hinnehmbar. Und die Antragsteller vergessen, dass es natürlich auch Missbrauchsmöglichkeiten gibt, die wir im Blick behalten müssen. Selbstverständlich muss man ständig prüfen, ob man nicht etwas verbessern kann. Wir, FDP und CDU/CSU, haben im Rahmen des Richtlinienumsetzungsgesetzes das Kindeswohl ganz klar in den Mittelpunkt gerückt - so stark wie keine Regierung zuvor. Beispielhaft sei zudem erwähnt: Erstmals gibt es dank der schwarz-gelben Koalition ein bundesgesetz-liches Bleiberecht für Kinder und Jugendliche - unabhängig vom Status der Eltern. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für diejenigen Zuwanderer, die die Integration in Deutschland geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben. Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben. Die Grünen wollen ein Deutschland, in dem ethnisch klar voneinander segregierte Gruppen sprachlos nebeneinanderher existieren. Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen - egal welcher Herkunft - friedlich miteinander leben und sich über die Ziele ihres Zusammenlebens verständigen und Vorbehalte, Vorurteile und Ängste durch Kommunikation abbauen können. Das ist der Unterschied zwischen der rot-rot-grünen "Toleranz durch Ignoranz" und der liberalen Kultur des Willkommens. Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst umfassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden darf. Die Linke fordert, dass die zahlreichen Einschränkungen des Menschenrechts auf Familienzusammenleben in der Praxis endlich ohne Wenn und Aber beendet werden. So wie die Gesetzeslage und die Verwaltungspraxis insgesamt von einer generellen Abwehrhaltung, von Misstrauen, Unterstellungen und Generalverdacht geprägt sind, zeigt sich auch beim Nachzug von minderjährigen Kindern ausländische Eltern dieser (Un-)Geist der "Steuerung", und das meint vor allem "Begrenzung" von Migration. Auch wenn die Bundesregierung 2010 nach jahrelangem Verzögern den Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat, lässt dies leider nicht darauf schließen, dass ihr das Kindeswohl im Zusammenhang mit der Migration tatsächlich am Herzen liegt. Dagegen spricht bereits die Auffassung der Bundesregierung, dass die Rücknahme des Vorbehalts kein Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz und insbesondere bezüglich der Frage der aufenthaltsrechtlichen Handlungsfähigkeit Minderjähriger ab 16 Jahren bedarf. Die Beschränkung des Kindernachzugs auf das 16. Lebensjahr verhindert oft, dass der Aufenthaltswechsel zu einem für den Jugendlichen günstigeren Zeitpunkt erfolgen kann, also zum Beispiel erst nach Abschluss einer Ausbildung. In jedem Fall verhindert sie in vielen Fällen das Zusammenleben von 16- und 17-jährigen Jugendlichen mit ihren -Eltern. Die Linke fordert auch die Berücksichtigung von familiären Bindungen über die Kernfamilie hinaus, wie es zum Beispiel im EU-Freizügigkeitsrecht der Fall ist, auch wenn diese Regelungen uns noch nicht weit genug gehen. Auch wenn § 32 des Aufenthaltsgesetzes, AufenthG, und einige Stellen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, insbesondere bezüglich der Familienzusammenführung, eine Kindeswohlprüfung beim Kindernachzug vorsehen - ein systematisch und wirksam zu berücksichtigender Vorrang des Kindeswohls ist im Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht verankert. Dass es letztlich wie beim Ehegattennachzug auch um eine soziale Selektion geht, zeigt, dass schon der theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB II die Familienzusammenführung verhindert - und das, obwohl in Deutschland generell Familien und Alleinerziehende besonders von Armut bedroht sind. Bei Migrantinnen und Migranten und hierbei insbesondere bei Ausländerinnen und Ausländern wissen wir, dass zu den finanziellen noch ausländerrechtliche Probleme hinzukommen, die ihnen das Leben schwer machen (sollen). Eine tatsächliche Inanspruchnahme von sozialen Leistungen kommt für viele gar nicht oder nur teilweise infrage, weil das den weiteren Aufenthalt gefährden könnte oder die Betroffenen dies zumindest fürchten müssen. Zwar wird der Bezug von Ausbildungsförderung bei der aufenthaltsrechtlichen Beurteilung inzwischen nicht mehr als "schädlich" angesehen; ein indirekter Druck auf ausländische Kinder und Jugendliche, längere Ausbildungen zu meiden, besteht jedoch nach wie vor, weil sich das geringe oder fehlende Einkommen während einer Ausbildung oder des Studiums negativ auf den Status insbesondere auch von Familienangehörigen auswirken kann. Auch die Verstöße gegen EU-Recht und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beim Kindernachzug sind eklatant. Insbesondere fehlt eine ernst zu nehmende individuelle Einzel- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie es zum Beispiel im Chakroun--Urteil des EuGH gefordert wurde, wenn auch nur eine Nachzugsvoraussetzung nicht erfüllt ist. Den Nachzug von Kindern zu ihren Eltern mit der Begründung zu verhindern, dass der Lebensunterhalt um 20 Euro zu niedrig liegt, ist eben nicht nur offenkundig unmenschlich, sondern auch ein Verstoß gegen EU-Recht. Eine besondere ausländerrechtliche Schikane und Diskriminierung ist im Gendiagnostikgesetz festgeschrieben, wonach ausländischen und binationalen Familien weniger Schutzrechte zugestanden werden als anderen Personen, die sich einem Gentest unterziehen. Die Regelungen zur Durchführung eines Abstammungstestes dienen ausschließlich der Feststellung von biologischen Verwandtschaftsverhältnissen. Die in § 17 Abs. 8 des Gendiagnostikgesetzes enthaltene Sonderregelung beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses unter anderem im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zum Familiennachzug muss ersatzlos gestrichen werden; denn Migrantinnen und Migranten aus über 40 Staaten sind von einer diskriminierenden -Praxis betroffen. Von ihnen werden Urkunden zum Nachweis der Verwandtschaft nicht anerkannt und auch andere behördliche Belege oftmals nicht akzeptiert. Den biologischen Abstammungsnachweis durch einen DNA-Test für diese Menschen zum maßgeblichen Kriterium für die Beurteilung der Familienbeziehung zu machen, haben wir damals abgelehnt und lehnen ihn heute ab; denn Kindern von sozialen Vätern wird damit faktisch ihr Grundrecht auf Familienzusammenleben verwehrt. Beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses bei Staatsangehörigen aus so-genannten Problemstaaten mit - aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland - unzureichenden Urkundssystemen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Im Zweifelsfall muss zum Beispiel die Abgabe von Versicherungen an Eides statt zur Klärung der Familiensituation ausreichen, wenn keine gegenteiligen gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Im Zuwanderungsrecht hat das Kindeswohl grundsätzlich nur unzureichend Niederschlag gefunden, ganz zu schweigen vom Vorrang des Kindeswohls. Die UN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und -Status des Kindes. Die bisherigen Bundesregierungen haben keine Abhilfe dafür geschaffen, die konventionswidrige Missachtung des Kindeswohls endlich zu beenden bzw. zu verhindern. Die Linke fordert deshalb eine ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahrens-, Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsgesetz. Die Familienzusammenführung muss so gestaltet werden, dass das Kindeswohl dabei Priorität hat. Das Recht auf ein wohlwollendes, humanes und beschleunigtes Verfahren muss in der Verwaltungspraxis umgesetzt werden. Den Antrag der Grünen begrüßen wir unabhängig von unseren im Detail weitergehenden Forderungen, weil er unstrittige Probleme und Einschränkungen des Kindernachzugs aufzeigt und beseitigen will. Schade ist nur, dass er so spät in der Legislaturperiode eingebracht wird; denn eine ernst zu nehmende, gründliche Beratung dieses Antrags ist in der verbleibenden Zeit bis zur Sommerpause wohl nicht mehr zu erwarten. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im deutschen Recht wird der Kindernachzug durch verschiedene Vorschriften erheblich erschwert. Probleme gibt es insbesondere bei dem Nachzug von über 16-jährigen Kindern sowie bei Kindern von Personen mit einem humanitären Aufenthaltstitel und getrennt lebenden Elternteilen, die die Personensorge gemeinsam ausüben. Es ist Zeit, die familienfeindlichen Regelungen im Nachzugsrecht zu überwinden und endlich die Interessen der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Ich möchte im Folgenden auf einige unserer Vorschläge eingehen. Minderjährige ab dem 16. Lebensjahr müssen für den Nachzug zu ihren hier lebenden Eltern entweder Sprachkenntnisse oder sonstige Integrationsvoraussetzungen nachweisen. Die von den Kindern geforderten Sprachkenntnisse liegen sogar deutlich über den Anforderungen für eine Einbürgerung. Dadurch werden der Nachzug und die Familienzusammenführung stark erschwert und teilweise sogar verhindert. Hinzu kommt, dass Kinder aus bestimmten Ländern benachteiligt werden. Die Bundesregierung prognostiziert zum Beispiel bei Kindern aus Australien, Israel, Japan, Kanada, der Republik Korea, Neuseeland und den USA in der Regel gute Integrationsvoraussetzungen, während bei Kindern aus anderen Staaten pauschal schlechtere Integrationsvoraussetzungen vermutet werden. Möglicherweise sind die Lernvoraussetzungen für Kinder in den restlichen Staaten schlechter als bei den eben aufgezählten. Jedoch kann niemand belegen, dass die Kinder aus den nichtprivilegierten Staaten später spezifische Integrationsprobleme aufweisen. Das ist reinste Wahrsagerei und bedenklich im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot. Hinter jedem Einzelfall stecken individuelle menschliche Schicksale. Eine pauschale Betrachtung kann nicht infrage kommen. Deutschland hat damit die härtesten Regeln innerhalb der Europäischen Union; denn kein anderes EU-Land hat diese Sonderregelungen für 16- bis 18-jährige Kinder. Es ist verfehlt, für den Zuzug nach Deutschland höhere Sprachanforderungen zu stellen, als für eine Einbürgerung erforderlich sind. Die Integrationsbedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug müssen aufgehoben werden. Im deutschen Kindernachzugsrecht werden subsidiär geschützte Personen gegenüber Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention benachteiligt. Dabei sollten beide Personengruppen nach der EU-Qualifikationsrichtlinie von 2011 gleichbehandelt werden. Die Bundesregierung hat dieser Richtlinie zwar zugestimmt, jedoch setzt sie den Beschluss nicht um. Es gibt absolut keinen Grund die überfällige Gleichstellung dieser Personengruppen nicht schon heute umzusetzen. Deshalb fordern wir eine sofortige Gleichbehandlung im Kindernachzug. Nach geltendem Recht sind Personen mit bestimmten, insbesondere humanitären Aufenthaltstiteln vom Kindernachzug ausgeschlossen. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 1987 klargestellt: Auch nichtdeutsche Familienangehörige stehen nach Art. 6 Grundgesetz unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Der dauerhafte Ausschluss des Familiennachzugs ist ein gravierender Eingriff in das Recht auf familiäres Zusammenleben. Wir gehen davon aus, dass die Regelung grundrechtswidrig ist. Dem soll dieser Antrag abhelfen. Darüber hinaus wird besonders der Nachzug von Kindern getrennt lebender Elternteile in unzumutbarer Weise erschwert. Sie dürfen grundsätzlich nur zu ihrem Elternteil nachziehen, wenn dieser das alleinige Sorgerecht hat. Damit wird der Nachzug von Kindern aus Ländern, die ein alleiniges Sorgerecht nach unserem Verständnis nicht kennen, weitgehend ausgeschlossen. Zwar sieht das Aufenthaltsrecht noch eine Härtefallregelung vor. Wir wissen aber alle, dass es praktisch unmöglich ist, die zuständigen Behörden von einer besonderen Härte zu überzeugen. Auch hier gibt es dringenden Änderungsbedarf. Maßgeblich sollte allein sein, dass der zusammenführende Elternteil sorgeberechtigt ist und der andere Elternteil dem Nachzug zugestimmt hat. Besonders wichtig ist uns schließlich eine Öffnung des Kindernachzugs im Ermessen. Bei den Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz hatten wir damals mit der SPD in die Härtefallregelung aufgenommen, dass das Kindeswohl und die familiäre Situation vorrangig berücksichtigt werden sollten. Die Bundesregierung hat die Absicht des damaligen Gesetzgebers jedoch konterkariert. Nach der von ihr entworfenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz soll der Rechtsanwender - gleichberechtigt -neben dem Kindeswohl - den auf "Steuerung und -Begrenzung" ausgerichteten "integrations- und einwanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland" Geltung verschaffen. Der Kindernachzug im Ermessen ist dadurch weitgehend zum Erliegen gekommen. Wir schlagen daher vor, den Kindernachzug nicht vom Vorliegen einer besonderen Härte abhängig zu machen und das Ermessen der zuständigen Behörden allein am Kindeswohl zu orientieren. Wir müssen die unzumutbaren Steine auf dem Weg zur Familienzusammenführung beseitigen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl auszurichten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12395 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. März 2013, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht. (Schluss: 21.28 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bleser, Peter CDU/CSU 14.03.2013 Buchholz, Christine DIE LINKE 14.03.2013 Canel, Sylvia FDP 14.03.2013 Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 14.03.2013 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 14.03.2013 Gohlke, Nicole DIE LINKE 14.03.2013 Groß, Michael SPD 14.03.2013 Dr. Happach-Kasan, Christel FDP 14.03.2013 Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 14.03.2013 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Hintze, Peter CDU/CSU 14.03.2013 Hörster, Joachim CDU/CSU 14.03.2013 Hoff, Elke FDP 14.03.2013 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 14.03.2013 Korte, Jan DIE LINKE 14.03.2013 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Leidig, Sabine DIE LINKE 14.03.2013 Luksic, Oliver FDP 14.03.2013 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 14.03.2013 Mast, Katja SPD 14.03.2013 Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU 14.03.2013 Möller, Kornelia DIE LINKE 14.03.2013 Montag, Jerzy BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 14.03.2013 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 14.03.2013 Pronold, Florian SPD 14.03.2013 Reinhold, Hagen FDP 14.03.2013 Remmers, Ingrid DIE LINKE 14.03.2013 Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 14.03.2013 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Sager, Krista BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Schäffler, Frank FDP 14.03.2013 Schieder (Weiden), Werner SPD 14.03.2013 Schlecht, Michael DIE LINKE 14.03.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.03.2013 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Schreiner, Ottmar SPD 14.03.2013 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.03.2013 Wagner (Schleswig), Arfst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14.03.2013 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 14.03.2013 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und Jörn Wunderlich (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Tagesordnungspunkt 7 a) Wir haben uns bei dem benannten Gesetzentwurf enthalten. Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei müssen der Schutz der Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der Debatte stehen. Schutz der Opfer meint in allererster Linie Prävention. Der beste Opferschutz ist Prävention. Aus der Sicht der Opfer von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften zu verlängern. Alle Abgeordneten sprechen sich für die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen aus. Die existierende Frist von drei Jahren zur Geltendmachung von Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumatisiert sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Dass Schmerzensgeld- und Schadenersatzansprüche dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen wir als erhebliches Problem an. Insoweit begrüßen wir ausdrücklich, dass in den Drucksachen 17/3646 und 17/5774 die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist auf 30 Jahre gefordert wird, sowie in der Drucksache 17/5774 die Anhebung der Regelung zur Hemmung der zivilrechtlichen Verjährung. Aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch ist die Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen in -beiden Gesetzentwürfen. Die Einführung der strafrechtlichen Verjährungsregelung in Drucksache 17/3646 knüpft nicht mehr an die für die jeweilige Straftat vorgesehene Höchststrafe an, sondern schafft eine bislang nicht bekannte Sonderregelung. Diese Regelung wie auch die Verschiebung des Beginns des Laufens der strafrechtlichen Verjährung auf das 25. Lebensjahr - Drucksache 17/5774 - sind aber aus rechtspolitischer Sicht im -Hinblick auf den Gesichtspunkt der Rechts-sicherheit aus unserer Sicht nicht sachgerecht. Damit wird eine Strafverfolgung noch zu einem Zeitpunkt nach der Tat gestattet, zu der eine strafrechtliche Sachverhaltsaufklärung nach rechtsstaatlichen Maßstäben kaum noch möglich sein dürfte. In vielen Fällen wird eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung wegen des strafpro-zessualen Grundsatzes "in dubio pro reo" zum Freispruch des mutmaßlichen Täters führen, was sich aus Sicht der Opfer als eine nachträgliche "amtliche Legitimierung der Tat" darstellen und den Zweck des Verfahrens aus Opfersicht konterkarieren würde. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes (Tagesordnungspunkt 13) Helmut Brandt (CDU/CSU): Eine für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung transparente und nachvollziehbare Gebührenerhebung ist derzeit aufgrund der stark zersplitterten und heterogenen Struktur des Verwaltungsgebührenrechts des Bundes in weit mehr als 200 Gesetzen und Rechtsverordnungen kaum möglich. Das ist lästig, teuer und bürokratisch. Ob es beispielsweise um Informationen geht, die Personen oder Unternehmen benötigen, ob es um die Beantragung eines Personalausweises oder um eine TÜV-Plakette geht - wir brauchen eine einheitliche Grundlage, aufgrund derer jeder die Kosten, die durch behördliches Handeln auf ihn zukommen, schnell, leicht und verlässlich nachvollziehen kann. Wie erreichen wir das? Mit der Allgemeinen Gebührenverordnung des Bundes sollen insbesondere einheitliche und anwenderfreund-liche Vorgaben für die Kalkulation kostendeckender Gebühren geschaffen werden. Dabei sollen die Gebühren grundsätzlich auf Grundlage von allgemein ermittelten Kostenpauschalen festgestellt werden, sodass die Behörden in der Regel allein anhand von Zeitermittlungen die Gebühren für ihre Leistungen einfach und rechtssicher berechnen können. Zudem wird durch die grundsätzliche Bindung der Gebühr an eine nach betriebswirtschaft-lichen Maßstäben berechenbare Kostengrenze der "Preis" für die öffentliche Leistung für Bürger sowie Unternehmen verständlich und klar nachvollziehbar. Insgesamt wird nicht nur erheblicher Verwaltungsaufwand abgebaut, sondern Bürger, Unternehmen und Verwaltung werden auch von unnötigen Rechtsverfolgungskosten entlastet. Tragender Grundsatz der Gebührenbemessung ist künftig das Kostendeckungsprinzip. Das bedeutet, dass die Kosten, die auf Bürger und Unternehmen für eine in Anspruch genommene Verwaltungsleistung zukommen, nicht höher sein dürfen als die Personal- und Sachkosten, die auf Verwaltungsseite für diese Leistung entstehen. Bürger und Unternehmen sollen also künftig vor zu hohen, die tatsächlichen Kosten übersteigenden Gebühren geschützt werden. Nach dem bisherigen Recht sind für die Gebührenhöhe auch die Bedeutung, der wirtschaftliche Wert oder der Nutzen der öffentlichen Leistung maßgeblich. Diese Kriterien sind unscharf und haben in der Vergangenheit teils zu weit über den tatsächlichen Kosten liegenden Gebührenforderungen geführt. Die Folge waren zahlreiche gerichtliche Auseinandersetzungen. Mit der Deckelung der Gebühren durch eine klar nachweisbare Kostengrenze erreichen wir ein dringend gebotenes Mehr an Rechtssicherheit. Gebührenermäßigungen und sogar Gebührenbefreiungen sind sowohl durch die Gebührenverordnungen als auch durch die Behörde im Einzelfall möglich. Sie erlauben Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip, um sozialen Belangen Rechnung zu tragen und fachspezifische Regelungsziele angemessen bei der Gebührenbemessung zu berücksichtigen. Damit ist im Sinne einer bürgerfreundlichen Verwaltung sichergestellt, dass einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger angemessen entlastet werden. Im Zeitalter des Computers und des Internets halten wir außerdem eine Privilegierung digitaler Kopien für notwendig. Mit Blick auf die Förderung einer elektronischen Verwaltung, die notwendige Entbürokratisierung und die Beschleunigung von Prozessen in der Verwaltung ist es uns ein Anliegen, digitale Kopien zu fördern. Daher sollten diese günstiger sein als Papierkopien. Für die Verwaltung bedeutet es gerade bei umfangreichen Unterlagen weit weniger Aufwand, ein Dokument elek-tronisch zu versenden als der Kopiervorgang und die postalische Versendung. Um die Verwaltung zu entlasten, aber auch aus Gründen der Bürgerfreundlichkeit und der Umweltfreundlichkeit haben wir deshalb im Gesetz verankert, dass digitale Kopien gebührenmäßig privilegiert werden. Mit den Besonderen Gebührenverordnungen der Bundesministerien wird das bislang in circa 200 Gesetzen und Verordnungen geregelte, stark zersplitterte Gebührenrecht des Bundes in einheitlich aufgebauten Gebührenverordnungen gebündelt. Durch die Zusammenführung sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständigkeitsbereich der Bundesministerien jeweils in Gebührenverordnungen werden künftig Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in die Lage versetzt, sich schnell und einfach einen Überblick über für sie relevante Gebühren zu verschaffen. Die Bundesregierung wird bei der Konzipierung der Allgemeinen und Besonderen Gebührenverordnungen auf die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten. Zentrales Ziel ist es, einen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen bezahlbaren Zugang zu Verwaltungsleistungen des Bundes sicherzustellen. Obwohl bereits der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass Gebühren angemessen sein müssen, wird nun im Gesetzentwurf noch einmal ausdrücklich festgehalten, dass die Höhe der Gebühren kein Hindernis für die Inanspruchnahme einer Leistung sein darf. Künftig sind die Gebühren für öffentliche Leistungen der Länder grundsätzlich durch Landesrecht zu regeln. Dies vermeidet aufwendige Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern und vereinfacht die Rechtsanwendung. Damit entspricht der Bund den Forderungen der Länder im Rahmen der Föderalismusreform, diesen im Gebührenrecht eigenständige Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu verschaffen. Eine Ausnahme gilt für Gesetze, in denen ein Bedürfnis nach bundeseinheitlichen Gebührenregelungen für Leistungen von Länderbehörden besteht. Dies ist beispielsweise im Straßenverkehrsrecht der Fall, da in diesem Bereich eine von Land zu Land unterschiedliche Gebühr zu einem Wettbewerb zulasten der Verkehrssicherheit führen könnte, zum Beispiel bei Gebühren für die Hauptuntersuchung an Kfz. In diesen Fällen bestimmt weiterhin der Bund - in Abstimmung mit den Ländern - die Gebühren. Viele Länder haben bereits einheitliche Gebührengesetze, sodass es auch aus diesem Grund sinnvoll ist, dass der Bund nachzieht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tragen wir zu mehr Transparenz und Verlässlichkeit im Rahmen der Gebührenberechnung und der Gebührenerhebung bei. Wir bringen sozusagen Licht ins Dunkel. Das neue Bundesgebührengesetz, mit dem das mehr als 40 Jahre alte Verwaltungskostengesetz abgelöst wird, modernisiert, bereinigt und vereinheitlicht das Verwaltungsgebührenrecht für die gesamte Bundesverwaltung. Die Umsetzung der Reform erfolgt über einen Zeitraum von höchstens fünf Jahren durch die Allgemeine Gebührenverordnung der Bundesregierung und die Besonderen Gebührenverordnungen der Bundesministerien. Kirsten Lühmann (SPD): "Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn", hat meine Großmutter immer gesagt. Es ist ein seltener Glücksmoment, dessen Zeuge wir heute hier werden. Der Innenminister legt einen Gesetzentwurf vor, der zum einen nicht in den Mühlen des schwarz-gelben Koalitionsbetriebes zermahlen wurde und zum anderen wirklich sinnvoll ist. Die Strukturreform des Gebührenrechts - nun ja, sie gehört nicht zu den drängendsten innenpolitischen Fragen unserer Zeit, aber es handelt sich dabei dennoch um eine sinnvolle Maßnahme. Schaut man sich an, wo das Verwaltungsgebührenrecht geregelt ist, findet man über 200 Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Länder, von der Abfallverbringungskostenverordnung über die De-Mail-Kostenverordnung, die Projekt-Mechanismen-Kostenverordnung, die Kostenverordnung für die Registrierung homöopathischer Arzneimittel bis zur Elektro- und Elektronikgerätegesetz-Kostenverordnung usw. Das vorliegende Gesetz bündelt nun Regelungen aus diesen zahlreichen Fachgesetzen, und das ist sinnvoll; denn es ist nicht notwendig, dass jede Fachverordnung einzeln regelt, wie zum Beispiel Gebühren für eine Auskunft berechnet werden. Das Recht wird durch die Bündelung einfacher und unbürokratischer. Bei der Berechnung von Gebühren wird zukünftig stärker das Prinzip der Kostendeckung zugrunde gelegt. Damit sollen die Behörden in die Lage versetzt werden, kostendeckende Gebühren festzulegen - in der Regel gemessen am Zeitaufwand. Das ist nicht nur notwendig für die Kostendeckung, sondern auch transparent für die Bürger und Bürgerinnen. Ein weiteres Anliegen des Gesetzes ist die Entflechtung von Bund-Länder-Recht. Dieses Ziel entspricht den Beschlüssen der Föderalismuskommission II. Die Festsetzung von Gebühren durch den Bund ist teilweise sehr aufwendig: Erst muss in allen Ländern der Aufwand abgefragt werden, dann wird ein Durchschnittswert ermittelt, der dann wiederum aber nicht für alle kostendeckend ist. Es gibt zum Beispiel keinen Grund, warum die Gebühr für das Ausstellen eines Parkausweises für Anwohner durch Bundesrecht geregelt werden muss. Besser ist es, Gebührentatbestände, die sich auf Leistungen beziehen, die durch Landesgesetze geregelt sind, auch durch die Länder oder Kommunen festlegen zu lassen. Das spart Abstimmungsaufwand, und dabei können regionale Besonderheiten berücksichtigt werden. Die Bundesregierung ist allerdings bei der Entflechtung etwas übers Ziel hinausgeschossen. Im Verkehr sollten bundesweit einheitliche Regelungen bestehen bleiben. Der Luftverkehr zum Beispiel wird ausschließlich durch Gesetzgebung des Bundes bzw. der EU geregelt. Hier wäre es nicht sinnvoll, die Gebühren in jedem Bundesland einzeln zu regeln. Das wäre einerseits für die Bürger und Bürgerinnen nicht nachvollziehbar, und andererseits wollen wir hier keinen Unterbietungswettbewerb. Insofern ist es gut, dass die Einwände des Bundesrates berücksichtigt wurden und die bundeseinheitlichen Gebührenregelungen im Verkehrsbereich beibehalten werden. Unter dem Strich sehen wir hier eindeutige Verbesserungen und stimmen daher dem Gesetzentwurf zu. Es wäre allerdings schön, wenn die Bilanz des Innenministers außer der Strukturreform des Gebührenrechts noch weitere Erfolge vorzuweisen hätte. Wenn wir das auch sagen könnten bei der Reform der Bundespolizei, dem NPD-Verbot, der Informationsfreiheit und der Armutsmigration! Leider ist das in allen diesen Fragen nicht der Fall. Die Bundespolizei verwaltet den Mangel, ein Konzept für die Zukunft hat der Innenminister über seine gesamte Amtszeit hinweg nicht entwickelt. Beim NPD-Verbot ist er einmal dafür, einmal dagegen. Wofür er steht, ist niemandem klar. Bei der Informations- und Pressefreiheit gibt es keine Fortschritte. Dabei liegen durch die Evaluierung des Informationsfreiheitsgesetzes und das aktuelle Urteil zum Presseauskunftsgesetz klare Empfehlungen vor. Beim Thema Armutsmigration schlägt Friedrich schrille Töne an und schürt Ressentiments, anstatt Lösungen auf den Tisch zu legen. Nun kann er sich immerhin die Gebührenstrukturreform ans Revers heften. Schön und gut. Aber ich muss ehrlich sagen, von einem Bundesinnenminister erwarte ich mehr als das! Im Hahnenkampf kann man übrigens folgendes Phänomen beobachten: Wenn der Hahn sich nicht entscheiden kann, ober er angreifen oder fliehen soll, fängt er an zu picken - eine klassische Übersprungshandlung. Einmal hier und einmal da ein Korn aufzupicken, mag einen kurzen Glücksmoment verschaffen, es bringt aber unser Land nicht weiter. Es wäre gut, wenn der Minister sich in den verbleibenden Monaten dieser Wahlperiode einen Ruck geben und die drängenden innenpolitischen Entscheidungen endlich in Angriff nehmen würde. Manuel Höferlin (FDP): Die Erhebung von Verwaltungsgebühren ist derzeit für Bürgerinnen und Bürger noch schwer durchschaubar und sehr unübersichtlich. Mehr als 200 verschiedene Gesetze und Verordnungen regeln für zahlreiche Einzelfälle, welche Gebühren in welcher Höhe erhoben werden. In zahlreichen Fachgesetzen mussten spezielle Regelungen zur Erhebung von Verwaltungsgebühren erlassen werden. Das Ergebnis: ein Wildwuchs unterschiedlicher Regelungen zu Gebührenerhebungen in unterschiedlichen Bereichen. Und dieser Zustand ist nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger ein Problem, die sich einer vorgeblichen verwaltungs-politischen Willkür ausgesetzt sehen; er stellt auch die Verwaltung vor ein Problem. Die uneinheitlichen Regelungen für die Erhebung von Verwaltungsgebühren -sorgen für Rechtsunsicherheit und schaffen den Verwaltungsgerichten unnötig viel Arbeit. Die christlich-liberale Koalition hat es sich zum Ziel gemacht, diesen Missstand zu beheben. Die Verwaltung in Deutschland muss schlank, effizient und bürgernah sein. Verwaltungsgebühren sollten - wenn sie schon erhoben werden müssen - transparent sein. Sie sollten auf einer gemeinsamen Rechtsgrundlage erhoben werden. Und sie dürfen nicht dazu dienen, Bürger von der Durchführung von Verwaltungsakten abzuschrecken. Das ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts auch -gelungen. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Verbesserungen darstellen, die uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen sind. Wir haben im Änderungsantrag der Koalition klar geregelt, dass zukünftig Gebühren für Verwaltungsakte nicht mehr so hoch sein dürfen, dass sie Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen davon abhalten, die für die Gebühr erbrachte Verwaltungsleistung in -Anspruch zu nehmen. Diesen sogenannten Prohibitiv-gebühren haben wir einen Riegel vorgeschoben. Eine Verwaltung sollte eine Leistung anbieten und für diejenigen, die sie in Anspruch nehmen wollen, auch tatsächlich zugänglich machen. Das ist ihre Aufgabe. Diesen Anspruch untermauern wir, indem wir das Kostendeckungsprinzip stärken. Es gilt nun pauschal für alle von Verwaltungen erhobenen Gebühren. Ver-waltungsgebühren dürfen ab sofort nur noch in der Höhe -erhoben werden, in der sie tatsächlich individuell zu-rechenbare Kosten verursachen. Das ist gerechte Gebührenerhebung. Ein weiterer Aspekt, den wir mit dem neuen Verwaltungsgebührenrecht auch stärken und fördern wollen, ist die elektronische Verwaltung. E-Government ist der -Motor der Verwaltungsmodernisierung, und Deutschland muss hier mit anderen modernen Demokratien Schritt halten. Wir konnten bereits erste Erfolge im Planungsvereinheitlichungsgesetz erzielen und bringen hierzu auch das E-Government-Gesetz auf den Weg, mit dem die elek-tronische Verwaltung eine grundsätzliche Stärkung erfährt. Aber solche strukturellen Reformen dürfen am Ende nicht an hohen Verwaltungsgebühren für elektronische Verwaltungsakte scheitern. Wir haben daher durchgesetzt, dass die einfache elektronische Kopie zukünftig für alle Bürgerinnen und Bürger kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Auch haben wir erreicht, dass die einfache elektronische Auskunft bei einer Bundesbehörde zukünftig kostenfrei ist. Behörden werden hierfür also den Bürgerinnen und Bürgern keine Gebühren in Rechnung stellen. Das ist bürgernahe und moderne Verwaltung. Denn eine elektronische Kopie lässt sich in der Regel schneller erstellen als eine Papierkopie. Und sie lässt sich auch leichter zustellen, zum Beispiel mit einer einfachen E-Mail. Die besondere Privilegierung der elektronischen Kopie ist in Sachen Bürokratieabbau, Beschleunigung der Verwaltungsarbeit und Kosteneffizienz der Verwaltung ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger. Eine weitere Verbesserung, die mit dem vorliegenden Entwurf erreicht wird, ist die Vereinheitlichung der Grundsätze für Verwaltungsgebühren. Das Kosten-deckungsprinzip habe ich in diesem Zusammenhang bereits angesprochen. Daneben ist mit den zentralen Regelungen im Gesetz zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine bundesweit einheitliche Regelung für die Berechnung und Erhebung von Gebühren bei Bundesbehörden gefunden worden. Das schafft nicht nur Klarheit für Bürgerinnen und Bürger. Es entschlackt auch zahlreiche Fachgesetze und entlastet so Bürokratie und Justiz. Denn es ist jetzt eben nicht mehr unklar, nach welchem Prinzip Gebühren berechnet werden müssen. Es ist jetzt eben nicht mehr nötig, gegen Gebühren zu klagen. Und es ist auch nicht mehr unklar, woher die Regelung für die Gebühren überhaupt stammt. Wie Sie sehen, konnten wir mit dem neuen Gesetz zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine Reihe von Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland durchsetzen und die Modernisierung der Verwaltung in Deutschland vorantreiben. Mit dem neuen Verwaltungsgebührenrecht haben wir einen weiteren Baustein für unsere moderne, bürgernahe Verwaltung geschaffen, die wir mit dem E-Government-Gesetz und dem Planungsvereinheitlichungsgesetz weiter modernisieren wollen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Verbesserungen ebenfalls anerkennen, und bitte um Ihre Unterstützung. Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Die Neuordnung des Gebührenrechts des Bundes ist überfällig und im Grundsatz auch zu begrüßen. Allein die beabsichtigte Entschlackung von 99 Gesetzen und 110 Rechtsverordnungen kann nur als Erfolg gewertet werden. Die Absicht, klare Regelungen zu schaffen, die verhindern, dass man eine Gebührenregelung auf der dritten Seite des vierten Anhangs der fünften Ergänzung einer Verordnung übersieht und damit in eine Falle läuft, ist zu unterstützen. Mehr Übersichtlichkeit und Transparenz bei der Frage der zu zahlenden Gebühren sind besser für die Bürgerinnen und Bürger, für die Unternehmen und auch für die zuständigen Verwaltungen, die sich dann ja auch auf einer stabileren und verständlicheren Grundlage bewegen. Wenn es richtig gut läuft, lassen sich eine Reihe von Streitigkeiten bis hin zu zähen Verwaltungsgerichtsverfahren vermeiden, wenn man diese Neuordnung wirklich gut macht. Natürlich ist das Gegenteil bei einer schlechten Reform auch denkbar, wenngleich nicht wünschenswert. Doch dieses Gesetz wäre keines dieser Bundesregierung, wenn es nicht auch eine streng neoliberale Logik selbst bei diesem Thema verfolgen würde. Natürlich kann man es begrüßen, dass der Bund und die Länder Eigenständigkeit bei der Gestaltung der Gebühren bekommen und damit der Föderalismus gelebt wird. Auf der anderen Seite - und da kommen wir zum Neoliberalismus - ist die Ausgestaltung wieder so gewählt, dass es nicht den Föderalismus, sondern nur den Wettbewerb unter den Ländern stärkt. Wieder wird es so sein, dass die Länder, die eine bessere Finanzausstattung haben, sich gegenüber denen mit klammen Kassen einen Vorteil verschaffen können. Wer es sich leisten kann, wird auf Gebühren verzichten, um beispielsweise Unternehmensansiedlungen zu befördern oder Bauanträge für besondere Vorhaben, die finanzstarke Einwohnerinnen und Einwohner anlocken, attraktiver zu machen. Und die Länder, die sich den Verzicht auf Einnahmen aus Gebühren leisten können, werden es dabei nicht belassen. Von den finanzschwachen Ländern werden sie verlangen, dass Gebühren in voller zulässiger Höhe erhoben werden. So müsse man sich dann um eigene Einnahmen bemühen, und das wäre dann ja auch nur gerecht. Doch das ist es genau nicht. Den Vorteil aus der eigenen Stärke noch zum zusätzlichen Nachteil der Schwächeren zu machen, ist ungerecht und unsolidarisch. Das Bestehen solcher Absichten muss konkret vermutet werden, schaut man sich die Äußerungen des hessischen Staatsministers Boddenberg im Bundesrat zum Thema an. Diese Verfahrensweise ist denen, die kommunalpolitisch aktiv sind, bestens vertraut. Eine finanzstarke kleine Gemeinde im Umland einer größeren Stadt wirbt gewöhnlich mit niedrigen Steuern und Abgaben. Sie bietet einen niedrigeren Gewerbesteuerhebesatz, eine geringere Grundsteuer B als die Großstadt an und zieht so Investoren und Besserverdienende aus der Stadt ab. Die meist in Haushaltsnotlage befindliche Großstadt kann aber diesen Wettlauf nach unten nicht mitmachen, weil sie durch die jeweilige Rechtsaufsichtsbehörde gezwungen wird, ihre Einnahmen um das maximal Mögliche zu erhöhen. Dabei geht es dann immer wieder um die beiden genannten Steuerquellen und natürlich immer wieder auch um Verwaltungsgebühren. Die Großstadt hat also einen erheblichen Nachteil, den sie de facto nie ausgleichen kann. Wettbewerb unter Gleichen geht anders. Dieses Prinzip ist in den Kommunen schon so oft gescheitert, dass man sich fragen muss, warum die Bundesregierung es nicht erkennt oder erkennen will, dass der Weg der falsche ist. Zudem entfernen wir uns so noch weiter vom Anspruch gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen der Republik. Schließlich werden die reichen Länder in der Lage sein, ihren Vorteil gegenüber den schwächeren weiter auszunutzen und deren Entwicklung so zu bremsen. Ein weiterer Aspekt ist die gewollte volle Ausnutzung des Kostendeckungsprinzips. Auch hier ist es möglich, etwas Gutes zu tun oder alles noch schlimmer zu machen. Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, dass eine Leistung des Staates auch finanziert werden soll. Und wer eine besondere Leistung der Verwaltung in Anspruch nimmt, muss diese auch bezahlen. Klingt erst einmal vernünftig, doch Vorsicht! Auch hier kann es wieder passieren, dass es zu einer schlimmen Sache für die kleinen Leute wird; denn wenn der Bund und die Länder sich darauf einigen, eine Vollkostendeckung bei Gebühren einzuführen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das auch von den Kommunen für alle Bereiche verlangt werden wird. Das kann dann teuer werden. Schließlich müssten im schlimmsten Fall für Bauanträge, Personalausweise oder Reisepässe oder auch für Eheschließungen oder Eintragungen nach Geburten volle kosten-deckende Gebühren gezahlt werden. Im Ergebnis müssten nach jeder - zweifelsfrei begrüßenswerten - Tarifsteigerung im öffentlichen Dienst auch die Gebühren erhöht werden. Die Kosten sind dann gestiegen, also muss auch die Gebühr steigen. Strompreiserhöhungen oder andere Kostensteigerungen können das gleiche Ergebnis hervorbringen. Hier gilt es, wirklich wachsam zu sein und eine solche Entwicklung zu verhindern. Wenn die Bundesregierung auf solche Dinge Rücksicht nimmt, kann es eine gelungene Sache werden. Die Hinweise dafür sind aber bis jetzt ausgeblieben. Wir empfehlen eine Anhörung zum Thema. Schlechter werden kann der Gesetzentwurf dadurch nicht. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung sieht eine umfangreiche Reform des Gebührenrechts des Bundes vor. Es handelt sich hierbei um eine überfällige Fleißarbeit des Bundesinnenministeriums. Seit 2008 hat der Rechnungshof kontinuierlich -entsprechende Regelungen angemahnt und schließlich sogar auf einen konkreten Fahrplan bis zur 17. Wahl-periode gedrängt. Die zentralen Vorschläge des Rechnungshofes wurden jetzt übernommen. Das begrüßen wir. Inhaltlich geht es um die Bemessung von Gebühren nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und eine grundsätzliche Ausrichtung am Kostendeckungsprinzip. Dafür wird ein Bundesgebührengesetz geschaffen, das das bestehende Verwaltungskostengesetz und das darin festgelegte Äquivalenzprinzip ablöst. Eine möglichst einfache und rechtssichere Gebühren-ermittlung soll grundsätzlich durch die Verwendung von Kostenpauschalen gewährleistet werden. Die Möglichkeit zu Gebührenermäßigungen und -befreiungen zielt auf die Vermeidung von Unbilligkeiten. Erreicht werden die Konzentration der allgemeinen Regelungen in einem neuen Bundesgebührengesetz und die Bündelung der bisher in rund 200 Fachgesetzen und -verordnungen enthaltenen Gebührenregelungen in Gebührenverordnungen der Bundesministerien. Eine Übergangsfrist von fünf Jahren ist vorgesehen. Durch die Zusammenführung sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Bundesministerien in einheitlich aufgebauten Gebührenverordnungen sollen das Recht vereinfacht und mehr Transparenz für Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft geschaffen werden. Die Verwaltung soll durch den besseren Zugang zu den Gebührenvorschriften entlastet werden, wenn sich der Bearbeitungsaufwand für den Erlass der Gebührenbescheide verringert. Schließlich sollen gebührenrechtliche Regelungen für öffentliche Leistungen der Behörden in den Ländern grundsätzlich den Ländern überlassen werden. Dies entspricht der Verantwortung der Länder für die Gebührenerhebung von Behörden in den Ländern und Gemeinden. Die Entkopplung der Gebührenkompetenz zwischen Bund und Ländern soll die Rechtsetzung vereinfachen und beschleunigen. Der Bundesrat hatte umfangreiche Änderungen angemahnt, denen die Bundesregierung unserem Eindruck nach weitgehend entgegengekommen ist. Dabei wurde allerdings deutlich, dass es in einzelnen Bereichen durchaus sachgerechter erscheint, durch Bundesregelungen sicherzustellen, dass es gerade nicht zu einer Entflechtung der Gebührenverantwortung oder gar zu einem Gebührenwettbewerb kommt. Im Verkehrsbereich hat man sich dementsprechend geeinigt. Ich meine, damit wird deutlich, dass bei allem Harmonisierungs- und Entflechtungswillen stets gefragt werden muss, ob die zentralen Grundsätze dieses Regelungsansatzes für den jeweiligen Bereich am Ende durchtragen. Wir sollten deshalb in den kommenden Jahren, auch mithilfe des Bundesrechnungshofes, sorgfältig die Konsequenzen dieses Gesetzes beobachten. Das gilt sowohl hinsichtlich der Transparenz als auch hinsichtlich möglicher ungerechtfertigter Belastungen Einzelner. In puncto Transparenz bleibt doch nicht von der Hand zu weisen, dass mit einer Rückverlagerung der Gebührenhoheit an die Länder zwar in gewissem -Umfange wegen der Regelungen des Bundesgebührengesetzes einerseits mehr Struktur in die Berechnungen etwa der Gebührensätze kommt. Zugleich aber kommt es doch automatisch zu 16 verschiedenen Ländertarifen, die auch erst einmal ermittelt werden müssen. Das ist ambivalent, und die Wirkungen sind abzuwarten. In -Sachen möglicher Mehrbelastungen der Bürger wird zu beobachten sein, ob es tatsächlich durch das Kosten-deckungsprinzip und betriebswirtschaftliche Berechnungsmodi zu einer disziplinierenden Bindungswirkung in der Festsetzungspraxis kommt oder ob in bestimmten Fällen der über 200 Gesetzeswerke auch Fehlentwicklungen zu erwarten sind, so zum Beispiel der Wegfall bislang eingeübter sozialer Aspekte bei der Gebührenfestsetzung. Gerade weil es offenbleiben muss, ob die den Ländern verschafften eigenständigen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume in allen 200 Gesetzen und Verordnungen sachgerechte Ergebnisse nach sich ziehen werden, werden wir uns bei diesem komplexen Gesetzeswerk der Stimme enthalten. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Mit dem heute zur Beratung vorliegenden Gesetzentwurf soll eine grundlegende Modernisierung des gesamten Verwaltungsgebührenrechts des Bundes erreicht werden. In den mehr als 40 Jahren seit dem Inkrafttreten des Verwaltungskostengesetzes hat sich ein großer Änderungsbedarf aufgestaut. Derzeit sind die einzelnen -Gebühren in rund 200 Gesetzen und Verordnungen über das gesamte Bundesrecht verstreut. Dies erschwert das Auffinden und die Anwendung der Regelungen erheblich. Die Gebührenerhebung ist deshalb für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen oft nur schwer nachvollziehbar. Darüber hinaus bestehen erhebliche rechtliche Unsicherheiten bei der Kalkulation der Gebühren. Dadurch kam es in der Vergangenheit zu zahlreichen gerichtlichen Auseinandersetzungen. Folge waren beispielsweise bei der Bundesnetzagentur Rückerstattungsansprüche in Millionenhöhe. Vor diesem Hintergrund wird mit dem Gesetzentwurf mehr Transparenz, Rechtssicherheit und Bürgerfreundlichkeit im Gebührenrecht des Bundes herbeigeführt. Bürokratie wird abgebaut. Dabei haben wir nicht nur die Kosten der Verwaltung im Blick. Wichtig ist es auch, die Angemessenheit der Gebühren sicherzustellen. Die Reform orientiert sich an den in den Gebührengesetzen der Länder bewährten Strukturen. Zugleich können die Länder künftig für die Leistungen ihrer Behörden die Gebühren selbst bestimmen. Damit setzt der Bund die Forderungen der Länder im Rahmen der Föderalismusreform auch im Gebührenrecht um. Das Herzstück der Reform ist das neue Bundesgebührengesetz. Nach diesem Gesetz soll die Gebühr grundsätzlich nach dem Kostendeckungsprinzip bestimmt werden. Berechnet wird die kostendeckende Gebühr nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben. Diese klaren und verbindlichen Vorgaben stellen in Zukunft die Gebührenkalkulation auf ein solides Fundament. Zudem wird die Gebührenberechnung verständlich und klar nachvollziehbar. Zusätzlich vereinfachen betriebswirtschaftlich berechnete Kostenpauschalen die Gebührenberechnung. Dies verbessert die Effizienz und Effektivität der Verwaltung. Durch die Reform sollen die Leistungen der Bundesbehörden nicht teurer werden. Eine Gebührenerhöhung ist nicht bezweckt. Im Gegenteil: Künftig sollen den Bürgern und der Wirtschaft keine kostenüberdeckenden Gebühren mehr auferlegt werden. Zudem sind durch Gebührenermäßigungen und sogar Gebührenbefreiungen weitreichende Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip möglich. Dies erlaubt es, beispielsweise sozialen Belangen durch eine angemessene Entlastung einkommensschwacher Bürger Rechnung zu tragen. Die klaren gesetzlichen Vorgaben sorgen für die notwendige Rechtssicherheit sowie eine transparente und gleichmäßige Rechtsanwendung. Zusätzlich wird in das Gesetz ein ausdrückliches -Verbot von Gebühren aufgenommen, die eine wirtschaftliche Barriere für die Inanspruchnahme von Verwaltungsleistungen bilden. Dies ist eine wesentliche -Weichenstellung im Sinne einer bürgerfreundlichen Verwaltung. Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt der Reform ist die grundlegende Bereinigung und Vereinfachung des Verwaltungsgebührenrechts des Bundes. Zu diesem Zweck werden künftig die bislang zersplittert und uneinheitlich geregelten Gebühren in den nur wenigen Gebührenverordnungen der Bundesministerien übersichtlich nach Sachgebieten geordnet zusammengefasst. Damit kann sich jedermann schnell, einfach und zuverlässig einen Überblick über die Gebühren des Bundes verschaffen. Die Umsetzung der Reform erfolgt durch eine Allgemeine und mehrere Besondere Gebührenverordnungen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Bundesregierung wird bei der Konzipierung dieser Verordnungen auf die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten. Zentrales Ziel ist es, für jedermann einen bezahlbaren Zugang zu Verwaltungsleistungen des Bundes sicherzustellen. Die Zeit drängt. Die Reform ist längst überfällig. Wenn wir jetzt nichts tun, bleibt es bei der zersplitterten Struktur des Gebührenrechts des Bundes und den rechtlichen Unsicherheiten bei der Gebührenkalkulation. Dies sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft in unserem Land nicht mehr länger zumuten. Ich bitte Sie, das Vorhaben zu unterstützen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Tagesordnungspunkt 14) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist Sache des Staates, und das bleibt auch so. Es gilt das Gewaltmonopol des Staates, und das stellt in der Bundesrepublik auch niemand ernsthaft infrage. Nun suggerieren Sie bereits in der Überschrift Ihres Antrags, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, dass der Staat das Gewaltmonopol schon aus der Hand gegeben hat. Um dann wiederum nachzuschieben, dies sei zumindest das subjektive Empfinden der Bürgerinnen und Bürger. Wie denn jetzt? Sie sind dann doch so seriös, diese abstruse Behauptung nicht selbst aufstellen zu wollen, und deshalb müssen jetzt die armen Bürger herhalten? Die werden sich für diese unfreiwillige Einvernahme sicher bedanken. Wir sind meilenweit davon entfernt, Sicherheit nur dem zu ermöglichen, der sich das auch privat leisten kann. Wir wollen keine Bürgerwehren oder privat gesicherte Wohnviertel für Wohlhabende. Wir haben auch keine Polizei light, die Grundrechte nicht respektiert und das Gewaltmonopol mutwillig oder unwissentlich durchbricht. Solche Szenarien gibt es leider auf dieser Welt; sie haben aber mit der Realität in diesem Land rein gar nichts zu tun. Und genauso wenig geben wir hoheitliche polizeiliche Aufgaben auf. Richtig ist: Zum Beispiel im Bereich der Luftsicherheit oder der Bahn greifen Unternehmen und der Staat auf private bzw. beliehene Sicherheitskräfte zurück. Dafür gibt es gute Gründe. Die Deutsche Bahn schützt ihre Objekte mit Unterstützung privater Sicherheitsdienste und setzt ihr privates Hausrecht durch; hier werden keine hoheitlichen Aufgaben wahrgenommen. Die hoheitlichen Aufgaben im Bereich der Bahnanlagen nimmt die Bundespolizei gemäß § 3 des Bundespolizeigesetzes wahr, zum Beispiel im Bereich der betriebsbedingten Gefahren. Dazu gehört aber eben aus gutem Grund nicht die Durchsetzung von Eigentümerrechten; das bleibt alleinige Aufgabe der DB AG. Anderer Fall: Auf Flughäfen werden durch die Bundespolizei private Sicherheitsfachkräfte eingesetzt, und zwar, um Gepäck und Personen einer Luftsicherheits- bzw. Fluggastkontrolle zu unterziehen. In Ihrem Antrag verschweigen Sie allerdings - oder Sie wissen es nicht besser -, dass die eingesetzten Sicherheitskräfte Beliehene der Bundespolizei sind und dass an diesen Kontrollstellen für Eingriffsmaßnahmen Bundespolizisten vor Ort jederzeit zur Verfügung stehen. Dabei üben die anwesenden Bundespolizisten auch die Fachaufsicht aus. Verfassungsrechtlich wird die Möglichkeit, Aufgaben zur Gewährleistung der Luftsicherheit in privatrechtlicher Organisationsform wahrnehmen zu lassen, durch Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG eingeräumt. Problematisch wäre der Einsatz privater Sicherheitskräfte erst dort, wo der potenzielle Eingriff in die Grundrechte der Bürger hoch wäre. An Flughäfen ist das nicht der Fall, da die Personenkontrolle Teil des Vertrags ist, den der Fluggast abgeschlossen hat. Sie erfolgt nicht unter Zwang oder Gewaltanwendung, sondern mit Einwilligung des Reisenden. Weigert sich der Fluggast, sich kontrollieren zu lassen, so kann er das Flugzeug nicht besteigen. In Zeiten knapper Ressourcen ist es auch bei der Polizei ökonomisch durchaus sinnvoll, einfache Unterstützungsleistungen ohne Eingriffscharakter in einem Beleihungsverhältnis durch private Unternehmen wahrnehmen zu lassen. Gleichwohl: Wo Unterstützungsaufgaben auf Private übertragen werden, müssen staatlicherseits eindeutig definierte Qualitätsstandards vorausgesetzt werden. Deshalb unterstütze ich das Vorhaben, private Sicherheitsdienste künftig zu zertifizieren und regelmäßig zu auditieren. Führungs- und Personalqualität, Ausbildung und regelmäßige Fortbildungen, Arbeitsbedingungen und Prozessstandards gehören für mich zum Anforderungsprofil an diese Unternehmen. Ich begrüße es daher sehr, dass die Innenministerkonferenz an einer solchen Zertifizierung arbeitet. Die Bandbreite der Aufgaben hat sich bei der Bundespolizei in den letzten Jahren erheblich erweitert. Neben neuen Anforderungen an die Sicherheitsarchitektur gibt es dafür aber auch einen Grund, der hier zur Sprache kommen muss: Rationalisierungen und Stellenkürzungen bei den Polizeien einzelner Länder. Eine Folge davon sind auch verstärkte Unterstützungsanforderungen an die Bundespolizei durch Länder, die ihre Aufgaben nicht mehr alleine bewältigen können. Da haben Sie doch immer gerne mitgemacht, die Damen und Herren der Linken, als es darum ging, die Landespolizei in Brandenburg zur Ader zu lassen: Über 20 Prozent der Stellen wurden mit Ihrer Hilfe bei der Brandenburger Polizei gestrichen. In Brandenburg, wo Sie regieren, verschwindet die Polizei aus der Fläche. Dort entsteht der Nährboden für eine private Sicherheitskultur, weil unzufriedene Bürger sich nicht mehr sicher fühlen. Dort muss die Bundespolizei unterstützen und daher sorgfältig -abwägen, wo sie im eigenen Bereich Polizeibeamte -einsetzt oder bei einfachen Sicherheitstätigkeiten auf Unternehmen zurückgreift. Und jetzt wundern Sie sich hier wortreich darüber, dass der von Ihnen mitgetragene Rückzug staatlicher Sicherheitsbehörden dazu führt, dass Aufgaben an Private übertragen werden. Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Antrag ist eine Mischung aus Unkenntnis und populistischer Propaganda. Im Bereich der inneren Sicherheit geht das gar nicht. Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke beantragt: "Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen". Schon allein wegen dieses -Titels ist der Antrag abzulehnen; denn er ist falsch, weil er suggeriert, die öffentliche Sicherheit in Deutschland sei komplett in private Hände gelegt worden. Das widerspricht zum einen der Realität und wäre zum anderen verfassungsrechtlich auch unzulässig. Deshalb sage ich für CDU und CSU unmissverständlich vorneweg: Das staatliche Gewaltmonopol gilt unangefochten und steht nicht zur Disposition. Unsere Haltung ist eindeutig, und dazu bedarf es nicht Ihres Antrags. Um es klar zu sagen: Es ist ureigene Aufgabe des Staates, die innere Sicherheit für unsere Bürger zu gewährleisten. Ein Rückzug des Staates aus diesem Kernbereich hoheitlichen Handelns kommt nicht in Betracht. Daher dürfen auch zukünftig private Sicherheitsdienste nur dort ergänzend tätig werden, wo es sinnvoll und rechtlich zulässig ist, aber niemals die staatliche Ordnungsmacht ersetzen. Um die Qualität im sensiblen Sicherheitsbereich zu wahren, ist es deshalb auch richtig, dass derzeit auf Beschluss der Innenministerkonferenz eine länderoffene Arbeitsgruppe prüft, wie Unternehmen im privaten Sicherheitsgewerbe zertifiziert werden können. Im Mai sind Ergebnisse der Arbeitsgruppe zu erwarten. Neben der Überschrift geht in Ihrem Antrag aber auch sonst einiges durcheinander, und ich möchte einmal einige Stellen entflechten bzw. richtigstellen. Das Grundproblem Ihres Antrags ist, dass Sie alles, was unter dem Stichwort der Privatisierung - zu Recht und zu Unrecht - diskutiert wird, über einen Kamm scheren und einer vollkommen undifferenzierten Kritik unterziehen. Sie sprechen beispielsweise Fälle an, in denen private Sicherheitsdienste Einrichtungen der Bundeswehr überwachen oder Personen- und Gepäckkontrollen auf Flughäfen durchführen dürfen. Dies kritisieren Sie pauschal mit dem Hinweis, dass private Sicherheitsdienste nicht dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Damit liegen Sie falsch, denn Sie verkennen, dass die Privaten in den genannten Fällen rechtlich als sogenannte Beliehene tätig werden. Das heißt: Der Beliehene ist eine durch Gesetz geschaffene Privatperson, die vom Staat ermächtigt wird, im eigenen Namen öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrzunehmen. Deshalb ist die Thematisierung dieser Bereiche unter dem Begriff der Privatisierung fehl am Platz. Den Status des Beliehenen kennzeichnet, dass er einer von einem Beamten wahrgenommenen Fach- und Rechtsaufsicht untersteht und Teil der Verwaltungsorganisation ist. In dieser Eigenschaft hat er die Grundrechte zu beachten, und er unterliegt auch einer Gemeinwohlbindung. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie es nicht besser wissen oder ob Ihr Antrag einfach nur eine Methode ist, um mit solchen Ungenauigkeiten Unsicherheit bei den Menschen zu streuen oder sie in die Irre zu führen. Ein weiteres Beispiel: Private Sicherheitsdienste nehmen oftmals lediglich "einfache" Bewachungsaufgaben wahr, zum Beispiel im Bereich der auch in Ihrem Antrag erwähnten Bahnhöfe. Dabei handelt es sich rechtlich zumeist um sogenannte Verwaltungshelfer, die unterstützend einzelne Teilleistungen erbringen. Im Falle des Bahnhofs unterstützen die privaten Wachdienste die Bundespolizei. Die Privaten verfügen hier aber nicht über eine eigene Entscheidungsbefugnis; diese verbleibt bei der Verwaltungsbehörde, im Falle des Beispiels Bahnhof also bei der Bundespolizei bzw. bei der Bahn. Diese Verwaltungshelfer üben daher selbst keine Staatsgewalt aus. Insofern greift hier weder die verfassungsrechtliche Privatisierungsschranke des Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes, noch findet hier die von Ihnen kritisierte Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols überhaupt statt. Stichwort Gewaltmonopol: Sie irren in Ihrem Antrag über die Bedeutung dieses Begriffs. Das Gewaltmonopol ist die durch den Staat wahrgenommene ausschließliche Befugnis, auf seinem Staatsgebiet physische Gewalt einzusetzen oder ihren Einsatz zuzulassen. Das Gewalt-monopol darf aber weder als Sicherheitsmonopol noch als Gewaltausübungsmonopol missgedeutet werden. Seine Bedeutung ist vielmehr, dass dem Gesetzgeber das Gewaltmonopol zusteht und es bei der Ausgestaltung rechtsstaatlicher Standards nicht geschmälert werden darf. So ist sogar eine Gewaltübertragung und Gewaltermächtigung dann gestattet, wenn sie eine vom Staat -abgeleitete Befugnis bleibt und dadurch die Funktions-fähigkeit des Staates nicht beeinträchtigt, sondern optimiert wird. Diese Grenzen müssen auch zukünftig strikt eingehalten werden. Richtiggestellt werden müssen auch die Hinweise in Ihrem Antrag zum Mindestlohn im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Ihr Antrag, datiert vom 24. Oktober 2012, spricht von einer tarifvertraglichen Vergütung im Jahr 2011 von durchschnittlich 7,03 Euro brutto je Stunde. Sie erwähnen nicht, dass die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP im Jahr 2011 den Tarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für allgemeinverbindlich erklärt hat und dass danach bereits zum 1. März 2012 regional gestaffelt Mindestlöhne von 7 Euro bis zu 8,75 Euro bestanden, die seit dem 1. Januar 2013 nochmals auf mindestens 7,50 Euro und bis zu 8,90 Euro in Baden-Württemberg gestiegen sind. Es ist einfach -unredlich, dass Sie diese Fakten in Ihrem Antrag unterschlagen. Zusammenfassend: Ihr Antrag ist getragen von Populismus, gespickt mit Fehlern, Reizworten und Ungenauigkeiten und verfasst im Geiste Ihrer Ideologie, wonach die Staatsquote in allen Bereichen unserer Gesellschaft wachsen soll. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Wolfgang Gunkel (SPD): Es ist ein sehr wichtiges und sensibles Thema, das wir heute diskutieren. Immer mehr hoheitliche Aufgaben werden von privaten Sicherheitsunternehmen übernommen. Mitunter kann die Übertragung solcher Aufgaben sinnvoll sein. Der Werkschutz für Betriebe ist zum Bespiel eine solche Sache. Oder wenn anlässlich der vielen Piraterievorfälle im Golf von Aden und vor der Küste Ostafrikas die Reeder zum Schutz ihrer Schiffe Wachleute engagieren, halte ich das für eine vernünftige Lösung; denn ein flächen-deckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffen durch Einsatz der Polizei angesichts der hohen Zahlen von Schiffspassagen ist weder personell und logistisch noch finanziell möglich. Was ich nicht unterstützen kann, ist die auch in dem Antrag erwähnte steigende Privatisierung in einigen Ländern, zum Beispiel beim Strafvollzug. Einer der größten Fehler der ohnehin missglückten Föderalismusreform war die Kompetenzverlagerung für den Strafvollzug vom Bund auf die Länder. Dass hier dann Politik nach Kassenlage betrieben wird, war abzusehen, dass dies kein positiver Effekt ist, auch. Es gibt einen Kernbereich hoheitlicher Gewalt, der beim Staat bleiben muss. In meinen Augen gehört der Strafvollzug dazu. Ein ebenso unsägliches Beispiel sind die sogenannten Bürgerwehren. Ich kenne solche Zusammenkünfte selbsternannter Beschützer, die auch einmal Polizei spielen wollen, aus meiner Arbeit als Polizeibeamter, aber auch aus meinem Wahlkreis in einer Grenzregion. Das sind Entwicklungen, die dem Rechtsstaat in keiner Weise guttun. Derartiges ist nicht im Geringsten unterstützenswert. Wenn nun private Dienstleister Sicherungsaufgaben, wie zum Beispiel beim Werkschutz, übernehmen, müssen höhere Standards als bisher für die Aus- und Weiterbildung für das Personal gelten. Schwarze Schafe gibt es schließlich genug, wie ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen möchte. Schon in meiner aktiven Zeit im Polizeidienst in Berlin haben wir ausgesprochen schlechte Erfahrungen mit dem Wachschutzpersonal im Europacenter gemacht. Die Mitarbeiter des dort tätigen Sicherheitsdienstes hatten massiv ihre Kompetenzen überschritten und Menschen nicht nur festgehalten, wie es auch das "Jedermannsrecht" in der Strafprozessordnung erlaubt, sondern auch mit Schlagstöcken Gewalt eingesetzt. Mit ihrem martialischen Auftreten in komplett schwarzer Kleidung vermittelten sie optisch den Eindruck einer paramilitärischen Einheit. Der Sicherheitsdienst wurde schließlich aufgelöst; denn die Zustände waren nicht mehr tragbar. Ein anderes Beispiel zeigt der Fernsehbericht zu Amazon vor einigen Wochen. Dieser wurde vor allem unter einem arbeits- und sozialpolitischen Blickwinkel auch hier im Bundestag diskutiert. Aber es war auch die Sicherheitsfirma massiv in die Kritik geraten; denn der Sicherheitsdienst hatte zum einen Verbindungen zur rechtsextremen Szene. So trugen denn die Mitarbeiter im Film der ARD auch Kleidung der bei Neonazis so beliebten Marke Thor Steinar. Zum anderen hatten auch die Mitglieder dieser Firma eindeutig ihre Kompetenzen überschritten, indem sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Amazon schikanierten. Amazon hat jetzt die Verträge mit dem Sicherheitsdienst gekündigt. Allerdings hätte es so weit nicht kommen dürfen. Die beiden Vorfälle zeigen ganz deutlich, dass es in dieser Branche einige Menschen gibt, die ihre übertragene Macht ausnutzen. Solche Hilfssheriffs darf es natürlich nicht geben. Umso wichtiger ist gut geschultes Personal. Hier muss der Staat tätig werden und angemessene Ausbildungsstandards formulieren und umsetzen. Für den vorhin bereits erwähnten Schutz von Schiffen und für nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen hat die SPD-Bundestagsfraktion dies in zwei Anträgen bereits formuliert. Der Verweis auf die Gewerbeordnung, die auch in dem Antrag der Linken erwähnt wird, ist an dieser Stelle sinnvoll. Doch nicht nur Wissen und Ausbildung sind ein Problem, sondern es müssen auch annehmbare Arbeitsbedingungen herrschen. Dazu gehört, dass angemessene Löhne gezahlt werden. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist unverzichtbar. Die in dem Antrag geforderte Erhöhung der Staatsquote auf Flughäfen und Bahnhöfen halte ich aus ganz praktischen Gründen nicht für durchsetzbar. Die Bundespolizei ist mit den bereits anstehenden Aufgaben mehr als genug ausgelastet. Dies zeigen auch die Zahlen zum Burn-out, die in einer von der GdP in Auftrag gegebenen Studie veröffentlicht wurden. Insofern ist eine solche Übertragung zurück zur Bundespolizei schlicht nicht möglich. Die Sicherheitsdienste auf Flughäfen und bei der Deutschen Bahn sind von der Bundespolizei gut ausgebildet worden und erledigen die Aufgaben kompetent und zuverlässig. Die Frage nach einer angemessenen Bezahlung wurde bereits angesprochen. Gisela Piltz (FDP): Es ist schon faszinierend, dass bei der Linken ersichtlich die Ablehnung privatwirtschaftlicher Tätigkeit und im Grunde die Ablehnung der Marktwirtschaft als solcher noch stärker ausgeprägt ist als die Ablehnung gegenüber der Polizei. Vor ziemlich genau zwei Jahren, am 7. April 2011 nämlich, debattierten wir hier im Plenum einen Antrag der Linken, in dem diese behauptete, Polizistinnen und Polizisten in unserem Lande hätten "das Gefühl ..., in voller Einsatzmontur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch außerhalb des Gesetzes zu stehen". Liest man hingegen den heute hier zu debattierenden Antrag, reibt man sich verwundert die Augen, dass die Linke nun doch anerkennt, dass Polizistinnen und Polizisten an Recht und Gesetz gebunden sind und mithin bei deren Einsatz sichergestellt ist, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Da könnte man ja spontan sagen: Glückwunsch! Endlich haben auch Sie verstanden, dass Polizistinnen und Polizisten wie keine andere Berufsgruppe für Recht und Gesetz stehen. Endlich anerkennen Sie, dass Polizistinnen und Polizisten in Deutschland keine prügelnden Schergen willkürlich angewandter Gewalt sind. Allein, ich fürchte, dass diese Glückwünsche an der Sache vorbeigehen. Der Linken geht es nicht um späte Erkenntnis, sondern an diesem Antrag zeigt sich die krude Logik linker Ideologie, die schon in sich nicht stimmig ist. Was wollen Sie denn nun? In Ländern, in denen Sie mitregieren, also zum Beispiel im Land Brandenburg - oder auch, solange Sie noch nicht aus der Regierung abgewählt waren, in Berlin -, bauen Sie massiv Stellen bei der Polizei ab. Und nicht nur das. Ich fliege ja gelegentlich von und nach Tegel - und da hat sich, völlig unabhängig davon, wer im Land Berlin regiert, also auch unter Beteiligung der Linken etwa, bei den Sicherheitskräften nichts verändert. Was hat denn die Linke da in der Berliner Landesregierung gemacht? Nach Ihrer Logik hätten Sie das doch sofort in Ihre staatliche Obhut nehmen und mit Berliner Staatsangestellten erledigen müssen. Ob diese dann allerdings a) besser bezahlt und b) zartfühlender beim Abtasten und Durchleuchten der Passagiere gewesen wären, mag dahingestellt bleiben. Und dann kommt hier so ein Antrag. Statt solche Anträge zu schreiben, sollten Sie einfach einmal mit Ihren Kollegen in den Ländern reden; denn dort spielt bei der Polizei die Musik. Das ist wiederum deshalb schade, weil man über dieses Thema ja durchaus vernünftig diskutieren könnte, beispielsweise darüber, dass es selbstverständlich mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar ist, wenn "schwarze Sheriffs" die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Oder auch darüber, dass wir Entwicklungen, wie wir sie in anderen Ländern beobachten können - dass Bürgerwehren eingesetzt werden, die quasi in Selbstjustiz tätig werden -, in Deutschland nicht hinnehmen könnten. Darum geht es der Linken aber nicht. Es geht Ihnen nicht darum, Fehlentwicklungen zu verhindern, sondern darum, einfach einmal mit Ihrer sozialistischen Staatsideologie gegen wirtschaftlich handelnde Unternehmen vorzugehen. Dazu passt dann auch Ihre - an dieser Stelle ohnehin völlig deplatzierte - Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Da haben Sie dann doch noch einen Platz gefunden, um Ihren Textbaustein dazu unterzubringen. Durch stete Wiederholung wird die Forderung aber nicht besser. Und im Übrigen: An Flughäfen zum Beispiel, wo gerade gestreikt wird für höhere Löhne, liegt das Lohnniveau schon jetzt über den von Ihnen geforderten 10 Euro pro Stunde, nämlich zum Beispiel in NRW bei 12,36 Euro zuzüglich Zuschläge. Private Sicherheitsunternehmen tragen schon längst erheblich zur Sicherheit in Deutschland bei und arbeiten als verlässlicher Partner für Sicherheitsbehörden und staatliche Einrichtungen wie auch Körperschaften erfolgreich. Es ist dabei selbstverständlich, dass überall da, wo es um sensible Bereiche geht - und das ist im Sicherheitsbereich ja regelmäßig der Fall - eine ausreichende Kontrolle sichergestellt sein muss. Die FDP-Fraktion hat sich bereits in der vergangenen Wahlperiode für eine -effektive Kontrolle privater Sicherheitsdienste ausgesprochen. Dazu gehört etwa, dass bei Abschluss entsprechender Verträge zwischen der öffentlichen Hand und Sicherheitsunternehmen bestimmte Vereinbarungen getroffen werden, was etwa Sicherheitsüberprüfungen angeht oder auch den Umgang mit Erkenntnissen, die im Rahmen der Tätigkeit gewonnen werden. Zudem sind selbstverständlich die gewerberechtlichen wie auch zum Beispiel waffenrechtlichen Vorgaben strikt einzuhalten. Selbstverständlich darf das Gewaltmonopol des Staates nicht angetastet werden. Aber nicht überall, wo zum Beispiel Bewachungsaufgaben wahrgenommen werden müssen, müssen dafür Polizisten eingesetzt werden. Keiner will, dass "schwarze Sheriffs" Leute verhaften, nachdem sie sie mit körperlicher Gewalt bedroht haben. Aber es ist doch auch nicht so, als sei das irgendwo in Deutschland Realität, so, wie es die Linke hier glauben machen will. Jan Korte (DIE LINKE): Wir behandeln heute einen Antrag der Fraktion Die Linke, der zum Ziel hat, die Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig zu machen. Die Branche der privaten Wach- und Sicherheitsdienste stellt mit 3 700 Unternehmen, die rund 171 000 Angestellte beschäftigen und jährlich einen Umsatz von 4,6 Milliarden Euro verzeichnen, einen nicht unerheblichen Wirtschaftssektor der Bundesrepublik dar. Sicherheit ist ein profitables Geschäft, und die Branche boomt seit Jahren. Das ist ja im Prinzip nichts Falsches, könnte man meinen. Diese Zahlen beschreiben aber vor allem verschiedene negative Entwicklungen der letzten Jahre: den Boom des Niedriglohnsektors zum Beispiel, aber auch den schleichenden Rückzug des Staates und die Privatisierung von eigentlich öffentlichen Ordnungs- und -Sicherheitsaufgaben. Ich möchte das mit einer letzten Monat erschienenen Meldung des Bezirks Bundespolizei der Gewerkschaft der Polizei, GdP, dokumentieren. Nicht zu irgendeinem allgemeinen sicherheitspolitischen Thema, sondern diesmal zu einem Punkt, von dem die Gewerkschaft wirklich etwas versteht: zu den Arbeitsbedingungen der Bundespolizei und der privaten Luftsicherheitsassistenten an den Flughäfen. Die Gewerkschaft bemängelt, dass - ich zitiere - "die Bundespolizei seit Jahren jeden frei werdenden Arbeitsplatz eines bundeseigenen Luftsicherheitskontrolleurs nicht mehr neu besetzt, sondern nur noch an einen privaten Sicherheitsdienst vergibt und dessen Mitarbeiter auf Stundenbasis ‚beleiht'." Der Vorsitzende der GdP, Bezirk Bundespolizei, Josef Scheuring, wird in dem Artikel auf der Gewerkschaftshomepage folgendermaßen zitiert: "Sobald der Arbeitsplatz nicht mehr mit Bundesbeschäftigten besetzt ist, sondern von ‚Beliehenen' privater Sicherheitsfirmen ausgeübt wird, beginnt das Diktat inakzeptabler Arbeitsbedingungen. Insbesondere durch die Anweisung von nur stundenweisen, über den ganzen Tag mit großen Lücken verteilten Einsatzzeiten, ist eine sinnvolle und verträgliche Organisation des Arbeitstages gar nicht mehr möglich." Und weiter: "Durch die Beleihung dieser Aufgabe sind die Rahmenbedingungen massiv verschlechtert worden. Das hat gravierende Folgen für die dort eingesetzten Beschäftigten und für die Sicherheit." Als Lösung für dieses Sicherheitsproblem schlägt die GdP vor, "den Fehler der Privatisierung rückgängig zu machen und sicherheitssensible Aufgaben wieder zurück in die öffentliche Hand zu holen." Eine gute Idee. Aber was macht die Bundesregierung? Sie verfolgt lieber die Einführung von Nacktscannern, die dann von den unterbezahlten und prekär beschäftigten privaten Luftsicherheitsassistenten bedient werden sollen. Man muss sich das einmal vor Augen führen: In den letzten Jahren gab es einen Bürgerrechtseingriff nach dem anderen, im Namen der Sicherheit. Und wenn es nach Innenminister Hans-Peter Friedrich ginge, würden noch mehr Daten gesammelt und noch mehr Bürger überwacht. Diese Sicherheitsprojekte -kosten übrigens Millionen, ohne dass ihr Nutzen bislang erwiesen wurde. Aber am Sicherheitspersonal wird gespart. Das ist eine absurde Sicherheitsstrategie. Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen: Wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen, dann hören Sie auf die Polizeigewerkschaften! In diesem Fall ist das völlig okay. Ein anderer Punkt: Zunehmend werden private Wach- und Sicherheitsdienste von Städten und Gemeinden -damit beauftragt, im Rahmen von Public-private-Partnership-Modellen für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Obwohl immer wieder behauptet wird, private Sicherheitsfirmen hätten keine Sonderrechte, führen sie -Tätigkeiten aus, die hoheitliche Befugnisse bzw. Amtsträgerschaften erfordern. Die Erweiterung ihrer Zuständigkeiten erfolgt dabei oftmals ohne ausreichende Deckung durch das geltende Recht. Denn theoretisch haben die Angestellten der Unternehmen keinerlei Befugnisse, die über die Jedermannsrechte - also Notwehr, Nothilfe und Festnahmerecht - hinausgehen. In einigen Kommunen existieren sogenannte Citystreifen. Das sind von der Kommune bestellte Privatstreifen, die gegen sämtliche Ordnungsverstöße im jeweiligen Stadtgebiet vorgehen sollen. Während ihrer Streifengänge erteilen die privaten Sicherheitsleute Platzverweise, stellen Personalien und begangene Ordnungswidrigkeiten fest, verhängen Buß- und Warngelder und führen Alterskontrollen durch. Tätigkeiten, die eigentlich in die Zuständigkeit der Polizei fallen. Den Bürgerinnen und Bürgern wird der Eindruck vermittelt, die privaten "Ordnungskräfte" hätten hoheitliche Befugnisse und praktisch die gleichen Rechte wie die Polizei. Haben sie aber nicht - und zwar zu Recht: Private Sicherheitsleute sind nicht, wie die Polizei, dem Schutz der Rechte von Bürgerinnen und Bürgern, sondern ihrem Arbeitgeber und ihrem Auftraggeber verpflichtet und werden alles Mögliche tun, um ihren Auftrag umzusetzen. Dass dabei oft, absichtlich oder in Unkenntnis der Rechtslage, Grenzen überschritten werden, ist genauso bekannt wie die unterirdischen Arbeitsbedingungen in der privaten Sicherheitsbranche. Im besten Fall sollen Sicherheitsdienste zu objektiver Sicherheit beitragen. In der Realität sieht das meist anders aus. Schwarze Sheriffs machen Bürgerinnen und Bürgern eher Angst, als ihnen Sicherheit zu vermitteln. Das ist aber auch gar nicht im Interesse der Sicherheitsunternehmen. Der Politikwissenschaftler Volker Eick spricht davon, die Branche lebe "von der Dramatisierung vermeintlicher Kriminalitätsbelastungen". Diese Aussage ist keineswegs eine Gemeinheit gegenüber den privaten Sicherheitsdienstleistern: Es gehört schlichtweg zum Tagesgeschäft eines jeden privaten Unternehmens, den Bedarf nach dem eigenen Produkt oder der eigenen Dienstleistung hochzuhalten. Eick führt weiter aus, es lasse sich beobachten, "wie das kommerzielle Sicherheitsgewerbe sozialpolitische Problemlagen zu kriminalpolitischen umdefiniert" .Tatsächlich wird privates Sicherheitspersonal im öffentlichen Raum oft eingesetzt, um die öffentlich sichtbaren Zeichen einer völlig verfehlten Sozialpolitik der letzten Bundesregierungen zu beseitigen oder zu kaschieren. Spätestens hier wird dann klar, dass es am Ende ums Geldmachen geht und nicht um eine tatsächliche Verbesserung der öffentlichen -Sicherheit. Wir fordern in unserem Antrag eine Politik, welche die Staatsquote in den Bereichen der öffentlichen Sicherheit erhöht, vordringlich in den sicherheitsrelevanten Bereichen der Bahn und der Flughäfen. Wir fordern klare Regelungen, die garantieren, dass keine in Grundrechte eingreifenden Aufgaben auf Private übertragen werden. Und wir fordern erhöhte Standards für die Aus- und Fortbildung des Personals von Sicherheitsfirmen sowie eine Bezahlung nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes. Denn es geht nicht nur darum, unmenschlichen Arbeitsbedingungen ein Ende zu setzen, sondern auch darum, dass private Sicherheitskräfte die rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns und die Rechte anderer kennen. Außerdem fordern wir die Abkehr von einer Politik der inneren Sicherheit, die sich bewusst der rechtlichen Grauzonen bedient, die der Einsatz privater Sicherheitsdienstleister eröffnet. Als Teil der Exekutive des Staates ist die Polizei an Recht und Gesetz gebunden. Aus gutem Grund gibt es Gesetze, welche die Befugnisse der Polizei regeln. Jede Abweichung und jedes Bestreben, das staatliche Gewaltmonopol durch Kooperationen mit privaten Dienstleistern gleichzeitig zu verwässern wie zu erweitern, stellt eine erhebliche Gefährdung von Bürgerrechten und Demokratie dar. Dieser Gefahr wollen wir mit unserem Antrag entgegenwirken. Auch wenn ich davon ausgehe, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dies aus ideologischen Gründen nicht hinbekommen werden, so hoffe ich doch, im Sinne einer nachhaltigen Stärkung von Demokratie und Bürgerrechten, dass Sie unseren Antrag unterstützen werden. Selbstverständlich gilt dies auch für die Union; aber hier ist meine Hoffnung, dass Sie eine vernünftige Politik zu machen in der Lage sind, noch geringer. Aber lassen wir uns überraschen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag ist - man kennt das von der Linksfraktion - ein Gemischtwarenladen mit inneren Widersprüchen. Da wird zum einen der fraktionseigenen Skepsis gegen -gewinnorientierte Unternehmen insgesamt gefrönt, diesmal eben bei den Sicherheits- und Bewachungsdienstleistern. Dann wird - an sich ja eine sehr richtige Forderung - ein Mindestlohn gefordert, allerdings hier für Tätigkeiten, die laut der anderen Forderungen des Antrages gar nicht mehr ausgeübt werden sollten. -Ähnliches gilt beim Thema Qualifikation: Es sollen laut Antrag Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser für Aufgaben qualifiziert werden, die sie gar nicht mehr übernehmen sollen. Man mag darin Pragmatismus erkennen, nämlich die Einsicht, dass diese Bundesregierung wohl kaum die Forderungen des Antrages umsetzen wird und man dann vielleicht lieber noch eine Rückfallposition hat. Es ist also ein ganzer Strauß an Themen aufgeschrieben und angesprochen: Könnte ja sein, dass irgendwas dann doch hängen bleibt. Dieses etwas bunte Zusammenwürfeln verdeckt aber leider auch den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Frage, ob das staatliche Gewaltmonopol auch durchgängig vom Staat ausgeübt werden muss, also von Beamtinnen und Beamten, die in einem besonderen Pflicht-verhältnis stehen und sich darin bewährt haben. Beim Ansprechen dieser Thematik kann man übrigens ein beeindruckend klares Bekenntnis zu eben diesem staatlichen Gewaltmonopol lesen, was man so aus den Reihen der Linkspartei auch nicht gewohnt ist. Wir haben hier eine klare Position, die sich aus dem Grundgesetz direkt ableiten lässt: Hoheitliche Befugnisse gehören als ständige Aufgaben in die Hände von Beamten; denn gerade die Ausübung des Gewaltmonopols - sprich: die Anwendung von unmittelbarem körperlichem Zwang - muss unter striktester Beachtung der Verhältnismäßigkeit stattfinden, und ihre parlamentarische Kontrolle und gerichtliche Anfechtung darf nicht auf Hindernisse stoßen, die sich aus unklaren Verantwortlichkeiten, privatrechtlichen Verträgen oder Ähnlichem ergeben. Das Gewaltmonopol hat die Gesellschaft über Jahrhunderte entwickelt, es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die man nicht aufgeben darf; denn ihr Sinn und Zweck ist es, das Recht des Stärkeren - und damit pure Gewalt - als Mittel der Interessendurchsetzung abzulösen durch eine Gewalt, die von der Stärke des Rechts gebunden wird. Deswegen dürfen und wollen wir nichts tun, was diese Errungenschaft infrage stellt. Das bedeutet kein totales und vollständiges Aus für jegliche Erledigung durch Private, aber es macht die Leitplanken deutlich, innerhalb derer eine Übertragung an Private nur stattfinden kann, und es zeigt, dass es hier nicht um eine organisatorische Entscheidung geht, sondern um zentrale Wertentscheidungen. In einem Umfeld wie der Personenkontrolle am -Flughafen, wo sich die Aufgabe und die möglichen Gefahrenlagen recht gut prognostizieren lassen, verläuft die Bewertung vielleicht anders als bei einer unübersichtlicheren Situation. Aber da es um eine Säule des Rechtsstaates an sich geht, heißt die Devise: im Zweifel für den Staat. Das gilt auch, weil wir die Entstehung zum Beispiel einer Strafvollzugsindustrie, wie sie in den USA mit ihren privaten Gefängnissen entstanden ist und die heftig für Gesetzesverschärfungen und damit mehr "Kundschaft" lobbyiert, mit Schrecken sehen. Ein zu wenig beachtetes Detail möchte ich an dieser Stelle hervorheben: Das ist die Frage des hoheitlichen Anscheins privater Sicherheitsleute, die aber keineswegs Beliehene sind. Wenn ein gesetzlich mit der Ausübung unmittelbaren Zwangs Betrauter äußerlich nach Staatsgewalt aussieht, geht das in Ordnung. Aber wenn privates Sicherheitspersonal, das lediglich die Jedermannrechte oder ein Hausrecht ausübt, aussieht wie ein SEK, dann ist das nicht richtig. Denn Effekte der Einschüchterung und der Selbstbeschränkung des eigenen Verhaltens beim Anblick solch nur vermeintlicher Autorität gehört nicht in eine offene Gesellschaft, das Äußere als Drohgebärde darf nicht die Regel sein. Die weiteren Fragen, die der Antrag eröffnet, sollte man nicht außer Acht lassen. Wir stehen als Partei und Fraktion schon lange für einen Mindestlohn. Der muss auch im Sicherheitsgewerbe gelten, auch wenn über die Höhe noch zu reden ist. Der Forderung nach einer guten Ausbildung und insbesondere auch einer rechtlichen und rechtsstaatlichen Schulung können wir uns ebenfalls nur anschließen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: - Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsordnung) (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen soll das bisherige Drei-Stufen-Modell zur Veröffentlichung der Nebeneinkünfte um weitere sieben Stufen auf insgesamt zehn Stufen erweitert werden. Damit soll mehr Transparenz geschaffen werden. Transparenz ist freilich kein Selbstzweck. Transparenz bei der Frage der Verhaltensregeln, insbesondere bezüglich der sogenannten Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten, soll nicht die Neugier interessierter Kreise befriedigen oder Neidgefühle bedienen. Worum es hier geht und gehen muss, ist, mögliche Interessenskollisionen aufzuzeigen, eventuelle Abhängigkeiten offenzulegen und auch die Frage, ob die Mandatsausübung im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Abgeordneten steht. Ich möchte erneut - wie bei jeder Diskussion zu diesem Thema - klarstellen: Diesen Zielen müssen Verhaltensregeln dienen. Verhaltensregeln müssen also danach beurteilt werden, ob sie insoweit aussagekräftig und damit zielführend sind. In fast jeder Sitzung der Rechtsstellungskommission in dieser Wahlperiode diskutieren wir nun auf Betreiben interessanterweise von SPD und Grünen, ob die von ihnen selbst im Jahr 2005 eingeführten Regelungen wirklich so gut sind. Wir von der Union haben uns der Diskussion über eine Verbesserung der geltenden Regelung - freilich unter Maßgabe der von mir gerade vorher genannten Zielsetzung - zu keiner Zeit verweigert und deutlich gemacht, dass wir offen sind für eine sinnvolle Neuregelung. Mit der heute zur Abstimmung stehenden Zehn-Stufen-Regelung wollen wir mehr Transparenz schaffen; denn die höchste Stufe beginnt jetzt nicht mehr bei über 7 000 Euro, sondern bei über 250 000 Euro. Dies bringt in bestimmten Fällen in der Tat einen weiteren Erkenntnisgewinn. Ich bleibe aber dabei: Die von Rot-Grün seinerzeit beschlossene Regelung der Veröffentlichung von Nebeneinkünften leidet an einem Grundfehler, nämlich dem Bruttozuflussprinzip. Denn dieses kann den Eindruck erwecken, die von einem Kollegen angegebenen Beträge seien gleichzusetzen mit seinem Einkommen bzw. Gewinn. Auch bleiben Zweifel daran, ob aus der Höhe der sogenannten Nebeneinkünfte allein immer auch Erkenntnisse über Abhängigkeiten bzw. Interessenkollisionen gewonnen werden können. Ich wiederhole auch meine Kritik aus früheren Debatten, dass die Regelung nicht klar differenziert zwischen Einkünften aus dem erlernten Beruf und Nebenverdiensten aus der - ich nenne es zugespitzt so - Vermarktung von Amt oder Mandat. Eine nicht unerhebliche Verbesserung im Hinblick auf das untaugliche Bruttozuflussprinzip haben wir immerhin heute Morgen in der Rechtsstellungskommission noch beschlossen: Jeder Abgeordnete kann Erläuterungen zu seinen veröffentlichten Beträgen auf seiner Homepage einstellen, auf die künftig ein deutlich erkennbarer Link auf der entsprechenden Bundestagshomepage direkt verweist. Wie gesagt, meine Zweifel an einigen grundlegenden Punkten der Veröffentlichungsregelung bleiben, und ich will auch nicht verhehlen, dass es in unserer Fraktion bei vielen diese Bedenken gibt. Gleichwohl wollen wir den Versuch unternehmen, mit einer neuen Stufenregelung mehr Transparenz zu erreichen. Für ganz sicher nicht zielführend halten wir aber die Forderung nach Veröffentlichung in Euro und Cent, wie sie jetzt von der Opposition gefordert wird. Ich habe bisher kein einziges Argument gehört, dass damit ein Transparenzgewinn erzielt werden kann. Im Gegenteil würde noch viel mehr der Anschein erweckt, dass der angegebene Betrag identisch ist mit dem wirtschaftlichen Vorteil. Bis zum Fall Steinbrück wollte übrigens ja auch die SPD nur eine neue Stufenregelung. Aber angesichts der Debatte über die Vortragshonorare ihres mit beachtlichen Nehmerqualitäten ausgestatteten Kanzlerkandidaten hat sie dann die Flucht nach vorn angetreten. Auch die vorliegenden Anträge lehnen wir ab, wonach Berufsgeheimnisträger die Branche ihrer Auftraggeber angeben müssen. Dies ist zum einen nicht praktikabel. Vor allem aber beinhaltet es die Gefahr der Verletzung von Verschwiegenheitspflichten. Lassen Sie mich abschließend einmal mehr davor warnen, die Rechtsstellung und das Berufsbild des Abgeordneten in eine Richtung zu verändern, die dem freien Mandat und dem Parlament insgesamt Schaden zufügen würde. Wir brauchen ein Parlament, das aus der Breite der Gesellschaft zusammengesetzt ist. Es darf nicht dazu kommen, dass bestimmte Berufsgruppen wie Freiberufler, Handwerker, Gewerbetreibende immer schwerer für die Übernahme eines politischen Mandates zu gewinnen sind. Außerdem brauchen wir Abgeordnete, die nicht nur einen Beruf erlernt haben, sondern ihn auch noch ausüben; denn dies stärkt die politische Unabhängigkeit und ist damit im Interesse des Parlamentarismus. Und schließlich möchte ich auch eindringlich davor warnen, dass durch all die Debatten über Nebentätigkeiten, Veröffentlichungspflichten, Abgeordnetenbestechung etc. der Eindruck erweckt wird, Parlamentarier seien faul, abhängig, raffgierig und korrupt. Dies entspricht in keiner Weise der Wirklichkeit und schadet deshalb dem Ansehen des Parlamentarismus. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Um was geht es eigentlich im Kern dieser Debatte? Geht es hier um einen populistischen Überbietungswettbewerb? Geht es um Neiddebatten? Geht es um parteistrategische Schachzüge? Oder geht es womöglich um Schadensbegrenzung für eine verunglückte Kanzlerkandidatur, weil, um im aktuellen Sprachgebrauch zu bleiben, das Konklave wohl zu kurz und vor allem unterbesetzt war? Es geht hier um ein sehr wichtiges Thema des Parlamentes, ein sehr wichtiges Thema im Verhältnis zwischen Parlament und Bürgern und der Transparenz gegenüber den Wählern. Dafür müssen wir aber über die richtigen Sachverhalte sprechen, die tatsächlich relevanten Fälle. Ja, es geht um Transparenz, es geht um die Unabhängigkeit von Abgeordneten. Grundlage ist hier das Abgeordnetenrecht. Und da haben wir eine große Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wie auch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen. Zur Chronologie der jetzigen Verhaltensregeln, den Problemen in der Praxis und dem Zerrbild, das sich teilweise hieraus ergibt, könnte viel gesagt werden. Aber jetzt geht es darum - das hat die Praxis auch gezeigt - dass die Verhaltensregeln, die Transparenz, einer Erweiterung bedürfen. Dieses erforderliche Mehr an Transparenz schaffen wir mit der jetzigen Einführung von zehn statt bisher drei Einkunftsstufen. Die Debatte aber, so wie sie geführt wird, geht an der Wirklichkeit dieses Parlamentes vorbei, einer Parlamentswirklichkeit, auf die wir ruhig ein wenig stolz sein können. 70 Prozent der Kolleginnen und Kollegen haben überhaupt keine Nebeneinkünfte. Um wen geht es denn hier? Im Deutschen Bundestag sind derzeit 15,5 Prozent Selbstständige aus den Bereichen Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft. Und das ist außerordentlich erfreulich. Weitere 15,9 Prozent sind freiberuflich Tätige, also Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker und Ingenieure; auch das ist sehr erfreulich! Wir als Union begrüßen diese Zusammensetzung ausdrücklich. All diese Kolleginnen und Kollegen, die sich dazu entschieden haben, ihre eigene Berufs- und Lebensbiografie für vielleicht zwei oder drei Legislaturperioden zu unterbrechen - das ist bei über 50 Prozent der Kollegen der Fall -, müssen doch verständlicherweise Wege finden, wie sie ihren Betrieb, ihr Büro, ihre Kanzlei für eine solche Zeit weiterlaufen lassen können. Deswegen werden wir als Koalition keiner Regelung zustimmen, die es diesen Berufsgruppen weiter erschwert oder sogar unmöglich macht, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben. Die jetzigen Regelungen, insbesondere das Bruttozuflussprinzip, führen bereits jetzt in der Darstellung zu einem vollkommenen Zerrbild bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Mit der heutigen Beschlussempfehlung des 1. Ausschusses wird der Deutsche Bundestag das bisherige Drei-Stufen-Modell auf insgesamt zehn Stufen erweitern. Wir sorgen damit für einen weiteren und notwendigen Transparenzgewinn im eigentlichen Kern der Sache, nämlich mögliche Abhängigkeiten von Abgeordneten aufzuzeigen. Allein darum geht es; der gläserne Bürger darf nicht das Ziel sein, der gläserne Abgeordnete auch nicht. Wir wollen für die Zukunft kein Funk-tionärsparlament, wir wollen auch in Zukunft Selbstständige und Freiberufler in einer guten Mischung im Deutschen Bundestag. Die Debatte über Einzelfälle - ja, sogar über einen Extremfall - darf nicht dazu führen, dass berufliche Nebentätigkeiten von Handwerkern, Unternehmern, aber auch Rechtsanwälten und Ärzten in Bausch und Bogen einem Generalverdacht ausgesetzt werden. Das schadet letztlich dem Parlament und dem Ansehen der Abgeordneten - und zwar auch dem Ansehen derer, die überhaupt keine entgeltlichen Nebentätigkeiten ausüben! Christian Lange (Backnang) (SPD): Ich begründe die beiden Änderungsanträge der SPD-Bundestagsfraktion. Wir wollen die Veröffentlichung der Nebeneinkünfte auf Euro und Cent sowie die Nennung der Branchen. Dies entspricht den Vorschlägen der CDU/CSU und FDP, von denen Sie heute nichts mehr wissen wollen. Ich begrüße das Vorgehen von Peer Steinbrück. Er ist unser Vorbild. Was für ihn gilt, muss für alle gelten. Dieser Vorschlag entspricht meiner eigenen ursprünglichen Forderung und ist jetzt gemeinsamer Antrag von SPD und Grünen. Wie dringend notwendig eine Verschärfung der Transparenzregeln ist, zeigt der Fall von Michael Fuchs. Auf Fuchs' Bundestagsseite war jahrelang zu lesen, dass er Vorträge für die britische Hakluyt Society gehalten hatte. Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de und stern, 9. Januar 2013, wurde deutlich, dass es sich in Wahrheit nicht um die gemeinnützige geografisch-historische Gesellschaft, sondern einen privaten Nachrichtendienst mit ähnlichem Namen, Hakluyt & Company, handelte. Fuchs hat nach Recherchen des stern seit August 2008 mehr als 13 bezahlte Vorträge für die Londoner Beratungsfirma Hakluyt & Company gehalten und erhielt dafür insgesamt mindestens 57 000 Euro. Hakluyt & Company wurde 1995 von ehemaligen Mitgliedern des britischen Geheimdienstes gegründet. Die Firma beschafft für Unternehmen unveröffentlichte Informationen, zum Beispiel über andere Unternehmen, über Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen, aber auch über Regierungsvorhaben. Die Verwechslung der umstrittenen Firma mit der gemeinnützigen Hakluyt Society nahm ihren Ausgang in einer unvollständigen Meldung von Michael Fuchs, der 2008 den ersten Vortrag dort nur mit "Hakluyt London" bei der Bundestagsverwaltung meldete. Wie daraus "Hakluyt Society" wurde, ist bis heute ungeklärt. Es wundert deshalb nicht, dass Michael Fuchs, der in den vergangenen drei Jahren mindestens 100 000 Euro zusätzlich eingenommen hat, sich gegen die Veröffentlichung konkreter Zahlen ausspricht und darüber hinausgehend auch zumindest die Nennung der Branche, in der Einkünfte erzielt werden. Er könne sich höchstens vorstellen, "dass wir die gegenwärtige Transparenzregelung um einige Stufen ergänzen", sagte Fuchs, 14. Oktober 2012, dapd. Der Vorgang zeigt, wie wichtig es ist, dass wir weitgehende Nachvollziehbarkeit schaffen, wie hoch die Einnahmen aus Nebentätigkeiten sind, und zwar auf Euro und Cent, aber auch von wem bzw. aus welcher Branche die Einnahmen stammen. Dies wurde von CDU/CSU und FDP bislang kategorisch abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht hat aber in seinem Urteil vom 4. Juli 2007 mit einer 4:4-Entscheidung die derzeit geltende Stufenregelung bekräftigt. Einer Offenlegung genauerer Zahlen stünde damit nichts im Wege, solange die schützenswerten Interessen, zum Beispiel spezielle Verschwiegenheitspflichten von Ärzten oder Anwälten, gewahrt bleiben. Mit der Nennung lediglich der Branche, in der die Nebeneinkünfte erzielt werden, kommen wir gebotenen Verschwiegenheitspflichten nach. Mit den Transparenzregelungen sollen berufliche und sonstige Verpflichtungen des Abgeordneten neben dem Mandat und daraus zu erzielende Einkünfte den Wählern sichtbar gemacht werden. Sie sollen sich mithilfe von Informationen über mögliche Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten ein besseres Urteil über die Wahrnehmung des Mandats durch den Abgeordneten auch im Hinblick auf dessen Unabhängigkeit bilden können. Diesbezügliche Kenntnis ist nicht nur für die Wahlentscheidung wichtig. Sie sichert auch die Fähigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Mitglieder, unabhängig von verdeckter Beeinflussung durch zahlende Interessenten das Volk als Ganzes zu vertreten. Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, von wem - und in welcher Größenordnung - seine Vertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen. Das Interesse des Abgeordneten, Informationen aus der Sphäre beruflicher Tätigkeiten vertraulich behandelt zu sehen, ist gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Erkennbarkeit möglicher Interessenverknüpfungen der Mitglieder des Deutschen Bundestages grundsätzlich nachrangig. Wichtig ist außerdem, dass Verstöße entsprechend empfindlich geahndet werden können. Wenn Abgeordnete Nebeneinkünfte verschweigen und dies bekannt wird, soll ein Betrag in gleicher Höhe von ihrer Diät abgezogen werden. Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie den Anträgen von SPD und Grünen zu! Sonja Steffen (SPD): Das Volk hat Anspruch darauf, zu erfahren, von wem - und in welcher Größenordnung - seine Volksvertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen. Bisher müssen die Abgeordneten ihre Nebeneinkünfte in drei Stufen offenlegen. Diese Offenlegungspraxis hat zu viel Kritik geführt, beispielsweise von Transparency International Deutschland, nach deren Einschätzung sich die Veröffentlichung in drei Stufen als kontraproduktiv und eher verwirrend erwiesen hat. Dies sei besonders bei Angaben zur dritten Stufe der Fall, mit der alle Einkünfte ab 7 000 Euro erfasst werden. Hinter dieser Stufe können sich vier-, fünf- oder sechsstellige Eurobeträge verbergen. Die Koalition möchte hier nun mit einem Vorschlag Abhilfe schaffen, der die Stufen von drei auf zehn Stufen ausbaut und so genauere Einsicht bis zu einer Höhe von 250 000 Euro ermöglicht. Auch wenn dies eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Praxis darstellt, lehnen wir diesen Vorschlag ab. Das bedeutet nicht, dass wir die Ausübung von Nebentätigkeiten durch Abgeordnete grundsätzlich ablehnen. Für ehrliche Arbeit braucht man sich nicht zu schämen, und diese soll auch weiterhin neben dem Mandat ausgeübt werden dürfen. Gerade Selbstständige müssen sicherstellen können, dass mit der Annahme des Mandats die eigene, oft mühsam aufgebaute Existenz nicht aufgegeben werden muss. Anders wäre eine Rückkehr in den eigenen Beruf und damit eine Absicherung für die Zeit nach dem Mandat für diese Gruppe oft nicht möglich. Insbesondere gilt es, die eigene Familie, den Lebenspartner und die Kinder über die vier Jahre des Mandats hinaus abzusichern. Und es kann auch um Verpflichtungen Dritten gegenüber gehen, wie beispielsweise den eigenen langjährigen Mitarbeitern im Betrieb oder der Kanzlei. Aber wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern, die mit ihren Steuergeldern auch unsere Diäten, Büroausstattungen und Mitarbeiter finanzieren, schuldig, unsere Einkünfte auf Euro und Cent offenzulegen. Ohne Transparenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es auch langfristig keine parlamentarische Demokratie mit einer breiten Akzeptanz. Die von der Koalition vorgeschlagene neue Regelung ist leider genauso verwirrend wie die alte, nur dass sie die höheren Einkünfte stärker einbezieht. Die tatsächlichen Bruttoeinkünfte eines Abgeordneten, der jährlich einmal Stufe zwei, einmal Stufe drei und einmal Stufe vier verdient, liegen mindestens bei 25 503 Euro. Sie können aber auch bis zu 52 000 Euro betragen - das nennen Sie transparent? Wenn ich achtmal Stufe vier verdiene, liegt mein Einkommen zwischen 120 000 und 240 000 Euro. Ich weiß ja nicht, wie es den Kollegen der Koalitionsfraktionen geht, aber für mich macht das schon einen ganz schönen Unterschied. Zudem fällt auf, dass Ihre Sprünge zwischen den Stufen von eins bis zehn immer größer werden. Liegt der Unterschied zwischen Stufe zwei und drei noch bei 8 000 Euro, sind es zwischen Stufe fünf und sechs schon 25 000 Euro und schließlich zwischen Stufe acht und neun 100 000 Euro. Heißt das, je mehr ich verdiene, desto unwichtiger ist eine möglichst exakte Offenlegung? Ich bin mir außerdem sicher, dass der Großteil der Menschen automatisch immer von den oberen Grenzwerten ausgeht. Nach dem Motto: Der verdient dreimal Stufe eins? Na, dann hat der doch mindestens 10 000 Euro zusätzlich! - Dabei könnten es, wie wir wissen, auch nur 3 000 Euro sein. Ganz abgesehen davon, dass wir hier immer noch von Bruttoeinkommen sprechen, das noch versteuert werden muss. Ich meine daher, dass es auch in unserem eigenen Interesse ist, hier für mehr Transparenz zu sorgen. Diese bekommen wir aber nur mit einer Offenlegung der tatsächlichen Höhe der Einkünfte. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag für eine Offenlegung auf Euro und Cent zuzustimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem festgestellt, dass das Interesse des Abgeordneten, Informationen aus der Sphäre beruflicher Tätigkeiten vertraulich behandelt zu sehen, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Erkennbarkeit möglicher Interessenverknüpfungen grundsätzlich nachrangig ist. Wir fordern daher, dass bei der Veröffentlichung der Nebentätigkeiten von Abgeordneten, die als Berufsgeheimnisträger wie Rechtsanwälte und Steuerberater tätig sind, zumindest die Branche des Vertragspartners, Auftraggebers oder Mandanten offengelegt werden muss. Das Argument der Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Kennzeichnung der Branche sei abzulehnen, da das Risiko vor allem im ländlichen Raum zu groß sei, über die Branchenangabe den Vertragspartner des Abgeordneten identifizieren zu können, ist scheinheilig. Es ist sogar eher ein Argument für die Branchenangabe. Denn gerade in einer solchen von Ihnen geschilderten Situation kann es zu großen Interessenkonflikten kommen. Mit den Transparenzregelungen sollen den Wählerinnen und Wählern mögliche Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten aufgezeigt werden, damit sie sich über die Unabhängigkeit ihres Abgeordneten ein Bild machen können. Denken Sie daran: Ohne Transparenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es keine funktionierende parlamentarische Demokratie. Jörg van Essen (FDP): Anknüpfend an die große öffentliche Debatte über die Vortragstätigkeit des Kollegen Peer Steinbrück hat sich auch in meiner Fraktion eine Diskussion darüber entwickelt, ob die bisher in den Verhaltensregeln genannten drei Stufen für Nebeneinkünfte geeignet sind, der Öffentlichkeit die notwendige Transparenz zu ermöglichen. Für meine Fraktion lege ich Wert darauf, dass wir Nebentätigkeiten von Abgeordneten grundsätzlich ermöglichen wollen. Im Gegensatz zu Beamten sind Freiberufler nicht abgesichert, wenn sie durch den Willen des Wählers oder der Partei nicht wieder für eine weitere Tätigkeit im Deutschen Bundestag nominiert werden. Es macht deshalb Sinn, dass diese Kollegen einen Fuß in der Tür zu ihrem bisherigen Beruf haben und deshalb dann auch die Chance, in diesen nach einem Ausscheiden aus dem Bundestag zurückzukehren. Meine Fraktion lehnt die betragsgenaue Darlegung der Nebeneinkünfte ab. Durch die zehn nunmehr zur Verfügung stehenden Stufen kann sich der Bürger ein zutreffendes Bild von der Wertigkeit einer Nebentätigkeit machen. Das Bundesverfassungsgericht - darauf weise ich ausdrücklich hin - hat so eine betragsgenaue Darlegung auch nicht gefordert. Von daher halten wir die nun zu verabschiedende Veränderung der Verhaltensregeln für einen guten Fortschritt, der zu zusätzlicher notwendiger Transparenz führen wird. Raju Sharma (DIE LINKE): Wir befassen uns heute erneut mit der Frage, wie Politik transparent gestaltet werden kann. Speziell geht es um Transparenz in eigener Sache, nämlich um die Offenlegung von Nebentätigkeiten, von Auftraggebern und von Nebeneinkommen. So begrüßenswert es ist, dass das Thema Transparenz im Bundestag endlich Konjunktur hat, so frustrierend ist es zugleich, weil sich einfach nichts bewegt. Die Bundesregierung mauert, wo sie kann: beim Lobbyistenregister, bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Parteienfinanzierung. Nun gab es eine öffentliche Debatte über Nebeneinkünfte. Der Begriff ist schon nicht ganz richtig, weil bei manchem Kollegen das "Nebeneinkommen" die Jahresdiät schnell einmal um ein Mehrfaches übersteigt. Mit dieser Debatte wurde die Bundesregierung jetzt sozu-sagen zum Jagen getragen. Jetzt lautet der Vorschlag, die Verhaltensregeln für die Abgeordneten so zu ändern, dass Nebeneinkünfte nicht mehr in drei, sondern in zehn Stufen veröffentlicht werden müssen. Das ist nun das Gegenteil von Transparenz. Das ist vielmehr eine Verschleierungstaktik. Ob 3, 10 oder 15 Stufen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen zu Recht wissen, für wen ihre Abgeordneten sonst noch tätig sind und wie viel Geld fließt. Das ist ein berechtigtes Interesse; denn nur so kann man sich ein Bild davon machen, in welche Abhängigkeiten oder Interessenkonflikte sich ein Abgeordneter möglicherweise begibt. Diese Klarheit schafft eine Veröffentlichungspflicht mit zehn Stufen nicht. Im Gegenteil: Genauso gut könnten CDU und FDP vorschlagen, Nebeneinkommen in isländischen Kronen, in römischen Ziffern und mit kyrillischen Buchstaben zu veröffentlichen. Dann ist zwar alles gesagt, das aber praktisch trotzdem nicht zu gebrauchen. Die Linke sagt: Schluss mit dieser Verschleierungstaktik! Wir haben zwei übersichtliche Änderungsanträge vorgelegt, denen jeder Abgeordnete ohne größere Probleme zustimmen könnte. Wir wollen die Veröffentlichung aller Nebeneinkünfte - und zwar auf Heller und Pfennig. Natürlich sollen auch die Auftraggeber genannt werden. Es ist doch relevant, zu wissen, ob ein Gesundheitspolitiker beispielsweise auf den Gehalts- und Honorarlisten von Pharmakonzernen oder Lobbyorganisationen steht und, wenn ja, wie viel Geld genau fließt. Das muss nicht zwangsläufig anrüchig sein. Damit sich aber genau dazu jeder ein Bild machen kann, ist Transparenz - echte Transparenz - notwendig. Keine Fraktion, kein Abgeordneter sollte sich hier zieren. Das Mandat ist unser Hauptberuf. Wir haben von den Wählerinnen und Wählern einen Auftrag erhalten. Wer glaubt, der Diener mehrerer Herren sein zu müssen, soll sich wenigstens nicht in Schweigen hüllen, sondern ehrlich und aufrecht Klarheit schaffen. Ein beliebter Einwand ist das Problem mit Berufsgeheimnisträgern wie Rechtsanwälten oder Ärzten. Hier ist tatsächlich Fingerspitzengefühl und eine besondere Regelung notwendig. Das Prinzip dabei sollte sein: So viel Transparenz wie möglich, so viel Vertraulichkeit wie nötig. Natürlich achtet die Linke beispielsweise die ärztliche oder anwaltliche Schweigepflicht. Weder soll ein Strafverteidiger seine Mandanten preisgeben noch soll ein Abgeordneter, der im Nebenberuf als Schönheitschirurg tätig ist, seine Kundschaft in einer Drucksache des Bundestages outen müssen. Die Linke schlägt daher eine Regelung vor, nach der in diesen und ähnlichen, klar abgrenzbaren Fällen statt des Auftraggebers die Branche zu nennen ist. Wir halten das für einen praktikablen Weg. Die Abgeordneten der Linken leisten diese eigentlich selbstverständliche Transparenz schon heute. Die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion veröffentlichen freiwillig ihre Nebeneinkünfte centgenau. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion hat die anderen Fraktionen im Bundestag zu einer umfassenden Transparenzinitiative aufgefordert. Transparenz schafft Vertrauen in politische Entscheidungen, schützt sie vor Manipulationen mit dem Scheckbuch und stützt die Legitimität unserer Demokratie. Dazu zählt auch echte Transparenz bei Nebeneinkünften von Abgeordneten. Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, zu erfahren, welchen Nebentätigkeiten Abgeordnete neben ihrem Mandat nachgehen. Sie haben ein Recht, zu erfahren, wie hoch die Einkünfte aus diesen Nebentätigkeiten sind und welche Interessen die Abgeordneten in diesem Rahmen vertreten. Nur so ist für Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar, ob Abgeordnete den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit tatsächlich auf ihr Mandat legen. Und nur so ist für Bürgerinnen und Bürger erkennbar, ob eine Beeinflussung der Abgeordnetentätigkeit droht. Wir haben zu den heute zur Abstimmung stehenden Änderungen der Verhaltensregeln für Abgeordnete erneut zwei Änderungsanträge eingebracht, die zu einem echten Mehr an Transparenz führen sollen. Wir fordern darin nicht zum ersten Mal die betragsgenaue Offenlegung der Nebeneinkünfte in Euro und Cent. Erst auf unsere beständigen Forderungen und auf das Drängen der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz hin hat die Koalition sich veranlasst gesehen, Nebeneinkünfte nun nicht mehr in drei, sondern in zehn Stufen veröffentlichen zu wollen. Ob Abgeordnete nun 8 000 oder 15 000 Euro aus einer Nebentätigkeit verdienen, ob eine Tätigkeit 160 000 oder 250 000 Euro einbringt, das spielt dabei weiterhin keine Rolle. Von den lauten Forderungen aus der Koalition nach detailgenauer Offenlegung der Nebeneinkünfte des Kanzlerkandidaten der SPD im letzten Jahr blieb erwartungsgemäß wenig übrig, als es um die Offenlegung der eigenen Einkünfte ging. Wir meinen, Bürgerinnen und Bürger sollen ganz genau erfahren, wie viel Geld Abgeordnete aus Nebentätigkeiten beziehen, und fordern die Koalition erneut auf, bei allen Abgeordneten des Bundestages das gleiche Maß anzulegen, auch bei sich selbst. Deutlich werden soll aber auch, wer bei Nebeneinkünften hinter den Aufträgen steckt. Deswegen verlangen wir, dass Berufsgeheimnisträger, die den Namen ihrer Mandanten verschweigen dürfen, dann wenigstens die Branche angeben müssen, aus der diese stammen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Queere Jugendliche unterstützen (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wir hatten in den zurückliegenden Jahren mehrfach die Gelegenheit, uns über die Situation insbesondere von schwulen und lesbischen Jugendlichen auszutauschen. Stets hat dabei die Sachlichkeit und der Respekt vor diesem Personenkreis im Vordergrund gestanden. Ich bin mir insofern sicher, dass wir auch dieses Mal eine von gegenseitigem Re-spekt geprägte Debatte führen werden. Junge Menschen, die ein Coming-out als Lesbe, als Schwuler, als Transsexueller haben, sind vor eine ganze Reihe von Problemlagen gestellt, mit der sie umgehen müssen. Neben der Frage der Reaktion ihres engsten Umfelds wie Familie und Freunde ändern sich auch Perspektiven am Arbeitsplatz oder in der Schule. Nach wie vor ist es in Deutschland so, dass ein Verständnis oder eine Akzeptanz nicht selbstverständlich ist. Reaktionen können noch immer sehr unterschiedlich ausfallen. Junge Menschen in Deutschland müssen noch immer eine Menge an Mut aufbringen, um zu ihrem Lebensentwurf offen zu stehen. Nicht selten ist davon zu hören, dass Freunde oder sogar Eltern sich abwenden, wenn sie mit einem Coming-out konfrontiert werden. Andererseits sind wir uns alle einig, dass sich das Verhalten der Gesellschaft in vielfacher Art und Weise grundlegend geändert hat. Schritt für Schritt geht unsere Gesellschaft einen Weg hin zu einem respektvollen und diskriminierungsfreien Umgang mit der Verschiedenheit sexueller Orientierung. Dies ist jedoch noch längst nicht selbstverständlich. Wie das individuelle Umfeld reagiert und Formen einer gefühlten Andersartigkeit aufnimmt, ist noch immer begleitet von Unberechenbarkeit. Für Betroffene ist dies besonders quälend und belastend. Unser Anspruch kann nicht sein, die Aufnahme dieses Personenkreises in unsere Mitte von Zufälligkeiten abhängig zu machen. Dies wird unserem selbst gesetzten Anspruch an eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, die auf gegenseitigem Verständnis füreinander und der Akzeptanz verschiedener Lebensformen beruht, noch nicht gerecht. Vieles wird nicht mehr offen ausgesprochen, aber auch subtiles oder implizites Verhalten kann sehr schmerzhaft und belastend sein. Es muss eine Kultur der Vielfalt entstehen, allerdings ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verlieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, besonders den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle Orientierung leben können. Wahr ist aber auch: Die deutsche Gesellschaft ist bereits einen weiten Weg gegangen, wenn man betrachtet, wo wir herkommen, und vor allen Dingen wenn wir uns vergegenwärtigen, wie anderswo mit diesen Fragen der Andersartigkeit umgegangen wird. Da brauchen wir nicht bis in den muslimischen Kulturkreis zu gehen, da reicht der Blick in das östliche Europa, wo Menschen noch immer körperlicher Gewalt und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Und ich brauche an dieser Stelle nicht zu erwähnen, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität erst 1990 von der Liste psychischer Krankheiten strich. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen unterstützt, die auf einen Abbau noch bestehender Vorurteile und auf die Schaffung eines besseren Klimas hinwirken. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die christlich-liberale Koalition bei ihren jugendpolitischen Bemühungen die Unterschiedlichkeit von Jugendlichen berücksichtigt. Über das Förderinstrument des Kinder- und Jugendplans des Bundes unterstützt sie unterschiedliche Angebote zum Beispiel für lesbische und schwule Jugendliche. Eine detaillierte Aufstellung des Engagements hat das BMFSFJ bereits vor einiger Zeit vorgelegt. Beispiel für das BMFSFJ ist das bundesweit agierende Jugendnetzwerk Lambda e. V. Es vertritt die Interessen junger Lesben, Schwuler, Bisexueller und Transgender in der Öffentlichkeit und wird seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans gefördert. Lambda bietet für Jugendliche eine Jugendberatung an, in der die Jugendlichen in einer Peer-to-Peer-Beratung Unterstützung bei Themen wie "Coming-out", "Partnerschaft" und "Diskriminierung" erhalten. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel adressiert lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche zum Themenbereich "Sexualaufklärung" und "Aidsprävention". Die Broschüre "Hetero-sexuell? Homosexuell? Sexuelle Orientierung und Coming-out" informiert spezifisch zum Coming-out und spricht damit sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern an. Dies, um nur einige zentrale Beispiele zu benennen. Eine ganze Reihe von Forderungen, die die Grünen in ihrem Antrag stellen, fallen jedoch nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Darauf wurde bereits mehrfach im Rahmen der Debatten zu diesem Thema hingewiesen. Bei allem Engagement in der Sache bleibt es dabei, dass die verfassungsmäßigen Kompetenzen beachtet werden müssen. Besonders erfreulich ist, dass wir in den zurückliegenden Monaten beim Thema Intersexualität ein gutes Stück weitergekommen sind. Durch die Änderung des Personenstandrechts ist es in der Zukunft möglich, dass intersexuelle Menschen sich nicht mehr entscheiden müssen, ob sie in ihren offiziellen Dokumenten die binären Kategorien "männlich" oder "weiblich" angeben müssen. Es steht den intersexuellen Menschen frei, sich für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden oder die Eintragung offen zu lassen. Mit diesem Schritt gehören wir weltweit zu den Vorreitern. Ich hoffe, dass sich viele weitere Staaten anschließen werden, und ich bin guten Mutes, dass unser Beispiel in Europa Schule machen wird. Ich freue mich, dass das BMFSFJ meinem Vorschlag gefolgt ist und noch in diesem Jahr einen großen Kongress zum Thema Intersexualität plant, in dem auf breiter Basis ein Erfahrungsaustausch, eine Standortbestimmung und eine Koordination weiterer Maßnahmen erfolgen wird. Ich denke, dies ist sehr wichtig. Insbesondere ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Thema "Verbot von geschlechtsfestlegenden Operationen bei Minderjährigen" anzugehen. Ich habe den Eindruck, dass wir hier parteiübergreifend am gleichen Strang ziehen. Und ich bin auch hier zuversichtlich, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, die im Sinne der intersexuellen Menschen in Deutschland ist. Christel Humme (SPD): Heute debattieren wir über einen Antrag der Grünen mit einem sperrigen Titel und doch einem sehr berechtigten Anliegen. Worum geht es? Es geht darum, alle Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie ihre sexuelle Orientierung und ihre Geschlechtsidentität selbstbestimmt und angstfrei entdecken, akzeptieren und leben können. Bereits 2005 hat die damalige rot-grüne Koalition mit dem Antrag "Schwule und lesbische Jugendliche - Mittendrin statt außen vor" die richtige Richtung vorgegeben: "Lesben und Schwule dürfen nicht länger als ‚Randgruppen' angesehen werden, sondern haben ganz selbstverständlich ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft." Diese Selbstverständlichkeit bezieht sich nicht nur auf lesbische oder schwule Jugendliche, sondern auf alle jungen Menschen, die für sich eine andere Form der -Sexualität und Geschlechtsidentität entdecken. Gay, -lesbian, bisexual, transsexual, transgender, intersexual: Diese Varianten sexueller Orientierungen und Identitäten verstecken sich hinter der vermutlich für viele Bürgerinnen und Bürger nicht unbedingt geläufigen englischen Abkürzung GLBTTI. Alle diese Menschen eint die Erfahrung, anders zu sein als ihre Umgebung, anders als die meisten ihrer Freunde, Bekannten, anders als das, was sie bisher als vermeintlich normal und üblich kennengelernt haben. Vor diesem Hintergrund schrecken viele Jugendliche vor dem sogenannten Coming-out, also dem offensiven Umgang mit der eigenen Andersartigkeit, zurück. Und das nicht ohne Grund. Spott, verletzende Kommentare oder gar körperliche Gewalt gegenüber Lesben, Schwulen, bi-, trans- oder intersexuellen Menschen sind noch immer weit verbreitet. Die Angst vor den Reaktionen der eigenen Familie, der besten Freunde oder Freundinnen führt viele dieser jungen Menschen in die Isolation und Verzweiflung. Ihr Selbstmordrisiko ist Studien zufolge signifikant höher als bei heterosexuellen Jugendlichen. Was ist zu tun? Wir müssen dafür sorgen, dass es endlich als normal wahrgenommen wird, verschieden zu sein. Wir müssen überall in unserer Gesellschaft eine Kultur der Anti-diskriminierung und der Wertschätzung von Vielfalt -verankern. Dazu sind wir Politikerinnen und Politiker gefordert. Wir müssen den Rahmen für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft setzen und mit nachhaltigen Präventionsstrategien gegensteuern. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Signalwirkung. Denn es hat ausdrücklich auch zum Ziel, Benachteiligungen aufgrund der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns darüber hinaus stark dafür gemacht, das Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 unseres Grundgesetzes um den entscheidenden Satz "Niemand darf wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden" zu erweitern. Leider, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben Sie 2011 die Gesetzentwürfe von SPD, Grünen und Linken ebenso abgelehnt wie vorhergehende Initiativen aus den Ländern. Damit wurde fahrlässig eine Gelegenheit für eine wichtige Botschaft verworfen. Über alle Parteigrenzen hinweg hätten wir dokumentieren können, dass Diskriminierungen unserer Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer sexuellen Identität alles andere als ein Kavaliersdelikt sind. Auch die aktuellen Diskussionen und die heutige Plenardebatte über die volle Gleichstellung von -Lebenspartnerschaften mit der Ehe und vor allem um das Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare senden die mehr oder weniger subtile Botschaft: Einige Bürgerinnen und einige Bürger sind durch ihre Art zu leben und zu lieben weniger schützenswert als andere. Diese Botschaft, die die Regierung Merkel damit aussendet, ist beschämend und ein schleichendes Gift für eine bunte und solidarische Gesellschaft. Woher noch kommen eigentlich die Vorbehalte, die Verachtung und der Hass, die vielen schwulen und lesbischen Jugendlichen im Alltag noch immer entgegenschlagen? Das Magazin der Süddeutschen Zeitung befragte kürzlich Kinder aus sogenannten Regenbogenfamilien, welche Erfahrungen sie machen, wenn sie anderen von ihrer Familienkonstellation mit zwei Vätern oder zwei Müttern erzählen. "Kinder nehmen das alles total normal auf. Wenn, dann waren es immer die Eltern, die damit ein Problem hatten." So bringt es ein Mädchen auf den Punkt. Ich finde diese Einschätzung ganz zentral. Sie zeigt: Wir müssen gerade Erwachsene sensibilisieren, dass zu dem traditionellen Familienbild, das sie als "normal" ansehen, längst weitere Beziehungsformen getreten sind, in denen Menschen füreinander langfristig Verantwortung übernehmen. Keine ist der anderen überlegen, und alle verdienen Unterstützung und Respekt. Gleichzeitig - das macht auch der vorliegende Antrag deutlich - brauchen vor allem die Jugendlichen selbst passende Beratungs- und Unterstützungsangebote. Neben entsprechenden Angeboten vor Ort gehört für ratsuchende junge Menschen auf jeden Fall der Austausch mit Gleichaltrigen dazu. Oft ist hier das Internet der erste Schritt zur Vernetzung. Hier können häufig wichtige Impulse gegeben werden, um das Selbstbewusstsein der verunsicherten Jugendlichen zu stärken. Stellvertretend für eine gelungene Ansprache möchte ich die Internetplattform dbna erwähnen, die sich unter dem Mut machenden Namen "du bist nicht allein" seit 1997 ausschließlich an schwule und bisexuelle Jugendliche wendet. Schule und vielfach auch der Sport sind die beiden wichtigsten Bereiche im Alltag von Kindern und Jugendlichen, in denen es zu diskriminierenden Situationen kommt und Aufklärung und Hilfe geleistet werden muss. Die Lösungen sind bekannt, aber noch immer nicht flächendeckend umgesetzt. Sexuelle Vielfalt muss positiv vermittelt werden und selbstverständlich auch Bestandteil in Schulbüchern sein. Denn Schwule, Lesben, Trans- und Intersexuelle gehören längst zur Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft, schaffen es aber noch immer zu selten in die Lehrpläne der Schulen. Lehrerinnen und Lehrer müssen schon während ihres Studiums stärker für die Thematik sensibilisiert und ebenso wie Beschäftigte in Jugend- und Sporteinrichtungen entsprechend weitergebildet werden. Für dies alles brauchen wir die Bereitschaft der Länder. Vielfach ist sie schon vorhanden. Mein Bundesland NRW beispielsweise hat im Oktober 2012 einen "Aktionsplan für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt" verabschiedet. Damit hat die rot-grüne Landesregierung unter Hannelore Kraft Antidiskriminierungspolitik erstmals zu einer Querschnittsaufgabe aller Ressorts gemacht. Insgesamt über 100 Maßnahmen sollen dazu beitragen, wichtige gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und die Rechte sexueller Minderheiten nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Alltag zu stärken. Ich bin stolz auf diesen Aktionsplan, an dem im Vorfeld in einem breiten Beteiligungsprozess maßgeblich auch Nichtregierungsorganisationen mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass das Beispiel von NRW, ebenso wie gute Initiativen etwa aus Berlin und Rheinland-Pfalz, auch in anderen Bundesländern Schule machen werden - und so auch die Bundesregierung endlich dazu bringen werden, einen nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie vorzulegen. Ebenso wichtig ist eine fundierte Bestandsaufnahme der Lebenssituation homosexueller Jugendlicher in Deutschland, die wir bereits 2005 gefordert haben. Lassen Sie mich nun noch auf eine Gruppe Jugendlicher zu sprechen kommen, über deren spezielle Nöte und Bedürfnisse wir alle vermutlich erst durch die Anhörung im Familienausschuss im Juni vergangenen Jahres mehr erfahren haben. Ich rede von intersexuellen -Jugendlichen, die von den geschilderten Problemen bei ihrer Identitätsfindung in besonderem Maße betroffen sind. Sie - und ihre Angehörigen - benötigen daher spezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote. Intersexuelle müssen in ihrem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gestärkt werden. Wir fordern - außer in Fällen akuter -Lebensgefahr - ein Verbot sämtlicher Geschlechtsoperationen an minderjährigen intersexuellen Menschen. Nur mit ihrer Einwilligung und auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin sollen diese Operationen mit ihren weitreichenden Folgen künftig möglich sein. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine demokratische und tolerante Gesellschaft, in der jede und jeder seine Persönlichkeit frei und ohne Angst entfalten kann. Gerade Jugendliche, deren sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht mit den heterosexuell geprägten Strukturen übereinstimmen, benötigen Hilfe und Unterstützung bei dem schwierigen Prozess ihrer Selbstfindung. Daher unterstützen wir den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Michael Kauch (FDP): Für die FDP gilt: Diskriminierung ist nicht zu akzeptieren - egal wo und in welcher Form sie in unserer Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es für uns auch ein wichtiges Anliegen, dass schwule, lesbische, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Jugendliche gleichberechtigte Chancen haben, ohne Diskriminierung aufzuwachsen. Auch die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen macht den gesellschaftlichen Handlungsbedarf deutlich. Es ist daher richtig, dass wir uns im Deutschen Bundestag mit diesem Themenkomplex befassen. Dennoch muss uns allen klar sein, dass der Großteil der Vorschläge im vorliegenden Antrag, insbesondere zur Schulpolitik und Jugendhilfe vor Ort, in die Kompetenz der Bundesländer fällt. Die Länder und Kommunen sind hier in der Verantwortung und müssen dafür auch entsprechende Mittel bereitstellen. Auch ein möglicher Aktionsplan muss diese föderale Aufgabenverteilung beachten. Weiterhin ist es mir ein persönliches Anliegen, dass die im Antrag erwähnten Zielgruppen nicht alle über einen Kamm geschoren werden. Ein schwuler Jugendlicher im Coming-out hat andere Bedürfnisse als ein transsexueller Jugendlicher - und dieser oder diese wiederum andere als ein intersexueller. Gleichzeitig ist gerade die Gruppenidentität unterschiedlich: Kaum ein schwuler Junge, kaum ein lesbisches Mädchen definiert sich als "queer". Sie sind zunächst froh, wenn sie ihre Identität als schwul oder lesbisch gefunden haben. Der Begriff LGBTTI mag politisch korrekt sein - Angebote, die auf LGBTTI als Gesamtgruppe zielen, dürften aber an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen vorbeigehen. Unterstützen kann man diese Jugendlichen als Gesamtgruppe allerdings sehr wohl, und zwar in der gesellschaftlichen Unterstützung einer vielfältigen und toleranten Gesellschaft, in der das Individuum in seiner Einzigartigkeit im Mittelpunkt steht. Es besteht kein Zweifel, dass auch heute noch das Coming-out eine Herausforderung ist. Lesbische und schwule Jugendliche müssen ebenso wie trans- und intersexuelle junge Menschen ihre Identität finden. Sie müssen in Teilen der Gesellschaft stärker um ihre Akzeptanz kämpfen und brauchen dafür Anerkennung und Unterstützung. Unterstützung für Jugendliche im Coming-out muss dabei auf eins achten: Sie darf die Jugendlichen nicht durch eine falsche Antidiskriminierungsrhetorik in eine Opferecke stellen. Stattdessen müssen wir sie stolz und stark machen, dass sie ihre Identität finden; denn selbstbewusste Jugendliche sind seltener Opfer von Diskriminierung. Gute Beispiele wie das schwul-lesbische Schulaufklärungsprojekt SchLAu NRW, das Nachahmer in anderen Bundesländern gefunden hat, müssen bundesweit verbreitet werden. Dazu leistet die Bundesstiftung "Magnus Hirschfeld" einen wichtigen Beitrag. Sie finanzierte als ihr erstes Projekt die Bundesvernetzung der Schulaufklärungsprojekte. Das ist ein gelungener Beitrag des Bundes. Es waren die Liberalen, die in dieser Wahlperiode dafür gesorgt haben, dass die Bundesstiftung Realität wurde. Die Stiftung wurde bereits im Jahr 2000 vom Bundestag versprochen. Dieses Versprechen wurde weder von Rot-Grün noch von Schwarz-Rot in die Realität umgesetzt. Wir haben es gemacht und haben damit eine Struktur geschaffen, die durch Bildung und Forschung der Diskriminierung Homosexueller entgegenwirkt. 10 Millionen Euro Stiftungskapital haben wir dafür bereitgestellt. Wir Liberale arbeiten daran, dass die Finanzausstattung der Stiftung in der nächsten Wahlperiode noch weiter ausgebaut wird. Und als Kuratoriumsmitglied der Stiftung war und ist es mir ein vorrangiges Anliegen, dass die Aufklärung in Schule und Jugendarbeit dabei vorangebracht wird. Abschließend danke ich den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in den schwul-lesbischen Jugendzentren, aber vor allem den vielen ehrenamtlichen Helfern in den Schulaufklärungsprojekten. Sie leisten die wertvolle Arbeit vor Ort, die wir von politischer Seite nur begleiten, aber nicht ersetzen können. Unser Ziel ist klar: Wir wollen, dass schwule, lesbische, bi-, trans- und intersexuelle Jugendliche so fühlen, so lieben und so leben können, wie sie es wollen - frei von Diskriminierung und stolz darauf, wie sie sind. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): "Manchmal ist es erschreckend, wenn ich den Anruf von Eltern erhalte, die mir erklären, dass dies eine der letztgewählten Nummern mit dem Handy gewesen sei, welches ihr transsexuelles Kind gewählt habe, bevor es sich das Leben nahm, und ich ihnen antworte: Ja, ihr Kind hatte einen Termin bei uns, jetzt weiß ich, warum es nicht gekommen ist." So Mari Günther, Leiterin des Zentrums "Queer leben", -einem Beratungs- und Hilfeprojekt für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle. Diese bedrückenden Sätze sagte Mari Günther gestern in einem Gespräch zu mir. Mit dem Projekt "Queer leben" wird Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Eltern geholfen, wenn sie Probleme aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität und/oder der Diskriminierung erfahren haben. Mehr als 20 Fachkräfte arbeiten dort. Seit zwei Jahren existiert das Zentrum, an das sich Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet wenden. Der Bedarf ist riesig, deshalb werden fast im Wochentakt neue Mitarbeiter eingestellt. Finanziert wird dies über die -Sozialhilfeträger der Kommunen, aus denen die Jugend-lichen ursprünglich stammen. Junge Menschen brauchen Hilfe und Unterstützung, wenn sie im schwierigen Prozess der Findung ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität sind, insbesondere wenn sie nicht mit einer heterosexuellen "Normalität" übereinstimmen. Hier können Konflikte entstehen. Selbst wenn das familiäre Umfeld das Coming-out unterstützt, können die jungen Menschen mit Vorurteilen in der Schule oder der Ausbildung konfrontiert werden. Die Kinder und Jugendlichen wissen in den Konfliktsituationen oftmals nicht, wo sie Hilfe und Unterstützung bekommen können. Manche Eltern, Betreuer und Erzieher sind mit dieser Thematik überfordert. Dann leiden diese jungen Menschen massiv unter der fehlenden Unterstützung. Berliner Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die obdachlose Jugendliche auf dem Berliner Alexanderplatz betreuen, berichten davon, dass etwa ein Viertel der Jugendlichen wegen Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer sexuellen Identität von zu Hause weglaufen und auf der Straße landen. Internationale Studien belegen, dass Obdachlosigkeit überproportional lesbische, schwule und Trans*Jugendliche betrifft. Auch das Suizidrisiko ist enorm hoch. Leider gibt es zu Deutschland keine systematischen Untersuchungen und nur eine schlechte Datenlage zur Problemlage dieser Jugendlichen. Umso unverständ-licher ist es, dass die bereits 2005 angekündigte Studie zur Situation von lesbischen und schwulen Jugendlichen dem Deutschen Bundestag noch immer nicht vorgelegt wurde. Wir müssen handeln, deswegen unterstützen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als Zusammenfassung notwendiger Maßnahmen. Der rot-rote Berliner Senat verabschiedete im Jahr 2009 ein umfangreiches Maßnahmenpaket unter dem Titel "Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und die Akzeptanz sexueller Vielfalt" auf Anregung der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Mit dem mit etwa 2,1 Millionen Euro ausgestatteten Paket wurde die Akzeptanzförderung in Verwaltungen, Institutionen, der Privatwirtschaft und bei Schulen sowie Kitas in Angriff genommen. Der Schwerpunkt lag auf dem Bildungs-bereich, also der Unterstützung queerer Jugendlicher. Obwohl die Evaluation der Maßnahmen weiteren Handlungsbedarf anmahnte, kürzte die nachfolgende Koa-lition aus SPD und CDU die Mittel für diese Projekte. Aber Berlin setzte ein Zeichen, das von den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und jüngst Sachsen-Anhalt aufgegriffen wurde, die ähnliche Maßnahmenpakete in Angriff nahmen und umsetzten. Doch Kinder und Jugendliche können sich nicht aussuchen, wo sie geboren werden und wie sie aufwachsen. In einigen Bundesländern und Regionen werden queere Jugendliche unterstützt und bekommen Hilfe, in anderen nicht. Doch der Bund steht in der Pflicht. Er muss dafür Sorge tragen, dass junge Menschen in allen Bundesländern und Regionen ähnlich gefördert werden, wenn sie existenzielle Probleme bekommen. Es besteht Handlungsbedarf. Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen bald ausreichend gefördert werden, damit Mari Günther nie wieder derartige Anrufe von Angehörigen erhält. Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In diesen Tagen wird viel über lesbische und schwule Paare diskutiert - in den Medien, vor dem Verfassungsgericht und auch hier im Bundestag. Diese Debatten sind richtig und wichtig. Aber wir dürfen über diese Debatten nicht vergessen: Lesben und Schwule werden nicht in dem -Alter geboren, in dem man eine Partnerschaft eingeht, eine Familie gründet oder gar für diese Familie vor Gerichten streitet. Nein, Lesben und Schwule sind anfangs Kinder und später Jugendliche, die die gleichen Nöte und Sorgen haben wie andere Jugendliche in der Pubertät auch. Sie fragen sich, ob ihre Klassenkameraden sie hübsch finden. Sie fragen sich, ob sie jemandem ihre Liebe gestehen sollen. Sie regen sich über ihre Eltern und die Ungerechtigkeiten in der Welt auf. Aber bei allen diesen Gemeinsamkeiten gibt es eben auch wichtige Unterschiede: Erstens. Lesbischen und schwulen Jugendlichen -fehlen die Role Models, die Bezugspersonen. Sie haben oftmals keine Vorbilder in ihrer Familie, an ihrer Schule oder im Freundeskreis. Zweitens. Lesbische und schwule Jugendliche haben sehr häufig das Gefühl, allein zu sein. Das einzige -Mädchen zu sein, das Herzklopfen beim Anblick ihrer besten Freundin bekommt. Der einzige Junge zu sein, der seinen Klassenkameraden hinterherguckt. Drittens. Junge Lesben und Schwule wachsen immer noch häufig in einem Umfeld auf, das strukturell homophob ist. Hinzu kommt: Lesbische und schwule Jugendliche finden in Deutschland medial nicht statt. Lesben und Schwule sind heute sichtbarer in den Medien als noch vor 20 Jahren, aber es sind Menschen, die dem Jugendalter längst entwachsen sind. So bleibt "schwul" eines der häufigsten Schimpfwörter auf deutschen Schulhöfen. Lehrerinnen und Lehrer gehen bei ihren Klassen unausgesprochen von deren -Heterosexualität aus. Mädchen, die Fußball spielen, werden als Lesben denunziert, "Schwuchtel" ist gleichbedeutend mit Versager. Und auch die Familie bietet oft keinen Schutzraum. Die Frage "Wie sag ich's meinen -Eltern?" stellt sich fast allen lesbischen und schwulen Jugendlichen. Viele Jugendliche scheitern an ihrem Coming-out; lesbische und schwule Jugendliche sind überdurchschnittlich häufig obdachlos. Ihr Suizidrisiko ist um ein Mehrfaches höher. Dennoch gibt es kaum spezialisierte Beratungsstellen in Deutschland. Und gibt es ein Bewusstsein für diese Lücke bei der Bundesregierung? Es ist erschreckend, wie unsensibel die Bundesregierung mit diesem Thema umgeht. Auf eine Kleine -Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung im letzten Jahr geantwortet, dass in Deutschland "ein umfangreiches Netzwerk an Schwangerschaftsberatungsstellen" zur Verfügung stünde. Kann das wirklich ernst gemeint sein? Schwangerschaftskonfliktberatung ist doch keine Beratung für Lesben und Schwule; es ist Beratung für Heterosexuelle. Das ist kein Programm zur Beratung von lesbischen und schwulen Jugendlichen. Das ist nicht geschlechtersensibel. Das ist einfach nur ignorante Politik. Des Weiteren stehen Notunterkünfte für queere Jugendliche nur in wenigen Städten zur Verfügung. Und auch Eltern, die Beratung suchen, finden häufig kein passendes Angebot, insbesondere wenn sie schlecht Deutsch sprechen. Die Gruppen der transsexuellen Jugendlichen und der intersexuellen Jugendlichen mögen zahlenmäßig klein sein. Aber: Eine inklusive, diverse Gesellschaft verlangt nicht nur die Gleichbehandlung aller, sondern auch das Eingehen auf die speziellen Probleme von allen. Bei transsexuellen Kindern und Jugendlichen scheint der Fall klar zu sein: Die Altersbeschränkung im Transsexuellengesetz gilt schon seit den frühen 80ern nicht mehr; Kinder und Jugendliche können ihr gelebtes und gefühltes Geschlecht in ihre Ausweispapiere eintragen lassen. Aber wie der Fall Alex im letzten Jahr sehr deutlich gemacht hat: Nur weil etwas auf dem Papier steht, heißt das noch lange nicht, dass es umgesetzt wird. Das Jugendamt war wenig sensibel gegenüber diesem Mädchen, das auf dem Papier noch ein Junge war. Intersexuelle Jugendliche wiederum wissen oftmals gar nichts von ihrer geschlechtlichen Besonderheit. Sie müssen in ihren Rechten gestärkt und umfassend informiert werden. Und mehr als das: Wie vom Deutschen Ethikrat gefordert, müssen sie in die Entscheidungen über medizinische Eingriffe einbezogen werden. Im -Dezember schrieb die Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema Intersexualität, dass ihre Meinungsbildung an diesem Punkt noch nicht abgeschlossen sei. Für Bündnis 90/Die Grünen ist klar: Jugendliche sind selbstständige Menschen und haben eigene Rechte. Sie dürfen Auto fahren, sie dürfen eine Ausbildung beginnen, sie dürfen arbeiten. Aber sie dürfen nicht über medizinische Eingriffe bestimmen, die ihnen im Extremfall die Chance nehmen, Kinder zu bekommen und ein erfülltes Sexualleben zu haben? Wir sagen: Deshalb brauchen wir eine konzertierte Aktion. Wir brauchen einen bundesweiten Aktionsplan gegen Homophobie und Transphobie. Wir brauchen einen Aktionsplan für Toleranz und Vielfalt. Viele Bundesländer setzen ähnliche Pläne bereits um; Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz seien als Beispiele angeführt. Der bundesweite Aktionsplan muss die für Jugendliche besonders wichtigen Bereiche Elternhaus, Schule, Jugendhilfe und Sport umfassen und gezielte Beratungsangebote und Antidiskriminierungsmaßnahmen enthalten. Denn darum sollte es uns allen gehen - allen jungen Menschen das Gefühl zu geben: So, wie ihr seid, seid ihr in unserer Gesellschaft willkommen! Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: - Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren - Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Technische Entwicklungen machen uns an vielen Stellen das Leben leichter. Beinahe jeder hier im Saal benutzt täglich elektronische Geräte - ob zur Kommunikation, zur Datenübertragung oder im modernen Auto. Aber die zunehmende Nutzung dieser Technologien bedeutet gleichzeitig auch eine ansteigende Zahl von elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern. Dabei unterscheidet man zwischen niederfrequenten Feldern, etwa im Bereich der Stromnetze mit den bekannten 50 Hertz, und den hochfrequenten Feldern, etwa im Handy, bei bis zu 1 800 Hertz. Was vor 80 Jahren mit dem flächendeckenden Ausbau der Stromnetze und der Erfindung von Rundfunk und Fernsehen begann, setzt sich heute in der alltäglichen Nutzung von Handys oder Smartphones, WLAN und LTE-Netzen, Navigationssystemen oder Bluetooth-Geräten fort. Die meisten von uns können sich diese Anwendungen gar nicht mehr aus dem täglichen Leben wegdenken. Sosehr sie aber dem Menschen nutzen, muss bei jeder bewährten und neuen Technologie sichergestellt sein, dass von ihrer Nutzung keinerlei Schaden für Mensch und Umwelt ausgeht. Genau diesem Ziel, dem Schutz der Menschen und der Umwelt vor elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern, dient die heute debattierte Regelung: die Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren. Dass mit dieser Regelung das Ziel, Mensch und Umwelt zu schützen, erreicht wird, bestätigen zahlreiche renommierte Wissenschaftler, die jahrelange Erfahrung auf dem Gebiet der Wirkung solcher elektromagnetischer Felder auf den menschlichen Körper gesammelt haben. International führend ist auf diesem Gebiet die Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung, ICNIRP: International Commission on NonIonizing Radiation Protection, in der Wissenschaftler aus Schweden, Australien, Finnland, den USA, Italien, den Philippinen, Großbritannien, den Niederlanden, Japan, Österreich und Deutschland zusammenarbeiten. Der Vorsitzende dieser hochrangigen Kommission, Herr Rüdiger Matthes, der gleichzeitig im Bundesamt für Strahlenschutz für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung zuständig ist, war Sachverständiger in der Anhörung des Bundestags-Umweltausschusses am 27. Februar 2013. Dort teilte er mit - ich zitiere -: "Die in der Novelle" - 26. BImSchV - "vorgeschlagenen Grenzwerte sind nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand geeignet, vor allen nachgewiesenen Gesundheitswirkungen und den damit verbundenen Gefahren zu schützen." Meine Fraktion und ich persönlich halten es für sehr wichtig, die berechtigten Befürchtungen der Menschen vor negativen Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf die Gesundheit ernst zu nehmen. Wir alle in diesem Haus sollten - bei aller auch notwendigen Auseinandersetzung in der Sache - uns nicht gegenseitig den Willen absprechen, die menschliche Gesundheit und unsere Umwelt vor negativen Einwirkungen schützen zu wollen. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition: Angst machen ist kein Beitrag zur Lösung! Es ist richtig, dass wir transparent mit den möglichen Einwirkungen elektromagnetischer Felder auf den menschlichen Körper umgehen und diese offen aussprechen. Denn dass hoch- und niederfrequente elektrische und magnetische Felder hier negative Folgen haben können, steht fest. Ebenso steht aber fest, dass Art, Größenordnung und Verteilung der Felder durch die technische Ausgestaltung erheblichen Einfluss auf die Folgen haben und diese zum Positiven verändern können. Ebenso gilt der Grundsatz, dass elektromagnetische Felder mit wachsendem Abstand zur Quelle abnehmen. Zentrale Bestandteile der hier vorliegenden Neuregelung sind deshalb die festgelegten Abstände und Feldgrenzwerte. Für beide Punkte setzen die Regelungen die Empfehlungen des Rates der Europäischen Union, der ICNIRP und der deutschen Strahlenschutzkommission ohne jede Einschränkung um. Die Opposition macht es sich leicht, indem sie nach jeder neuen Grenzwertfestlegung noch strengere Grenzwerte fordert und nach noch geringeren Abständen ruft. Das führt aber in der Sache nicht weiter. Mehr noch: Der Vorwurf der Opposition, die Grenzwerte seien im Ausland viel strenger als bei uns, ist nicht nur in der Sache haltlos, sondern zeigt auch noch, dass die Systematik eines Grenzwerts nicht verstanden wurde. Zum einen haben im internationalen Vergleich von 52 Ländern mit bekannten Grenzwerten genau drei Länder scheinbar strengere "Grenzwerte" festgelegt als wir in Deutschland. Das hieße, dass Deutschland die viertstrengsten Grenzwerte hätte, was für sich genommen ja schon nicht schlecht wäre. Tatsächlich aber muss man wissen, dass in diesen drei Ländern die Werte entweder nur Empfehlung sind und daher keinen zwingenden rechtlichen Charakter haben oder sie für eine durchschnittliche Anlagenauslastung festgelegt wurden - also bei halber Leistung der Anlage gemessen -, während sich unsere Grenzwerte auf die volle Anlagenauslastung beziehen. Hier werden also Äpfel mit Birnen verglichen. Bei einem objektiven Vergleich haben wir bei uns die anspruchsvollsten Grenzwerte! Andererseits ist die Funktion der Grenzwerte sicherzustellen, dass bei ihrer Unterschreitung nach ständig ak-tualisiertem Stand von Wissenschaft und Technik keine Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Menschen entstehen können. Genau das hat die Internationale Strahlenschutzkommission für die hier festgelegten Grenzwerte nachgewiesen. Das bedeutet: Strengere Grenz- und vor allem Abstandswerte würden zwar die Kosten zum Beispiel des Netzausbaus - zulasten der Verbraucher - verteuern, auf der anderen Seite aber den Schutz von Mensch und Natur kein Stück voranbringen. Mehr noch: Der durch die Energiewende nötige Ausbau der Stromnetze würde wesentlich erschwert. Damit in Zukunft in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet die Menschen und die Industrie mit dem Windstrom von der Nord- und Ostsee versorgt werden können, sind nun einmal Tausende Kilometer neuer Hochspannungsleitungen nötig. Das gilt erst recht, wenn ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ernst nehmen würde in Ihrer Forderung, nach dem Ausstieg aus der Kernenergie auch aus der Kohle aussteigen zu wollen. Das zeigt: Ihre Forderungen passen nicht zusammen! Eine wichtige Frage, die viele Menschen bewegt, ist, ob bei Einführung der hier vorgesehenen Grenzwerte für elektromagnetische Felder die Gefahr besteht, dass diese Felder beim Menschen Krebserkrankungen hervorrufen. Die Opposition verkürzt daraus die Aussage: Elektromagnetische Felder sind krebserregend - obwohl sie es besser weiß. Denn in der Sachverständigenanhörung des Umweltausschusses hat Herr Professor Leitgeb, Vorsitzender der deutschen Strahlenschutzkommission, SSK, die Hintergründe dieses angstschürenden, plakativen Satzes erklärt: Basis der Behauptung ist eine Untersuchung der International Agency for Research on Cancer, IARC, eines Untergremiums der Weltgesundheitsorganisation, WHO. Diese Kommission untersucht Stoffe und Geräte daraufhin, ob durch sie, bei entsprechender Anwendung oder Verwendung, die Gefahr einer möglichen Krebserkrankung besteht. Die IARC hat 2002 beziehungsweise 2011 festgestellt, was auch schon zuvor bekannt war: Durch elektromagnetische Felder kann möglicherweise dann Krebs entstehen, wenn diese in entsprechender Dauer und Intensität auf den Menschen einwirken. Aber eben auch nur unter dieser Bedingung. Oder, um es mit Paracelsus' Worten zu sagen: Die Dosis macht das Gift! Genau aus diesem Grund ist zum Beispiel auch der Stoff "Kaffee" in die gleiche Kategorie der Krebsgefahr eingestuft worden wie die elektromagnetischen Felder, weil bei entsprechend intensivem Konsum die Besorgnis von Darmkrebs festgestellt wurde. Diesen Zusammenhang, dass es auf die Dauer und die Intensität der Einwirkung entscheidend ankommt, muss man kennen und benennen, wenn man die Menschen in unserem Land nicht verängstigen will. Das wird aber in der Diskussion von Ihnen, den Damen und Herren der Opposition, schlicht außen vor gelassen. Damit schüren Sie Angst! Das hat nichts damit zu tun, die berechtigten Sorgen und Befürchtungen der Menschen ernst zu nehmen. Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen dieser Regelung zusammenfassen: Zwar bestehen im Moment bereits hinreichende Abstands- und Grenzwertfestlegungen für Strom- und Bahntrassen, Transformatoren und Schaltanlagen, jedoch nur im Bereich des Wechselstroms und auch nur im gewerblichen Bereich. Diese Regelungslücken schließen wir. Es werden erstmals Regeln für Gleichstromanlagen getroffen. Das ist deshalb wichtig, weil die Windkraft vom Norden über weite Strecken nach Westen und Süden transportiert werden muss. Das erfordert erstmalig den Bau neuer, verlustfreier Hochspannungsgleichstromübertragungsleitungen, die bisher in Deutschland nicht verwendet wurden. Die digitale Funktechnologie macht Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz einsatzfähiger, aber auch diese Technik erzeugt elektromagnetische Felder. Die öffentlichen und privaten Anlagen werden nun wie die gewerblichen erfasst. Die Regelungen werden nun an die technischen Neue-rungen der vergangenen 15 Jahre angepasst. Denn die Elektromobilität spart zwar CO2-Emissionen, aber die Ladestationen für die Fahrzeuge schaffen durch ihre Induktionsladetechnik neue elektrische Felder. Für diese neuen Techniken werden jetzt erstmalig Grenzwerte eingeführt, die die Gesundheit der Menschen und den Schutz der Umwelt sicherstellen. Damit dieser Schutz aber dauerhaft und auch trotz aller zukünftigen technischen Entwicklungen stets gewährleistet ist, werden durch diese Neuregelung darüber hinaus erstens eine regelmäßige Überprüfung der bestehenden Grenz- und Abstandswerte und gegebenenfalls die Anpassung an den Stand von Wissenschaft und Technik festgelegt, zweitens eine neue Minderungspflicht für Betreiber von Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen eingeführt, die gewährleistet, dass der Betrieb dieser Anlagen den maximalen Schutz von Bevölkerung und -Umwelt sicherstellt, und drittens im Bereich der Mobilfunknetze die Selbstverpflichtung der Betreiber weiterentwickelt. Dadurch soll die dauerhafte Finanzierung bestehender Forschungsprogramme gesichert werden, damit auch zukünftig noch unbekannte Gefahren von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern für die Gesundheit des Menschen erforscht werden. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass eine entsprechende Selbstverpflichtung auch von den Übertragungsnetzbetreibern abgegeben wird, in der sie sich an den Kosten der Forschung im Bereich der niederfrequenten Netze beteiligen. Dirk Becker (SPD): Die Bundesregierung legt einen Entwurf für eine Verordnung vor, die die Guidelines der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, ICNIRP, von 2010 sowie die entsprechend angepasste EU-Ratsempfehlung umsetzt. Es wird damit versucht, neue und neuartige Technologien mit der 26. Bundes-Immissionsschutzverordnung, 26. BImSchV, zu erfassen und zu regeln. Die SPD-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass unter die Regelung auch Hochspannungsgleichstromanlagen, HGÜ, fallen sollen sowie der Anwendungsbereich auf gewerbliche, hoheitliche und private ortsfeste Anlagen ausgeweitet werden soll. Auch die Erfassung des Bereichs der Niederfrequenzen von 1 Hertz bis 100 Kilohertz und das neu eingeführte Minimierungsgebot begrüßen wir. Ich muss jedoch sagen, dass die Bundesregierung mit ihrem Verordnungsentwurf weit hinter dem Möglichen und Nötigen geblieben ist. Nach langen Diskussionen wurden 2001 noch unter der rot-grünen Bundesregierung Regelungen getroffen und Grenzwerte festgelegt, die ausdrücklich nicht in Stein gemeißelt sein sollten. Die Strahlenschutzkommission, SSK, stellte bereits damals fest, dass es großen -Forschungsbedarf gebe, der gegebenenfalls eine Neubewertung der Thematik und eine Neufestsetzung von verschärften Grenzwerten nötig machen könnte. Bereits seit nunmehr über zehn Jahren wird intensiv geforscht, und weltweit erzielte Studienergebnisse werden aufgearbeitet. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm, DMF, mit seinen über 50 Projekten sei hier nur stellvertretend erwähnt. Weltweit liegen mittlerweile über 20 000 Studien vor. Auch wenn es bisher keine -wissenschaftlich anerkannten Beweise für gesundheitsrelevante Wirkungen elektrischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder über die bisher bekannten - insbesondere thermischen - Wirkzusammenhänge gibt, so verdichten sich doch die Hinweise auf potenzielle athermische Gefährdungen. Das mag daran liegen, dass die Beweisführung in diesem Bereich äußerst schwer ist, weil es noch an Erfahrungen mit Langzeitwirkungen mangelt. Auch ist es schwierig, mit experimentellen Untersuchungen die erhöhten Expositionen und chronische Erkrankungen in Zusammenhang zu setzen, der Beweiskraft erlangen könnte. Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC, der Weltgesundheitsorganisation hat aber bereits auf die Datenbasis reagiert und nieder- und auch hochfrequente elektromagnetische Felder als möglicherweise krebserregend eingestuft. Leider muss ich feststellen, dass die Bundesregierung aus all dem keine Konsequenzen zieht. Wir werfen der Bundesregierung daher vor, dass sie mit der Verordnung den aktuellen wissenschaftlichen Forschungs- und Erkenntnisstand nicht aufnimmt. Wider besseres Wissen hält sie an den überkommenen Grenzwerten fest. Es wird immer deutlicher, dass die Grenzwerte zu nah an den real nachweisbaren Wirkzusammenhängen liegen, also den nötigen Vorsorgeabstand vermissen lassen. Eine verantwortungsbewusste Politik schaut anders aus. Wir kritisieren die Bundesregierung außerdem, weil die Verordnung handwerklich schlecht gemacht ist. Für was lässt sich die Bundesregierung von der Strahlenschutzkommission beraten und finanziert diese, wenn die SSK offensichtlich bei der Erarbeitung der Verordnung nicht mitwirken durfte? Daraus folgt die weitere Frage, auf welche Daten und Beratung die Bundesregierung überhaupt zurückgegriffen hat. Nachvollziehbare und transparente Rechtssetzung schaut ebenfalls anders aus. In Zeiten wie diesen, in denen die Menschen zunehmend den verschiedenartigsten Belastungen und gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, muss der Staat seine Aufgaben und Pflichten zum Schutz der Bevölkerung und zur Minimierung von gesundheitsrelevanten Risiken konsequent erfüllen. Wie in vielen Bereichen des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes kommt diese Bundesregierung auch mit dieser Verordnung ihrer Schutz- und Vorsorgepflicht nicht nach. Auch kritisieren wir, dass sich die Bundesregierung offensichtlich um keine internationale und europäische Harmonisierung der Grenzwerte und rechtlichen Regelungen bemüht. Die EU regelt viele Lebensbereiche bis ins kleinste Detail gemeinschaftlich. Im Bereich der Grenzwerte für elektromagnetische Felder ist Europa aber noch immer ein bunter Flickenteppich. Und betrachtet man die einzelnen Regelungen, kann man davon ableiten, dass der Bundesregierung der Vorsorgeschutz weitgehend egal ist. Andere Länder sind wesentlich konsequenter und weiter. Klar ist hier an erster Stelle die Schweiz zu nennen. Aber auch Polen, Großbritannien und die Niederlande nehmen das Schutzbedürfnis ihrer Bürger ernster. Die SPD-Fraktion fordert die Bundesregierung daher auf - so wie sie es bereits mit ihrem Entschließungsantrag in den Ausschüssen getan hat -, diesen Verordnungsentwurf zurückzuziehen und grundlegend zu überarbeiten. Dem aktuellen Erkenntnisstand der bisher erfolgten Forschungsanstrengungen muss Rechnung getragen werden, und die Grenzwerte für elektromagnetische Felder müssen mit einem sinnvollen Vorsorgefaktor ver-schärft werden. Hier gibt es in anderen Ländern teils sehr gute Beispiele, wie das geschehen könnte. Wir brauchen also vorsorgeorientierte und insbesondere auch kindgerechte Grenzwerte für sensible Orte wie Kitas, Schulen und Krankenhäuser, aber auch für Privaträume wie Schlaf-, Kinder- und Wohnzimmer - und das sowohl für den Niederfrequenzbereich als auch für den Hochfrequenzbereich. In unserem Entschließungsantrag haben wir dazu konkrete Vorschläge unterbreitet. Künftige auftretende starke Feldquellen müssen von der Verordnung ebenfalls erfasst werden, damit von Anfang an eine Regelung für diese neuen Technologien besteht. Das geplante Minimierungsgebot soll unter Anwendung des Standes der Technik auf alle Bereiche der nichtionisierenden Strahlung ausgeweitet und regelmäßig evaluiert werden. Überhaupt müssen alle von einer Anlage erzeugten Frequenzen wie Oberwellen und Seitenbänder für die Grenzwertermittlung herangezogen werden. Alle neuen Stromübertragungsanlagen wie Höchst- und Hochspannungsleitungen - und nach Übergangsfristen auch bestehende Altanlagen - müssen in das Überspannungsverbot einbezogen werden. Mit Blick auf die Energiewende und den damit verbundenen Bedarf nach Ausbau und Neubau von Stromnetzen ist ein Pilotprojekt zur Demonstration der Vorteile von modernen Kompaktbauweisen bei Strommasten mehr als sinnvoll. Damit könnte der Stand der Technik beim Leitungsbau überprüft und die Akzeptanz neuer Stromtrassen erhöht werden. Weiter soll sich die Bundesregierung um zumindest eine europäische Harmonisierung bemühen. Es kann nicht angehen, dass in diesem hochsensiblen Bereich noch immer mit vielen unterschiedlichen Maßstäben gearbeitet wird. In der Begründung zum Verordnungsentwurf schreibt die Bundesregierung selbst, dass "die Exposition durch elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder in der heutigen Umwelt infolge der Nutzung moderner Technologien, dem Ausbau des Hochspannungsnetzes und der technischen Weiterentwicklung seit Jahren zunehmen". Es ist auch mit einer weiteren Zunahme - Stichworte: smart grids, smart homes, Fernablesung etc. - zu rechnen. Die Bundesregierung muss sich also endlich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre Pflichten zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung wahrnehmen. Die SPD-Fraktion ist dann auch zur Zusammenarbeit bereit. Judith Skudelny (FDP): Deutschland ist ein Hightechland. Darauf sind wir stolz und wollen unseren Standard stetig verbessern. Dazu gehört auch der Umgang mit elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern, die von den meisten der Geräte - Handy, Laptop etc. - ausgehen. Die vorliegende Verordnung wird der schwierigen Balance zwischen dem Erfordernis des Schutzes und der Vorsorge vor schädlichen Umwelteinwirkungen und dem offensichtlichen Bedarf an der Nutzung moderner Technologien gerecht. Beispielsweise dem dringend notwendigen Leitungsausbau zur Umsetzung der Energiewende und der Nutzung von Mobilfunkgeräten. Die Novellierung dient der Anpassung an den neuesten technischen und wissenschaftlichen Stand. Dabei bleiben die Grenzwerte im Wesentlichen bestehen. Diese Beibehaltung der Grenzwerte ist richtig, da auch nach Erkenntnissen der Strahlenschutzkommission, SSK, keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die eine Änderung des bisherigen Schutz- und Grenzwertkonzepts rechtfertigen. Dies bestätigen auch der vorliegende vierte und fünfte Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen. So kommt die Strahlenschutzkommission zu dem Schluss, dass auch nach Bewertung der neueren Literatur keine wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit durch niederfrequente elektrische und magnetische Felder vorliegen, die ausreichend belastungsfähig wären, um eine Veränderung der bestehenden Grenzwertregelung der 26. BImSchV zu rechtfertigen. Aus der Analyse der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur ergeben sich auch keine ausreichenden Belege, um zusätzliche verringerte Vorsorgewerte zu empfehlen, von denen ein quantifizierbarer gesundheitlicher Nutzen zu erwarten wäre. Zu den wesentlichen Neuerungen der vorliegenden Verordnung zählt die Erweiterung des Anwendungsbereichs auf alle Frequenzbereiche. Erfasst wird damit auch die Hochspannungs-Gleichstromübertragung, HGÜ. Diese spielt im Rahmen der Energiewende beim Leitungsausbau eine wesentliche Rolle und war bisher nicht geregelt. Auch die Beschränkung der Regelung auf gewerblich betriebene Anlagen entfällt. Damit wird künftig auch der Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, BOS-Anlagen, von der Verordnung erfasst. Außerdem soll beim Bau neuer Stromtrassen künftig die Überspannung von Wohngebäuden untersagt werden. Eine weitere wesentliche Neuerung stellt das sogenannte Minderungsgebot dar, wonach in der Verordnung festgelegt ist, dass auch beim Ausbau der Stromnetze elektrische und magnetische Felder zu mindern sind. Bei der Debatte werden immer die Gefahren der Strahlung angeprangert. Welchen Nutzen uns beispielsweise die moderne Telekommunikation und die Stromleitungen bringen, wird immer nur am Rande thematisiert. Doch wenn man ehrlich ist, besitzt nahezu jeder ein oder sogar mehrere Handys und Laptops. Wir alle, auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, möchten überall und rund um die Uhr erreichbar sein. So sind technische Anwendungen, die elektromagnetische Felder nutzen, wie drahtlose Informationsübertragungs- und Kommunikationsverfahren, ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil unseres Lebens geworden. Dies zeigt, dass wir uns bewusst für diese Technik entschieden haben und diese befürworten. Beispielsweise haben wir es den Handys zu verdanken, dass Hilfe wesentlich schneller am Unfallort eintrifft. Viele Eltern geben ihren Kindern Handys, damit sie sich im Notfall immer melden können und so auch selbstständiger sein können. Bei der Verfolgung von Straftaten wird die Möglichkeit der Ortung durch das Handy erfolgreich eingesetzt, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Ausbau der Stromleitungen, insbesondere der HGÜ-Leitungen, ist enorm wichtig für die von allen Bürgern zu Recht geforderte Versorgungssicherheit. Es ist scheinheilig von der Opposition, auf der einen Seite die Energiewende zu fordern, aber auf der anderen Seite den Bürgern gegenüber nicht offen und ehrlich zu sagen, dass wir hierfür neue Leitungen brauchen, von denen entsprechende Felder ausgehen. Wir müssen also eine angemessene Balance finden, um mit den positiven Errungenschaften der Nutzung moderner Technologien einerseits und den elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern andererseits umzugehen. Dieser Anforderung wird die vorliegende Novelle gerecht. So wird mit ihr eine ausgewogene Regelung zum Schutz und zur Vorsorge vor gesundheitlichen Auswirkungen nichtionisierender Strahlung geschaffen. Außerdem flankiert die Novellierung der Verordnung den zügigen Ausbau der Übertragungsnetze im Hoch- und Höchstspannungsbereich. Vorsorgender Gesundheitsschutz mit Augenmaß führt insgesamt zu einer Verbesserung des Strahlenschutzes und dadurch zu einer höheren Akzeptanz des Netzausbaus durch die Bevölkerung vor Ort, ohne die Kosten des Netzausbaus und damit die Stromkosten weiter in die Höhe zu treiben. Wenn die Opposition erwähnt, dass die Schweiz und Italien niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben und als sie zum Beispiel von der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, ICNIRP, empfohlen werden, ist es wichtig zu wissen, dass diese Werte nicht auf dem Nachweis neuer Gesundheitsbeeinträchtigungen oder auf einem konkreten Verdacht, wissenschaftlich mit allgemeinen wissenschaftlichen Unsicherheiten begründet, beruhen. Auch werden die Grenzwerte der 26. BImSchV in den meisten Fällen nicht ausgeschöpft. Interessant ist, dass die Opposition in ihren beiden Entschließungsanträgen einige der Anregungen unseres Sachverständigen Professor Norbert Leitgeb der Anhörung am 27. Februar 2013 aufgenommen hat, beispielsweise die Forderung nach der Erfassung neuer Technologien durch die vorliegende Novellierung. Dies ist auch für uns ein sehr wichtiges Anliegen, da wir eine technologieoffene Entwicklung fördern. Wir sind diesen Anregungen nachgegangen. Der Anwendungsbereich der Verordnung sowie die Begriffsbestimmungen für Hochfrequenz- und Niederfrequenzanlagen sind so gefasst, dass grundsätzlich auch künftig häufig auftretende Feldquellen neuer Technologien erfasst werden. So werden beispielsweise Anlagen zur induktiven Energieübertragung, wie zum Beispiel Ladestationen für Elektroautos, erfasst. Richtig ist, dass es in Bezug auf die Langzeitwirkung von Handystrahlung und auf die Reaktion von Kindern auf hochfrequente elektromagnetische Felder noch keine ausreichenden Erkenntnisse gibt. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Entsprechende Studien wurden auch bereits begonnen. Das Wissen über die biologischen Wirkungen von Feldern insgesamt ist aber bereits so umfangreich, dass durchaus eine verantwortliche Entscheidung über die Festsetzung von Grenzwerten zum Schutz der Bevölkerung erfolgen kann. Bei der Novellierung der 26. BImSchV kann es nicht darum gehen, die weitere Nutzung der Mobilfunktechnologie nur dann zuzulassen, wenn ihre Unschädlichkeit bewiesen ist. Ein solcher Nachweis kann für keine Technologie gelingen, da nur das Vorhandensein von Gefahren und Risiken bewiesen werden kann, nicht aber ihre Abwesenheit. Dies gilt für alle Lebensbereiche. Es muss vielmehr darum gehen, die mit einer Technologie verbundenen Risiken so umfassend wie möglich zu erkennen, um dann eine informierte und bewusste Entscheidung über die Akzeptanz oder Inakzeptanz bestimmter (Rest-)Risiken zu treffen. Diesen Anforderungen wird die vorliegende Verordnung gerecht. Sabine Stüber (DIE LINKE): In Deutschland sind die Vorschriften zum Schutz der Menschen vor gesundheitlichen Schäden durch elektromagnetische Felder über 15 Jahre alt. Das ist eine lange Zeit. Und die Technik, auch die Mobilfunktechnik, hat seither, wie wir alle wissen, eine rasante Entwicklung durchlaufen. Änderungen dieser Vorschriften werden von der EU-Kommission seit Jahren angemahnt. Denn wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass elektromagnetische Felder Menschen krankmachen können. Ich sage bewusst "krankmachen können", nicht zwangsläufig müssen; denn ein wissenschaftlicher Nachweis, vor allem für Langzeitwirkungen, steht noch aus. Wir alle sind elektromagnetischen Feldern durch Sendefunkanlagen und Stromübertragungsnetze ausgesetzt, ohne dies beeinflussen zu können. Deshalb steht der Staat in der Pflicht, für den Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Risiken zu sorgen. Elektromagnetische Felder haben mit Handys, Smartphones oder Tablets unseren Alltag erobert - ob am Arbeitsplatz oder unterwegs. Nur zu Hause legen wir selber fest, ob es noch ein elektrisches Gerät sein soll, noch eine Telefonladestation oder eine Funkuhr - ich könnte die Liste endlos fortführen. Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegten Verordnung Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen und entsprechende Vorsorge gewährleisten. So sollen außer für gewerbliche Funkanlagen auch für den -Betrieb privater und hoheitlicher Sendeanlagen und Strom-leitungsnetze Vorschriften gelten. Das sind durchaus Verbesserungen. Im Ganzen gesehen bleibt die Verordnung jedoch weit hinter den Erwartungen und vor allem hinter den technischen Möglichkeiten zurück. Das haben Experten in einer öffentlichen Anhörung vorige Woche im Bundestag mit deutlicher Mehrheit bestätigt. Selbst der Vertreter aus dem Bundesamt für Strahlenschutz, auf den sich die Regierungskoalition - so vehement - beruft, rudert bei der Frage nach den gesundheitlichen Risiken zurück. Er ist der Meinung, dass selbst wissenschaftliche Ergebnisse, die nicht hundertprozentig gesundheitliche Risiken belegen, allemal ausreichen, um "eine Besorgnis zu begründen". Nach seiner Empfehlung sollten Wohngebiete beim Neubau von Stromtrassen generell gemieden werden. Da ist viel Auslegungsspielraum, und das heißt für mich: jwd, also janz weit draußen! Andere Gutachter waren da mit ihren Empfehlungen von 400 bis 600 Metern Abstand zu Wohnhäusern konkreter. Für Kinder besteht bei einer dauerhaften Belastung durch elektromagnetische Felder ab 0,3 Mikrotesla durch Stromleitungen ein erhöhtes Leukämierisiko. Das ist wissenschaftlich exakt belegt. Und dann schauen Sie sich draußen um, und rechnen Sie die Funksendemasten dazu. Die Mobilfunkstrahlung steht immer wieder unter dem Verdacht, Krebs und Alzheimer auszulösen. Das Hauptproblem sind und bleiben die viel zu hohen Grenzwerte, denen Menschen dauerhaft ausgesetzt sein dürfen, und daran ändert die Verordnung nicht viel. Die Linke fordert deshalb Vorsorgegrenzwerte von 0,2 Mi-krotesla für Orte, an denen sich Menschen lange aufhalten. Technisch machbar sind unsere Grenzwerte und sollten zumindest für Wohnungen als geschützte Orte verbindlich sein. Dabei darf nicht vergessen werden: Es geht hier um Grenzwerte für elektromagnetische Felder von draußen, denen die Bürgerinnen und Bürger ausgesetzt sind, ohne sie beeinflussen zu können. Wir wissen: Alle Grenzwerte sind politische Werte. Sie orientieren sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen, nur leider viel zu selten an den neuesten. Auch in diesem Verordnungsentwurf folgt die Politik nicht den neuesten wissenschaftlichen Empfehlungen. Aber was heißt hier die Politik? Wir, die Abgeordneten sind es, die heute darüber entscheiden, wie hoch das Gesundheitsrisiko sein darf, dem die Menschen in diesem Land unfreiwillig durch elektromagnetische Felder weiterhin ausgesetzt sein werden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Auseinandersetzung über die Frage, ob langfristig wirkende elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder zu Gesundheitsgefährdungen führen können, wird seit Jahren zum Teil erbittert geführt. Die Hinweise auf Risiken sind inzwischen so konkret, dass sowohl die WHO als auch der Europarat Handlungsbedarf sehen. Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC, der Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat inzwischen sowohl niederfrequente als auch hochfrequente elektromagnetische Felder neu bewertet. 2002 stufte die IARC bereits niederfrequente und statische Felder in die Gruppe 2 B ihrer Skala ein, 2011 dann auch die hochfrequenten Felder. Das heißt, elektromagnetische Felder werden nun als "möglicherweise krebserregend" bewertet. Sie stehen damit auf einer Stufe mit Methylquecksilber, Blei, Kobalt, Schiffsdiesel, Chloroform und DDT. Das ist eine Aufforderung, vorsorglich tätig zu werden. Ganz aktuell legt die Europäische Umweltagentur in -Kopenhagen in ihrem im Januar veröffentlichten Bericht "Späte Lehren aus frühen Warnungen, Band II" dar, warum sie, um Gefahren zu reduzieren, auch bei den elek-tromagnetischen Feldern die breitere Anwendung des "Vorsorgeprinzips" empfiehlt. Der Bericht legt dar, dass wissenschaftliche Unsicherheit keine Rechtfertigung für Untätigkeit ist, wenn plausible Hinweise auf potenziell schwerwiegende Gefährdungen vorliegen. Die Bundesregierung legt uns nun einen Entwurf für die Novellierung der 26. Bundes-Immissionsschutz-verordnung, BImSchV, vor, der die Chance, endlich vorsorgeorientierte Grenzwerte in Deutschland einzuführen, vergibt. Er setzt gerade einmal die längst von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überholten EU-Ratsempfehlungen von 1999 um. Für die nieder-frequente elektromagnetische Strahlung wird immerhin ein Minimierungsgebot eingeführt, für die hochfrequente Strahlung aber nicht. Das Gebäudeüberspannungsverbot für neue Anlagen soll es erst ab 2015 geben, für Altanlagen soll es das überhaupt nicht geben und für alle 110-kV-Leitungen unverständlicherweise auch nicht. Auch die Expertenanhörung des Deutschen Bundestags zur vorgelegten Novelle am 27. Februar 2013 hat leider bei der Bundesregierung nicht dazu geführt, ihren Entwurf stärker auf neuere Erkenntnisse abzustimmen. Mehrheitlich machten die Experten deutlich, dass die bisherigen Regelungen nur auf die bestätigten, mit einem Kausalzusammenhang zu beschreibenden akuten Wirkungen elektrischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder beruhen und der Sicherheitsfaktor nicht ausreichend ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bei der IARC zur Höherstufung in der Bewertungsskala führten, wurden für die vorgelegten Regelungen nicht berücksichtigt. Das ist vor allem vor dem Hintergrund völlig inakzeptabel, dass konsistente Befunde aus epidemiologischen Untersuchungen zur niederfrequenten Strahlung vorliegen, wonach magnetische Felder der Energieversorgung schon in deutlich geringeren Intensitäten als von der Verordnung zugelassen mit dem Auftreten von kindlicher Leukämie korrespondieren. Ähnliches gilt im Bereich der hochfrequenten Strahlung zu erhobenen Daten bezüglich bestimmter Hirntumore. Es ist nach den Erfahrungen mit anderen chronisch wirksamen Noxen, zum Beispiel Tabakrauch, nicht zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, die in -epidemiologischen Studien festgestellten Zusammenhänge zwischen erhöhten Expositionen und chronischen Erkrankungen durch experimentelle Untersuchungen in allen Details zu stützen oder gar vom biophysikalischen Primärmechanismus bis zum Eintritt des nachweisbaren physiologischen Schadens zu erklären. Es gibt aber eben aus experimentellen Untersuchungen genug Hinweise auf gesundheitsrelevante Wirkungen technogener elek-trischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder. Für genau solche Zusammenhänge wurde das Vorsorgeprinzip entwickelt. Die bei der Beratung der Novelle im Umweltausschuss am 13. März von der Union vorgetragene Behauptung, es gebe in Europa nur drei Länder, die ambi-tioniertere Grenzwerte als Deutschland festgelegt hätten, ist angesichts der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von mir (Drucksache 16/6133) nicht nachvollziehbar. Aus der Antwort ergibt sich, dass -Italien, die Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Irland in mindestens einem der Bereiche Niederfrequenz oder Hochfrequenz niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben. All diese Länder orientieren sich nicht an der Empfehlung des Rates der Europäischen Union von 1999, sondern am Vorsorgeprinzip. Die Grünen lehnen die vorgelegte Novelle der 26. BImSchV aus den dargelegten Gründen als unzureichend ab. Der Entschließungsantrag der Linken enthält die gleiche Kritik, die auch wir an der Novelle haben, fordert dann aber Grenzwerte, die nicht hergeleitet und begründet sind. Deshalb enthalten wir uns zu diesem Antrag. Gemeinsam mit der SPD haben wir dagegen im Ausschuss einen Antrag eingebracht, der vorsorgeorientierte und kindgerechte Grenzwerte fordert. Außerdem müssen alle Stromübertragungsleitungen im Hoch- und Höchstspannungsbereich in das Überspannungsverbot einbezogen werden, also auch die 110-kV-Leitungen und - mit angemessener Übergangszeit - die Altanlagen. Zukünftig häufig auftretende starke Feldquellen müssen in die Verordnung aufgenommen werden. Alle von einer Anlage erzeugten Frequenzen, also auch Oberwellen oder Seitenbänder, müssen für die Grenzwertermittlung mit herangezogen werden. Auf EU-Ebene muss eine Überarbeitung der Empfehlung des Rates der Europäischen Union 1999/519/EG -erfolgen, die den aktuellen Wissensstand aufgreift und unter konsequenter Anwendung des Vorsorgeprinzips in allen Mitgliedstaaten ein hohes, harmonisiertes Schutzniveau festlegt. Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit: Die zur Novellierung anstehende Verordnung über elektromagnetische Felder regelt unter anderem Grenzwerte für so unterschiedliche Anlagenarten wie Hochspannungsleitungen und Mobilfunkanlagen. Die Verordnung ist seit ihrem Inkrafttreten Anfang 1997 nicht geändert worden. Sie bedarf dringend der Anpassung an den heutigen technischen und wissenschaftlichen Stand. Bisherige Regelungslücken sollen nun geschlossen werden. Dazu wird der Anwendungsbereich der Verordnung zum Beispiel auf Anlagen, die privat oder hoheitlich betrieben werden, erweitert. Damit gelten die Grenzwerte künftig auch für die ortsfesten Anlagen des Digitalfunks der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Aktuell bedeutsam ist auch die Einbeziehung der Anlagen der Hochspannungsgleichstromübertragung, der sogenannten HGÜ-Leitungen. Einen Beitrag zum Bürokratieabbau leistet die Novelle durch die geplante Reduzierung von Anzeigepflichten, die entfallen können, soweit die bislang anzuzeigenden Daten bereits elektronisch bei der Bundesnetzagentur vorhanden sind. Diese Änderungen sind bislang auf eine breite Zustimmung gestoßen. Von manchen wird die Frage aufgeworfen, ob die in der Verordnung vorgesehenen Grenzwerte die Bevölkerung ausreichend schützen. Festzuhalten ist, dass die Grenzwerte der Regierungsvorlage auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse festgelegt worden sind. Dabei sind alle nach wissenschaftlichen Standards und Grundsätzen erhaltenen Forschungsergebnisse einbezogen worden. Es gibt auch heute keine belastbaren wissenschaft-lichen Hinweise, diese Grenzwerte infrage zu stellen. Dies belegen die Ergebnisse umfangreicher Forschungen der letzten Jahre. Im Dezember 2001 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung von einer Verschärfung der Grenzwerte für den Mobilfunk Abstand genommen und stattdessen ihre sonstigen Vorsorgeanstrengungen im Bereich Mobilfunk verstärkt. Ich weise hier zum Beispiel auf die Einrichtung einer Standortdatenbank bei der Bundesnetzagentur und das "Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm" hin. Außerdem hat die damalige Bundesregierung die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunknetzbetreiber entgegengenommen, die Anfang 2012 ergänzt worden ist. Die Bundesregierung achtet in den jährlich durchzuführenden Überprüfungsgesprächen darauf, dass die Betreiber ihre freiwilligen Zusagen einhalten. Für Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen, also Anlagen der Stromübertragung, enthält die Novelle übrigens auch Vorsorgeregelungen. Diese umfassen folgende Punkte: Der Grenzwert für den Bahnstrom wurde der Empfehlung der Internationalen Strahlenschutzkommission, ICNIRP, aus dem Jahr 2010 entsprechend halbiert. Der bisherige Grenzwert von 100 Mikrotesla für das magnetische Feld bleibt unverändert. Entgegen der Empfehlung der ICNIRP, den Grenzwert auf 200 Mikrotesla zu erhöhen, soll das bisherige Schutzniveau beibehalten werden. Neu ist ein allgemeines Minderungsgebot: Betreiber von Niederfrequenzanlagen werden verpflichtet, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die Exposition durch nichtionisierende Strahlung nach dem Stand der Technik zu vermindern. Diese allgemeine Minderungspflicht ist noch durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift zu konkretisieren. Und schließlich ein Überspannungsverbot: Werden neue Stromtrassen errichtet, dürfen die Hochspannungsstromleitungen Wohngebäude nicht mehr überspannen. Diese Vorsorgeregelungen haben eine unmittelbare Bedeutung für den Stromnetzausbau. Entsprechend intensiv sind sie mit allen Verfahrensbeteiligten auf ihre Angemessenheit und Ausgewogenheit hin geprüft -worden. Ziel war es, den Schutz der Bevölkerung sicherzustellen, ohne dabei den Ausbau der Stromnetze unangemessen zu erschweren. Dies wird mit der Novelle -erreicht. Letztlich erkennen alle, die am Rechtsetzungsverfahren beteiligt waren, an, dass die Novelle insgesamt eine deutliche Verbesserung für den Strahlenschutz bringt. Anlagen 1Anlage 2 2Anlage 3 3Anlage 4 4Anlage 5 5Anlage 6 6Anlage 7 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 28384 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 228. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 228. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28385 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 28600 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 228. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 228. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28599