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Debatte
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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Dr. Dieter Thomae, FDP Jürgen Timm, FDP >>

»Bonn oder Berlin?« -- neben den großen Herausforderungen, die die deutsche Vereinigung für nahezu alle Politikbereiche bedeutet, stellt sich auch diese ebenso zentrale Frage. Im Einigungsvertrag haben sich Bundesrepublik und DDR darauf verständigt, daß Berlin mit dem Beitritt der DDR Hauptstadt wird. Die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes ist offengelassen worden. Bundestag und Bundesrat sollen hierüber entscheiden.

Die Entscheidung ist nicht leicht. Und sie wird vermutlich knapp ausfallen. Für mich aber ist sie eindeutig: Ich plädiere für Bonn. Die Gründe hierfür sind auf drei Ebenen angesiedelt: der politischen, der finanziellen und der menschlichen Ebene.

Zur politischen Ebene: Ein Parlaments- und Regierungssitz Bonn entspricht den föderalen Traditionen der deutschen Geschichte. Zentralismus ist der deutschen Geschichte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fremd. Und diese Ausnahmen sind -- wie der Nationalsozialismus und die SED-Herrschaft -- alles andere als ein Vorzeigeschild für Deutschland.

Mit einer Entscheidung für Bonn würden wir auch an die föderale Grundentscheidung und -entwicklung der Bundesrepublik anknüpfen. Bonn steht für einen freiheitlichen, demokratischen und sozialen Bundesstaat.

Zur politischen Perspektive gehört auch die europäische Dimension. Bonn steht für die konsequente Einbindung der Bundesrepublik in die Europäische Gemeinschaft. Zugleich fördert eine Entscheidung für Bonn den europäischen Integrationsprozeß: Denn Europa erhält Schubkraft durch die Kraft seiner Regionen. Je mehr Entscheidungen in Europa zentral gebündelt werden, desto wichtiger werden die Funktionen regionaler Zentren. Die Entscheidung für Europa, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen haben, war auch eine Entscheidung gegen Nationalismus und die Sucht nach nationaler Größe. Mich erschreckt es, wenn einige Berlin-Befürworter diese Entscheidung gerade mit nationaler Größe begründen. Bonn steht für einen verläßlichen internationalen Partner, dem Abenteuer in nationaler Größe und nationale Sonderwege fremd sind.

Es heißt häufig, ein Ja für Berlin wäre notwendig ein Signal an die Bürger in den fünf neuen Ländern. Ich teile diese Auffassung nicht. Die Solidarität mit den neuen Bundesländern zeigt sich an den gewaltigen finanziellen Ressourcen, die zu Recht aus Westdeutschland in den Osten geleitet werden. Alleine dieses Jahr werden es rund 130 Milliarden DM sein. Und die Solidarität zeigt sich an den vielen tausend westdeutschen Mitbürgern, die beim Aufbau der neuen Länder mitwirken. Wer von einer Entscheidung für Berlin im übrigen schnell wirksame Hilfe für die neue Länder verspricht, täuscht entweder sich selbst oder andere. Dies folgt schon aus den langen Übergangszeiten, die aus mehrerlei Gründen notwendig wären. Die Übergangszeit würde Berlin und den neuen Ländern im Gegenteil schaden, da viele Projekte und Planungen zu lange auf Eis gelegt würden.

Die zweite Ebene der Entscheidung sind die finanziellen Fragen. Wieviel genau ein Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin kosten würde, weiß niemand. Die Prognos AG, die im allgemeinen seriöse Untersuchungen vorlegt, hat die Kosten mit 60 Milliarden DM beziffert, das Land NRW schätzt 80 Milliarden DM. Der Bundeskanzler geht davon aus, daß alle bisherigen Schätzungen von der Wirklichkeit wohl überholt werden dürften. In jedem Falle werden es riesige Summen sein. Ich frage mich, ob dieses Geld richtig angelegt ist. Wie Sie wissen, befasse ich mich im Deutschen Bundestag insbesondere mit Gesundheitspolitik. Wir haben uns in der Gesundheitspolitik angewöhnt, nur medizinisch notwendige Ausgaben für gerechtfertigt zu halten. Ähnlich sollte es hier sein: Eine zwingende Notwendigkeit, 60 Milliarden DM oder mehr für den Umzug von Parlament und Regierung auszugeben, kann ich nicht erkennen.

Jede Mark kann nur einmal ausgegeben werden. Zur Finanzierung eines Umzugs müßten sowohl die staatlichen Ausgaben gekürzt als auch die Einnahmen durch Steuererhöhungen und vermehrte Kreditaufnahme erhöht werden. Eine vermehrte Kreditaufnahme würde die Kapitalmärkte noch stärker beanspruchen und die Zinsen nach oben treiben. Belastet würden hiervon die privaten Investoren; aber steigenden Zinsen würden auch den Bewegungsspielraum der öffentlichen Haushalte weiter einschränken. Steigende Zinsen wie auch Steuererhöhungen und Kürzungen staatlicher Ausgaben zur Finanzierung des Umzugs würden im übrigen auch die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern beeinträchtigen. Auch dies zeigt, daß ein Umzug von Parlament und Regierung der Region der neuen Länder nichts nützt.

Zur menschlichen Ebene: Mehr als 100 000 Menschen haben bei Parlament und Regierung sowie den Verbänden und Organisationen, die im politischen Raume wirken, ihren Arbeitsplatz. Rechnet man die Familienangehörigen hinzu, sind es also rund 300 000 bis 400 000 Bürger. Viele von ihnen haben vor Jahren ihre Bindungen aufgegeben, um am Sitz von Parlament und Regierung zu arbeiten. Bonn ist inzwischen ihre Heimat, die Kinder haben Schulfreunde dort. Sollen diese Menschen wirklich all dies aufgeben? Sollen sie gegen ihren Willen von einer Stadt in die andere verpflanzt werden?

Mit umgekehrten Vorzeichen gilt im übrigen dasselbe für viele tausend Menschen, die jetzt in Berlin bei Bundesbehörden beschäftigt sind. Sie würden wohl nach Bonn versetzt werden. Denn es ist ja der erklärte Wille der Befürworter von Berlin, dem Bonner Raum durch die Verlegung von Bundesbehörden aus Berlin teilweise Entschädigung zukommen zu lassen.

In einem Kommentar einer Tageszeitung las ich kürzlich, »Beamtenbequemlichkeit« dürfe bei der Entscheidung keine Rolle spielen. Diese Arroganz gegenüber der menschlichen Seite eines solchen Umzugs finde ich erschreckend.

Zur menschlichen Seite gehört schließlich auch die Frage, welche Konsequenzen der Umzug für die Berliner Bevölkerung hätte. Die Lebensqualität in Berlin hat sich bereits gegenüber Ende der 80er Jahre spürbar verschlechtert. Diese Entwicklung würde sich rapide fortsetzen, wenn Parlament und Regierung nach Berlin zögen. Ein Verkehrsinfarkt, Wohnungsknappheit, Zunahme ökologischer Belastungen wären vorprogrammiert. Die Metropolen alten Stils, wie Paris, Rom oder London, sind an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit geraten. Diesen Fehler sollten wir mit der Entscheidung über den Sitz von Parlament und Regierung der Bundesrepublik nicht wiederholen.

Jürgen Timm, FDP >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_200
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