Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   78. Sitzung

   Berlin, Mittwoch, den 26. November 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Hans Georg Wagner feiert heute seinen 65. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Wir setzen die Haushaltsberatungen - Punkt I - fort:

a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2004 (Haushaltsgesetz 2004)

- Drucksache 15/1500, 15/1670 -

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007

- Drucksachen 15/1501, 15/1670, 15/1924 -

   Ich rufe dazu Punkt I. 8 auf:

Einzelplan 04
Bundeskanzler und Bundeskanzleramt

- Drucksachen 15/1904, 15/1921 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Steffen Kampeter
Gerhard Rübenkönig
Petra-Evelyne Merkel
Alexander Bonde
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt
Jürgen Koppelin

   Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Außerdem ist ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP angekündigt, über den am Freitag nach der Schlussabstimmung abgestimmt werden soll.

   Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die Aussprache über den Einzelplan 04 namentlich abstimmen werden.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die grausamen Bombenanschläge auf jüdische Synagogen und britische Einrichtungen in Istanbul haben die Geißel des Terrors brutal in Erinnerung gerufen. Unsere Anteilnahme gilt den Opfern dieser Anschläge und ihren Familien. Wir stehen angesichts der feigen und hinterhältigen Anschläge fest an der Seite unserer Freunde und sollten uns grundsätzlich vor voreiligen Schlussfolgerungen zurückhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr richtig!)

- Ich bedanke mich für den Beifall von allen Seiten des Hauses. Das, was ich gesagt habe, gilt selbstverständlich auch für alle Seiten.

   Ich meine, dass die freien Völker mit Einigkeit, Standfestigkeit und notfalls auch mit militärischen Mitteln für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintreten müssen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Meine Fraktion hat nie einen Zweifel an der Entschlossenheit gelassen, alle Machtmittel des Staates zum Schutz seiner Bürger einzusetzen. Die Soldaten unserer Bundeswehr leisten ausgezeichnete Arbeit in Afghanistan, Bosnien, Mazedonien, im Kosovo und an vielen anderen Stellen in der Welt. Unsere Soldaten werden bei uns immer Rückhalt für ihre schwere Arbeit finden. Das ist die Politik der CDU/CSU.

   Wir haben uns unserer Verantwortung als Opposition immer gestellt. Wir haben allen Einsätzen zugestimmt, die die Sicherheit unseres Landes erfordert hat, obwohl wir manchmal zu spät, halb oder nicht richtig informiert worden sind. Ich meine, dass wir auch in Zukunft unsere Sicherheitsdienste stärken müssen. Das gilt insbesondere für die Nachrichtendienste, die wir oft vor ungerechtfertigten Angriffen von Rot-Grün in Schutz nehmen mussten.

(Lachen des Abg. Peter Dreßen (SPD) - Widerspruch des Bundeskanzlers Gerhard Schröder)

- Aber sicher! Ich kann gerne aufzählen, was Sie und Ihre Vorgänger alles gemacht haben. Teilweise sind hier ja Damen und Herren anwesend, die die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nicht so genau kennen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   An dieser Stelle sei auch der Hinweis erlaubt, dass man sehr genau darüber nachdenken sollte, ob man ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit den Bundesnachrichtendienst mit einem überflüssigen Umzug befasst; denn er hat eigentlich etwas ganz anderes zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich meine auch, dass die Zusammenarbeit mit unseren türkischen Freunden in Sicherheitsfragen vertieft werden muss. Die Türkei leistet in der NATO einen herausragenden Beitrag zu unserer Sicherheit.

   In New York, Djerba, Bali, Bagdad, Riad und vielen anderen Orten auf dem Globus hat der Terror blutige Spuren hinterlassen. Unter den Opfern sind Menschen aller Nationen, auch Deutsche. Terroristen töten ohne jegliche Logik. Richtig ist: Deutschland und die Europäische Union sind vom al-Qaida-Terror bisher verschont geblieben; aber nur ein Narr glaubt, das müsse automatisch für alle Zeiten so bleiben.

   Stefan Kornelius schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:

Wer Terrorismus und EU-Mitgliedschaft der Türkei mutwillig vermischt, läuft in die Populismus-Falle.
(Peter Dreßen (SPD): Sagen Sie das mal Herrn Bosbach!)

- Ich meine durchaus auch den Herrn Schily.

(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ausgerechnet! Das ist doch etwas heuchlerisch, Herr Glos!)

- Sie müssen die Äußerungen beider Seiten berücksichtigen. - Die Solidarität im Kampf gegen den Terror und die künftigen Grenzen der Europäischen Union haben überhaupt nichts miteinander zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sagen Sie das Ihren Leuten! - Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Wer hat denn damit angefangen?)

   Damit auch das ganz klar ist - an unserer grundsätzlichen Position will ich hier keinen Zweifel lassen -: Eine Vollmitgliedschaft der Türkei mit voller Freizügigkeit überfordert die Integrationskraft der Europäischen Union und insbesondere Deutschlands.

   Wir sollten diese Fragen vorurteilsfrei

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Vorurteilsfrei!)

und vor allen Dingen unaufgeregt diskutieren. Dazu lade ich Sie ein.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir brauchen diese Einladung nicht! Sagen Sie das mal Ihren Leuten! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Wuff, wuff!)

Dazu wird es auch im nächsten Jahr sehr viel Gelegenheit geben. Wir müssen solche Fragen losgelöst von so furchtbaren Bildern wie denen aus Istanbul diskutieren.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Warum thematisieren Sie es dann überhaupt in dieser Weise?)

   Ich bin der Meinung, dass wir uns auf dem richtigen Weg, der Europa in die Zukunft führt, grundsätzlich nicht beirren lassen dürfen. Wir werden selbstverständlich auch die Zukunftsfragen Europas im nächsten Jahr diskutieren. Das sind wir den Wählerinnen und Wählern, insbesondere vor einer Wahl zum Europäischen Parlament, schuldig. Wer die Zukunft Europas sichern will, der muss die Menschen auf dem Weg mitnehmen und darf sie nicht überfordern. Wir wollen und brauchen ein wirtschaftlich starkes Europa, dessen Stimme in der Welt Gewicht hat.

   Dieses Europa kann aber nicht ohne ein starkes Deutschland in seiner Mitte auskommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vor allen Dingen brauchen wir ein wirtschaftlich starkes Deutschland. Die rot-grüne Politik hat Deutschland und damit Europa nachhaltig geschwächt. Herr Bundeskanzler, sehen Sie sich heute einmal das verheerende Echo in allen führenden Wirtschaftszeitungen - ich brauche sie nicht aufzuzählen - an! Allein die Überschriften sind für Sie ein Desaster und zeigen, wie falsch der Weg ist, die Stabilität unserer Gemeinschaftswährung einfach so aufs Spiel zu setzen, wie es Herr Eichel getan hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch Unsinn!)

   Es ist eine Tragödie - auf Deutsch: ein Trauerspiel -, dass Deutschland nicht mehr der Anker der Stabilität in Europa ist, sondern heute als Haushaltssünder auf der Anklagebank sitzen muss.

(Peter Dreßen (SPD): Freigesprochen!)

Deutschland wird im kommenden Jahr zum dritten Mal in Folge den europäischen Stabilitätspakt verletzen. Wider besseres Wissen hat Hans Eichel immer wieder bewusst - ich drücke es vorsichtig aus - geschönte Zahlen nach Europa gemeldet. Das ist eine Schande für unser Land, weil gerade Deutschland immer der Stabilitätsanker gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland war immer ein Land, das anderen Ländern ein gutes Beispiel gegeben hat, wenn es um Stabilität und Solidität ging.

   Das Aufgeben der Stabilitätskultur der Gemeinschaftswährung ist eine Verhöhnung des Erbes der Deutschen Mark. Es ist ein ungeheurer Vertrauensbruch auch gegenüber allen Befürwortern der damals schwierigen Entscheidung. Ich weiß noch, wie schwierig es war, der europäischen Währungsunion zuzustimmen, insbesondere weil man eine Währung wie die Deutsche Mark, nicht wie die Lira, in der Hand hatte.

(Joachim Poß (SPD): Vor allem für die CSU!)

- Herr Poß, ich würde gern mehr Zwischenrufe aufgreifen; aber es besteht immer die Schwierigkeit: Der Fernsehzuschauer hört nicht, was Sie rufen, grölen oder was auch immer.

(Joachim Poß (SPD): Ich habe gesagt: Das war schwierig für die CSU!)

- Ich wiederhole das: Es war schwierig für die CSU.-Es war für uns natürlich nicht leicht, weil wir sehr viele Menschen vertreten, die gespart haben, die vorgesorgt haben, die das getan haben, was heute endlich gefordert wird, nämlich private Lebens- und Rentenversicherungen abgeschlossen haben. Die fragen sich natürlich: Was wird aus dem Geld? Wird es von der Inflation aufgefressen?

(Joseph Fischer, Bundesminister: Quatsch! - Unruhe)

- Herr Präsident, die Zwischenrufe von der Regierungsbank gehen schon wieder los.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundesaußenminister,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Lümmel! Bengel!)

gehen Sie auf Ihren Abgeordnetenplatz, auf den Sie gehören. Von dort aus können Sie rufen, was Sie wollen.

(Anhaltende Unruhe - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Diese gespielte Empörung! Ihr habt vielleicht Sorgen! -Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ein Flegel! Der Junge hat keine Erziehung! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Lümmel! - Das passt zu dieser Regierung!)

   Ich meine jedenfalls, dass wir das Stabilitätserbe von Helmut Kohl und Theo Waigel nicht verspielen dürfen. Diejenigen, die eine solche Politik betreiben, höhlen das Vertragswerk von Maastricht vorsätzlich aus. Die große Gefahr ist auch, dass die Zusagen, die Sie gegeben haben, Herr Eichel, nicht mehr ernst genommen werden. Ich würde an Ihrer Stelle alles tun, um nicht als Totengräber des Stabilitätspaktes in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

   Wer mutwillig Fundamente zerstört, der bringt ein Haus in Einsturzgefahr. Es ist sehr bezeichnend, dass Herr Trichet den Vorstand der Europäischen Zentralbank sofort zu einer Sondersitzung einberufen musste, um die neue Lage zu diskutieren.

   Jetzt möchte ich doch noch einmal kurz auf den europäischen Verfassungsvertrag zu sprechen kommen, den wir hier schon in verschiedenen Facetten diskutiert haben; es gibt aber auch Punkte, die hier noch nicht genannt worden sind, in denen er nach meiner Auffassung sehr ergänzungsbedürftig ist. Dabei geht es vor allem um die Gewährleistung der Stabilität unserer Währung. Auf die Dauer kann die Europäische Zentralbank die Stabilität des Euro nur garantieren, wenn sie von den Ländern der Eurozone durch eine solide Haushaltspolitik unterstützt wird.

   Sie, Herr Eichel, behaupten, mit dem Verzicht auf weitere Konsolidierungsmaßnahmen trage Deutschland zur Stärkung der Konjunktur und zum Aufschwung in der Europäischen Union bei. Diese Behauptung ist leider nicht richtig. Bei einem Defizit des Bundeshaushalts von, wie wir gestern gehört haben, 43,4 Milliarden Euro im laufenden Jahr und von geplanten 30 Milliarden Euro im kommenden Jahr - auch diese Zahlen werden zu Recht bestritten - wäre es absurd, von restriktiver Finanzpolitik zu sprechen. Es ist nicht so, dass alle Genossen das nicht verstehen, Herr Eichel. Es gibt durchaus hessische Genossen, die das verstehen. Herr Welteke - ich glaube, er war bei Ihnen sogar Finanzminister - hat zu Recht betont: Konsolidierung und Wachstum stehen sich nicht im Weg. Im Gegenteil - das beweist uns das europäische Beispiel -: Die Länder der Eurozone, die rechtzeitig ihre haushaltspolitischen Aufgaben gemacht haben, stehen heute wirtschaftlich besser da als Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Zu Waigels Zeiten!)

   Wir können uns nicht mit der Münchhausen-Methode aus dem Sumpf ziehen. Es geht nicht, mit immer neuen Schulden alte Schulden zu bekämpfen und zu erklären, dass man zur Konsolidierung zurück will. Ich zitiere Professor Wiegard, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der von der Bundesregierung berufen worden ist:

Das Einzige, was eine höhere Nettokreditaufnahme erreichen kann, ist ein leichter, kurzfristiger Impuls für die Konjunktur. Die langfristigen Wirkungen für das Wachstum sind dagegen negativ.

Gegenwärtig profitiert der Eurokurs von einem schwachen Dollar. Der schwache Dollar hat vielfältige Ursachen. Aber das mit der Schwäche kann sich morgen schon wieder ändern. Uns drohen dann Inflationsgefahren und zunächst vor allem steigende Zinsen. Bei einem Schuldenstand der öffentlichen Haushalte von 1 300 Milliarden Euro bedeutet jeder Prozentpunkt Zinserhöhung eine zusätzliche Haushaltsbelastung von 13 Milliarden Euro. Für diese Summe - nur, um das einmal vor Augen zu führen - könnte man 600 000 Mittelklassewagen oder 50 000 Einfamilienhäuser kaufen. Letztendlich bedeutet das ja immer auch eine Wanderung der Kaufkraft hin zu den Kapitalbesitzern, egal ob sie im In- oder Ausland sind. Deswegen ist Konsolidierungspolitik auch soziale Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich meine, dass die bewusste Verletzung des Stabilitätspaktes erheblichen politischen Zündstoff in sich birgt: Die kleineren Euroländer fühlen sich über den Tisch gezogen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Juncker hat gestern etwas anderes gesagt!)

Ihre eigenen Sparanstrengungen - diese fallen ja keinem Land leicht - werden damit ein Stück weit konterkariert. Die Beitrittsländer werden über kurz oder lang aus dem deutschen Vorgehen einen Persilschein für eine eigene Schuldenpolitik ableiten.

   Als die EU im Vorfeld des Irakkonfliktes - wir erinnern uns gut - vor dem Auseinanderbrechen stand, war der Euro das letzte Bindemittel, das die Europäische Union noch zusammengehalten hat. Nun legen Sie die Axt an die Wurzeln des Euro an. Dafür werden wir über kurz oder lang eine teure Zeche bezahlen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn?

Michael Glos (CDU/CSU):

Gibt es den Herrn Kuhn denn hier? - Ah ja, da ist er. Ich habe das jetzt nicht vermutet, weil sich die Grünen eigentlich nie regen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Glos, ich habe folgende Frage, nachdem

(Volker Kauder (CDU/CSU): Hände aus den Hosentaschen!)

- Herr Kauder! - wir Ihnen jetzt schon eine ganze Weile zugehört haben und von Ihnen hören mussten, dass die Politik der Bundesregierung in Bezug auf den Stabilitätspakt nicht seriös sei: Wie erklären Sie es sich nun, dass Sie im Haushaltsausschuss keinen einzigen Antrag bezüglich Deckungsmöglichkeiten, um den Haushalt auszugleichen, gestellt und keinen einzigen Vorschlag gemacht haben, wie 6 Milliarden Euro zusätzlich bewältigt werden sollen? Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, unsere Politik sei unseriös. Meine Frage an Sie: Ist es nicht eher Maulheldentum, wenn man so wie Sie die Klappe aufreißt, aber keinen einzigen substanziellen Finanzierungsvorschlag bringt?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Kuhn, Ihre erste Feststellung, dass Sie mir schon 15 Minuten zuhören, begrüße ich nachdrücklich. Das hat es das letzte Mal nicht gegeben;

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei keinem!)

das ist irgendwie neu. Sonst wurde nämlich nur gestört.

   Nun zu der Frage, wie wir uns bei den Haushaltsberatungen verhalten haben. Ich war beinahe zehn Jahre im Haushaltsausschuss. Da hatte ich meine politischen Lehr- und Wanderjahre. Man konnte immer nur einen seriös vorgelegten Haushalt beraten, also einen, bei dem die Grundlagen gestimmt haben.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Schon die Grundannahmen dieses Haushaltes, den man dem Haushaltsausschuss und dem Parlament zumutet, stimmen nicht. Vor allen Dingen stimmen auch die Einzelposten nicht.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Welche denn?)

Es wurden sehr viele Dinge angesetzt, über die die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien überhaupt nicht selbst verfügen können. Hierfür muss erst einmal eine Mehrheit gefunden bzw. das Ergebnis des Vermittlungsausschusses abgewartet werden.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Konkret! - Weitere Zurufe von der SPD)

Was macht es dann also für einen Sinn, Anträge bezüglich kleinerer Posten zu stellen? Das sollten Sie wissen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich komme zurück zu Europa: Schon jetzt beklagen sich viele kleine EU-Staaten über das rücksichtslose Dominanzstreben der Achse Berlin-Paris. Wie man sich gegen die Kommission durchgesetzt hat, die Hüterin der Verträge ist, war schlimm. Das wird eine verheerende Wirkung auf Europa haben. Wer das nicht glaubt, hätte sich gestern einmal das Gesicht von Solbes ansehen sollen. Europa kann nur gedeihen - da bin ich mir ganz sicher; denn auch das ist etwas, was ich von Helmut Kohl gelernt habe -,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das merkt man!)

wenn es von Ausgleich und Kompromiss geprägt ist. Wer glaubt, zwei bis drei führende Staaten könnten andere zu Statisten degradieren, der zerstört Europa und wird Schiffbruch erleiden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sehe Mängel - damit komme ich zurück zu meinen Forderungen in Bezug auf den Verfassungsvertrag - auch bei der Stabilitätspolitik. Preisstabilität wird nicht mehr als Ziel der Europäischen Union genannt. Die Europäische Zentralbank wird zu einem x-beliebigen Organ herabgestuft. Der Konvent hat ja die Anregungen der Europäischen Zentralbank nicht gewürdigt, indem er sie einfach nicht aufgenommen hat. Das bleibt eine Tatsache.

   Der verfehlte Kompromiss zum Stabilitätspakt erschwert die Zustimmung zum EU-Verfassungsvertrag, die zu erzielen eh noch schwierig genug wird. Auch darauf möchte ich Sie in aller Ruhe aufmerksam machen.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Aussprache wie heute ist natürlich auch eine Generalaussprache über die Politik des Bundeskanzlers und seiner Regierung. Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Menschen in Deutschland haben wenig Anlass, Ihnen und Ihrer Regierung zu vertrauen, genauso wenig wie die Partner in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Der so genannte Lügenausschuss hat die Fakten dokumentiert.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Nicht bewiesene Behauptungen von Ihnen!)

- Bitte hören Sie es sich doch in Ruhe an! Ich weiß: Es ist für Sie schwer zu ertragen; aber das sind doch die Ergebnisse Ihrer Politik.

   Vor allen Dingen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier: Sie haben das alles zugedeckt

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Lächerlich!)

und sind bereit, Regierungsfehlhandeln weiterhin zuzudecken. Das ist eigentlich nicht die Rolle eines selbstbewussten Parlaments und selbstbewusster Parlamentarier.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das müssen Sie jetzt gerade sagen! Das ausgerechnet von Ihnen!)

Bundesminister Eichel hat bis zur Wahl 2002 die desolate Situation des Haushalts anders dargestellt, als sie fälschlich war.

(Walter Schöler (SPD): Herr Stoiber wollte noch mehr aufnehmen!)

Er hat falsche Zahlen bezüglich der Einhaltung des Maastricht-Kriteriums gemeldet. Ulla Schmidt hat vor dem Wahltag behauptet, sie erwarte für 2002 ein ausgeglichenes Ergebnis der gesetzlichen Krankenversicherung und für 2003 stabile Beiträge.

   Richtig ist - das hat der Ausschuss erwiesen -: Die Experten der Ministerien haben ihren Chefs die Fakten präsentiert. Die Chefs haben dann die Öffentlichkeit bewusst getäuscht. Deswegen ist diese Stunde hier - die Diskussion über den Haushalt 2003 - auch die Stunde der Wahrheit für Ihre Politik.

(Franz Müntefering (SPD): Dann müssen Sie aber aufhören! - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann müssen Sie aber mal einen Beitrag leisten!)

Ein Sprichwort besagt, Herr Müntefering: Lügen haben kurze Beine.

   Fünf Jahre nach dem Regierungsantritt hat die Wirklichkeit Rot-Grün tatsächlich eingeholt und die von Ihnen verursachte Vertrauenskrise in Deutschland hat sich voll entfaltet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   1998 sind Sie angetreten und haben gegen unsere Rentenreform Stimmung gemacht. Inzwischen haben Sie eingesehen, dass Ihr Weg falsch war. 1998 sind Sie angetreten und haben gegen die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln Stimmung gemacht. Inzwischen ist diese mit unserer Hilfe wieder eingeführt worden. 1998 haben Sie die 630-DM-Jobs als verwerflich bezeichnet und abgeschafft. Jetzt lassen Sie sich dafür loben, dass die 400-Euro-Jobs, die auf unser Drängen eingeführt wurden, Wirkung am Arbeitsmarkt entfalten.

   Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich in einem großen Kreis gedreht. Das waren fünf verlorene Jahre für Deutschland. Herr Bundeskanzler, durch Ihr Learning by Doing sind Sie sehr teuer!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lernen im Amt - für diejenigen, die das auf Deutsch hören wollen - ist eigentlich ein Luxus, den sich unser Land nicht leisten kann. Es wächst auch der Zweifel, ob Ihr Lernerfolg wirklich so nachhaltig ist. Ich will jetzt nicht alle Fehler aufzählen; aber ein paar besonders einprägsame werden doch erlaubt sein, auch um zu zeigen, dass Sie wenig dazugelernt haben:

   Die unendliche Geschichte vom Dosenpfand, das zum Doofenpfand wird, ist ein ganz besonderes Trauerspiel.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie meinen das Dosenpfand von Herrn Töpfer!)

Dabei gehen Zigtausende von Arbeitsplätzen verloren.

   Das Mautdebakel ist ein weiteres Arbeitsplatz-Vernichtungsprogramm. Toll Collect könnte ein Stück aus dem Tollhaus sein: 2,8 Milliarden Euro werden bald für Bauinvestitionen fehlen. Ausländische LKWs fahren gebührenfrei in immer größerer Anzahl auf deutschen Straßen und Autobahnen. Herr Minister Stolpe, Sie sind daran nur zum Teil schuldig. Sie haben sich bereit erklärt, ein Erbe anzutreten, ohne dass Sie danach gefragt haben, was alles mit diesem Erbe verbunden ist. Es ist ein verheerendes Erbe. Herr Bodewig hat das wohl alles eingebrockt. Er ist zum Dank auf dem SPD-Parteitag auch noch in den Vorstand gewählt worden, während andere, die sich redlich bemüht haben, wie Herr Clement, abgestraft wurden. Es ist immer ganz interessant, was den Genossinnen und Genossen gefällt und was ihnen weniger gefällt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Grünen, die einmal das Fliegen für verwerflich gehalten haben, ordern Flugzeuge und beordern sie über den halben Südatlantik und wieder zurück. Die Kosten zahlen sie nicht aus eigener Tasche, sondern die soll munter der Steuerzahler zahlen, genauso wie dieses Tortenessen mit Champagner und anderen edlen Getränken, das 32 000 Euro gekostet hat,

(Zurufe von der CDU/CSU: 36 000!)

mit dem man feierte, dass man in Stade wieder soundso viel tausend Arbeitsplätzen den Garaus gemacht hat. Das alles ist doch ein Stück bezeichnend für Ihre widersprüchliche Politik. So kann ein Land nicht vorankommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin gespannt, wie lange Sie den „Sonnenkönig von Nürnberg“ noch im Amt behalten. Das wird ja eingehend untersucht; erste Opfer hat die Geschichte schon gefordert. Ich meine, Herr Bundeskanzler, wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen - nur deswegen sage ich das überhaupt -, dann muss auch das Handeln Ihrer Mannschaft glaubwürdiger sein. Die Menschen auf einen Weg des Sparens mitzunehmen, während man sich gleichzeitig solche Dinge leistet, das wird Ihnen nicht gelingen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, die Menschen in Deutschland haben genug von Ausflüchten und Schönfärberei. Sie wollen eine Politik, die dieses Land wieder voranbringt. Darum geht es doch und daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.

(Zuruf von der SPD: Und jetzt kommen Ihre Vorschläge!)

   Der Weg zu einer besseren Politik beginnt mit einer konkreten Analyse. Man muss den Menschen die Wahrheit sagen und ihnen Klarheit geben, ohne Augenzwinkern.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was Sie ja bisher noch nicht gemacht haben! - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fangen Sie doch mal damit an!)

Nur dann bekommen wir Vertrauen.

   Wissen Sie, was das beste Konjunkturprogramm wäre? Das beste Konjunkturprogramm hätten wir, wenn die Sparquote, die jetzt bei 10,6 Prozent liegt, nicht weiter ansteigen würde. Wenn man 3 Prozent davon in den Konsum geben würde, wären das circa 50 Milliarden.

(Joachim Poß (SPD): 2 Prozent würden schon reichen!)

Ein staatliches Programm in dieser Größenordnung könnten Sie nie auflegen. Dann ginge es auch wieder ein Stück aufwärts. Es ist ja ganz schlimm im Inlandskreislauf. Laufen Sie einmal durch die deutschen Städte. Schauen Sie sich einmal an, bei wie vielen Bürogebäuden steht „zu vermieten“, wie viele Läden leer stehen usw. Und wir sehen all dem Treiben irgendwo tatenlos zu.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das, was Sie da predigen, ist Staatskapitalismus!)

   Die öffentlichen Schulden - ich wiederhole die Zahl; ich habe sie vorhin in anderem Zusammenhang schon genannt - betragen inzwischen 1 300 Milliarden Euro. Das sind 62 Prozent des Bruttosozialproduktes und wir haben immer noch eine sehr steil steigende Tendenz. Der Bund braucht jeden sechsten Euro im Haushalt für die Bedienung der Schulden.

(Zuruf von der SPD: Ja, warum wohl?)

Das ist ein Teufelskreis.

   Die Kosten des sozialen Netzes sind mit rund 670 Milliarden Euro genau dreimal so hoch wie vor 20 Jahren. Dem steht eine stagnierende Wirtschaft mit einer bedrohlichen Massenarbeitslosigkeit gegenüber. Das sind die Fakten in unserem Land. Nichts lässt in absehbarer Zeit die Wachstumsraten erwarten, die erforderlich wären, um die Haushalte zu konsolidieren und ins Gleichgewicht zu bringen.

   Aber anstatt den Menschen reinen Wein einzuschenken, wird wieder Gesundbeterei betrieben. Schon morgen soll es, wenn man Sie hört, zu einem Konjunkturaufschwung kommen. Da ist die Rede von der Wende auf dem Arbeitsmarkt, da werden Reformen gepriesen, deren überwiegender Teil noch gar keine Gesetzeskraft hat.

(Walter Schöler (SPD): Das schreibt das „Handelsblatt“!)

Die Frühindikatoren deuten zwar auf einen leichten Aufschwung hin; aber die harten Fakten sehen anders aus. Lesen Sie einmal die Überschrift im heutigen „Handelsblatt“. Wenn Sie aufstehen und bereit sind, die Balkenüberschrift auf der ersten Seite laut zu verlesen, Herr Kollege, kann das meinetwegen von meiner Redezeit abgehen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wir reden nicht nur von Überschriften, wie Sie!)

   Von einer echten Wende sind wir meilenweit entfernt. Creditreform prognostiziert eine wachsende Pleitewelle mit über 43 000 Insolvenzen. Die Zahl der Erwerbstätigen war im dritten Quartal um 480 000 geringer als im letzten Jahr.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wann kommen denn Ihre Vorschläge?)

Das heißt, wir verlieren in jedem Monat 40 000 bis 50 000 Arbeitsplätze in Deutschland und diese schreckliche Tendenz geht weiter. Niemand stemmt sich ernsthaft dagegen. Wir verbringen die Zeit damit über Kinkerlitzchen zu diskutieren, Herr Bundeskanzler.

(Walter Schöler (SPD): Das stimmt! - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das tun Sie doch die ganze Zeit!)

- Entschuldigung, aber Sie dürfen doch nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Hören Sie doch auf, Kinkerlitzchen zu produzieren, dann müssen wir nicht darüber reden!

(Beifall bei der CDU/CSU - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann lassen Sie das mal bleiben, Herr Glos, und nehmen wieder Platz in Reihe eins!)

   Für 2004 wird ein Wachstum von 1,7 Prozent prognostiziert. Allein 0,6 Prozent resultieren schon daraus, dass wir im nächsten Jahr vier oder fünf Feiertage weniger haben.

   Clement sagte zu Recht: Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit setzt keine Volkswirtschaft so viel Geld ein wie wir und keine ist so erfolglos wie wir. Weil Clement die Wahrheit sagt, hat er auf dem SPD-Parteitag nur 56 Prozent bei seiner Wahl bekommen.

   Ohne die starken Zuwächse beim Export wäre unsere Wirtschaft noch sehr viel schlechter dran und die Zahlen, die ich präsentiert habe, sähen noch übler aus. Ich wiederhole: Es gibt eine ungeheure Verunsicherung bei den Investoren und den Verbrauchern in Deutschland.

(Joachim Poß (SPD): Die Sie schüren!)

- Herr Poß, niemand schürt sie.

(Lachen des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD))

Wenn Sie den Rentnern willkürlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ohne Vorwarnung erstmals die Rente kürzen,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das wird seit zwei Monaten erzählt! Nicht „aus heiterem Himmel“!)

dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn selbst diejenigen Rentner, die noch konsumieren können, Angst bekommen und ihr Geld festhalten, statt es auszugeben.

   Herr Bundeskanzler, ich kann nur sagen: Haben Sie den Mut zur Wahrheit! Der Haushalt 2004 zeigt diesen Mut zur Wahrheit nicht. Die entscheidenden Eckpunkte dieses Haushalts werden erst durch den Vermittlungsausschuss festgelegt. Das ist eine Missachtung parlamentarischer Spielregeln und beantwortet auch die Frage von Herrn Kuhn.

(Widerspruch bei der SPD)

   Der öffentliche Gesamthaushalt weist ein Defizit von 90 Milliarden Euro auf. Damit beansprucht die öffentliche Hand rund 60 Prozent der privaten Geldvermögensbildung. Wenn die private Wirtschaft, was wir alle hoffen, investiert, dann tritt sie zusätzlich als Kreditnachfrager auf den Kapitalmärkten auf. Wenn sich gleichzeitig die öffentliche Hand diese Defizite leistet, dann führt das automatisch zu einem Zinsanstieg, weil dann der Kampf ums knappe Kapital zwischen privater Wirtschaft und öffentlicher Hand ausgetragen wird.

   Deutschlands Defizit in Höhe von 4,3 Prozent überschreitet den Maastricht-Wert um fast 50 Prozent. Die Steuerpolitik ist desolat. Die Menschen werden verunsichert. Nur um auf dem Parteitag Mehrheiten zu bekommen, werden neue Dinge erfunden wie Arbeitsplatzabgabe, also eine Lehrlingssteuer, und werden Forderungen nach der Erhöhung der Erbschaftsteuer und nach der Wiedereinführung der Vermögensteuer erhoben. Ich meine, all das ist ein Kapitalvertreibungsprogramm. Wer heute Kapital aus Deutschland vertreibt, der vertreibt die Arbeit gleich mit. Das ist doch der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin im Gegenteil der Meinung: Von der Erbschaftsteuer müsste man Betriebsvermögen, wenn es sich um gebundenes Vermögen handelt, freistellen,

(Joachim Poß (SPD): Das haben wir auf dem Parteitag so beschlossen!)

um die Personenfirmen nicht zu zwingen, an Konzerne zu verkaufen. Sobald Konzerne das Know-how und die Marktzugangskanäle in der Hand haben, erfolgt eine Verlagerung der Arbeitsplätze aus Deutschland.

   Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Parteitagsrede unter die Überschrift „Mut zur Wahrheit“ und „Wille zum Wandel“ gestellt. Der SPD fehlt es an allem: an Mut, Wille, Wahrheit und Wandel.

(Lachen des Abg. Peter Dreßen (SPD))

Das Echo war einmütig: „Parteitag missraten“, notierte die „Berliner Zeitung“. „Der Kanzler kann das Gesamtergebnis getrost als Niederlage werten“, bilanzierte die „Frankfurter Rundschau“. „Nichts als altbekannte Rezepte“, analysierte die „Financial Times Deutschland“. Es handelt sich um Zeitungen, die nicht verdächtig sind, aufseiten der Opposition zu stehen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wo sind Ihre Vorschläge? - Detlef Dzembritzki (SPD): Haben Sie nichts Eigenes zu sagen, dass Sie aus Zeitungen zitieren?)

   Wenn drei Jahre vor der nächsten Wahl die große Regierungspartei sich selbst nichts mehr zutraut und wenn von ihr keine Aufbruchstimmung ausgeht, dann ist das ein schlechtes Zeichen für die Zukunft Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Der SPD - das mag für viele vielleicht tröstlich sein - geht es mit ihrem Vorsitzenden nicht besser als Deutschland mit diesem Bundeskanzler. Er verspielt Vorhandenes. Schauen Sie sich einmal Ihre Mitgliederentwicklung an! Schauen Sie sich einmal an, in welchem Zustand Ihre Partei ist! Man hat den Bundeskanzler zwar mit 80 Prozent als Vorsitzenden wiedergewählt. Aber das liegt nur daran, dass es gegenwärtig - Herr Müntefering, Sie sind noch nicht so weit - keinen Ersatz für ihn gibt. Das Ergebnis seines Generalsekretärs, hinter den er sich gestellt hat - es waren schon Stimmzettel mit dem Namen desjenigen gedruckt, der ihn ersetzen sollte, sodass der Bundeskanzler mit Brachialgewalt einschreiten musste -, spricht Bände

(Widerspruch bei der SPD)

und zeigt den ganzen elenden Zustand, in dem sich unser Land befindet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie wollten sich doch nicht mit Kinkerlitzchen befassen!)

Sie haben noch die Chance, im Vermittlungsausschuss auf unsere Vorschläge einzugehen. Wir bleiben vor allen Dingen dabei: Erst muss der Arbeitsmarkt in Ordnung gebracht werden. Erst müssen betriebliche Bündnisse für Arbeit und Beschäftigungsverhältnisse möglich sein, die nicht sofort zu einer Dauerbeschäftigung führen. Ganz zuletzt können wir dann vielleicht über die Steuer sprechen.

(Lachen bei der SPD)

Aber die Voraussetzungen, die Eichel gestern in Brüssel in dieser Hinsicht geschaffen hat, sind nicht dazu angetan, die Finanzierung der Steuerreform einfach vorzuziehen und die Steuerreform dadurch früher in Kraft setzen zu lassen.

   Ich meine, wenn wir die anderen Dinge nicht in Ordnung bringen, dann würden wir uns so töricht verhalten wie jemand, der sich an das Steuer eines Autos setzt, dessen Bremsen total blockiert sind, und ständig Gas gibt. Dann drehen nämlich nur die Räder durch. Das Ganze bringt dann nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Wer blockiert denn?)

   Herr Bundeskanzler, Sie wissen - Einsicht kommt den Menschen oft sehr spät -,

(Joachim Poß (SPD): Bei Ihnen nie!)

dass unser Land weiter wäre, wenn die Ministerpräsidenten Schröder, Eichel, Lafontaine und wie sie alle hießen, nicht zwischen 1994 und 1998 im Bundesrat alles blockiert hätten, was auf den Weg gebracht worden ist.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So war das! - Christel Humme (SPD): Gott sei Dank!)

Wir werden diesen Weg nicht gehen; da bin ich mir ziemlich sicher.

   Lassen Sie mich ein Allerletztes sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zurufe von der SPD)

- Ich weiß, dass Sie sich darüber freuen, dass ich bald zum Ende komme. Das kann ich gut verstehen; denn Sie wollen das alles nicht hören. Sie verdrängen das alles immer wieder.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wir warten auf Ihre Vorschläge!)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben auf dem Parteitag wörtlich gesagt, dass Sie all Ihre Kraft nutzen werden, um Ihre Gegner zu besiegen. Sie haben gesagt, das sei Ihre Aufgabe. Ich meine, genau das, die Gegner zu besiegen, ist nicht die Pflicht der Politik. Die Pflicht der Politik ist vielmehr, das Beste für Deutschland zu tun. Daran werden wir arbeiten.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr peinlich!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Bundeskanzler Gerhard Schröder das Wort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Glos, ich will ausnahmsweise mit einem ausdrücklichen Lob beginnen. Ich fand es gut und richtig, dass Sie sich von dem unseligen Gerede des Herrn Bosbach distanziert haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn der hergestellte Zusammenhang zwischen den terroristischen Angriffen in Istanbul auf der einen Seite

(Michael Glos (CDU/CSU): Ich habe den Herrn Schily gemeint! Nur damit es klar ist!)

und dem Versuch auf der anderen Seite, damit Politik, ja sogar Außenpolitik zu betreiben, war menschlich unanständig und politisch hochgradig gefährlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es gut, dass das vom Tisch ist.

   Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Fangen Sie nicht hintenherum erneut an, dieses Thema zu instrumentalisieren!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist es!)

Denn Sie sollten wissen, dass der Türkei seit 40 Jahren gesagt wird: Ihr könnt Mitglied der Europäischen Union werden, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt. - Ob die Türkei diese Voraussetzungen erfüllt, wird Ende 2004 zu entscheiden sein. Der Zeitplan wird - ich betone das ausdrücklich - in keine Richtung hin verändert werden. Die Bedingungen werden nicht verändert werden, weil sie auf dem Gipfel in Kopenhagen und an anderer Stelle festgelegt worden sind. - Das ist das eine.

   Die andere und politisch für uns ungeheuer interessante Frage ist - darüber sollten wir diskutieren, wenn es um diese Frage geht -, ob es nicht im Sicherheitsinteresse Deutschlands und im Sicherheitsinteresse Europas liegt, dass das Experiment in der Türkei gelingt, eine Verbindung zwischen der islamischen Religion auf der einen und freiheitlichen Wertvorstellungen auf der anderen Seite herzustellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Stellen Sie sich einmal vor, welch ungeheurer Sicherheitszuwachs für Europa und auch für Deutschland darin liegen könnte. Deshalb haben wir jedes Interesse daran, dass die Maßnahmen, die die Türkei ernsthaft vor hat, auch wirklich gelingen. Das müssen wir im eigenen nationalen Interesse unterstützen. Das dürfen wir nicht diskreditieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben über Europa und in diesem Zusammenhang über das deutsch-französische Verhältnis gesprochen. In Ihrer Rede waren Töne enthalten, über die man wirklich ernsthaft reden muss, gerade auch deshalb, weil ich davon ausgehe, dass es in diesem Hause ein gemeinsames Interesse gibt, das deutsch-französische Verhältnis als Motor der europäischen Integration so eng wie irgend möglich zu halten.

   Ich erinnere an Debatten hier in diesem Hohen Hause, in denen mir vorgeworfen worden ist, ich täte zu wenig für dieses enge deutsch-französische Verhältnis.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Genau! - Joachim Poß (SPD): So ist es!)

Was jetzt? Was ist wirklich Ihre Position? Ist es nun richtig, diese Beziehung aus historischen, aber keineswegs nur aus historischen, sondern vor allen Dingen aus gegenwärtigen und zukünftigen Motiven heraus so eng wie möglich zu gestalten und zu halten, oder ist das nicht richtig? Kommen Sie doch nicht ständig damit, dass das deutsch-französische Verhältnis, wenn es so eng sei, andere, etwa die kleineren Mitgliedstaaten, gar bedrohe.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Es ist aber doch so!)

- Nein, es ist nicht so.

(Zuruf des Abg. Hans Michelbach (CDU/CSU))

- Sie haben ja wenig Ahnung von solchen Fragen, Herr Michelbach. Das verstehe ich auch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wer Erfahrung etwa in europäischen Räten gesammelt hat - ich könnte genügend Beispiele dafür nennen -, der hat immer wieder festgestellt, dass es gerade die kleineren Mitgliedsländer sind, die dann, wenn eine Einigung schwierig ist oder schwierig aussieht, sagen: Franzosen und Deutsche, nun legt etwas auf den Tisch, damit wir eine Orientierung haben.

   Es gibt auch die andere Seite - das gebe ich zu -, nämlich dass das Gefühl entsteht, dass eine Einigung zwischen uns vielleicht zu viel der Einigung an anderen vorbei ist.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Na bitte!)

Aber gerade Deutschland und Frankreich wissen - und verhalten sich in den Räten, in denen Politik gemacht wird, auch so -,

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Beim Stabilitätspakt!)

dass die deutsch-französische Beziehung so eng wie möglich sein muss, aber nicht exklusiv sein darf. Das ist die richtige und vernünftige Formel. Sie dient den beiden Ländern und sie dient Europa.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Weil Sie, Herr Glos, mit der Außenpolitik begonnen haben und ich ernsthaft darauf eingehen möchte, noch ein paar Bemerkungen zu dem, was jetzt in Europa vor uns liegt.

   Der erste Punkt: Wir befinden uns am Vorabend der Regierungskonferenz und ich denke, wir sind uns in dem Willen einig, dass diese Regierungskonferenz im Dezember erfolgreich abgeschlossen werden muss. Ich hoffe und erwarte im Übrigen auch, dass die italienische Präsidentschaft zu zentralen Fragen Vorschläge vorlegt, die kompromissfähig sind. Deutschland ist daran interessiert.

   Es muss aber auch klar sein: Wir verstehen den Wunsch vieler, insbesondere der kleineren und der neuen Mitgliedstaaten, in Brüssel präsent zu sein. Aber die Kommission, die Sie zu Recht Hüterin der Verträge genannt haben, muss arbeitsfähig bleiben. Auch dieser Gesichtspunkt muss in einem Kompromiss zum Ausdruck kommen. Sie muss arbeitsfähig bleiben, damit Europa politisch wirklich aktionsfähig bleibt. Das ist nicht allein Sache der Kommission, aber auch. Ob das mit 25 oder gar 31 Kommissaren gelingt, darüber könnten wir eine sehr rationale Debatte führen. Es wird jedenfalls schwierig sein, bei dieser Größenordnung ein effizientes Arbeiten zu gewährleisten.

Der zweite Punkt betrifft die Stimmengewichtung. Ich denke, dass wir sehen müssen, dass das Prinzip „ein Staat, eine Stimme“ zu den Selbstverständlichkeiten der europäischen Einigung gehört. In dem Kompromiss muss aber auch klar werden, dass man nicht so vorgehen kann, 82 Millionen Deutschen 29 Stimmen zu geben und etwa 80 Millionen Polen und Spaniern - so viele sind es zusammengenommen - 54 Stimmen. Das steht in keinem Verhältnis zueinander und ist nicht dem Grundsatz zuträglich, dass alle Bürgerinnen und Bürgern Europas gleich viel zählen. Deswegen erwarte ich auch in diesem Anliegen von denjenigen Kompromissbereitschaft, die es angeht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU))

   Im Zusammenhang mit der Debatte, welche innenpolitischen Themen uns beschäftigen - darauf komme ich gleich zu sprechen -, möchte ich noch Folgendes erwähnen: Die Kommission hatte ursprünglich angekündigt, die finanzielle Vorausschau noch im November und Dezember vorlegen zu wollen. Diesen Termin hat man mit Rücksicht auf die Regierungskonferenz auf Januar nächsten Jahres verschoben; das verstehe ich. Nach dem, was man so hört, scheint es Wille der Kommission und bedauerlicherweise auch einer Haushaltskommissarin zu sein, die so genannte Eigenmittelobergrenze auszuschöpfen. Das würde für Deutschland jährlich 7 Milliarden Euro netto mehr bedeuten. Ich hoffe, dass wir uns alle miteinander einig sind, dass das nicht angehen kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Man darf, Herr Glos, allerdings erwarten, dass die Kriterien, die die Kommission an andere anlegt, auch für die Kommission selbst gelten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Erwartung ist nicht ganz unzulässig. Wir werden über die Frage der Eigenmittel der Kommission hier wie auch mit der Kommission selbst also noch interessante Debatten zu führen haben.

   Man kann übrigens doch nun wirklich nicht so tun, als sei die Kommission in allem, was sie macht, sakrosankt.

(Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki (SPD))

Bei der eigentlichen Auseinandersetzung über die Haushalts- und Finanzpolitik, die wir auch hier zu führen haben, muss die Frage geklärt werden, ob das, was die Kommission vorgeschlagen hat, ökonomisch vernünftig ist oder nicht. Darüber muss man in diesem Land doch zumindest reden können und darf nicht sofort den Einwand zu hören bekommen, darüber dürfe man nicht sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht Mode werden, wie gelegentlich berichtet wird, dass die Vorschläge der Kommission so akzeptiert werden müssten, also ganz nach dem Motto: Friss, Vogel, oder stirb. Denn man muss sich nur einmal vor Augen führen, was das auch für andere Bereiche bedeuten würde.

   Mir ist vorgeworfen worden, ich hätte zu wenig gegen die unsinnigen Vorschläge zur Chemierichtlinie getan, die auf dem Tisch liegen. Diese Vorschläge kamen von der Kommission. Wir haben sie verändert, allerdings noch nicht weit genug. Deswegen werden wir weiter streiten müssen. In dieser Frage gibt es also einen Streit zwischen der Kommission und uns, bei dem es uns darum geht, deutsche Interessen und vor allem auch die Interessen der Industrie in Deutschland zu vertreten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Es geht um geltendes Recht!)

   Wir haben auch über die Übernahmerichtlinie diskutiert und sie dabei Schritt für Schritt verändert. Es war eine harte Auseinandersetzung mit der Kommission, aber wir haben diese Richtlinie nun doch so gestaltet, dass sie für Deutschland erträglich ist.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Hier geht es aber um einen Vertrag!)

Allerdings wurde uns wieder vorgeworfen, wir würden den liberalen Vorstellungen von Herrn Bolkestein widersprechen, was auf gar keinen Fall gehe.

   Auch das VW-Gesetz ist ein wunderbares Beispiel. Wir sind von der jetzigen niedersächsischen Landesregierung aufgefordert worden, der Kommission bei der Veränderung des VW-Gesetzes unbedingt in die Arme zu fallen. Dazu musste ich nicht aufgefordert werden; denn ich war immer der Meinung, dass das Gesetz in Ordnung ist. Es ist übrigens sehr interessant: Es war der niedersächsische Wirtschaftsminister, der hier Eiertänze aufgeführt und gesagt hat, im Sinne des deutschen Liberalismus müsse das VW-Gesetz abgeschafft werden. Jetzt verkündet er aber, eine Abschaffung bedeute das Ende des Unternehmens.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist wirklich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus.

   Diese Beispiele erwähne ich nur, um deutlich zu machen, dass eine Auseinandersetzung mit der Kommission über Sachfragen nicht sakrosankt sein darf.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Es geht darum, dass das ein Vertrag ist!)

Damit bin ich bei dem Punkt, um den es hier schwerpunktmäßig geht und gehen sollte: Wie sieht die Situation aus, in der wir uns gegenwärtig befinden? Ich stimme Ihnen durchaus zu, dass es in Deutschland noch immer Besorgnis erregende Anzeichen gibt, was die ökonomische Entwicklung angeht. Das ist keine Frage. Es wäre doch falsch, etwas anderes zu sagen. Die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch. Sie liegt zwar nicht in der Größenordnung, die einige - aus welchen Gründen auch immer - prognostiziert haben, aber sie ist viel zu hoch. Es gibt zu wenige Erwerbstätige - gar keine Frage. Daneben gibt es nicht genügend Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Wir streiten doch gar nicht darüber, dass das keine guten Anzeichen sind.

   Auf der anderen Seite ist Deutschland Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren ist der Anteil am Weltmarkthandel real, sowohl in Dollarpreisen, als auch bereinigt um die Dollar-Euro-Relation, von 9 auf 10,5 Prozent gestiegen. Ich behaupte nicht, dass das durch die Politik der Bundesregierung verursacht worden ist. Sie können aber auch nicht behaupten, dass das keine erzielten Ergebnisse wären. Ich denke, deswegen stellt sich die Lage etwas differenzierter dar, als Sie sie mit Ihrer ausschließlichen Schwarzmalerei zeichnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, im letzten Quartal gab es zwar noch nicht zureichendes Wachstum, aber es gab Wachstum. Das wird sich in diesem Quartal fortsetzen. Die Industrieproduktion zieht an und die Ausgaben für Ausrüstungsinvestitionen erhöhen sich. Warum erwähne ich das und sage ich, dass es ein differenziertes Bild der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu zeichnen gibt? Ich erwähne das doch aus einem einzigen Grund: Ich möchte, dass wir miteinander dafür sorgen, dass die positiven Aspekte der ökonomischen Entwicklung gestützt und die negativen überwunden werden. Das ist doch die Aufgabe, die wir gemeinsam haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Unter dem Gesichtspunkt, die positiven Anzeichen der augenblicklichen Lage zu stützen, zu entwickeln und weiterzutreiben und die negativen zu minimieren, haben wir zu bewerten, was getan werden muss. Man kann ja darüber streiten. Wir sollten aber vielleicht einig darin werden, dass das der Maßstab ist, an dem Ihre und unsere Vorschläge gemessen werden müssen. Stützen wir die Zeichen für den Aufschwung in Deutschland und minimieren wir die negativen Anzeichen oder tun wir es umgekehrt? Das ist der Maßstab.

   Wenn wir darüber einig sind, dann müssen wir jetzt darüber reden, was im Zusammenhang mit dem Haushalt, seinen Begleitgesetzen und der Agenda 2010 ins Werk gesetzt worden ist. Wenn wir die positiven Anzeichen in Deutschland und damit auch in Europa - der Anteil Deutschlands an der europäischen Wirtschaft beträgt 30 Prozent - stützen wollen, dann brauchen wir einen Dreiklang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir müssen die Konsolidierung weitertreiben - gar keine Frage.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Das tun Sie aber nicht!)

Wir müssen zugleich die Wachstumsimpulse stützen, die sich aus dem Wirtschaftskreislauf ergeben. Schließlich brauchen wir Ressourcen für zukünftige Aufgaben. Das sind unsere drei Ziele.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will nun erläutern, warum ich der Auffassung bin, dass wir diesen drei Zielen mit der Politik, die wir betreiben, im Inneren, aber auch in der europäischen Politik nahe kommen. Was heißt das? Wir brechen die Konsolidierung doch nicht ab.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sie machen doch mehr Schulden! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die Ausgaben explodieren!)

- Nein. Wieso? Mit den Haushaltsbegleitgesetzen und dem Haushalt wird das strukturelle Defizit in 2004 um 0,6 Prozent zurückgeführt; das ist auch von der Kommission unbestritten.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Und die Neuverschuldung gesenkt?)

In 2005 wird das strukturelle Defizit um 0,5 Prozent zurückgeführt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Traumtänzer! - Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Na, na, na!)

Die Kommission - und offenbar auch Sie - sagt jetzt, dass das nicht reicht, wir müssten mehr tun. Man muss sich doch fragen, ob die Position der Kommission - und auch Ihre - richtig ist. Wir brauchen ja nicht nur das Weiterführen der Konsolidierung, sondern wir brauchen auch das Stimulieren von Wachstum, um die positiven Anzeichen zu befördern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Was bedeutet in der jetzigen Situation das Stimulieren von Wachstum? Wir hätten die Forderungen der Kommission locker erfüllen können, wenn wir darauf verzichtet hätten, die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vorzuziehen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Auch das stimmt nicht!)

Der Streit geht jetzt allein um die Frage - ich bin sehr gespannt, was Sie darauf antworten werden -: Durften wir um den Preis des Nichtvorziehens der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 die Forderungen der Kommission erfüllen oder durften wir das nicht? Das ist die entscheidende Frage.

   Wir haben gesagt: Wenn wir Wachstumsimpulse, die es in unserer Volkswirtschaft gibt, verstärken wollen, wenn wir die Aufschwungtendenzen, die in unserer Volkswirtschaft deutlich werden, stützen wollen, um die negativen Tendenzen zu minimieren, dann müssen wir ran und sagen: Wir ziehen die dritte Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004 vor. Das ist der Zusammenhang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wer mit der Kommission marschieren will - das können Sie gerne tun -, der muss sich klar machen: Entweder er will die dritte Steuerreformstufe nicht vorziehen; dann soll er das öffentlich sagen. Oder er muss konkret einen Vorschlag machen, wie man das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 anders finanzieren kann, als wir es im Haushalt und mit den Haushaltsbegleitgesetzen vorgeschlagen haben. Alles andere ist eine Debatte um Kinkerlitzchen, keine seriöse ökonomische Diskussion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Eine erbärmliche Rede! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das reicht noch nicht mal für einen Ortsverein!)

   Wir haben uns in der jetzigen Situation entschieden: Um die positiven Anzeichen zu unterstützen, ziehen wir die dritte Steuerreformstufe vor und erreichen damit im nächsten Jahr ein erhöhtes Wachstum und als Folge von mehr Wachstum mehr Arbeitsplätze.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Und mehr Schulden!)

Das ist der Zusammenhang.

   Ich habe gesagt: Die Konsolidierung darf nicht aufgegeben werden. Aber in einer konjunkturellen Situation wie dieser darf man doch wohl darüber diskutieren und entsprechende Entscheidungen treffen, weil die Balance zwischen Konsolidierung auf der einen Seite und Stimulierung von Wachstum auf der anderen Seite in konjunkturschwächeren Zeiten anders gefunden werden muss als in konjunkturstärkeren Zeiten. Das führt dazu, dass man den Stabilitäts- und Wachstumspakt - er heißt schließlich nicht nur Stabilitätspakt -

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Eben!)

in diesen Zeiten anders interpretieren muss, als es die Mehrheit der Kommission getan hat. Um diesen Punkt geht es.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Übrigens bin nicht ich es gewesen, der den Stabilitätspakt so interpretiert, wie Sie es tun wollen, und ihn dumm genannt hat. Das war doch Ihr Parteifreund und Präsident der Europäischen Kommission, Herr Prodi. Ich halte den Pakt nicht für dumm. Ich halte ihn für interpretationsnötig, aber auch -fähig. Deswegen haben wir uns entschieden, eine vernünftige Balance zwischen der Weiterführung der Konsolidierung und dem Setzen von Wachstumsimpulsen herzustellen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er eine ökonomisch vernünftige Lösung durchgesetzt hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Um auch etwas zu den Vorwürfen zu sagen: Die Einwände, die immer gegen unsere Konsolidierungspolitik erhoben wurden, sollten Sie nicht zu lautstark verkünden. Die gesamte ökonomische Debatte, die von denen angeregt wurde, die Einwände erhoben haben - egal ob Niederländer oder Skandinavier -, ist eine Debatte über Unterlassungen in den 90er-Jahren. Ich will mich damit gar nicht lange aufhalten. Aber es gab Gründe dafür, dass die Maßnahmen zur Konsolidierung, die zum Beispiel die Schweden und andere kleinere Staaten in den 90er-Jahren vorgenommen haben, in Deutschland in den 90er-Jahren nicht durchgeführt worden sind. Damals regierten nicht wir. Auch das muss man einmal sehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich ist es schwieriger, in einer konjunkturell schlechteren Phase das nachzuholen, was in den guten Zeiten versäumt worden ist. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen, dass dies von Ihnen und nicht von uns versäumt worden ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Konsolidierung wird in der Größenordnung weitergeführt, die in jenem Rat vereinbart worden ist, der darüber nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu entscheiden hat. Dort ist definitiv gesagt worden: Wir sind zu der Anstrengung bereit, das Defizit in den beiden folgenden Jahren um 0,6 bzw. 0,5 Prozent zu senken.

Das zeigt doch, dass Deutschland die Konsolidierung nicht aufgegeben hat, aber im Interesse nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Volkswirtschaft darauf bestehen muss, dass Wachstum nicht hintenangestellt wird; denn wir brauchen es.

   Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang gehört zum Dritten, dass Konsolidierung auch die Durchsetzung struktureller Reformen in den Systemen der sozialen Sicherung bedeutet. Sie, Herr Glos, haben Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass etliches davon noch nicht durchgesetzt ist. Dann müssen wir einmal ganz ernsthaft darüber reden, wie es nun weitergehen soll.

   Wenn Sie auf der einen Seite sagen, die Sparquote sei zu hoch, Sie sähen eine Menge davon lieber im Konsum, dann gebe ich Ihnen völlig Recht. Das ist auch meine Position. Aber warum ist sie denn so hoch?

(Zurufe von der CDU/CSU)

- Wir sollten nun nicht alles beweinen. Es gibt Länder, die gerne eine solche Sparquote hätten. Auch das muss man sehen. Sie ist so hoch, dass mehr in den Konsum gehen könnte. Aber wir sollten an diesem Punkt keine amerikanischen Verhältnisse bekommen; auch in dieser Frage sind wir uns vielleicht einig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber warum ist die Sparquote so hoch? Sie sagen: Das liegt an der Regierung -

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ja!)

weil alles an der Regierung liegt. Demnächst werden Sie sagen, auch das Wetter liege an der Regierung.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Im Moment ginge es ja sogar.

   Aber die Sparquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil wir mit dem, was wir jetzt im Vermittlungsausschuss miteinander hinbekommen müssen, nicht zu Stuhle gekommen sind. Aber das liegt nicht an der Bundesregierung.

(Zuruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU))

- Nein, das liegt nicht an der Koalition.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ach so!)

Es kommt auf die Gesetze an, die die Agenda 2010 umsetzen sollen.

   Übrigens: Wenn Sie einmal im Ausland sein sollten, dann werden Sie merken, welche positive Einschätzung Deutschlands sich mit der Agenda 2010 verbindet - ohne Ausnahme: ob in Amerika, ob in Europa oder in Asien.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb sage ich: Wir müssen auch im Vermittlungsausschuss dazu kommen, dass die Agenda-Gesetze durchgesetzt werden. Ich weiß natürlich, dass das nur im Kompromisswege möglich ist. Ich bin zu Kompromissen auch durchaus bereit. Aber sie müssen sachgerecht sein. Es muss klar sein: Vermittelt werden kann im Vermittlungsausschuss über die vorliegenden Gesetze. Das ist eine ganze Menge. Wenn wir dort zu Kompromissen kommen - wir sind durchaus dazu bereit - dann haben wir Verantwortung für unser Land wahrgenommen.

   Meine Damen und Herren, Sie sagen: Wir wollen einen großzügigen Subventionsabbau.

(Zurufe von der CDU/CSU: Kohle!)

- Dazu komme ich gleich. - Zum Beispiel bei der Eigenheimzulage wird es ernst.

(Zuruf von der CDU/CSU: Steinkohle!)

Da wissen Sie nicht einmal, ob Sie das für richtig halten dürfen, was Koch und Steinbrück vorgeschlagen haben.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Quatsch! - Volker Kauder (CDU/CSU): Was für einen Unsinn erzählen Sie!)

Das sind 4 Prozent Reduzierung jedes Jahr. Danach wäre sie in 25 Jahren weg. Kommen Sie zu Stuhle und sagen Sie: Damit sind Fehlallokationen verbunden; das ändern wir. - Wir können gerne über die Größenordnung streiten, aber sie muss substanziell sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein Zweites. Man kann über die Frage, wie man mit der Pendlerpauschale umgeht, diskutieren. Das ist auch bei uns geschehen. Aber Subventionsabbau zu fordern und die Pendlerpauschale davon auszuschließen ist keine Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   So geht es weiter. Es gibt bisher keinen einzigen substanziellen Vorschlag. Das müssen Sie ändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind zum Kompromiss bereit. Aber das geht nur, wenn auch Sie einmal etwas sagen und nicht immer nur ablehnen.

   Zur Kohle. Gucken Sie sich einmal an, was da gemacht worden ist! Gucken Sie sich einmal an, welcher Abbau bis 2012 wirklich vorgesehen ist! Wir fördern zurzeit - das muss man den Menschen einmal erklären - jedes Jahr 28 Millionen Tonnen Steinkohle. Das tun 36 000 Bergleute.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wie war das mit den Grünen?)

- Bei den Grünen in NRW war das ganz einfach. In der Regierung haben sie gesagt: Wir wollen bis zum Jahre 2012 auf 18 Millionen Tonnen herunter. Ich habe selber mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmen und mit den betroffenen Landesregierungen verhandelt und gesagt: Lasst uns einen ernsthaften Versuch machen, beim Subventionsabbau ein Stück weiter zu gehen. Übrigens betrifft das nicht nur die nordrhein-westfälische Landesregierung, sondern auch die Landesregierung im Saarland, wie Sie vielleicht wissen. Das wird bedeuten, dass wir im Jahr 2012, unterstellt, die Kommission wird dies akzeptieren, noch 16 Millionen Tonnen fördern.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Das muss sie akzeptieren!)

- Bleiben Sie doch einen Moment ernsthaft. Hier geht es um Lebensschicksale von Menschen.

(Beifall bei der SPD)

Das werden noch 20 000 Beschäftigte tun.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Grünen sind sprachlos!)

Wir reduzieren also die Förderung auf 16 Millionen Tonnen und die Zahl der Beschäftigten um mindestens 16 000 in dieser Zeit. Wir tun es - ich finde, wenn wir die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigen lassen wollen, müssen wir es tun - mutmaßlich, wenn alles gut geht, ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wir schaffen den Abbau von Subventionen in einem Maße, das, wie ich finde, sozial vertretbar ist. Das ist der Zusammenhang, über den geredet werden muss.

(Beifall bei der SPD)

Die Maßnahmen muten den betroffenen Bergleuten in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, den Landesregierungen und den Unternehmen einiges zu. Es ist ein vernünftiger Kompromiss, der gefunden worden ist. Sie sollten aufhören, ihn zu diskreditieren. Das zu den Kohlesubventionen.

(Beifall bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Meinen Sie damit die Grünen?)

Es geht nicht um Jubel, sondern um vernünftige Entscheidungen. Diese Entscheidung entspricht dem, was ich Ihnen eben gesagt habe. Sie werden sehen, dass diese Entscheidung auch getroffen wird. Seien Sie da mal ganz ruhig. Sie können dem gerne zustimmen, weil es im Sinne deutscher Politik vernünftig ist, anstatt nur schadenfroh auf den einen oder anderen zu schauen.

(Beifall bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Das müssen Sie den Grünen sagen!)

Ich bleibe bei der Agenda 2010. Ich hoffe, es wird deutlich, dass wir die Agenda 2010 auch aus dem dritten Grund brauchen, den ich genannt habe. Mit dem Setzen von Wachstumsimpulsen, ohne die Konsolidierung aufzugeben, und mit den Strukturreformen, die sich mit dem Begriff der Agenda 2010 verbinden, bringen wir nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung in Ordnung; nein, wir schaffen mit diesem Prozess auch etwas anderes: Wir machen Ressourcen für die wesentlichen Zukunftsaufgaben frei.

   Diese wesentlichen Zukunftsaufgaben lassen sich in drei Bereichen beschreiben. Erstens. Wir machen Ressourcen für Investitionen in Bildung und Ausbildung frei. Lassen Sie uns einen Moment über Ausbildung reden. Wir alle sind der Auffassung, dass das duale System zu den Glücksfällen in Deutschland gehört hat und weiter gehören kann, wenn es funktioniert.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Deswegen macht ihr es kaputt!)

Es funktioniert aber dann und nur dann, wenn nicht nur einzelne Unternehmen, sondern alle Unternehmen begreifen, dass es staatsbürgerliche Pflicht ist, Ausbildungsplätze in den Betrieben bereitzustellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, es ist auch klar geworden, dass sowohl der Wirtschaftsminister als auch ich, übrigens auch die SPD-Fraktion, den festen Willen haben, solange es eben geht, auf Freiwilligkeit und tarifvertragliche Regelungen, die es in Branchen gibt, zu setzen. Aber wir können die jungen Leute nicht im Stich lassen, wenn alles versagt, was es an freiwilligen Möglichkeiten gibt. Diejenigen, die die Pflicht haben, Ausbildungsplätze bereitzustellen, haben es doch in der Hand, diese Pflicht zu erfüllen. Ich bitte darum, dass sie erfüllt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Niemand will leichtfertig Druck ausüben. Jeder setzt auf Freiwilligkeit.

Wir müssen also in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Entwicklung investieren. In diesem Zusammenhang will ich etwas zu einer Äußerung des Bundesrechnungshofs sagen, die ich heute gelesen habe. Er sagte: Ihr müsst sehen - das ist ja keine neue Erfahrung - , ob ihr die Mittel effizienter einsetzen könnt. - Diesen Hinweis nehme ich gerne entgegen. Über diese Frage wird mit dem Bundesrechnungshof zu diskutieren sein. Denn wir haben doch alle ein Interesse daran, dass die von uns eingesetzten und aufgestockten Forschungsmittel möglichst effizient verwendet werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Kritik berechtigt ist, dann müssen die Kritikpunkte abgestellt werden. Das ist doch keine Frage. Insofern weiß ich nicht, warum man sich darüber aufregt.

   Drittens müssen wir zusätzliche Mittel für die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten einsetzen. Ich weiß, dass dafür nicht in erster Linie der Bund zuständig ist. Aber ich denke, wir bringen aus guten Gründen beträchtliche Mittel für diesen Bereich zugunsten der Kommunen und Länder auf; denn wir wollen, dass auf diese Weise die Ganztagsbetreuung ausgebaut wird, um beim Zugang zu den Bildungsinstitutionen in unserem Land den Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern Gerechtigkeit zu bieten. Wir wollen damit aber auch erreichen, dass Frauen besser als in der Vergangenheit und in der Gegenwart Familie und Beruf miteinander vereinbaren können. Das ist ein wichtiger Aspekt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Kurzum: Ich glaube, es ist deutlich geworden,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein!)

dass wir hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung in Deutschland an einer Weggabelung stehen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ja!)

Wenn die Reformgesetze zur Agenda 2010 - von mir aus in Form eines Kompromisses - beschlossen werden und die nächste Stufe der Steuerreform vorgezogen wird, dann können wir den Weg wählen, der in Deutschland zu einem Aufschwung führt. Die Anzeichen sprechen dafür.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ihr seid gar nicht handlungsfähig!)

   Eine Blockadehaltung - von der Sie Gott sei Dank nicht gesprochen haben, Herr Glos - oder die Vermischung mit unsachlichen Gesichtspunkten könnte zu einem Weg führen, der einen negativen Trend bewirkt. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Ich bin angesichts Ihrer Mehrheit im Bundesrat fest davon überzeugt, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt, den positiven Weg zu gehen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): „Ich habe fertig“!)

   Ich will das folgendermaßen beschreiben, Frau Merkel. Sie haben angekündigt, dass Sie eine Patriotismusdebatte führen wollen. Ich finde, Sie sollten eines bedenken: Sie haben die Chance, zu beweisen, dass Sie keine Debatte führen müssen, sondern dass Sie Patrioten sind.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

Patrioten sind Sie nämlich durch Ihr Handeln dann und nur dann, wenn Sie dabei mithelfen, dass der Weg für den Aufschwung in Deutschland frei wird. Das ist die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Das ist die Erwartung unseres Volkes. Die müssen wir erfüllen.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt fünf Jahre im Amt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schlimm genug!)

Das Ergebnis Ihrer fünfjährigen Amtszeit ist in den vergangenen Wochen schlaglichtartig veröffentlicht worden: die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Neuverschuldung und die schlimmste Pleitewelle seit Gründung der Republik. Wir haben zurzeit ein Nullwachstum. Beim Wachstum innerhalb Europas stehen wir auf dem letzten Platz. Erstmalig seit Gründung der Republik gibt es eine reale Rentenkürzung. Jetzt haben Sie mit Ihrer Politik auch noch den Stabilitätspakt faktisch gekündigt. Wenn das, was Sie hier eben erzählt haben, alles zur Lage der Nation war, dann leiden Sie unter einem für unser Land nicht erträglichen Realitätsverlust.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie appellieren an das patriotische Bewusstsein der Opposition. Das ist ein gefälliger Appell. Ich stelle Ihnen, Herr Bundeskanzler, nur zwei Fragen: Wo war denn Ihr persönlicher Patriotismus als Kanzlerkandidat der SPD und als niedersächsischer Ministerpräsident, als Sie zusammen mit Oskar Lafontaine das niedrigere, einfachere und gerechtere Steuersystem blockiert haben?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wo war der Patriotismus von Gerhard Schröder, als Sie einen schäbigen Rentenwahlkampf geführt haben, um an die Macht zu kommen? Mittlerweile haben Sie Ihren Fehler eingestehen müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in einem Nebensatz, auf die Sparquote bezogen, eine bemerkenswerte Erklärung abgegeben; das war eine wirklich freudsche Leistung. Sie haben gesagt, Sie wollten keine amerikanischen Verhältnisse. Dies ist besonders an dem Tag ein spannender Satz, an dem in den USA ein Wirtschaftswachstum von 8,2 Prozent festgestellt worden ist, während Sie bei null sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In Wahrheit sehnen Sie sich doch die amerikanischen Verhältnisse beim Wirtschaftswachstum herbei. Die Politik, zu der Sie in Deutschland nicht bereit sind, weil Sie immer noch auf die Neidgesellschaft anstatt auf die marktwirtschaftliche Erneuerung setzen,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unsinn!)

wollen Sie im Windschatten eines amerikanischen Wirtschaftswachstums auch in Deutschland durchbringen. Sie sind der Profiteur der notwendigen Strukturmaßnahmen in den Vereinigten Staaten von Amerika und hoffen darauf, dass die amerikanische Wachstumslokomotive Sie und den kaputten Wagen dieser Regierung ein Stückchen mitzieht. Das ist die wahre Lage in diesem Lande, meine sehr geehrten Damen und Herren.

   Nach fünf Jahren Rot-Grün muss man bedauerlicherweise feststellen: Mit dieser Regierung und mit Ihrer Politik führen Sie unser Land in die wirtschaftliche Katastrophe. Dies ist viel zu ernst, um darüber hier mit einer L’art-pour-l'art-Rede hinwegzugehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Kassandra ist ja nichts gegen Sie!)

   Sehr bemerkenswert sind übrigens auch Ihre Vergleiche hinsichtlich dessen, was uns Politikerinnen und Politiker in den letzten 24 Stunden in diesem Haus und in ganz Europa beschäftigt hat. Sie bringen hier allen Ernstes die massive Vertragsverletzung, also die Grundlage unseres Euros, mit der Chemikalienrichtlinie in einen Zusammenhang. Sie erklären, wenn Kritik an dem angebracht werde, was von Brüssel im Hinblick auf das VW-Gesetz gefordert wird, dann dürften Sie da auch widersprechen. Die Opposition ist selbstverständlich bereit, mit Ihnen über manches, was Brüssel vorlegt, kritisch und gelegentlich auch in Gegnerschaft zu Brüssel zu reden. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Sie sich über die Vorlage einer Richtlinie mit Brüssel auseinander setzen oder ob Sie die Grundlage des Euros in Frage stellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist Unsinn!)

Wer das in einem Atemzug nennt, hat meiner Ansicht nach die Dimension der Entscheidung nicht erkannt.

   Herr Kollege Glos hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die kleinen Länder die Sorge haben, von den großen Ländern dominiert zu werden. Sie sagen, das sei alles Unfug. Die Achse Paris-Berlin, die übrigens europapolitisch äußerst gefährlich ist,

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie ist eine Walze geworden!)

in Gegnerschaft zu den kleinen Staaten in Europa aufzubauen

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das macht doch keiner! Haben Sie eben nicht zugehört?)

wird unter dem Strich die Europäischen Union nicht voranbringen, sondern eher auseinander dividieren. Auch diese Folge Ihrer Politik ist zu bedenken.

   Der Finanzminister der Niederlande, Gerrit Zalm, sagte dazu, der Pakt funktioniere nicht, und fügte - auf die europäische Diskussion bezogen - wörtlich hinzu:

Viele Staaten wollen ihr Schicksal nicht in die Hände der großen Staaten legen.

Das ist der Preis für Ihre Politik. Damit werden wir uns noch lange beschäftigen müssen. Herr Eichel, Ihre Politik in Brüssel hat Ihnen vielleicht ein bisschen Luft in der innerdeutschen Diskussion beschert. Aber Sie haben die Axt an die Wurzel der europäischen Einigung gelegt. Wer nämlich die Idee der Stabilität der europäischen Währung infrage stellt, der stellt in Wahrheit die Idee der Europäischen Union infrage; denn er riskiert, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu verlieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Das ist unverantwortlich und unhistorisch. Wenn schon die Regierung des Landes, das die Stabilitätskriterien erfunden und durchgesetzt hat - die Sozialdemokraten haben damals Herrn Waigel und dem Kollegen Rexrodt vorgehalten, alles müsse noch viel strenger sein, damit die Stabilität garantiert werden könne -, die Stabilitätskriterien infrage stellt, dann ist das eine Einladung an die Regierungen aller anderen Länder Europas, es ihr gleich zu tun. Dem jetzigen Präzedenzfall werden viele andere folgen. Wie wollen Sie den osteuropäischen Beitrittsländern erklären, dass sie die Verträge betreffend die Beitrittsbedingungen einhalten müssen, wenn Sie selbst zu den Vertragsbrechern zählen?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Das Bemerkenswerte ist, wie Sie über die Probleme hinweggehen. Das überrascht selbst mich nach einigen Jahren Parlamentsmitgliedschaft. Angesichts der Lustlosigkeit, mit der Sie in der Generaldebatte das Wort ergriffen haben,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist ja unglaublich! Das ist nicht zu fassen!)

hat man ein wenig den Eindruck, dass Sie nach der Devise handeln: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt es sich gänzlich ungeniert!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Hauptsache es bleibt etwas hängen! Typisch! Eine Verunglimpfung ist das!)

Es ist interessant, zu beobachten, wie die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Koalition darauf reagieren. Herr Kuhn stellt die Frage, wo denn unsere konkreten Vorschläge seien.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr richtig! - Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Westerwelle, was sagen Sie dazu?)

Die Fraktion der Freien Demokraten hat über 200 Anträge auf konkrete Einsparungen im Haushaltsausschuss eingebracht. Sie haben aber über 200-mal roboterhaft die Hand gehoben, um das niederzustimmen, was unser Land im Hinblick auf eine echte Sparpolitik voranbringen könnte. Werfen Sie jedenfalls der liberalen Fraktion nicht vor, sie habe keine konkreten Gegenvorschläge gemacht, die auf Heller und Pfennig, auf Cent und Euro durchgerechnet worden seien. Wir haben vorgearbeitet. In Wahrheit wollen Sie unsere Vorschläge nicht annehmen, weil Sie die Kraft zum Sparen längst verloren haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Was ist denn aus Ihrer Politik, die auf der Agenda 2010 basiert, geworden? Daraus ist ein weich gekochtes Reformprogramm geworden, das den Namen nicht mehr verdient.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk?

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Bitte, gern.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Westerwelle, Sie haben uns auf die vielen Anträge hingewiesen, die Ihre Fraktion im Haushaltsausschuss eingebracht hat, und haben uns vorgeworfen, dass uns die Kraft zum Sparen fehle. Ist Ihnen bekannt, dass Ihre Fraktion Ausgabenkürzungen vorgeschlagen hat, um an anderer Stelle Ausgabenerhöhungen vornehmen zu können, dass Sie also nichts zusätzlich einsparen wollten und dass die Koalition über einige Anträge der FDP-Fraktion, die mit Augenmaß formuliert waren, beraten und sie auch angenommen hat? Stimmen Sie vor diesem Hintergrund mit mir überein, dass der gestrige Geschäftsordnungsantrag der FDP, die Haushaltsberatungen auszusetzen, ziemlicher Humbug war?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Kollegin, bleiben Sie noch einen Augenblick stehen! Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort. Ich habe noch nicht einmal angefangen.

   Mir ist vor allen Dingen eines bekannt - es handelt sich um eine präzise Zahl -: Sie sind sage und schreibe drei von über 200 konkreten Einsparvorschlägen der FDP gefolgt. Das ist doch die Krux. Die Finanzpolitik eines Finanzministers und einer rot-grünen Bundesregierung, die Deutschland allen Ernstes erklären wollen, es gebe keine Luft mehr für Einsparungen, obwohl sie gleichzeitig Beifall klatschen, wenn der Bundeskanzler 16 Milliarden Euro Steinkohlesubventionen zusagt, hat etwas mit der Verlängerung von Vergangenheit, aber nichts mit Zukunftsorientierung zu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das war keine Antwort auf die Frage!)

Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

   Dass Sie bei der Forschung kürzen und bei der Steinkohle munter weiter bis ins Jahr 2012 subventionieren wollen, das ist übrigens auch ein bildungs- und forschungspolitischer Skandal.

(Beifall bei der FDP)

Ich wundere mich, dass Sie als Parlamentarier das alles schlucken. Was ist aus Ihnen geworden? Der Etat von Frau Bulmahn wird um 27 Millionen Euro gekürzt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben dieser Bundesregierung für die Öffentlichkeitsarbeit um 21,5 Millionen Euro. Herr Finanzminister, Sie sollten Ihren Ministern etwas weniger Geld für die Propaganda und etwas mehr Geld für die Forschung, die Bildung und die Ausbildung der jungen Generation in die Hand geben. Davon hätte Deutschland mehr als von dieser versteckten parteipolitischen Werbung, die Sie betreiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wir reden in diesem Lande nicht über das, worüber wir reden müssten. Wir müssten zum Beispiel darüber reden, wie wir das verkrustete Flächentarifvertragsrecht aufbrechen können.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Die alte Leier!)

Doch dazu kommt es nicht. Helmut Schmidt und übrigens auch manche anderen Sozialdemokraten haben entsprechende Erkenntnisse.

(Johannes Kahrs (SPD): Bei dem Thema sollten Sie sich zurückhalten!)

Sie haben längst erkannt, dass das Flächentarifvertragskartell in Wahrheit eine Belastung für den Mittelstand ist und damit den Arbeitsplätzen und den Arbeitsplatzchancen in Deutschland sehr stark schadet. Warum wehren Sie sich dagegen, dass das gilt, worauf sich 75 Prozent der Beschäftigten eines Betriebes mit ihrer Unternehmensführung nach einer geheimen Abstimmung verständigt haben? Warum haben Sie nicht den Mut, die Funktionäre der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zu entmachten und etwas mehr Verantwortung in die Betriebe zurückzugeben?

(Johannes Kahrs (SPD): Gucken Sie uns zumindest an, wenn Sie mit uns reden!)

Die Antwort ist ganz einfach: 75 Prozent der Abgeordneten der SPD stammen aus den Gewerkschaften.

(Johannes Kahrs (SPD): Da sind wir übrigens stolz drauf!)

Das ist das eigentliche Problem in diesem Lande. Wir werden eben nicht mehr repräsentativ regiert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie hätten Vorschläge zum Kündigungsschutz machen müssen. Ich kann mich sehr genau an das erinnern, was der Bundeswirtschaftsminister Clement dazu gesagt hat. Es wurde alles einkassiert. Über den Schwellenwert wird nicht mehr gesprochen. Man begreift beispielsweise nicht, dass aus Überstunden, also aus latenten Beschäftigungsverhältnissen, konkrete Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Zu solchen Arbeitsplätzen kommt es allerdings nur dann, wenn ein Unternehmer nach Nachfragespitzen die Beschäftigtenzahl bei schlechterer Auftragslage zurückführen kann. Ein Schwellenwert von 20 im Kündigungsschutzgesetz wäre richtig. Freigestellte Betriebsräte sollte es nur in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten geben.

   Sie sprechen über den Wirtschaftsaufschwung in den USA und in anderen Ländern Europas. Dabei vergessen Sie, dass man dort vor allen Dingen Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchgesetzt hat. Deswegen werden wir von der Opposition darauf achten und darauf dringen, dass die notwendige solide Finanzierung einer Steuersenkung mit echten Strukturmaßnahmen am Arbeitsmarkt gekoppelt wird, weil nur so neue Arbeitsplätze entstehen können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie haben keinen Ton zu den Zumutbarkeitskriterien gesagt, obwohl gerade Änderungen auf diesem Gebiet beschlossen worden sind. Millionen Menschen in Deutschland werden untertariflich bezahlt. Dank Ihrer Politik ist es für einen langjährigen Sozialhilfeempfänger unzumutbar, eine untertariflich bezahlte Arbeit anzunehmen. Wer redet, wenn es um Zumutbarkeit geht, eigentlich einmal über die Steuern und Abgaben eines Familienvaters, der hart arbeiten muss?

Jede legale Arbeit ist grundsätzlich besser als der langjährige Bezug von Sozialhilfe. Das müsste Ihre Politik sein, Herr Bundeskanzler. Dafür hätten Sie auch eine Mehrheit in diesem Hause.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Niemand in der Öffentlichkeit soll den Eindruck bekommen, als wäre das System von Bundesrat und Bundestag das Problem. Sie haben im Bundestag und auch im Bundesrat eine riesige Mehrheit für mehr Marktwirtschaft. Sie wollen sie nicht gebrauchen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist das!)

weil Sie lieber auf sechs linke Abweichler von Grünen und SPD hören, weil Sie Sorge haben, dass Ihnen ansonsten mangels eigener Mehrheit der Stuhl weggezogen wird und sich Herr Müntefering vielleicht auf Ihre Nachfolge freut. Das ist der eigentliche Punkt, den wir auf dem SPD-Parteitag mit Spannung verfolgen konnten.

   Auf dem SPD-Parteitag wurde die Agenda 2010, die man hoffnungsvoll begonnen hatte, wenn auch nur als Reförmchen, zu Grabe getragen.

(Lachen bei der SPD)

Sie haben auf diesem Parteitag den Klassenkampf, die Neidgesellschaft vorgezogen. Das ist die neue Politik der alten SPD.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben nichts verstanden! Nichts!)

   Reden wir doch konkret über das, was Sie beschlossen haben und was Sie am kommenden Wochenende beschließen werden! Sie haben eine Ausbildungsplatzabgabe beschlossen.

(Johannes Kahrs (SPD): Wer hat die denn beschlossen?)

- Sie haben uns auf dem Bundesparteitag der SPD sogar konkret gesagt, wer die Mittel aus der Erhebung der Ausbildungsplatzabgabe verwalten soll.

(Lachen des Abg. Franz Müntefering (SPD))

In Nr. 3 Ihres Beschlusses steht: unter Mitwirkung der Sozialpartner. Genau so habe ich mir das neue marktwirtschaftliche Deutschland vorgestellt:

(Johannes Kahrs (SPD): Sie haben von Marktwirtschaft doch gar keine Ahnung!)

Bei den Betrieben, die zum Beispiel gar keinen Lehrling finden, kassiert man auch noch die Ausbildungsplatzabgabe, führt sie anschließend einem Fonds zu, der dann wieder von Ihren Gewerkschaftsvertretern verwaltet wird. Ich sage Ihnen nur eines: Die Bundesanstalt für Arbeit müsste Ihnen doch Warnung genug sein, nämlich dahin gehend, dass solche Systeme der Funktionäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Arbeitgeberfunktionäre auch! Ihre Freunde, Herr Westerwelle!)

   Sie wollen also die Betriebe weiter belasten. Das wird nur dazu führen, dass man sich freikauft. Die, die ausbilden können und es „unanständigerweise“ nicht tun, werden sich freikaufen, und denen, die ausbilden möchten, es aber dann doch nicht tun, weil sie die Sorge haben, im nächsten Jahr von der Pleitewelle erfasst zu werden, drücken Sie gewissermaßen als letzten Akt vor dem Sargnagel auch noch die Ausbildungsplatzabgabe in die betriebswirtschaftliche Kalkulation hinein.

(Widerspruch bei der SPD)

So entsteht kein einziger Ausbildungsplatz! So wird es nur zu weniger Ausbildungsplätzen und zu mehr Bürokratie kommen! Deshalb kann ich nur hoffen, dass das, was Sie auf dem SPD-Parteitag beschlossen haben, der Befriedigung Ihrer Partei diente, aber niemals offizielle Politik dieses Hauses wird. Alles andere wäre traurig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie haben beschlossen, die Erbschaftsteuer zu erhöhen. Herr Trittin, Ihr Bundesumweltminister, dem Sie eben mit einer berühmten „Basta“-Erklärung ratzfatz klar gemacht haben, dass sein Genöle über die Steinkohlesubventionierung aufzuhören hat - wir werden sehen: das wird aufhören; wir werden hier namentlich über die Steinkohlesubventionierung abstimmen; Deutschland wird sehen: es gibt keinen einzigen Gerechten in Sodom; so wird das hier ablaufen -,

(Johannes Kahrs (SPD): Wie ist es denn mit der Zwangsmitgliedschaft bei Ihnen?)

fordert ja nicht nur eine Neuregelung und Erhöhung der Erbschaftsteuer, sondern auch - so ist in der „Welt“ von heute zu lesen - die Einführung einer Vermögensteuer. Das ist Ihr Programm. Es ist gut, dass unser Land das erfährt.

   Was heißt denn Erhöhung der Erbschaftsteuer? Das heißt in Wahrheit, dass den Menschen, die für ihr eigenes Alter vorgesorgt haben und die sich darüber freuen, dass es in dem Fall, dass sie es nicht selbst aufbrauchen können, den eigenen Kindern und Enkelkindern besser geht,

(Johannes Kahrs (SPD): Da gibt es Freibeträge!)

durch die Erbschaftsteuer noch eine Strafe auferlegt wird.

(Johannes Kahrs (SPD): Freibeträge, Herr Westerwelle!)

Alles, was man am Ende eines Lebens vererbt, ist im Laufe dieses Lebens bereits x-mal versteuert worden. Das ist Neidpolitik und nicht Anerkennungskultur.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Warum begreifen wir nicht endlich, dass es etwas Schönes für unser Land ist, wenn Menschen etwas schaffen, dass wir das anerkennen sollten und darauf nicht immer mit solchem Neid zu reagieren haben?

(Johannes Kahrs (SPD): Weil Sie es wieder nicht verstanden haben!)

Bürgerversicherung, das ist Ihre Politik.

(Johannes Kahrs (SPD): Gott sei Dank!)

   Bei allem Respekt: Ich wäre wirklich dankbar, Herr Präsident, wenn hier die Regeln eingehalten würden. An dem Punkt muss ich Herrn Kollegen Glos Recht geben. Wenn sich die Damen und Herren von der Regierungsbank auf ihre Abgeordetenplätze setzen, können sie so viel dazwischenrufen wie ihre Kolleginnen und Kollegen, aber wenn sie hinter uns sitzen, haben sie sich anzuhören, was die Opposition auf den Bundeskanzler antwortet, wie es guter parlamentarischer Brauch ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen Sie auch ertragen und das ist schlimmer für Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Eingebildeter Mensch!)

   Ich möchte gerne noch auf einen Punkt eingehen, nämlich auf Ihr politisches Vorhaben einer Bürgerversicherung. Das ist nichts anderes als die Fortsetzung einer gescheiterten Politik.

(Johannes Kahrs (SPD): Vielleicht sollten Sie einmal die Konzepte durchlesen!)

Sie sind der Überzeugung, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung auch das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in Kassen weiter ausgedehnt wird. Das legen Sie doch vor.

(Johannes Kahrs (SPD): Sie sind doch für Zwangsmitgliedschaft!)

Anstatt dafür zu sorgen, dass aus der gesetzlichen Versicherungspflicht endlich eine Pflicht zur Versicherung wird, wo der einzelne Arbeitnehmer von echter Vertragsfreiheit profitieren und auswählen kann,

(Johannes Kahrs (SPD): Wer ist denn hier für Zwangsmitgliedschaft, Herr Westerwelle? Sie!)

wollen Sie dafür sorgen, dass das Prinzip monopolartiger Kassenstrukturen noch weiter ausgedehnt wird. Das ist ein ganz großer Fehler. Wir brauchen vielmehr Versicherungswahlfreiheit und keine neue Zwangskasse à la DDR.

(Johannes Kahrs (SPD): Sie sind doch für Zwangskassen!)

Deshalb bitte ich Sie: Verabschieden Sie sich von Ihrem Vorschlag einer solchen Bürgerversicherung. Das würde dieses Gesundheitssystem belasten und uns nicht nach vorne bringen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich möchte zum Schluss noch einige unserer Argumente zur auswärtigen Politik - darüber wird ja anschließend auch noch im Rahmen der Debatte über den Haushalt des Auswärtigen Amtes gesprochen - ebenfalls ganz ruhig und sachlich vortragen.

(Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Von „ebenfalls“ kann ja nicht die Rede sein!)

- Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer merken es zwar nicht, aber das Problem ist, dass man als Redner dann, wenn die Geräuschkulisse der Regierungsfraktionen extrem hoch ist, automatisch auch ein wenig lauter wird. Aber zur politischen Kultur braucht man an dieser Stelle nicht mehr viel zu sagen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Lächerlich! Sie können gar nicht anders!)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede auch eine bemerkenswerte Einfügung zur Europapolitik gemacht. Sie haben am Anfang Ihrer Rede Herrn Glos dafür gewürdigt, dass er sich von den Äußerungen des Kollegen Bosbach distanziert hat.

(Michael Glos (CDU/CSU): Von Schily distanziert!)

Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass von Regierungsseite, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, genau dasselbe gesagt worden ist.

(Michael Glos (CDU/CSU): Genau, so war es!)

Als Liberaler sage ich hingegen: Wir Liberale sind der Überzeugung, dass die furchtbaren Terroranschläge in der Türkei weder ein Grund sein dürfen, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, noch können sie ein ausreichender Grund dafür sein, die Türkei von der Europäischen Union auszuschließen. Was zählt, sind objektive Kriterien. Die müssen erfüllt sein. Davon ist die Türkei noch ein riesiges Stück Weg entfernt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Nichts anderes hat der Bundeskanzler gesagt!)

   Sie, Herr Bundeskanzler, werden also mit Sicherheit in die Geschichte eingehen - davon kann man ausgehen -, und zwar als jemand, der es geschafft hat, Deutschland international in der Tat zum Schlusslicht zu machen. Das ist das Ergebnis von fünf Jahren Rot-Grün.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Exportweltmeister!)

Dass Sie so wenig die geschichtlichen Zusammenhänge kennen, dass Sie noch nicht einmal vor der Infragestellung des Euro und des Währungsvertrages, also Fundamenten unseres Europas, Halt machen, ist außerordentlich gefährlich.

(Johannes Kahrs (SPD): Reden Sie doch keinen Unsinn!)

   Sie haben damals den Euro als kränkelnde Frühgeburt bezeichnet. Sie machen nun eine solche Politik, als wollten Sie im Nachhinein dafür sorgen, dass Sie Recht behalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das steht einem deutschen Bundeskanzler und einer Bundesregierung nicht gut zu Gesicht. Besinnen Sie sich auf Ihre Verantwortung für Deutschland! Besinnen Sie sich darauf, welche Rolle Sie als Bundeskanzler in der Europäischen Union haben. Dann bekommen Sie auch die Unterstützung dieses Hauses. Aber für Ihre Schulden-, Bürokratie- und Steuererhöhungspolitik bekommen Sie die Stimmen der Opposition in diesem Hause ganz gewiss nicht.

   Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der FDP - Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, es ist doch wohl eine Selbstverständlichkeit und wird niemanden in diesem Hause ernsthaft überraschen, dass die Grünen Arbeit und Beschäftigung lieber mit Klimaschutz und erneuerbaren Energien schaffen als mit Steinkohle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf der anderen Seite wird es wohl auch niemanden überraschen, dass unser roter Koalitionspartner in der Frage, wie schnell Arbeitsplätze in der Steinkohleförderung abgebaut werden sollen, etwas mehr auf eine Sowohl-als-auch-Strategie setzt als wir Grüne. Natürlich sind das Themen, über die wir reden müssen. Aber dass ausgerechnet die FDP bei diesem Thema derart die Backen aufbläst, erklärt sich angesichts Ihrer Politik in der Vergangenheit nicht von alleine.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie haben in diesem Land doch sogar einmal den Wirtschaftsminister gestellt - im Gegensatz zu den Grünen. Als Herr Rexrodt Wirtschaftsminister in diesem Lande war,

(Johannes Kahrs (SPD): Lange her!)

haben Sie die Steinkohle jährlich mit umgerechnet 5 Milliarden Euro gefördert. Heute sind wir bei 2,1 Milliarden Euro. Das ist doch ein Unterschied.

   Heute geht die Debatte darum, wie wir den Abbau finanzieren und wann wir wie schnell bei unter 2 Milliarden Euro landen. Sie haben sich in Ihrer Zeit, als Sie Verantwortung in diesem Lande getragen haben, bei der Steinkohle keinesfalls mit Ruhm bekleckert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Johannes Kahrs (SPD): Nicht nur bei der Steinkohle!)

Das wundert mich auch gar nicht. Denn immer dann, wenn es schwierig wird, verdrücken Sie sich doch in die Büsche.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist es!)

Das haben wir doch gerade dieses Jahr wieder erlebt.

   Natürlich ist es nicht einfach, von 36 000 Arbeitsplätzen auf 20 000 herunterzugehen. Das ist für die Menschen nicht einfach. Wenn Sie dagegen Entscheidungen zu treffen haben, die schwierig werden - wie bei der Gesundheitsreform und bei der Handwerksordnung -, machen Sie Ihre typische Klientelpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Westerwelle, bei der Klientelpolitik, die Sie bei der Gesundheitsreform machen - Sie halten die Hand immer nur über Ihre Schützlinge, die „Leistungserbringer“ -, wundert es mich gar nicht, dass Sie auch gegenüber der Bürgerversicherung skeptisch sind.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Was machen Sie denn bei den Versicherungen? Da machen Sie es doch auch!)

Ihr Modell läuft doch darauf hinaus, im Gesundheitssystem, das solidarisch finanziert wird, zu verhindern, dass die Effizienzreserven gehoben werden. Auf der anderen Seite wollen Sie sich als Besserverdienender aus genau diesem System verabschieden. So stellen wir uns Solidarität in der Tat nicht vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Was machen Sie denn bei den GKVs? Wo öffnen Sie denn bei den GKVs?)

   Da wir gerade bei der Energiepolitik waren, ein Wort zu Ihnen, Herr Glos: Bei Ihnen in Bayern scheint es irgendwie nicht angekommen zu sein, dass die große Mehrheit der Menschen in Norddeutschland - und nicht nur in Norddeutschland - heilfroh ist, dass der Altreaktor in Stade endlich vom Netz geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Tortenparty!)

Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen! Wenn Sie sich hier hinstellen und diesem Altreaktor in Stade hinterherweinen, dann bestätigen Sie die Menschen doch nur in ihrer Überzeugung, dass es ein Heil für dieses Land ist, dass Sie Ihre Atompolitik nicht mehr fortsetzen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Altlasten, die Sie uns mit Ihrer Politik aufgebürdet haben, werden noch Generationen beschäftigen. Aber dass Sie sich hier hinstellen und dem Reaktor in Stade hinterherweinen, das geht an den Realitäten in diesem Lande ziemlich weit vorbei.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir weinen nur den Steuergeldern für den Kuchen hinterher! - Michael Glos (CDU/CSU): Für die Torte, für den Champagner! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Champagner für die Vernichtung von Arbeitsplätzen, das ist grüne Politik!)

   Herr Glos, ich will Ihnen noch etwas sagen. Der Kanzler hat sich Ihnen gegenüber ja freundlicherweise sehr pädagogisch verhalten, nach dem Motto: Lernerfolge unterstützen. Ich muss sagen: Zu der Art und Weise, wie sich Ihr CDU/CSU-Vize, Herr Bosbach, zu den Terroranschlägen in der Türkei geäußert hat - das ist ein ernstes Thema - haben Sie sich einen weißen Fuß machen wollen. Aber mir hat Ihre Erklärung zu diesem Punkt nicht gereicht. Das will ich Ihnen ganz deutlich sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Auch Frau Merkel hat am Wochenende ihr Talent bewiesen, Appelle an die falsche Adresse zu richten. Frau Merkel, Sie haben mit Blick auf den CSU-Vize Seehofer gesagt: „Solidarität ist nicht nur ein Wort, jeder von uns muss sie leben.“ Dieses Wort hätten Sie einmal an die Adresse von Herrn Bosbach richten müssen. Herr Bosbach hat in einer wirklich unverschämten Art und Weise die Terrorangriffe für eine Angstkampagne instrumentalisiert,

(Michael Glos (CDU/CSU): So ein Blödsinn!)

als doch die Menschen in der Türkei Anspruch auf Solidarität und Mitgefühl hatten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Menschen in der Türkei sind doch gerade wegen ihrer Westorientierung, wegen ihrer europäischen Orientierung Opfer eines Terrorangriffs geworden. Deswegen bleibt es dabei: Wir werden Kontinuität in der europäischen Türkeipolitik bewahren. Und das heißt, es gelten die Kopenhagener Kriterien und sonst nichts.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich nehme die Äußerung von Herrn Bosbach auch deswegen besonders ernst,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie ist immer noch nicht fertig!)

weil deutlich zu erkennen war, dass diese wirklich schlimmen Äußerungen letztlich ein Reflex auf Ihre innerparteilichen Probleme waren. Es hat sich doch gezeigt,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sprechen Sie doch mal zum Haushalt!)

dass Sie Ihre Probleme mit dem Fall Hohmann keinesfalls gelöst haben, sondern dass sich in Ihrer Partei am Fall Hohmann Gräben aufgetan haben.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Bezüglich innerparteilicher Probleme sollten Sie sich bitte an die SPD wenden!)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ein Nein zum Antisemitismus ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwarte. Aber das reicht nicht. Zum Nein gegen Antisemitismus gehört auch ein Nein gegen Fremdenfeindlichkeit und Angstkampagnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel, Sie haben im Zusammenhang mit Ihren innerparteilichen Problemen jetzt eine Patriotismusdebatte verlangt.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wie lautet eigentlich das Thema der Debatte? - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sagen Sie doch bitte mal was zur Sache! - Volker Kauder (CDU/CSU): Kann sie doch nicht! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die war ja dabei, als sie Champagner auf die verlorenen Arbeitsplätze getrunken haben! Auf jedem Foto war sie dabei!)

Ich behaupte, die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land - erst recht gilt dies für Rot-Grün - brauchen von Ihrer Seite keinerlei Nachhilfeunterricht, wenn es um die Wertschätzung dieses Landes geht. Vor nur wenigen Monaten standen Sie vor der Nagelprobe, wie Sie es denn mit der Wertschätzung dieses Landes halten, als es nämlich um die Frage ging, ob Deutschland in einen Krieg im Irak hinein gezogen wird. Damals haben Sie diese Nagelprobe auf Wertschätzung dieses Landes nicht genutzt, sondern verloren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, auch noch ein Wort zum Stabilitätspakt. Zwei Drittel der Mitgliedstaaten, Herr Westerwelle, und auch die große Mehrheit der kleinen Mitgliedsstaaten des Ecofin haben eine sehr eindeutige Entscheidung zugunsten Deutschlands getroffen. Sie haben das vor allen Dingen deshalb getan, weil unsere europäischen Nachbarländer die Anstrengungen, die wir mit den Strukturreformen vornehmen, hochgradig respektieren. Und sie haben es getan, weil sie aus eigenem Interesse die Konjunkturkomponente des Stabilitätspaktes tatsächlich höher gewichten

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das muss völlig an der deutschen Presse vorbeigegangen sein!)

und nicht Ihre Hoffnung bedienen, dass in einer Zeit, in der sich die Bundesregierung darum bemüht, eine vernünftige Konjunkturpolitik und eine vernünftige Konsolidierungspolitik zusammenzubringen, diese Bemühungen dadurch kaputtgemacht werden, dass ihr noch einmal 6 Milliarden Sparauflage aufgedrückt werden. Das wäre auch nicht im Interesse unserer europäischen Nachbarn gewesen, weil die darauf hoffen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland vorangeht; denn das bringt auch sie voran. Sie hingegen hoffen darauf, dass es mit diesem Land abwärts geht, weil Sie hoffen, dass es dann auch mit der Regierung abwärts geht.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Schlimmer kann es ja nicht mehr werden!)

Diese Rechnung wird nicht aufgehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir wollen, dass es ohne diese Regierung aufwärts geht!)

   Wir haben in diesem Jahr unsere Aufgaben erfüllt. Das war, weiß Gott, nicht immer leicht. Aber man darf jetzt, wo man diese Aufgaben hinter sich gebracht hat

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Nichts haben Sie zustande gebracht, aber wirklich nichts!)

und im Bundesrat im Vermittlungsverfahren steht, auch einmal fragen: Was hat eigentlich in dieser Zeit die Opposition betrieben? Was Sie betrieben haben, haben wir gestern gesehen. Im Bundestag setzen Sie beim Haushalt auf Arbeitsverweigerung und Obstruktion, im Bundesrat setzen Sie auf Bremsen und Blockieren und ansonsten streiten Sie sich intern über Ihre eigenen untauglichen Konzepte. Das ist auch für eine Oppositionspartei in diesen schwierigen Zeiten zu wenig. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist einfach zu wenig. Vor allen Dingen nimmt Ihnen niemand in diesem Lande Ihre Krokodilstränen in Bezug auf die Finanzpolitik der Bundesregierung ab.

   Sie haben uns in Bezug auf eine seriöse Subventionsabbaupolitik ein Jahr lang nur Zeit gekostet und aufgehalten. Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz hatten Sie die erste Chance, mit einem Paket Subventionsabbau und Einsparungen in der Größenordnung von 15,6 Milliarden zu erreichen. Wegen Ihrer Blockadepolitik sind am Ende nur 2,4 Milliarden herausgekommen und Sie haben sich selber noch wie die Helden gefeiert, obwohl die von Ihnen regierten Länder mit ihren eigenen Haushalten längst mit dem Rücken an der Wand standen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dann hatten Sie in der Sommerpause eigentlich genügend Zeit, sich zu sortieren. Jeder hat gedacht: Nach Ihrer Niederlage bei den Bundestagswahlen kommen Sie nun - auch aus eigenem Interesse - langsam zur Vernunft. Sie bekommen jetzt eine zweite Chance; denn Sie können mit uns über das Regierungspaket, mit dem 30 Milliarden Euro in drei Jahren eingespart werden sollen, verhandeln. Aber da sitzen wir nun und warten auf Sie. Erst mussten wir auf Sie wegen der Bayernwahl warten. Nun warten wir, weil es einen CDU-Parteitag gibt. So sieht es aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir werden wahrscheinlich bis nach Nikolaus auf Sie warten müssen, weil Frau Merkel, Herr Merz, Herr Stoiber, Herr Althaus und Herr Koch erst einmal in ihren Stiefeln nachschauen müssen, ob sie da eine gemeinsame Strategie finden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ha! Ha!)

   Auch wenn Herr Merz uns jeden Tag von neuem die hohe Kunst des empörten Augenaufschlags vorführt: Dass Sie hier ständig Konsolidierung und Einsparungen fordern, aber im Bundesrat dasselbe verhindern, nimmt Ihnen in diesem Land niemand mehr als seriöse Politik ab. Das ist klar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Was Ihnen ebenfalls niemand mehr als seriöse Politik in diesem Lande abnimmt, ist die Art und Weise, wie Sie mit dem Thema steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform umgehen. Über dieses Thema müssen wir reden. Ich fand es interessant, wie schnell Herr Merz die Kurve gekriegt und erkannt hat, dass die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger mit Ecofin nichts zu tun hat. Das zeigt vielleicht seinen wiederkehrenden Realitätssinn, was zu begrüßen wäre. Aber dass Sie dieses Thema Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in politische Geiselhaft für Ihre ideologischen Scharmützel bei der Tarifautonomie und beim Kündigungsschutz nehmen wollen, hat auch nichts mit seriöser Politik nichts zu tun. Das wird man Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Werfen wir einmal einen Blick auf die Konzepte der Opposition.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Es geht um Ihre Konzepte! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir debattieren eigentlich über Ihren Haushalt!)

Mit Ihrer Kritik an der Politik der Regierung liegen Sie meistens daneben. Aber Sie liegen manchmal richtig, wenn es um die Kritik an Ihren eigenen Konzepten geht. Dass Sie an diesen Konzepten kein gutes Haar lassen, ist für uns nachvollziehbar. Herr Seehofer hat einfach Recht, wenn er feststellt, dass das Kopfpauschalenmodell der Herzog-Kommission unsozial ist,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Nein, hat er nicht!)

da erstens der Hausmeister für seine Gesundheit das Gleiche bezahlen soll wie sein Chef und da zweitens der soziale Ausgleich mit ungedeckten Steuerschecks finanziert werden soll. Das muss man einmal feststellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel, Sie beklagen, dass die CSU beansprucht, sozusagen das soziale Gewissen der Union zu sein. Sie wollen es nicht zulassen, dass für Sie nur die marktwirtschaftliche Komponente übrig bleibt. Vielleicht liegt diese Aufteilung einfach daran, dass Sie versuchen, mit Konzepten hausieren zu gehen, bei denen jeder auf den ersten Blick merkt, dass Ihre Version, Ihre Vision von einer sozialen Marktwirtschaft wie ein gerupftes Huhn aussieht. Das will natürlich keiner.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Wenn sich dann noch Herr Laurenz Meyer

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wer ist das denn?)

in dieses Getöse einmischt und sagt, Herr Seehofer sei unerträglich,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Worüber reden Sie eigentlich?)

dann hat der interne Streit der Schwestern auf der nach oben offenen Eskalationsskala den Wert des Falles Hohmann erreicht. Herr Laurenz Meyer, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich wäre an Ihrer Stelle sehr vorsichtig, den Eindruck zu vermitteln, als sei das Aussprechen der Wahrheit in Deutschland schon so schlimm wie Antisemitismus.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Übel! Bitte aus dem Protokoll streichen! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wir wollen Herrn Metzger wieder haben!)

Das zeigt, welche Eskalationsstufe Sie bei Ihrem Streit erreicht haben.

   Ihr interner Streit um das Herzog-Konzept zur Gesundheitsreform wird nicht beigelegt, sondern er verschärft sich noch, wenn Herr Merz sich einmischt. Wie sollen eigentlich die Steuererleichterungen für die Besserverdienenden aus dem Merz-Konzept dazu beitragen, den sozialen Ausgleich für die Schwächeren, der im Herzog-Konzept vorgesehen ist, zu finanzieren? Die Erklärung würden wir gerne einmal hören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir leben ja in einer Zeit, in der Wunder sehr beliebt sind. Wir hatten das Wunder von Bern und das Wunder von Lengede. Vielleicht erleben wir ja jetzt einmal ein Wunder aus dem Sauerland. Aber auf eine Erklärung warten wir bis heute.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Heiterkeit bei der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU), zu Abg. Franz Müntefering (SPD) gewandt: Das ist das Grauen aus dem Sauerland!)

- Wir haben einen Helden aus dem Sauerland. Aber Sie sind uns das Wunder aus dem Sauerland noch schuldig. So sieht es aus.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Hummel, Hummel!)

   Sie sollten sich nicht darüber wundern, dass nicht alle Menschen in diesem Lande glauben, die Konzepte, die Sie vorlegen, seien besonders vertrauenserweckend.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wir wollen Frau Beer hören!)

Denn Ihre Konzepte können im Grunde nur dann funktionieren, wenn man vorher sämtliche Grundrechenarten außer Kraft gesetzt hat. So sieht es doch bei Ihrem Kopfpauschalenmodell und der Merz-Reform aus.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist ja noch nicht einmal Karneval, was Sie vortragen!)

   Lassen Sie uns noch einen Blick auf den Schwesternstreit im Bereich der Rente werfen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Oje!)

- In der Tat, Herr Kauder: Oje! - Eines muss man Ihnen dabei allerdings lassen: CDU und CSU leisten zumindest einen kleinen Beitrag dazu, das Familienbild in Deutschland zu modernisieren. Was Sie nämlich hier als politische Szenen einer Ehe vorlegen, stellt wirklich - so muss man feststellen - jeden Ingmar-Bergman-Film in den Schatten.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ihr wehrt euch ja schon gar nicht mehr! Ihr liegt jetzt schon vor dem Bett!)

Die CDU-Frauen, besonders Frau Böhmer, haben erstens Recht, wenn sie sagen, der CSU-Vorschlag, der in der Rentenversicherung Strafbeiträge für Kinderlose vorsieht, spalte die Gesellschaft. Das ist richtig. Zweitens haben die CDU-Frauen richtig festgestellt, ein Familienausgleich sei nur über das Steuersystem, an dem sich auch Beamte und Selbstständige beteiligten, gerecht und nicht über die Rente.

   Jetzt stellt sich aber noch ein ganz anderes Problem - Sie beanspruchen ja, Familienpolitik zu machen -: Man kann im internationalen Vergleich feststellen, dass Transferleistungen an Familien - so gerecht sie auch sein mögen, wenn sie über das Steuersystem erfolgen - keinen Einfluss darauf haben, ob sich Frauen für ein Kind entscheiden. Denn was ist heutzutage das Hauptproblem der jungen Frauen? Das Hauptproblem ist,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Diese Bundesregierung!)

dass sie nicht wissen, wie sie Kinder und Beruf unter einen Hut bringen sollen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Wir haben die Leistungen für Familien seit 1998, seit dem Ende Ihrer Regierungszeit, um 48 Prozent gesteigert. In Deutschland ist aber der Teil des Familienlastenausgleichs, der über Geldleistungen erfolgt, mit 71 Prozent sehr hoch, während der Teil, der in Dienstleistungen, also in die Kinderbetreuung und Ähnliches, fließt, mit 29 Prozent sehr gering ist.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Subjektförderung vor Objektförderung, das ist gar nicht so falsch, Frau Kollegin!)

   In den skandinavischen Ländern und in Frankreich ist es umgekehrt. Da wird sehr viel mehr Aufwand dafür betrieben, dass Frauen Familie und Beruf zusammenbringen können, und sehr viel weniger für den direkten Transfer getan. Das Ergebnis in Bezug auf die Familienpolitik und die Chancen für Frauen, Kinder und Beruf zusammenzuführen, ist dort offensichtlich deutlich besser.

   Ihre Familienpolitik funktioniert nach dem Schema: Wenn eine Tür, auf der „Drücken“ steht, nicht dadurch aufgeht, dass ich an ihr ziehe, dann ziehe ich noch härter. So geht die Tür zu einer besseren Familienpolitik eben nicht auf. Das ist Ihr Problem.

   Frau Merkel, die Frauen in diesem Lande haben nach der letzten Wahl von Ihnen mehr erwartet. Sie als Vorsitzende der CDU sind offensichtlich eine Frau, die es sich nicht gerade zur Lebensaufgabe gemacht hat, den Männern den Rücken freizuhalten.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch das ist falsch!)

Frau Merkel, Sie sind ja schon froh - das wissen wir -, wenn Ihnen die Männer nicht in den Rücken fallen.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Trotzdem haben die Frauen nach der letzten Bundestagswahl von Ihnen erwartet, dass die Hauptungerechtigkeit in der Familienpolitik von Ihnen einmal beim Namen genannt würde. Die Hauptungerechtigkeit in der Familienpolitik ist, dass es bis zum heutigen Tage für Frauen keine Wahlfreiheit dahin gehend gibt, ob sie zu Hause bleiben wollen oder ob sie Kinder und Beruf verbinden wollen. Wenn man einen Blick auf die beschämende Versorgungssituation bei den Ganztags- und Kinderbetreuungsplätzen in den westdeutschen Flächenländern wirft, dann sieht man, dass die Bundesregierung richtigerweise einen Schwerpunkt bei der Kinderbetreuung und der Einrichtung von Ganztagsschulen gesetzt hat und dass das der wichtigste Beitrag für mehr Gerechtigkeit in der Familienpolitik ist, den man heute überhaupt leisten kann.

Da steht eine Klärung in Ihren eigenen Reihen noch aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   In Bezug auf das Steuerkonzept von Herrn Merz, zu dem Sie selber sagen, dass daran vieles unausgegoren ist, stelle ich fest: Wir haben seit 1998 eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Betriebe in einer Größenordnung von 52 Milliarden Euro geleistet. Allein die zweite und die dritte Stufe der Steuerreform bringen 22 Milliarden Euro. Angesichts dessen soll man jetzt nicht so tun, als handele es sich dabei um eine kleine und unbedeutende Fingerübung.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Diese Regierung ist sehr dafür, über weitere Vereinfachungen des Steuersystems zu reden. Wir sind sehr dafür, einen Beitrag für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland zu leisten. Ich sage aber auch eines ganz deutlich: Wenn wir es mit den Prioritäten bei Bildung, Forschung und Entwicklung sowie einer modernen Infrastrukturpolitik ernst meinen, gibt es keinen Spielraum mehr für zusätzliche Nettoentlastungen in den nächsten Jahren. Das muss ganz deutlich gesagt werden, weil Sie hier den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen streuen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Frau Merkel, der Bundeskanzler hat Sie darauf angesprochen: Sie haben jetzt eine einmalige Chance, Ihre Wertschätzung für dieses Land zum Ausdruck zu bringen, und zwar durch die Taten, die vor Weihnachten anstehen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie definieren keinen Patriotismus! Sie schon lange nicht!)

Unterstützen Sie uns endlich dabei, die notwendigen Strukturreformen, den Subventionsabbau, die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger und die bessere Finanzausstattung der Kommunen in diesem Lande voranzubringen. Wir sind dabei. Wir haben unseren Beitrag geleistet. Jetzt sind Sie gefragt. Nutzen Sie endlich diese Chance, dann nehmen wir Ihnen die Wertschätzung für dieses Land vielleicht ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich vorweg die folgende Bemerkung machen. Sie haben scheinbar generös zu den Äußerungen von Michael Glos gesagt, Sie seien ausgesprochen erfreut, dass hier bestimmte Klarstellungen in Bezug auf einen Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft der Türkei in der EU und den schrecklichen Terroranschlägen erfolgt sind. Sie haben dann das, was Sie immer machen, wieder getan: Sie haben nämlich scheinheilig Ihr Einverständnis erklärt und hintenrum sofort wieder nachgekartet.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ausgeteilt! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: So ist er!)

Herr Bundeskanzler, das kann nicht der Ton sein, in dem ein Regierungschef hier in diesem Hause argumentiert.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Billig!)

   Ich sage deshalb noch einmal ganz deutlich: Es gibt keinen einzigen Kollegen in unserer Fraktion, auch nicht Wolfgang Bosbach, der einen inneren Zusammenhang zwischen einer Nichtmitgliedschaft der Türkei und den extremistischen Anschlägen dort hergestellt hat. Das ist wahr. Das hat der Kollege Bosbach deutlich gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

Es gibt keinen Grund, dies zu sagen, genau so, wie es aus meiner Sicht auch keinen Grund gibt, zu sagen - wie es Mitglieder Ihrer Regierung gemacht haben -,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir können lesen!)

die Anschläge seien nun ein Grund dafür, die Türkei schneller aufzunehmen. Ich bitte Sie wirklich: Nehmen Sie die Realität so, wie sie ist.

(Johannes Kahrs (SPD): Man muss nur den Text lesen! Das ist die Realität!)

Sonst kommen wir in diesem Lande nicht weiter.

   Zu Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler,

(Zuruf von der SPD: Die war gut!)

sage ich: Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. In Ihrer 34-minütigen Rede hier vor dem deutschen Parlament haben Sie von der Realität des Jahres 2003 verdammt wenig durchblicken lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das erinnert mich an das, was Ihr Möchtegerngeneralsekretär Gabriel zu dem SPD-Parteitag gesagt hat.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Er hat nämlich gesagt: Das ist hier eine gespenstische Veranstaltung. - Genau daran fühle ich mich erinnert, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

   Eine Verklärung der Realitäten hilft uns im Jahr 2003 in Deutschland mit Sicherheit nicht weiter. Sie und Ihre gesamte Regierungsmannschaft neigen aber zur Verklärung. Einer Ihrer Erfolgsminister, der Verkehrsminister Stolpe, hat Sie, Herr Bundeskanzler, neulich sogar einen Helden genannt, weil Sie über Probleme nicht nur sprechen, sondern diese auch anpacken.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Held der Arbeit! - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wo der Stolpe hinpackt, gibt es Probleme!)

Scott Fitzgerald hat einmal gesagt: „Wer mir einen Helden zeigt, dem zeige ich eine Tragödie.“ Herr Bundeskanzler, was Sie machen, ist eine Tragödie für dieses Land. Fünf Jahre lang gab es eine Tragödie für Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Johannes Kahrs (SPD): Mehr Inhalt und nicht nur Polemik!)

   Herr Bundeskanzler, Sie sollen auf dem SPD-Parteitag angeblichen Intriganten in Ihrer eigenen Partei zugerufen haben: Ich mache euch fertig!

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sind wir jetzt beim Haushalt?)

Dieser Ausspruch macht in den deutschen Zeitungen die Runde. Heute steht in der „Berliner Zeitung“, die nicht als Hauspostille der Opposition gilt:

Gebe Gott, dass die Deutschen diese ... wütend dahingesagte Sentenz des Kanzlers nicht eines Tages als viel weiter reichendes Orakel entschlüsseln müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Satz macht sehr schön das Thema deutlich, über das wir zu sprechen haben. Wir stehen am Scheideweg und müssen zusehen, wie wir nach vorne kommen; auch ich bin dieser Meinung.

(Johannes Kahrs (SPD): Dann tun Sie doch etwas!)

   Vor diesem Hintergrund muss ich mich aber fragen, wie Sie mit diesem europäischen Pakt, der die Worte Stabilität und Wachstum im Titel trägt,

(Zuruf von der SPD: Ja, genau, beides!)

umgehen. Wir sind uns doch einig, dass Europa unsere Zukunft ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten Tagen aber nichts anderes gemacht - Ihr Finanzminister hat das ausgeführt -, als sich ganz systematisch am Erbe der Deutschen Mark zu versündigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Diese Problematik haben Sie heute darauf reduziert, dass man sich mit der Kommission doch auch einmal streiten dürfe. Natürlich kann man sich mit der Kommission streiten. Es gibt viele Bereiche, über die man sehr unterschiedlicher Meinung sein kann. Sie haben die Chemierichtlinie genannt, ich kann zum Beispiel noch die UVP-Richtlinie und die FFH-Richtlinie hinzufügen; das ist gar kein Problem. Es gab schon immer Fragen, bei denen wir unterschiedlicher Meinung waren, und es wird sie immer geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier geht es um etwas ganz anderes: Ein großer Teil des Erfolges dieses Landes gründet sich auf den Erfolg einer stabilen D-Mark. Dieses Land hat aus guten Gründen die Debatte über einen Stabilitäts- und Wachstumspakt angeregt und ihn in Geltung gebracht. Ich frage mich: Warum fängt ausgerechnet dieses Land an, sich zu zoffen, droht der Kommission und setzt sich einfach über die Vereinbarungen hinweg, nur weil die Realitäten in diesem Land nicht zu den Kriterien passen, die den Pakt eigentlich ausmachen? Darüber streiten wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Eichel, Sie haben es sehr trickreich angestellt: Sie haben das Verfahren über die Sanktionen außer Kraft gesetzt und haben stattdessen Versprechungen abgegeben. Dabei haben Sie aber gleich die Hintertür offen gelassen und haben die Versprechungen so formuliert, dass sie an Wachstumsraten gebunden sind.

(Zuruf von der SPD: So ein Fuchs!)

Das fesselt die Kommission. Denn wenn das Wachstum nicht eintritt, sind Sie frei, das Sanktionsverfahren ist unterbrochen und die Leier geht von vorne los.

   Herr Bundeskanzler, wir kommen nun zu einem wirklich spannenden Thema. Was bedeutet Patriotismus? Bedeutet Patriotismus, wie ein Karnickel auf die Schlange zu starren, ob irgendwo auf der Welt Wachstum entsteht, wovon wir vielleicht Brosamen abbekommen könnten? Oder bedeutet Patriotismus vielmehr, daran zu glauben, dass wir aus eigener Kraft Wachstum generieren können, indem wir die richtige Politik machen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP - Joachim Poß (SPD): Wir sind doch Exportweltmeister, Frau Merkel! Wir haben unseren Anteil am Weltmarkt vergrößert!)

   Sie haben doch davon gesprochen, dass der Anteil Deutschlands am Wachstumspotenzial in Europa 30 Prozent ausmacht. Deshalb ist es doch unsere nationale Pflicht, im Sinne der europäischen Erfolgsgeschichte unseren Beitrag dazu zu leisten.

(Joachim Poß (SPD): Das wollen wir ja! Deshalb müssen Sie dem Vorziehen der Steuerreform zustimmen!)

- Herr Poß, deswegen müssen wir nicht zustimmen. Das war wieder eine Ihrer genialen Bemerkungen. Wir müssen uns stattdessen darüber verständigen, was die aussichtsreichsten Schritte sind, um genau das zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch mal was!)

   Es ist doch ganz unbestritten, dass das jetzt für das nächste Jahr prognostizierte Wirtschaftswachstum das schlechteste und wankendste ist, welches es nach einem Abschwung in einer Aufschwungphase jemals gegeben hat. Hinzu kommt - das können Sie doch gar nicht abstreiten -, dass ein Drittel dieses mageren Wachstums auch noch auf die günstige Konstellation der Feiertage zurückzuführen ist.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja!)

Deshalb war es doch richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister auf dem SPD-Parteitag gesagt hat,

(Zuruf von der SPD: Das ist ein guter Mann!)

dass es nichts gibt, was darauf hinweist, dass der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland aus eigener Kraft erreicht wird. Das war eine Aussage von Herrn Clement. Der Dank für diese Ehrlichkeit auf dem SPD-Parteitag war ein wundervolles Wahlergebnis von 56 Prozent.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind alle ehrlich zueinander!)

Das ist Ihre Haltung zu den Realitäten in Deutschland, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir alle freuen uns darüber, dass wenigstens durch den Export ein vernünftiger Beitrag zum Wirtschaftswachstum geleistet werden kann. Dennoch empfehle ich wieder, das, was der Sachverständigenrat dazu gesagt hat, einmal zu lesen. Der Export steigt weltweit um 7,4 Prozent, während der Export bei uns um 4,8 Prozent steigt.

(Joachim Poß (SPD): Sehr aussagekräftig! - Weiterer Zuruf von der SPD: Aber auf einem hohen Niveau!)

Das heißt, selbst in dem erfolgreichsten Bereich, den wir aufweisen können, fallen unsere Anteile am Weltmarkt zurück. Das genau ist das Problem. Wir müssen wieder ein größeres Stück Kuchen vom Wachstum der Welt abbekommen. Ansonsten kommen wir in diesem Lande nicht voran.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben über Schicksale im Kohlebergbau gesprochen. Ich nehme das so hin. Sie reduzieren dort, jawohl. Ich hätte aber erwartet, dass Sie darauf hinweisen, dass wir unter erheblichen Widerständen mit dieser Reduktion begonnen haben.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Oh ja! Daran kann ich mich noch erinnern!)

Man kann fragen, wo die einzelnen Mitglieder der jetzigen Regierung damals waren.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir wissen es!)

Wir hatten alle Mühe, überhaupt in das deutsche Parlament in Bonn hineinzukommen. Aber sei’s drum, Sie haben diesen Weg fortgesetzt. Wir sagen, Sie setzen ihn nicht konsequent genug fort. Hier könnte mehr getan werden.

(Siegfried Scheffler (SPD): Unter Niveau!)

   Sie sprachen dann von 16 000 Arbeitsschicksalen von 2007 bis 2012. Hätten Sie doch einmal ein Wort darüber verloren, wie viele Arbeitsplätze im letzten Jahr verloren gegangen sind! Im letzten Jahr gab es unter Ihrer Regierung 600 000 weniger Beschäftigte. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nur damit Sie es nicht selbst ausrechnen müssen: Das sind nicht 16 000 in fünf Jahren, sondern 50 000 pro Monat. Das ist Deutschland im Jahre 2003.

   Daraus resultieren natürlich unsere Probleme. Deshalb stellt sich die Frage, was man tun muss und mit welcher Kraft man es tun muss.

(Zuruf von der SPD: Das erzählen Sie uns mal!)

Herr Bundeskanzler, Sie haben in dieser Woche ein sehr aufschlussreiches „Spiegel“-Interview gegeben.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Jetzt wird es konkret!)

Auf die Frage, ob Sie die Agenda 2010 nicht auf dem Höhepunkt des Aufschwungs hätten durchsetzen müssen, haben Sie gesagt:

Objektiv hätte man es da machen müssen. Aber durchsetzbar in einer pluralen Gesellschaft sind solche Eingriffe erst mit der Erfahrung, dass es um den Wohlstand geht.

Herr Bundeskanzler, was heißt das denn?

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja!)

Das heißt doch nichts anderes, als dass für Sie und Ihre Partei das Land erst einmal richtig am Boden liegen muss,

(Walter Schöler (SPD): So, wie Sie es uns hinterlassen haben!)

damit Sie überhaupt erst einmal anfangen, ansatzweise das Richtige zu tun.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Genau das ist der Grund, warum Deutschland gegenüber anderen Ländern schlechter dasteht. Regierungen anderer Länder handeln vorausschauend und lösen ein Problem schon, bevor es in voller Schärfe auch dem Letzten im Lande klar geworden ist. Diese Länder sind erfolgreich. Wir sind es nicht, weil Sie mit dieser Truppe nicht zu Potte kommen. Das ist der Grund!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat denn in den 90er-Jahren regiert, Frau Merkel?)

   Es ist vollkommen klar, dass in einer Phase der Veränderung - wir befinden uns in einer Zeit der Veränderung, darüber brauchen wir gar nicht zu reden - das Vertrauen der Menschen nötig ist.

(Johannes Kahrs (SPD): Ja, eben! Dann tun Sie doch mal was!)

Woher soll denn bitte schön dieses Vertrauen kommen? Der Finanzminister stellt kurz vor Jahresschluss einen Nachtragshaushalt vor - über die Rolle des Parlaments als eine Art Notariat wollen wir gar nicht reden - und erklärt der staunenden Bevölkerung, dass er statt 19 Milliarden Euro neue Schulden nicht 1, 2, 10 oder 20 Milliarden Euro mehr, sondern 43 Milliarden Euro neue Schulden macht.

(Zuruf von der SPD: Das sind genau die Zinsen, die wir für Ihre Schulden zahlen müssen!)

Das müssen Sie sich zu diesem Zeitpunkt einmal vorstellen: Die Leute, die das hören, müssen immer neue Kürzungen hinnehmen. Sie bekommen kein Weihnachts- und kein Urlaubsgeld mehr. Gleichzeitig sehen sie, wie der Finanzminister - völlig unprognostizierbar wie beim Lottospiel - wie Zieten aus dem Busch der deutschen Öffentlichkeit einen Nachtragshaushalt präsentiert.

(Walter Schöler (SPD): Das ist dummes Zeug, was Sie erzählen!)

Wie wollen Sie auf diese Weise Vertrauen gewinnen? Das ist so, als wenn Sie bei einer Bank einen Kredit aufnehmen und diesen plötzlich um 130 Prozent überziehen. Jeder in diesem Lande ginge Pleite und könnte nicht mehr mitmachen. Das ist so, als wenn eine Hausfrau einen Etat von 1 900 Euro hat und plötzlich 4 300 Euro ausgibt. Das kann keiner machen, nur Sie, Herr Eichel, tun es. Dafür bekommen Sie für Ihre Politik kein Vertrauen in diesem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Tiefe ökonomische Kenntnisse!)

   Ich könnte Ihren Streit mit der Kommission noch nachvollziehen, wenn die konjunkturbereinigten Daten in Deutschland anders aussähen.

(Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Sie haben bis 1998 hohe Schulden gemacht!)

Aber, Herr Bundeskanzler - Sie werden das sicherlich beim Sachverständigenrat nachgelesen haben -: Auch die konjunkturbereinigten Daten des Defizits zeigen, dass das Defizit von 1999 von minus 1,5 Prozent bis zum Jahre 2003 auf minus 3,5 Prozent beständig angestiegen ist.

(Johannes Kahrs (SPD): Schauen Sie sich die Zahlen davor an!)

Das, was Sie uns immer weismachen wollen, dass das alles nur ein Konjunktureffekt ist, stimmt eben nicht.

(Johannes Kahrs (SPD): Das stimmt doch!)

Ich sage Ihnen: Das beunruhigt die Kommission mit Recht. Gerade konjunkturbereinigt müssen die Zahlen besser werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun komme ich zu den Steuern. Die Steuern sind mit Sicherheit genau das Gebiet, an dem sich zeigt, inwieweit der Bürger seine Regierung versteht.

(Zuruf von der SPD: Dann müssten Sie ja bei der Steuerreform mitmachen!)

Dass wir das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhindert haben, um die Leute nicht noch mehr zu belasten, war richtig.

(Walter Schöler (SPD): Von welchen Leuten reden Sie denn?)

Dass Sie auf Ihrem Parteitag eine Erbschaftsteuererhöhung beschlossen haben, ist Gift für Deutschland. Das ist unsere Überzeugung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Herr Gabriel hat auf dem SPD-Parteitag vergeblich versucht, wieder eine Erhebung der Vermögensteuer zu erreichen. Das hat heute früh der Grünenpolitiker Trittin nachgeholt und eine Erhöhung der Vermögensteuer um 1 Prozent gefordert. Auch das halten wir in dieser Zeit für Gift für dieses Land.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie werden uns nicht davon abhalten können, dass wir diese Ansicht auch im Vermittlungsausschuss weiter vertreten. So, wie Sie Ihre Meinung sagen, sagen auch wir unsere Meinung.

(Johannes Kahrs (SPD): Sie müssen etwas tun!)

Wir halten auch die Mindestbesteuerung für falsch.

(Joachim Poß (SPD): Es gibt keine Mindestbesteuerung!)

   Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann lassen Sie uns doch bei den Sachverständigen nachlesen, die Sie sich ausgesucht haben.

(Johannes Kahrs (SPD): Vor allem müssen Sie sich bewegen!)

Was sagt der Sachverständigenrat dazu? Ich zitiere:

Es ist vor allem kein konsistentes Leitbild erkennbar, an dem sich die Steuergesetzgebung ausrichtet.
(Joachim Poß (SPD): Die sind genauso sachverständig wie Sie!)
Dieses steuerpolitische Chaos verstärkt ... die Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Einkommensentwicklung und Ertragserwartungen und ist Gift für einen robusten Aufschwung aus eigener Kraft.
(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Hört! Hört! - Johannes Kahrs (SPD): Dann dürfen Sie ihn nicht behindern!)

Die Wirtschaftsinstitute nennen das in ihrem Herbstgutachten zusammenfassend: „Finanzpolitik auf Zuruf“. So entsteht kein Vertrauen in den Aufschwung. Deshalb verlangen wir von Ihnen, dass Sie es anders machen, Herr Bundeskanzler. Das ist unser Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Eichel hat gestern dankenswerterweise -

(Johannes Kahrs (SPD): Guter Mann!)

- das müssen Sie an dieser Stelle auch sagen, Herr Poß, weil Sie so viel Unsinn zur merzschen Steuerreform gesagt haben, dass man es nicht fassen kann -

(Joachim Poß (SPD): Ich habe gar nichts gesagt!)

einen relativ abgewogenen Satz zu den Vorschlägen von Friedrich Merz gesagt. Er hat allerdings einen Fehler gemacht: Herr Eichel möchte nämlich einen großen Teil der Steuersubventionen und der Steuervergünstigungen jetzt verbraten, weil er einen nicht konsolidierbaren Haushalt hat.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist der Punkt!)

Damit entzieht er Deutschland jedes Fundament für eine vernünftige und transparente Steuerreform.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Walter Schöler (SPD): Die Steuerreform ist doch längst beschlossen! Vor vier Jahren! Haben Sie das nicht gemerkt?)

   Herr Bundeskanzler, aus diesem Grunde streichen wir nicht beliebig und wahllos alle Steuervergünstigungen.

(Johannes Kahrs (SPD): Blockade ist das! - Zuruf der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Für diejenigen, die es bisher noch nicht verstanden haben, Frau Sager, sage ich noch einmal: Koch/Steinbrück wird von uns allen akzeptiert,

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Können Sie noch ein bisschen mehr?)

das ist keine Frage, das wissen Sie auch aus dem Vermittlungsausschuss. Erzählen Sie hier keinen Stuss!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Joachim Poß (SPD): Das reicht aber nicht, um die Forderungen der Kommission zu erfüllen!)

   Es muss aber noch etwas übrig bleiben, sonst gibt es keine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, um wirklich das zu machen, was die Menschen im Land wollen. Die Menschen wollen ein durchschaubares Steuersystem, denn die Frage lautet: Verstehe ich meinen Staat, geht es in meinem Staat gerecht zu? Ja oder nein?

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bremse!)

Dafür werden wir mit aller Kraft eintreten.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Blockade! 4-Prozent-Schritte! Das ist zu wenig!)

Herr Bundeskanzler, Sie werden uns eines Tages dankbar sein, dass wir uns durchgesetzt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Das heißt: Vermittlungsausschuss ade!)

   Nun kommen wir zu dem von Ihnen kreiierten Gedanken, wir müssten die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie etwas zur Gegenfinanzierung!)

Sie werden uns sicherlich Recht geben: Es ist durch die Eskapaden der letzten Tage in Brüssel bestimmt nicht einfacher geworden. Dennoch hat all das, was wir gesagt haben, immer noch Bestand.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sagen ja nichts!)

Wir wollen nicht 90 Prozent auf Pump. Falls wir die Finanzierung der ungefähr 75 Prozent, die wir anvisiert haben, erreichen

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wie denn?)

und Sie dazu einen anständigen Vorschlag machen,

(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Joachim Poß (SPD): Machen Sie Vorschläge!)

dann hätten Sie, Herr Bundeskanzler, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Damit hätten wir nämlich die Auflagen von Brüssel erfüllt und gleichzeitig eine solide Finanzierung der Steuerreform zuwege gebracht. Das wäre doch etwas, womit wir uns in Europa sehen lassen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD)

   Herr Bundeskanzler, wir sind uns doch sicherlich einig: Obwohl die Wirtschaftssachverständigen ganz unterschiedliche Meinungen dazu haben, erhoffen Sie sich vom Vorziehen der Steuerreform einen Impuls für den Aufschwung und die Nachfrage.

(Zuruf von der SPD: Endlich haben Sie es begriffen!)

Sie, Herr Bundeskanzler, sagen heute, unsachgemäße Zusammenhänge zwischen Nachfrageimpuls und anderem dürfen nicht hergestellt werden.

(Jörg Tauss (SPD): Das ist wahr!)

Ich erinnere Sie daher an Ihre Worte vom 14. März:

Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Volltreffer!)

Wir sagen nichts anderes.

   Ich habe heute Morgen zugehört, als Herr Schmidt im Frühstücksfernsehen gesagt hat, es gäbe keinen Zusammenhang und es würde ganz harte Verhandlungen geben. Dazu sage ich Ihnen, wir werden dann auch nicht hinterm Berg halten; denn wir haben Ihnen schon so vieles durchgebracht, wovon Sie jetzt profitieren, ich nenne nur die Minijobs. Wenn Sie nicht mit dieser Art von Debatte aufhören, wie Herr Schmidt sie heute Morgen wieder geführt hat und wie auch Sie sie haben anklingen lassen, werden wir ganz deutlich machen, wer in diesem Land blockiert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der SPD: Sie blockieren!)

Ihre Blockaden sind ideologisch motiviert und Sie wollen bestimmte Dinge nicht durchgehen lassen. Das schadet dem Land. Das werden wir weiterhin beim Namen nennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Werden Sie mal konkret!)

Wer Wachstum will, muss mit Investitionen anfangen. Die Investitionsquote liegt unter 10 Prozent. Wir sind uns sicherlich einig, dass das alles andere als ein Ruhmesblatt ist.

(Zuruf von der SPD)

Sie haben mit Ach und Krach wenigstens bei den Großforschungseinrichtungen bis zum jetzigen Zeitpunkt das gehalten, was Sie voriges Jahr versprochen hatten. Aber schon wieder läuft Frau Schmidt mit dem Geldbeutel herum und will Mittel aus dem Forschungsministerium haben. Auch da wird schon wieder gekürzt. Es gibt keine Planungssicherheit für die innovativen Unternehmen in diesem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

   Über die Steinkohle wollen wir nicht sprechen, über die Maut spricht ganz Deutschland. Sie ist sicherlich nicht zum Wohle dieses Landes. Die Vignette abgeschafft, die Maut nicht eingeführt, Straßenbauprojekte stehen still, und dann sagen Sie, Sie wollten etwas für Arbeitsplätze machen. Uns gehen im nächsten Jahr Milliarden und Abermilliarden verloren, die für Investitionen, auch für neuartige Investitionen, nicht zur Verfügung stehen. Das ist die Realität der Arbeit Ihres Verkehrsministers.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es hilft auch nichts, dass Sie Heftchen in der Art einer roten Mao-Bibel mit der Überschrift „Deutschland bewegt sich“ herausgeben,

(Zuruf des Abg. Jörg Tauss (SPD))

weil ganz Deutschland sieht, dass nicht nur die Verkehrspolitik stecken geblieben ist, sondern vieles andere auch. Was ist denn mit der grünen Gentechnologie, einer erwiesenermaßen forschungsfreundlichen, entwicklungsfähigen Branche? Herr Bundeskanzler, ich unterstütze Sie bei allem,

(Zurufe von der SPD: Oh!)

was noch auf uns zukommen wird, auch wenn Sie mit der Kommission im Clinch liegen. Sie sind aber vor allem im Clinch mit dem Umweltminister über die Allokationspläne bezüglich der CO2-Emissionen in Deutschland. Das wird, wenn wir es nicht richtig machen, der Supergau für die Entwicklung Europas und insbesondere Deutschlands, was die energieintensive Industrie anbelangt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich fordere Sie angesichts des guten Verhältnisses, das Sie zu Russland haben, klar auf, der russischen Regierung zu sagen, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie die amerikanische Linie verfolgt und sich um die Beschlüsse von Kioto nicht mehr kümmert.

(Zuruf von der SPD: Sind Sie antiamerikanisch?)

Das Kioto-Protokoll ist wirkungslos, wenn Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika es nicht umsetzen und Europa für das Jahr 2012 für die Branche XY heute schon die Allokationspläne für die CO2-Emissionen macht. Dann können Sie sich das Lissabon-Ziel,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Vergessen!)

Europa zum dynamischsten Kontinent in den nächsten zehn Jahren zu machen, hinter den Spiegel stecken. Darüber lacht die Welt und wir sind die Benachteiligten. Das ist die Wahrheit und darüber müssen wir sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Jetzt komme ich zu den Befreiungsschlägen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Herr Clement auf der Regierungsbank sitzt, mag man über die Ausbildungsplatzabgabe gar nicht sprechen, weil sie ihn so traurig stimmt. Aber wir können es ihm nicht ganz ersparen. Glauben Sie eigentlich, dass Herr Solbes und Herr Prodi, wenn sie sich den Reformkatalog der Bundesregierung ansehen und als letzten Höhepunkt auf die Ausbildungsplatzabgabe stoßen, davon überzeugt sind, dass Deutschland auf dem richtigen Weg ist? Die fassen sich an den Kopf und fragen, was den Deutschen noch alles einfällt. Das ist doch der Grund, weshalb die so misstrauisch gegenüber uns geworden sind. Da unterstützen wir die Kommission. Da hat sie eins zu eins Recht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn sich Herr Solbes, Herr Bolkestein und Herr Monti in den Katalog vertiefen und sich ansehen, welche revolutionären Veränderungen uns beim Kündigungsschutz ins Haus stehen, dann glauben sie zuerst einmal, dass der Sprachendienst der Kommission falsch übersetzt hat. Sie werden denken, der Sprachendienst sei schuld! Jetzt hat man statt fünf nur noch fünf befristete Arbeitnehmer und der Kündigungsschutz in Deutschland bleibt ansonsten wie er ist. Glauben Sie, dass irgendjemand außerhalb des Willy-Brandt-Hauses und außer den Mitgliedern der SPD glaubt, dass dies eine Strukturreform für Deutschland ist? Ich glaube das jedenfalls nicht

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich auch nicht!)

und meine Fraktion auch nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Neulich auf der Betriebsrätekonferenz - auch ich hatte die Ehre, daran teilzunehmen - war Herrn Müntefering die Erleichterung darüber anzumerken, dass er nach zwei schwierigen Gewerkschaftstagen von IG Metall und Verdi den Genossinnen und Genossen und den Betriebsrätinnen und Betriebsräten verkünden konnte: Mit uns wird die Tarifautonomie nicht angerührt; darauf könnt ihr euch verlassen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist prima. Ich weise aber darauf hin, dass so die Strukturreformen in Deutschland nicht durchgesetzt werden. Das ist unsere Meinung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, auch in diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen, Ihre Rede vom 14. März nachzulesen. In dieser Rede hörte sich das nämlich alles anders an. Entweder es gibt eine wirklich griffige Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften oder, wenn das nicht der Fall ist, Sie müssen jetzt handeln. Angeblich steht ja die Stunde der Entscheidung ansteht. Wie lange sollen wir eigentlich noch darauf warten? Herr Solbes, Herr Prodi und die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen jedenfalls nicht länger warten.

(Johannes Kahrs (SPD): Subventionsabbau! - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Bei der Ausbildungsplatzabgabe waren sie ganz schnell!)

Entweder Sie setzen das um, was Sie angedeutet haben,

(Johannes Kahrs (SPD): Steuerreform!)

oder wir schaffen eine gesetzliche Regelung - wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht -, von der wir erwarten, dass sie zu einer substanziellen Veränderung des deutschen Arbeitsrechts führt, die wir für richtig und notwendig halten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundeskanzler, wir erwarten auch eine praktikable und vernünftige Regelung zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Uns sind die Probleme insbesondere in den neuen Bundesländern bekannt. Wir werden eine realistische Verhandlungslinie einschlagen. Aber Sie können nicht ernsthaft erwarten, dass wir hinsichtlich der Zumutbarkeit zulassen, dass die untertariflich bezahlte Beschäftigung, die heute für einen Arbeitslosengeldempfänger üblich ist, für die Empfänger des Arbeitslosengelds II plötzlich nicht mehr gelten darf, nur weil einige von Ihnen noch alten Ideologien anhängen. Es ist völlig undenkbar, dass wir das mittragen. Das muss in diesem Hause auch deutlich gemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Gestern wurde über die Strukturreformen in den Sozialsystemen gesprochen. Wir haben mit Ihnen zusammen kurzfristig ein Reformpaket verabschiedet, weil wir uns der Verantwortung stellen und mitmachen.

(Johannes Kahrs (SPD): Gut! Bei der Steuerreform!)

Herr Eichel hat gestern wieder darüber geschimpft, welche Partikularinteressen wir seiner Ansicht nach vertreten. Ich kann zwar aus Ihrer Warte heraus verstehen, dass Sie den Fremdbesitz von Apotheken ermöglichen wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Wir wollen das aber nicht. Deshalb haben wir uns auf einen vernünftigen Kompromiss geeinigt.

   Ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der Vorstellungen der Bundesregierung zeigt, dass die Gesundheitsreform zu einer Staatsmedizin mit einem staatlichen Qualitätsinstitut und der Vormacht der Kassen führen sollte, statt einen Wettbewerb zwischen Anbietern und Kassen herzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Johannes Kahrs (SPD): Sie haben doch die Reform verhindert!)

Tun Sie jetzt bitte nicht so, als seien Sie Strukturreformer par excellence!

   Wenn es um die nächsten 20 bis 30 Jahre geht, gibt es auch zwischen der CDU und der CSU kontroverse Diskussionen über die Zukunft der Sozialsysteme. Aber Ihre Beschlüsse zur Bürgerversicherung auf dem SPD-Parteitag sind das Allerletzte.

(Widerspruch bei der SPD)

Es gibt dazu weder ein klares Konzept, noch enthalten sie irgendetwas, was Deutschland nach vorne bringt.

(Johannes Kahrs (SPD): Sie sind doch unsozial mit der Kopfpauschale!)

   Uns allen in diesem Hause empfehle ich, die Stellungnahme des Sachverständigenrates zu berücksichtigen, derzufolge die Bürgerversicherung zu Einbußen von 3 Prozent in der wirtschaftlichen Dynamik führen würde, während das Prämienmodell zu einem 3-prozentigen Zuwachs führen würde.

(Johannes Kahrs (SPD): Subventionsabbau sagt er! Steuerreform sagt er!)

Nach Ansicht des Sachverständigenrats bedeutet das je nachdem entweder 1 Million Arbeitsplätze weniger, weil durch die Einführung einer Bürgerversicherung die Lohnnebenkosten steigen, oder 1 Million Arbeitsplätze mehr, weil durch die Gesundheitsprämie die Lohnnebenkosten sinken und eine Entkoppelung stattfindet.

(Johannes Kahrs (SPD): Vielleicht sollten Sie das Konzept einmal lesen! Lesen bildet und Denken hilft!)

   Ich meine, jeder in diesem Hause hat die Pflicht, solche Empfehlungen des Sachverständigenrates zumindest zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, ob sie uns nicht nach vorne bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, Deutschland braucht Veränderungen.

(Johannes Kahrs (SPD): Genau, Steuerreform, Subventionsabbau!)

Wir haben dazu ganz klare Vorschläge gemacht.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Herr Westerwelle erst ein kleines Päckchen bei sich trug, was ich mit Blick auf die FDP anerkenne, habe ich gesagt: Um nicht Bestimmungen zu verletzen, die regeln, welches Gewicht Frauen tragen dürfen, kann ich unseren Sack nicht mit nach vorne schleppen. Wir haben vieles eingebracht

(Lachen bei der SPD - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mal so, mal so!)

und wir haben klare Maximen,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Klarer Marxismus!)

die im Übrigen mit den Überschriften des Bundeskanzlers völlig übereinstimmen.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist schon mal was!)

Deutschland braucht Wachstum,

(Johannes Kahrs (SPD): Subventionsabbau und Steuerreform!)

Deutschland braucht wieder mehr Beschäftigte und Deutschland braucht Vertrauen in die Politik.

(Johannes Kahrs (SPD): Und eine Opposition, die nicht blockiert!)

All dies bekommt Deutschland nicht mit dieser Bundesregierung.

   Deshalb werden wir der Verantwortung, die wir im Bundesrat haben, Schritt für Schritt auf der Grundlage unserer Überzeugungen und auf der Basis der Bereitschaft zum Kompromiss gerecht werden. Aber eines, Herr Bundeskanzler, können Sie uns nicht absprechen: Es gibt keine Pflicht zum Kompromiss, wenn bei ihm die Vorteile nicht die Nachteile überwiegen. Nach dieser Maxime werden wir handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Vorteile für wen, für Deutschland oder für die CDU?)

   Herr Bundeskanzler, wenn wir so handeln, dann tun wir - davon bin ich hundertprozentig überzeugt - ein gutes Werk für Deutschland, auch wenn wir wissen, dass wir ein besseres für Deutschland tun könnten, wenn wir regierten.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): So viel Gottvertrauen möchte ich auch einmal haben! Einbildung scheint bei Ihnen die einzige Bildung zu sein!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Franz Müntefering, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen, die diese Haushaltsdebatte verfolgen, die wir hier im Bundestag führen, werden sich fragen, ob das, was hier stattfindet, nicht sehr gefährlich ist.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Für Sie!)

Hier fliegen Katastrophen, Sargnägel, Tragödien, Verfassungsbrüche, Charakterlosigkeiten und brutale Mehrheitsentscheidungen durch die Luft; das alles sind Begriffe, die von Ihnen seit gestern hier vorgetragen worden sind.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Mit Recht!)

Im Verlauf der Debatte wird wahrscheinlich noch hinzukommen, dass Sie eine Hungersnot und die Pest für unser Land ausrufen. Die Menschen draußen werden sich fragen, was das für eine Opposition ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle muss man feststellen, dass Ihnen Augenmaß und Verantwortung für eine Politik im Interesse unseres Landes fehlen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Glos hat heute Morgen gesagt, es gehe darum, das Beste für Deutschland zu tun.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das wären Neuwahlen!)

Herr Merz lädt aber zugleich die Kommission in Brüssel ein, in Sachen Defizitverfahren Klage gegen Deutschland zu erheben. So viel, verehrte Frau Merkel, zum Thema Patriotismus!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Stellvertreter Merz lädt die Europäische Kommission dazu ein, Klage gegen Deutschland zu erheben.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Gegen die Regierung, nicht gegen Deutschland!)

   Wir wissen, dass wir in Europa Rechte und Pflichten haben. Wir stehen zu den Pflichten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein!)

Wir wissen, dass Deutschland Wachstumsmotor in Europa sein muss. Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir auf einem schmalen Grat gehen, das heißt, wir müssen so weit wie möglich konsolidieren, aber auch dafür sorgen, dass der Wachstumspfad nicht zerstört wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Merz, wer in dieser Situation die Kommission in Brüssel aufruft, gegen sein eigenes Land

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Gegen die Regierung!)

zu klagen, der wird der Aufgabe, in seinem Land Politik zu machen, nicht gerecht und der ist nichts anderes als feige.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Noch gehört Deutschland nicht Rot-Grün!)

   In der heutigen Debatte sind aber nicht nur die Begriffe gefallen, die ich eben aufgezählt habe. Für diese Debatte ist ebenfalls typisch, dass Sie sich, Frau Merkel, schönreden

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- ich kann auch charmant sein - und die Dinge so verdrehen, dass sie weit an der Wahrheit vorbeigehen. Es ist immer gut, wenn man auf das hört, was zu Hause gesagt wird. Meine Frau hat folgende stehende Redewendung, die ich Ihnen vortragen möchte: So die Dinge zu verdrehen und falsch darzustellen, wie die in der Opposition das können, das lernst du nie! - Das gebe ich Ihnen gerne zu.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind zu wenig daheim!)

   Ich möchte Ihnen das an dem Thema Arbeitsplätze deutlich machen. Frau Merkel hat gesagt, die Zahl der Arbeitslosen sei jetzt um etwa 600 000 höher als im Jahre 1998. Das stimmt.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Nein, der Beschäftigten!)

- Nein, nicht der Beschäftigten. - Aber, Frau Merkel, seit 1998 sind geburtenstarke Jahrgänge in den Arbeitsmarkt gekommen. Das kann man an den Zahlen nachvollziehen. Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen ist deutlich höher geworden.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die Gesamtzahl ist gesunken!)

Es gibt heute 128 000 ABM- und SAM-Stellen weniger als damals. Außerdem ist die Bilanz bei der Zuwanderung positiv. Wenn man alles addiert, dann stellt man fest, dass im ersten Halbjahr 2003 die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland um 750 000 höher war als im Jahre 1998. Das ist die ganze Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte sie Ihnen zur Kenntnis geben, weil die Art und Weise, wie Sie dieses Land schlechtreden, nicht gut ist und an der Wahrheit weit vorbeigeht. Wir müssen den Menschen in diesem Land klar machen, dass sich alle anstrengen müssen, dass sie sich aber nicht Bange machen lassen müssen. Wer den Menschen Angst macht und ihnen einredet, Deutschland sei schwach und habe nicht die Kraft, nach vorne zu gehen, der versündigt sich an diesem Land. Genau das machen Sie und das werfe ich Ihnen vor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte Ihnen, Herr Westerwelle, der Sie mit erhabenem Pathos und großer Lautstärke geredet haben und der Sie den Liberalismus in Deutschland immer für sich in Anspruch nehmen, Folgendes sagen: Die deutsche Sozialdemokratie, die über 140 Jahre alt ist, hat in ihrer Geschichte große liberale Frauen und Männer in ihren Reihen gehabt. Ich nenne als Beispiele nur Carlo Schmid, Willy Brandt, Johannes Rau und Helmut Schmidt. Vor diesem Hintergrund klang Ihre Rede ungefähr genauso, als ob Daniel Küblböck „Großer Gott, wir loben dich“ gesungen hätte.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der harte Kern des Liberalismus bedeutet, dass sich Menschen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich das ansprechen, was sich auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland tut und noch tun muss. Wir werden den Menschen viel zumuten müssen. Das tun wir auch. Wir sind der Meinung, dass jede Arbeit, die es in Deutschland gibt, von den Menschen getan werden muss, die legal in Deutschland sind. Dazu stehen wir

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schröder hat gesagt: Ich mach euch fertig!)

und das machen wir auch.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Das eine oder andere Detail wird gleich noch zu besprechen sein.

   Es gibt allerdings eines, worauf wir nicht verzichten werden - das sage ich Herrn Westerwelle und auch allen anderen in diesem Lande -: Wir werden darauf achten, dass weiterhin auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird. Die Wirtschaft ist letztendlich für die Menschen da - nicht umgekehrt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb müssen alle, die sich in diesem Lande mit diesem Thema beschäftigen, wissen, wo die Grenze ist.

   Die Tarifautonomie ist die verfassungsmäßig geklärte und garantierte Zuständigkeit der Tarifparteien. Sie müssen sich selbst Regeln geben und Verträge schließen, die regeln, wie sie damit umgehen.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Das ist Freiheit!)

Die Tarifhoheit steht nicht zur Disposition. Sie bedeutet auch, dass die Tarifparteien unter sich klären, unter welchen Bedingungen sie vom vereinbarten Flächentarif abweichen. Es passiert in Deutschland jeden Tag Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Male, dass Betriebsräte bzw. Personalräte bereit sind, zusammen mit den Chefs ihrer Unternehmen, mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgeberverbänden vom Flächentarifvertrag abzuweichen. Das muss auch so sein. Das bestreiten wir nicht. Ich wiederhole: Zur Tarifhoheit gehört auch die Hoheit der beiden Tarifparteien über die Schaffung von Regeln, die vom Flächentarifvertrag abweichen. Das wollen wir und so wird es auch praktiziert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Westerwelle, zum Liberalismus gehören soziale Gerechtigkeit und Solidarität.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Vielen Dank, Herr Oberlehrer!)

- Ich will es Ihnen nur noch einmal sagen, weil Sie offensichtlich glauben, Sie hätten in diesem Bereich den Alleinvertretungsanspruch. Auch wir nehmen in Anspruch, den Liberalismus zu vertreten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das war wegen des demokratischen Sozialismus!)

- Ein interessanter Zwischenruf. - Eine Gesellschaft kann nie auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität verzichten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Bei all dem, was wir jetzt hier zu diskutieren haben, auch bei dem, was wir den Menschen zumuten, muss immer klar sein: Diese Messlatten gelten auch für uns; das, was ich beschrieben habe, sind die Ziele unserer Politik. Deswegen sage ich Ihnen: Liberalismus ist mit Solidarität in der Gesellschaft sehr wohl zu vereinbaren. Ich glaube, dass starke Individuen eher als schwache zu Solidarität fähig sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen Ihnen dieses Feld nicht überlassen. Sie sollten schon gar nicht die Chance haben, sich als diejenigen darzustellen, die in diesem Land für Liberalismus und Freiheit in ganz besonderer Weise zuständig sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Jahr 2004 wird ein anstrengendes, aber auch ein gutes Jahr für Deutschland sein. Wir haben ein Wachstum von 1,5 Prozent - vielleicht etwas mehr - zu erwarten. Das bedeutet einen Zuwachs von 30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro. Wir sind Exportweltmeister. Die Preise sind stabil. Die Städte und Gemeinden werden im nächsten Jahr mehr in ihrer Kasse haben und werden wieder investieren können. Sie werden somit den kleinen und mittleren Unternehmen und dem Handwerk vor Ort die nötigen Aufträge erteilen können.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Hören Sie mal auf mit den Märchen! Zählen Sie mal alles zusammen! Das ist weniger!)

Dies wird umso mehr der Fall sein, wenn das Vorziehen der Steuerreform gelingt;

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

denn 7 Milliarden Euro von der Entlastung in Höhe von 22 Milliarden Euro kommen den kleinen und mittleren Betrieben, den Personengesellschaften - sie müssen Einkommensteuer zahlen und würden somit entlastet - zugute. Diese Unternehmen würden das zusätzliche Geld ganz bestimmt vernünftig investieren.

   Es wird im nächsten Jahr wieder mehr Studentinnen und Studenten in den Naturwissenschaften und in den Ingenieurfächern geben. In diesem Bereich hat unser Reden, Tun und Werben der letzten Jahre schon gewirkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt in diesen Fächern bei den Studentenzahlen eine große Delle, die wir auszugleichen haben. Dabei sind wir auf einem guten Weg.

   Die neue Handwerksordnung wird es im nächsten Jahr zum ersten Mal ermöglichen, dass sich erfahrene Gesellen selbstständig machen und Unternehmen gründen können. Wir werden im nächsten Jahr die vernünftige Energiepolitik - dazu waren Sie nie fähig - fortsetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden einen vernünftigen Energiemix in Deutschland auch für die Zukunft sichern. Die Energiepolitik wird eines der Felder sein, die uns im Lande, aber auch weltweit in unseren Exportmöglichkeiten stärken. Dabei spielen neue Energien eine Rolle, aber dabei spielen auch die traditionellen Energien eine große Rolle.

   Weil heute Morgen schon einiges über die Kohle gesagt worden ist, will ich als einer, dessen Zuhause nicht weit weg von den Standorten ist, auch etwas dazu sagen. Es scheint in Deutschland zum Teil den Irrglauben zu geben, dass Menschen, die sich bei der Arbeit dreckig machen, Menschen von gestern oder vorgestern sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In unseren Industriebetrieben, im produzierendem Bereich gibt es noch Menschen, die sich bei der Arbeit dreckig machen müssen, die mit höchster Qualität, mit höchst modernen Maschinen und unter höchst modernen Bedingungen arbeiten. Das ist auch im Kohlebergbau so.

(Beifall bei der SPD)

   Wir wissen, dass der Energiebedarf der wachsenden Menschheit in den kommenden Jahren und Jahrhunderten in hohem Maße mit Kohle, Öl und Gas gedeckt wird. Wir sind als Deutsche gut beraten, wenn wir mit leistungsfähigen und umweltfreundlichen Kraftwerken der Welt helfen, dieses System im Griff zu behalten. Wenn die wachsende Zahl der Menschen auf dieser Welt mit der Energie so umgeht, wie wir in den Industrieländern es in den letzten zwei, drei Jahrhunderten getan haben, dann ist der Stern bald am Ende. Deshalb macht es großen Sinn, im eigenen Land noch den Energieträger Kohle zu haben. Das führt nämlich dazu, dass wir nicht nur neue Technologien beim Abbau im Berg, sondern auch Kraftwerke haben, in denen Kohle umweltfreundlich verbrannt werden kann und die dazu beitragen, dass das auch weltweit so geschieht. Das ist eine große Aufgabe, die wir alle miteinander haben.

(Beifall bei der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jubel bei den Grünen!)

   Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Vermittlungsagentur weiterentwickeln. Es ist im Moment Mode geworden, sich den Mund darüber zu zerreißen und so zu tun, als ob die Bundesanstalt ein großes Schlachtschiff wäre, das man überhaupt nicht lenken und leiten könnte.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): So jedenfalls nicht!)

Wir werden noch große Anstrengungen unternehmen, um die Bundesanstalt für Arbeit zu modernisieren, um sie auf ihre neue Aufgabe einzustellen. Aber dass sie sie erfüllen kann und auch erfüllen muss, steht fest. Deshalb werden wir diese Umwandlung der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr auf der Basis von Hartz III gestalten.

   Wir werden im nächsten Jahr die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger dichter als bisher am Arbeitsmarkt haben. Es sind etwa 1 Million erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger, die beim Arbeitsamt bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt bisher wenig Unterstützung hatten. Das wollen wir verbessern. Das wollen wir intensivieren. Das schaffen wir mit dem Gesetz, das jetzt in der Beratung im Bundesrat ist.

   Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, den Kampf gegen die Schwarzarbeit und die illegale Beschäftigung noch verstärken. 7 000 Menschen insgesamt, überwiegend vom Zoll, werden in diesem Bereich tätig sein und dazu beitragen, dass in Deutschland endgültig klar wird: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind keine Kavaliersdelikte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Leute, die etwas davon verstehen, sagen uns, dass etwa 18 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts im Bereich der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung erwirtschaftet werden. Wenn das stimmt, sind das 300 bis 400 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Der ehrliche Unternehmer, der seine 20 Leute ordentlich versichert, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge abführt, wird bei seinen Angeboten von den ganz Großen unterlaufen, die mit Subsubunternehmen arbeiten. Das darf nicht sein. Wir können es nicht dabei belassen, dass der ehrliche Arbeitnehmer und der ehrliche Arbeitgeber die Dummen sind und sich die anderen ins Fäustchen lachen. Da werden wir im nächsten Jahr mit aller Energie noch einmal nachstoßen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden im nächsten Jahr die ersten Schritte tun, um die großen gesellschaftlichen Innovationen, um die es geht, einen entscheidenden Schritt voranzubringen. Ich nenne zunächst die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir haben auf Bundesebene entschieden, dass wir in dieser Legislaturperiode den Städten und Gemeinden auf verschiedenen Wegen 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, damit sie das Angebot für die unter Dreijährigen und für die Grundschüler verbessern. Dabei geht es um eine große gesellschaftliche Innovation, die das ganze Jahrzehnt in Anspruch nehmen wird. Wir wollen, dass die Erwerbsquote der Frauen nicht bei 60 Prozent im Westen bzw. 55 Prozent im Osten hängen bleibt. Wir brauchen die Intelligenz und die Fähigkeiten dieser Frauengeneration. Wir wollen sie in der Erwerbstätigkeit genutzt wissen. Wir wollen den Kindern bessere Chancen geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir als Bund übrigens völlig freiwillig. Wenn wir sie nicht geben würden, würde uns niemand einen Vorwurf daraus machen können. Sie wären wahrscheinlich überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

   Wir könnten diese 8,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr natürlich auch in die Rentenversicherung stecken. Dann müssten wir vieles nicht tun, was manchen wehtut. Da sind wir an einem Punkt, über den man offen sprechen muss. Gegenwartsinteressen haben immer eine stärkere Lobby als Zukunftsinteressen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Ja!)

Aber Zukunft ist bald Gegenwart. Wir müssen den Mut haben - wir in dieser Koalition haben ihn -, denen, die älter sind, zu sagen: Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir euren Enkelkindern, damit die eine ehrliche Chance haben, damit es für die nachkommenden Generationen Chancengerechtigkeit gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Unter dem Gesichtspunkt, wie man was am besten verkauft, wäre ein anderer Weg einfacher für uns. Wir sind alle lange genug dabei, um das zu wissen. Wir verfolgen weder an dieser Stelle noch an anderen Stellen die einfachste Linie.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Es ist nicht die beste!)

Trotzdem ist es nötig, dass wir begreifen, dass hier eine gesellschaftliche Innovation läuft, die über das ganze Jahrzehnt gehen wird. So etwas haben Sie in der damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition über die ganzen 16 Jahre nicht zustande gebracht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden Innovationen in der Gesellschaft voranbringen, indem wir Ältere nicht beiseite schieben, sondern ihnen im Berufsleben und auf dem Arbeitsmarkt Chancen geben. Dazu müssen wir einige Dinge umsetzen, die uns wehtun und über die wir uns mit den Gewerkschaften und auch untereinander streiten. So wollen wir zum Beispiel, dass das Arbeitslosengeld für Ältere nicht mehr so lange gezahlt wird, wie das bisher der Fall ist. Einfacher wäre es, wir würden das nicht tun, aber wir machen es trotzdem, weil es richtig ist und wir erreichen wollen, dass in dieser Gesellschaft in den nächsten Jahren Schritt für Schritt - hierzu wird es vernünftige Übergangsfristen geben - die 55- und 60-Jährigen nicht mehr nach Hause geschickt und zur Seite geschoben werden, sondern weiterhin am Arbeitsprozess teilnehmen können und Möglichkeiten erhalten, sich weiterzuqualifizieren und weiterzubilden. Das muss wieder gelernt und dafür muss Verständnis geweckt werden. Das ist das Ziel unserer Politik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich sehe Handbewegungen, die man so interpretieren könnte, dass auch Sie das für richtig halten. Machen Sie dann doch dabei mit! Alle Gesetze, die jetzt im Bundesrat liegen, laufen auf diese gesellschaftlichen Innovationen hinaus, die ich gerade beschreibe. Lassen Sie sich nicht durch Details irritieren, die mehr oder weniger populär sind, sondern denken Sie an das, was im Großen in die Wege geleitet wird!

   Die dritte große gesellschaftliche Innovation ist, dass wir dafür sorgen wollen, dass junge Menschen, wenn sie aus der Schule kommen, nicht arbeitslos werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir eine zunehmende Zahl von jungen Menschen haben, die, wenn sie aus der Schule kommen, keine Ausbildung erhalten, keinen Arbeitsplatz finden und auch keine Hochschulbildung erfahren.

   Für die Schulen und für die Hochschulen ist der Staat zuständig, für die duale Ausbildung sind die Unternehmer zuständig. Wir müssen also erreichen, dass in den nächsten drei bis vier Jahren diese jungen Menschen, solange ihre Zahl noch so hoch ist, eine Chance bekommen, wenn sie ihre Schulausbildung beenden. Nachdem wir den jungen Menschen in unserem Land gesagt haben: Jetzt lerne, pauke und strenge dich an!, ist es für sie eine verheerende Botschaft, wenn wir ihnen nach dem Verlassen der Schule sagen müssen: Es hat leider für dich nicht gereicht. Setz dich in die Ecke, bezieh Stütze und halte den Mund; du wirst nicht gebraucht! - Deshalb werden wir hier etwas tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Uns wäre es das Liebste, wenn die Ausbildungsumlage nie zum Tragen kommt. Das ist überhaupt nicht unser Ziel. Dass Sie sich darüber den Mund zerreißen, entspricht Ihrem Verhalten, das ich vorhin mit „an der Wahrheit vorbeireden“ umschrieben habe. Sie wissen genau, wie das ist: In diesem Jahr fehlen für etwa 6 bis 7 Prozent der Schulabgänger Ausbildungsplätze. Ich frage mich, warum eine Wirtschaft, in der 70 Prozent der Unternehmen nicht ausbilden, nicht in der Lage sein sollte, für diese 25 000 bis 30 000 jungen Menschen - ich unterstelle einmal einen Bedarf von 500 000 Ausbildungsplätzen - Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das muss doch möglich sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie wissen doch so gut wie wir: Der gute Ruf von „Made in Germany“ beruht auf der qualifizierten Ausbildung, die die Menschen bei uns im Lande erfahren haben. Die Unternehmen sind gut beraten, wenn sie junge Menschen erreichen, aufnehmen, ausbilden und qualifizieren; denn in fünf bis sechs Jahren wird die Zahl der jungen Menschen, die die Schule verlassen, sehr viel niedriger sein als heute. Wenn es uns gelingt - da sind wir ja auf gutem Weg -, eine immer größere Zahl aus den jeweiligen Jahrgängen zu einem Hochschulstudium zu bewegen - der Anteil stieg inzwischen von 28,5 auf 35 Prozent der Schulabgänger eines Jahrgangs, eine stolze Zahl -,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und wir die 40-Prozent-Marke erreichen, die wir uns vorgenommen haben, wird die Zahl und die Qualität derer, die sich nach der Schule für die duale Ausbildung entscheiden, noch viel geringer sein als heute.

   Ein Unternehmer darf doch nicht nur darüber nachdenken, welche neuen Maschinen er sich in drei oder vier Jahren kauft, sondern er muss auch darüber nachdenken, wie er rechtzeitig Menschen qualifiziert, indem er ihnen eine Chance auf Ausbildung gibt. Wir erwarten deshalb, dass das auch passiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Eine weitere große gesellschaftliche Herausforderung und Innovation ist es, alle Arbeit, die in Deutschland anfällt, mit den Menschen zu tun, die legalerweise in Deutschland sind.

Bei der Qualifikationsskala haben wir sowohl oben als auch unten ein Problem. Das Problem am oberen Ende ist, dass es für bestimmte Berufe nicht genügend Absolventen gibt: Uns fehlen Ingenieure und andere Fachkräfte im naturwissenschaftlichen Bereich. Das wird besser; aber noch immer ist die Zahl derer, die in Rente gehen, in diesem Bereich höher als die Zahl derer, die zurzeit von den Hochschulen kommen. Es ist ein Verhältnis von fünf zu sieben; das Delta wird immer größer. Deshalb muss an dieser Stelle nachgearbeitet werden. Vielerorts fehlen uns hoch qualifizierte Mathematiker.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jetzt wissen wir auch, warum sich der Eichel dauernd verrechnet!)

Natürlich brauchen wir auch in diesem Bereich Menschen, die aus aller Welt zu uns kommen.

   Aber auch am unteren Ende der Qualifikationsskala, bei den einfachen Arbeiten, haben wir ein Problem, dem Sie ausweichen und immer ausgewichen sind, an das wir uns aber heranwagen. Auch das ist nicht leicht. Da kommt man nämlich zu der Frage der Zumutbarkeit. Wir legen in unseren Gesetzen fest: Die Zumutbarkeit wird gegeben sein und sie wird in Zukunft anders als bisher realisiert.

   Was Sie unterstellen, stimmt nicht: Es wird nicht so sein, dass jemand, der arbeitslos ist, sich aussuchen kann, welche Arbeit er annimmt. Zumutbarkeit, wie wir sie in unserem Gesetz definieren, beinhaltet sehr wohl, dass ihm eine Arbeit zugewiesen werden kann, etwa eine Arbeit in einem anderen Beruf, die schlechter bezahlt ist als eine Arbeit in seinem ursprünglichen Beruf. Aber er wird nicht Dumpinglöhnen ausgesetzt sein, sondern den Lohn bekommen, der örtlich tariflich vereinbart ist. So haben wir die Zumutbarkeit definiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn Sie über dieses Thema reden, habe ich den Eindruck, dass Sie gar nicht genau wissen, was eigentlich in den Gesetzen steht. Sie sollten das einmal lesen, statt sich in Vorurteilen zu verlieren.

(Jörg Tauss (SPD): Das setzt Begreifen voraus!)

   Fortschritt ist eine schwierige Angelegenheit.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ein historischer Satz!)

Das haben wir in der Geschichte unserer Partei und der Geschichte dieses Landes gelernt. Wir wollen Fortschritt; das ist klar. Aber wir wissen, dass es schwierig ist. Wir wissen, dass man auch bestimmte Bedingungen zu erfüllen hat, um den Fortschritt möglich zu machen. Eine entscheidende Bedingung für den Fortschritt ist ein Haushalt für das Jahr 2004, der die Balance zwischen Konsolidierung, Strukturreformen und Wachstumsimpulsen hält. Auch dazu sind schon manche Zahlen genannt worden; deshalb nur noch die folgende, um es auch von dieser Seite einmal zu beleuchten: Die Nettokreditaufnahme im Jahre 2004 wird 15,1 Milliarden Euro niedriger sein als in diesem Jahr. Auch so kann man das sehen.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Investitionen werden im nächsten Jahr mit 24,6 Milliarden Euro fast so hoch sein wie in diesem Jahr.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Mit Maut oder ohne?)

Der Subventionsabbau wird uns in den nächsten Tagen und Wochen hoffentlich gelingen. Was Sie dazu erzählen, sollte inzwischen eigentlich Thema in allen Schulen in Deutschland sein:

(Michael Glos (CDU/CSU): Baumschulen!)

Erstens weniger Schulden machen als bisher, zweitens Subventionen abbauen - aber bitte nicht konkret -, drittens gegen die Defizitkriterien in Brüssel nicht verstoßen - wie das gleichzeitig gehen soll, soll mir mal einer zeigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Uwe Küster (SPD), zur CDU/CSU gewandt: Mengenlehre! Nachsitzen!)

   Deshalb noch einmal die dringende Empfehlung, in Sachen Subventionsabbau jetzt konkret zu werden. Wie ist das denn mit der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale?

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Mehr fällt Ihnen nicht ein! Wie ist es denn mit der Kohle?)

Glauben Sie, das sei für uns in der öffentlichen Debatte und in den Versammlungen einfach? Das machen wir doch nicht, weil wir unsere Wählerinnen und Wähler bedienen wollten! Sie und viele andere sagen uns: Runter mit den Subventionen! Da frage ich Herrn Merz - er schaut lieber zur Seite -,

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein! Ganz geradeaus!)

wie der Subventionsabbau aus seiner Sicht erfolgen soll, wie er das, was er sich zu propagieren vorgenommen hat und jeden Tag in der Presse niederschreiben lässt, realisieren will, wie er mit den Subventionen in Deutschland umgehen will.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Das haben wir doch gesagt!)

Reden Sie doch einfach mal ganz ehrlich darüber! Beschreiben Sie nicht nur die Schokoladenseite, indem Sie davon sprechen, dass nach Ihren Vorstellungen fast keine Steuern mehr gezahlt werden müssen, sondern sagen Sie auch, was alles wegfällt. Wenn wir uns darüber, was wegfallen soll, einig sind, sind wir schon ein ganzes Stück weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun zu den Wachstumsimpulsen für das nächste Jahr: Durch das Vorziehen der Steuerreform sollen für 2004 und 2005 insgesamt 21,8 Milliarden Euro frei werden. Der Grundfreibetrag, also der Betrag, bis zu dem man gar keine Steuern zahlt, wird mit 7 664 Euro höher sein als jemals zuvor in Deutschland.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Hätten Sie alles schon haben können!)

Der Eingangssteuersatz wird mit 15 Prozent niedriger sein als jemals zuvor. Auch der Spitzensteuersatz wird mit 42 Prozent niedriger sein als jemals zuvor.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Seit 1997 hätten wir den haben können!)

Eine Familie mit zwei Kindern wird 37 650 Euro verdienen können, bevor sie überhaupt Steuern zahlt. Das sind im Monat 3 135 Euro - um es noch einmal in D-Mark zu sagen: 6 000 und ein bisschen -, ehe überhaupt Steuern gezahlt werden.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Ehe Einkommensteuer gezahlt wird!)

7,9 Millionen, das sind 27 Prozent der Steuerpflichtigen, werden keine Steuern mehr zahlen.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Keine Einkommensteuer! Sie haben keine Ahnung vom Steuerrecht!)

- Keine Einkommensteuer, okay. - Alles das ist möglich, wenn Sie zustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

   Nun noch zu den Kommunen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Es bleibt heute aber auch nichts unausgesprochen!)

aus denen uns viele ehrenwerte christdemokratische und christsoziale Oberbürgermeister und Bürgermeister anschreiben und darum bitten: Nun helft doch, dass das zustande kommt! Das, was ihr vorgeschlagen habt, ist ganz vernünftig. Macht das doch bitte!

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Wie bitte? Die haben protestiert gegen Sie! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die Zwergendemonstration!)

- Weil die erstaunte Zwischenfrage kommt, frage ich: Soll ich Ihnen Frau Roth vom Deutschen Städtetag zitieren? Oder wen soll ich Ihnen jetzt eigentlich nennen? Die Vertreter der Kommunen sagen uns: Wir haben uns das alles noch schöner vorgestellt, aber bitte macht doch wenigstens das! Sorgt doch dafür, dass wir Städte und Gemeinden ab Januar nächsten Jahres mehr Geld in unserer Kasse haben! - Die Kommunen hätten nämlich im nächsten Jahr allein auf diesem Weg 2,5 Milliarden Euro mehr in der Kasse. Das wissen die Kommunen. Sie brauchen das Geld auch dringend. Sie hätten übrigens schon viel mehr, wenn Sie nicht beim Steuervergünstigungsabbaugesetz verhindert hätten, dass 6 Milliarden in die Kassen der Städte und Gemeinden kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Merkel, schreiben Sie einmal einen ehrlichen Brief - nicht einen, mit dem man sich schönredet und schön macht -

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Gucken Sie mal in den Spiegel! Damit können Sie Kinder erschrecken!)

an Ihre Fraktionen im lokalen Bereich und teilen Sie denen mit, wie sich diese Steuerreform tatsächlich für die Städte und Gemeinden auswirkt, wie die Gewerbesteuerreform und die Gemeindewirtschaftsteuerreform dazu beitragen, dass die Kommunen mehr in der Kasse haben werden. Sie werden weitere 1,9 Milliarden haben, wenn wir bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe dafür sorgen, dass Städte und Gemeinde eine entsprechende Entlastung bekommen. Es geht um 4,4 Milliarden im nächsten Jahr und 5 Milliarden im Jahr 2005. Das ist schon eine ganze Menge. Das ist vor allen Dingen Geld, mit dem Arbeit geschaffen werden kann bei den Handwerkern, bei den kleinen und mittleren Unternehmen.

   Für Fortschritt und ein gutes Jahr 2004 sind Impulse bei Innovationen und bei Wachstum erforderlich. Wir wissen, dass wir auf einem langen Weg sind, aber wir haben schon eine ganze Menge in Bewegung gesetzt. Eine Erhöhung bei den Investitionen von 7,3 Milliarden 1998 auf 9,1 Milliarden im Jahre 2003 ist ein Plus von 25 Prozent. Dafür erfahren wir wenig Dankbarkeit in der öffentlichen Debatte, aber diese Investitionen in die Zukunft sind außerordentlich wichtig.

   Inzwischen gibt es eine Reihe von positiven Reaktionen und Entwicklungen. In der Lasertechnologie haben wir mittlerweile einen Weltmarktanteil von 40 Prozent; mehr als 50 000 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Für das IT-Forschungsprogramm 2006 haben wir 3 Milliarden zur Verfügung gestellt. Unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft ist die größte einschlägige Forschungseinrichtung in Europa entstanden. Im Bereich der Nanotechnologie ist Deutschland auf Platz zwei hinter den USA.

   Das ist noch nicht die Lösung und wir müssen weitergehen. Aber auch an der Stelle gilt: Uns ist bewusst, dass wir einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in Bildung, in Qualifizierung, in Forschung und in Technologie investieren müssen. Ob das angenehm ist, ist eine andere Frage. Ob wir dafür im Augenblick Pluspunkte bei den Umfragen bekommen, ist ebenfalls eine andere Frage. Wir machen Politik für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir müssen investieren in die Zukunft dieses Landes und das tun wir.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich finde, dass unsere Partei mehr Mut zeigt als Sie, Frau Merkel. Das wird sich schließlich herausstellen und es wird anerkannt werden, wenn man diese Jahre beurteilen wird.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Wie hat der Kanzler den Parteitag kommentiert? Kollektive Unvernunft!)

   Sie machen schöne Überschriften, aber da, wo es konkret wird, laufen Sie vor den Realitäten weg. Sie weigern sich, mit zu entscheiden, wenn es darum geht, zum Beispiel Subventionen zu streichen - das ist nicht populär - oder wenn es darum geht, an anderer Stelle Geld zur Verfügung zu stellen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

   Wir haben den Anteil der Studienanfänger von 27,7 auf 35,1 Prozent erhöht.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Die Zahlen hatten wir schon! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Da wird Ihre Frau heute Abend aber schimpfen!)

Der Anteil der BAföG-Empfänger ist von 33,5 auf 47 Prozent gestiegen. In diesem Jahr werden für BAföG 61 Millionen Euro mehr ausgegeben. Das ist eine Erfolgsgeschichte des BAföGs.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Alles schon gesagt! Eine so lange Redezeit sollte Sie nicht dazu verführen, alles zu wiederholen!)

   Inzwischen bekommen 87 800 junge Menschen Meister-BAföG. Das sind 56 Prozent mehr als im Jahr 2001. - Ich habe Verständnis dafür, dass Sie sich untereinander austauschen müssen. Deshalb wiederhole ich diese Zahl; denn ich nehme an, dass Sie sich besonders für die Frage interessieren, wie die Situation bei der Meisterausbildung im Handwerk ist: Seit wir regieren, haben es 56 Prozent mehr junge Menschen das Meister-BAföG in Anspruch genommen. Das ist die Politik von Rot-Grün.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Deshalb muss also der Meistertitel abgeschafft werden!)

   Zum Fortschritt, den wir brauchen, gehört auch, dass wir etwas für die Familien und für die Kinder tun. Wir müssen dafür sorgen, dass sie bei dem, was in diesem Lande geschieht, gut wegkommen.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Auch das haben Sie schon vorgetragen!)

Ich will in diesem Zusammenhang auf einen Nebenaspekt eingehen, der nicht zwingend in eine solche Debatte gehört. Die Bundesregierung hat vorgestern bekannt gegeben, dass Sie etwas gegen die Versuchung von Kindern und jungen Menschen unternehmen will, auf leichte Weise alkoholische Getränke im Übermaß zu genießen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das hat er vor der Rede genommen!)

Das ist zwar möglicherweise ein Thema, das eher am Rande steht. Trotzdem sollten wir es sehr ernst nehmen. Es gehört nämlich auch zur Verantwortung der Politik, der Eltern und der Großeltern, sich darüber Gedanken zu machen, welche Gefahren unseren Kindern und jungen Menschen drohen können. Deshalb sage ich in Richtung Bundesregierung ausdrücklich: Danke schön. Wir werden dieses Vorhaben tatkräftig unterstützen. Wir wollen, dass die Alcopops deutlich verteuert werden, damit die Kinder davor geschützt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht nicht immer nur um große Gesetzesvorhaben, sondern es kommt auch darauf an, dass man weiß, worum es geht, und dass man entsprechende Maßnahmen ergreift.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Eine neue Steuer!)

   Das Jahr 2004 wird ein Jahr Europas sein.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nachhaltig geschädigt!)

Darüber ist heute schon viel gesprochen worden. Denn es wird das Jahr sein, in dem Europa größer wird und in dem die Organisation seiner Mitgliedsländer neu justiert wird. Die Entscheidung, die wir jetzt treffen, ist wichtig und wird für lange Zeit tragen. Wir alle miteinander müssen dafür werben, dass dieses Europa im Verständnis der Menschen die Bedeutung bekommt, die ihm zusteht.

   Seit 58,5 Jahren gibt es Frieden in Europa. Wir Älteren müssen den Jüngeren noch öfter sagen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Seit Jahrhunderten hat Europa zum ersten Mal wieder Frieden über einen so langen Zeitraum. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir ein Wohlstandsland sind und auf Dauer bleiben werden. Kein Land allein - nicht Deutschland und auch nicht andere Länder - wird Wohlstand und soziale Gerechtigkeit innerhalb seiner Grenzen garantieren können, wenn sich nicht dieses Europa zu einer Wohlstandsregion entwickelt, die das Miteinander organisiert.

   Darum geht es auch in dem Streit, den es gestern in Brüssel gegeben hat. Dabei hat Hans Eichel die Interessen unseres Landes mit Unterstützung der großen Mehrheit der anderen EU-Länder wahrgenommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Europa kann keine Veranstaltung sein, in der man der Kommission oder anderen nach dem Mund redet. Es gehört zur Demokratie dazu, dass man seine Interessen einbringt und sie verdeutlicht. Man muss darum streiten und dann vernünftige Kompromisse finden. Wir haben diese Kompromisse gemacht. Wir haben die Empfehlungen der Kommission aufgenommen und sie in unserer Agenda 2010 umgesetzt. Noch im Mai dieses Jahres hat die Europäische Kommission festgestellt, dass wir unsere Sache gut machen. Nun gibt es in dieser Frage einen Sinneswandel. Woher der kommt, mag man in Brüssel beurteilen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Gucken Sie sich die Ergebnisse an!)

   Wir stellen jedenfalls fest, dass dieses Europa eine ganz wichtige politische Rolle für das nächste Jahr und für die kommenden Jahre für die Bundesrepublik Deutschland spielen wird. Was Rechte und Pflichten angeht, müssen wir unseren Teil dazu beitragen, dass es eine Erfolgsstory wird. Es ist die größte historische Entwicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewesen, dass dieses Europa zusammengefunden hat. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass das auch in Zukunft so bleibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das hat man gestern gesehen!)

   Ich will ein Allerletztes ansprechen. Wir haben eine Kommission eingesetzt, die ein Konzept für eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung erarbeiten wird.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Sie haben viele Kommissionen eingesetzt!)

Die Veränderung, um die es dabei geht, wird nicht so schnell möglich sein, dass das noch für unsere jetzigen Beratungen von Bedeutung wäre. Trotzdem fragt man sich, ob wir alle miteinander eigentlich gut beraten sind, wenn wir so tun, als ob die Regeln, nach denen wir in Deutschland Demokratie organisieren, noch zeitgemäß wären. Unser Grundgesetz ist zwar eine Erfolgsstory, aber es hat inzwischen viele Verkrustungen gegeben. Wir müssen dringend daran arbeiten, wie die Gesetzgebungskompetenz und die Zuständigkeit der Länder und des Bundes besser, vernünftiger, offener und transparenter organisiert werden. Wir müssen darüber sprechen, wie Bund und Länder miteinander in Europa und weltweit nationale Interessen wahrnehmen können.

   Darüber wird es, wie ich hoffe, im nächsten Jahr eine ganz spannende Debatte geben. Manche warnen und sagen, es sei nicht möglich, etwas zu bewegen. Ich sage: Es muss möglich sein. Wir müssen im Jahre 2004 in Deutschland hinbekommen, die Demokratie zeitgemäß und neu zu organisieren, indem wir an all dem, was sich bewährt hat, festhalten und auch dafür sorgen, dass sich Bund und Länder nicht gegenseitig blockieren. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Zur Erneuerung und zum Zusammenhalt in diesem Lande gehört auch diese Aufgabe.

   Deshalb abschließend: Das Jahr 2004 wird anstrengend sein. Aber ich sage voraus: Es wird ein gutes Jahr für unser Land, für Deutschland sein können. Dazu wollen wir unseren ehrlichen und guten Beitrag leisten.

   Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müntefering, der Fraktionsvorsitzende der SPD, hat versucht, eine Zukunftsperspektive darzustellen. Dazu ist zu sagen: Sie sind seit fünf Jahren an der Macht; Sie hätten längst damit beginnen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wer die Gegenwart nicht in den Griff bekommt, kann auch die Zukunft nicht gestalten.

   Herr Kollege Müntefering, angesichts Ihrer Äußerungen über Kollegen in diesem Hause bin ich daran erinnert, wie sich Dieter Bohlen mit seinem langjährigen früheren Partner Thomas Anders auseinander setzt. Das ist in etwa das gleiche Niveau und gehört nicht in den Bundestag.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Herr Bundeskanzler hat vorhin in seiner Rede von den Wachstumsperspektiven gesprochen. Natürlich brauchen wir Wachstumsperspektiven und Wachstumsimpulse. Aber dies ist eben nicht so einfach herzustellen, wie er das glaubt. Es geht nicht nur um das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform, sondern auch um das Vertrauen der Bürger in die Stabilität der Finanzpolitik insgesamt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht darum, dass wir uns mit den Millionen von Arbeitslosen solidarisch erweisen und ihnen Chancen eröffnen, damit sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren können. Liberalität und Solidarität heißt für eine moderne liberale Partei, Herr Müntefering, dass wir uns um die Arbeitslosen kümmern und ihnen wieder Arbeitschancen eröffnen und uns nicht darauf konzentrieren, den bürokratischen Umverteilungsstaat weiter zu stabilisieren, was nur den Funktionären nützt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Weil es dabei auch um das Vermittlungsverfahren geht, sagen wir Ihnen: Wir blockieren überhaupt nicht. Wir wollen konstruktiv daran mitarbeiten, dass das Vorziehen der Steuerreform möglich gemacht wird. Aber wir müssen das an zwei wesentliche Bedingungen knüpfen:

   Erstens. Ein Vorziehen muss damit verbunden sein, dass die Konsolidierungsanstrengungen der öffentlichen Haushalte parallel dazu vorangebracht werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Das heißt, wir müssen die Subventionsausgaben entsprechend einschränken. Wir müssen die öffentlichen Haushalte gleichzeitig konsolidieren. Denn nur dann ist das Vertrauen der enttäuschten Bürger zurückzugewinnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Zweitens. Wir wollen durch Liberalisierungen auf dem Arbeitsmarkt wieder Arbeitschancen für Arbeitslose schaffen. Wir müssen die Einstellungshemmnisse konsequent beiseite räumen.

Dabei geht es nicht nur darum, die Mindestlohnregelung, die in Ihrer Fraktion zum Schluss durchgesetzt worden ist, beiseite zu räumen. Vielmehr geht es auch darum, das Kündigungsschutzrecht zu liberalisieren und insbesondere Bündnisse für Arbeit im Betrieb zu ermöglichen. Das muss notwendigerweise gesetzlich geregelt werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das Arbeitskartell von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften muss durchbrochen werden. Das hat uns lange genug gelähmt und dafür gesorgt, dass wir so viele Arbeitslose haben. Nur wenn beide Bedingungen zusammen erfüllt werden, können wir dem Vorziehen der Steuerreformstufe zustimmen. Darum geht es in Wirklichkeit bei den Verhandlungen.

   Schließlich noch eine Bemerkung zu der Pressereaktion heute und zu dem, was Sie gestern in Brüssel ausgeheckt haben. Wenn man sich die Presselandschaft von links nach rechts anschaut, stellt man fest, dass alle sagen: Das ist eine einzige Katastrophe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das ist auch richtig so, denn die Bundesregierung hat nicht die Interessen der Deutschen vertreten. Herr Eichel hat sein persönliches Interesse vertreten, um noch ein paar Wochen länger Finanzminister bleiben zu können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wo ist der Eichel eigentlich?)

- Er will sich das nicht anhören. Er erspart sich das. Aber er hat die Interessen der Deutschen verraten.

   Viele haben Bedenken gehabt, als es darum ging, den Euro einzuführen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So ist es!)

Gerade auch diejenigen, die ökonomischen Sachverstand besitzen, haben gesagt: Wir stimmen unter der Voraussetzung zu, dass die Einführung mit dem Stabilitätspakt,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

also mit einer stabilen europäischen Währungspolitik, verbunden wird. Diese fühlen sich jetzt zu Recht betrogen, weil genau dieser Stabilitätspakt von Herrn Eichel und vom Bundeskanzler, der dafür verantwortlich ist, aufgekündigt worden ist. Ich kann nur sagen: Ich fühle mich persönlich betrogen, denn auch ich habe damals nur unter diesen Bedingungen zugestimmt. So geht es vielen hier; übrigens nicht nur auf der rechten Seite des Hauses, sondern auch bei Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich erinnere mich an die Reden von damals sehr genau. Auch von Ihrer Seite ist Wert auf den Stabilitätspakt gelegt worden. Es ist eher noch gesagt worden, die Bedingungen seien zu lasch und nicht strikt genug.

   Es war wirklich ein fundamentaler Fehler, der in Bezug auf Europa auf Dauer Irritationen auslösen wird. Es werden noch viele Regierungen daran zu arbeiten haben, das wieder gutzumachen. Das allein müsste ein Grund für Sie sein, darüber nachzudenken, ob Sie unter diesen Voraussetzungen das Amt und die Regierung weiter tragen können.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Hoyer gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Ich fände es angemessen, dass bei dieser Debatte der Bundesminister der Finanzen anwesend ist, zumindest einer der Parlamentarischen Staatssekretäre. Was hier stattfindet, ist eine Missachtung des Parlaments.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach Gott!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das, Herr Kollege, war allerdings eine Anmerkung und kein Antrag zur Geschäftsordnung. Ich vermute, dass der Kollege Küster nun ebenfalls eine Anmerkung machen möchte. - Bitte schön.

Dr. Uwe Küster (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ebenfalls eine Anmerkung machen. Wir sitzen hier seit 9 Uhr und debattieren.

(Michael Glos (CDU/CSU): Wir auch!)

- Sie haben Recht. Sie haben zwischendurch kurze Pausen zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse gehabt. Gestatten Sie es auch, dass sich einige unserer Minister kurz die Zeit nehmen,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Was ist mit Ihrer Fraktion? Die ist auch nicht da! Keine zehn Leute sind da!)

diese persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen? Ich garantiere Ihnen, dass sich die Regierungsbank sofort wieder in der gehörigen Zahl füllen wird.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So viele Toiletten gibt es gar nicht!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nach den beiden Wortmeldungen gehe ich davon aus, dass wir in Kürze wieder mit der Anwesenheit des Finanzministers in dieser Debatte rechnen können. Ich glaube, nun können wir die Debatte fortsetzen.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Hoyer wird dem mit gespitzten Ohren lauschen! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Es sind nicht einmal ein Dutzend Leute da!)

Herr Kollege Hoyer, können wir so verfahren?

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Ich schlage vor, dass wir die Debatte so lange unterbrechen. Es sind genau zwei Bundesminister auf der Regierungsbank. Ich finde das völlig unangemessen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir können ja abstimmen! - Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Regierung ist ja da! - Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Uwe Küster (SPD))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich habe jetzt mehrere Vorschläge, aber bislang keinen förmlichen Antrag gehört.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist ein Antrag der Freien Demokraten!)

Ich gehe davon aus, dass wir so verfahren können, wie das Präsidium vorschlägt; in der gemeinsamen Erwartung, dass die Debatte in Anwesenheit des Finanzministers fortgesetzt werden kann.

   Ich erteile nun der Kollegin Antje Hermenau für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann hören Sie jetzt zu! - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir haben keine Zusicherung, dass der Bundesfinanzminister in den nächsten zehn Minuten hier ist!)

- Herr Kollege Gerhardt, ich bin sehr zuversichtlich, dass es so erfolgen wird, wie wir das gemeinsam erwarten.

Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht könnten Sie mir zuhören, solange der Bundesfinanzminister nicht anwesend ist. Immerhin diskutieren wir über dieselbe Sache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ein Satz zur FDP, bevor ich mich den schwierigen Problemen zuwende. Herr Solms, Sie haben, da in der Zwischenzeit eine kurze Geschäftsordnungsdebatte stattgefunden hat, etwas Abstand zu Ihrer Rede gewinnen können. Die FDP hat in den 70er-Jahren in der sozialliberalen Koalition mitregiert.

(Abgeordnete der CDU/CSU verlassen den Saal - Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt müsst ihr alle hier bleiben! Wo kämen wir denn sonst hin?)

- Ich muss Sie doch sehr bitten! Herr Präsident, könnten Sie den Tumult beenden?

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie wissen gar nicht, was Tumult ist! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir können gerne abstimmen!)

- Ich finde es unglaublich, dass Sie nicht in der Lage sind, ein paar Minuten klugen Ausführungen zuzuhören, sondern stattdessen einen Tumult ausbrechen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin, wir sind zumindest anwesend!)

   Herr Solms, Sie sind erst 1980 in den Deutschen Bundestag gewählt worden, haben aber schon in den 70er-Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frau Funcke an der Meinungsbildung der FDP Anteil gehabt. Die „Financial Times“ und die Europäische Kommission haben zwei Ursachen für das Desaster der öffentlichen Finanzen in Deutschland ausgemacht: Die eine Ursache ist die Aufbauleistung in Ostdeutschland, die zweite Ursache ist der Beginn des Aufbaus eines Sozialstaats durch die sozialliberale Koalition der 70er-Jahre. Dieser Kurs wurde in den 80er-Jahren von der konservativ-liberalen Koalition fortgesetzt. Nun ist in der Geschichtsschreibung wenig über den konkreten Anteil des jungen FDP-Abgeordneten Solms zu finden, der nach zwei Jahren im Bundestag 1982 am Umschwung vielleicht beteiligt war, als aus der vorher sozialliberalen FDP ein neoliberaler Verein wurde.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wissen Sie überhaupt, was neoliberal ist? - Gegenruf des Abg. Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Neoliberal ist ab 18!)

Damals hätten Sie die Möglichkeit gehabt, diese Entwicklung zu verhindern, die zu einer wesentlichen Ursache für die Finanzprobleme der öffentlichen Hand in Deutschland geworden ist. Das haben Sie 30 Jahre lang unterlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Hans Eichel hat am Montag den Gang nach Canossa angetreten - er ist doch nicht freudvoll nach Brüssel gefahren - und hat einen Offenbarungseid geleistet. Diesen Offenbarungseid hat er im Prinzip stellvertretend für die gesamte deutsche Politik geleistet, indem er zugegeben hat, dass wir es nicht geschafft haben - damit meine ich alle Parteien, die seit Jahren mitentscheiden -, im wirtschaftlichen Bereich rechtzeitig Anschluss an die EU zu finden.

   Man kann sich ewig mit diesem Thema gegenseitig unterhalten. Herr Glos kann sich auch weiterhin mit einer nationalen Trauerminute an der Verhöhnung des Erbes der Deutschen Mark ergötzen. Aber das zeigt, dass Sie nicht gesamteuropäisch denken. Sie denken provinziell.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wahr!)

   Der Euro ist inzwischen so stark geworden, dass es richtig wehtut. Das hat Herr Rogowski, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, der um die Exportquote fürchtet, noch in der letzten Woche deutlich gemacht. Das Stabilitätskriterium hat durchaus Wirkung gezeigt; es hat nämlich zumindest zu dem Versuch einer Selbstbeschneidung geführt, den sogar die Schlusslichter Frankreich und Deutschland unternommen haben. Diese beiden Länder haben als größte Volkswirtschaften aber auch größere Probleme zu lösen. Außerdem gibt es in den anderen Ländern keinen Bundesrat, so wie in Deutschland. Durch die Verhandlungen mit dem Bundesrat müssen wir auch noch hindurch.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Gott sei Dank gibt es ihn!)

   Es besteht ein geringes Risiko bei der Zinsentwicklung, das eventuell eintreten kann, wenn die Zinsen durch die Entscheidung der EZB etwas ansteigen. Das halte ich aber nicht für so dramatisch, weil eine solche Anhebung immer parallel zur Konjunkturerholung geschieht. Das ist also kein spezielles Problem bei uns. Wenn wir uns in Deutschland aus der Zinseszinsfalle herausarbeiten wollen, dann geht das nur, indem wir schnell eine Konjunkturerholung in Deutschland herbeiführen, die uns wieder an den Durchschnitt der Konjunkturdaten in Europa heranführt. Jeder andere Weg wird die Probleme bei uns nur verschärfen.

   So hat auch Jean-Claude Juncker argumentiert, als er die Entscheidung von Montag und Dienstag verteidigt hat. Er hat gesagt, es gehe darum, Deutschland die Möglichkeit zu geben, den wirtschaftlichen Anschluss an den Durchschnitt der EU schnellstmöglich wieder zu finden. Deswegen war diese Entscheidung richtig.

   Der Ecofin-Rat hat unseren Plänen eine Chance gegeben. Wir haben heute von Frau Merkel und anderen, die seit gestern wieder stärker von Kooperation sprechen, gehört, dass sie den Reformen - ich denke an die Strukturreformen und den Subventionsabbau - eine Chance geben wollen. Damit sind wir bei den Themen, über die im Vermittlungsverfahren noch zu diskutieren sein wird. Es ist ganz normal, dass diese zum Teil übergreifenden Entscheidungen nicht alleine im Bundeshaushalt getroffen werden können. Deswegen soll man den Bundeshaushalt auch nicht für eine Bibel erklären. Er ist nur eines der Steuerinstrumente, das wir zur Verfügung haben. Für bestimmte Entscheidungen, die das Leben in Deutschland über Jahre hinweg betreffen werden, muss es eine breite Mehrheit geben. Diese Entscheidungen müssen langfristig angelegt sein und müssen Vertrauen schaffen. Sie müssen substanziell sein.

   Damit bin ich bei den Vorschlägen, die in der Diskussion sind.

Ich mache es einmal an der Steuerreform fest. Wir haben kurzfristige Ziele zu erreichen. Das habe ich gerade beschrieben, als ich sagte, es komme darauf an, dass Deutschland in Kürze wieder Konjunkturdaten hat, die uns in Europa den Anschluss wiederfinden lassen. Daneben haben wir langfristige Entscheidungen zu treffen, durch die wir in Deutschland ein qualitatives Wachstum erreichen müssen, das über Jahre trägt. Denen, die sagen, das Vorziehen der Steuerreform werde nur kurzfristig etwas bewirken, gebe ich durchaus Recht. Aber auch das ist nötig.

   Heute ist die gemeinsame Position der Union deutlich geworden, dass nur 25 Prozent der Mindereinnahmen, die aus dem Vorziehen der Steuerreform resultieren, über neue Schulden getragen werden sollen. Frau Merkel hat hier nichts anderes zu tun, als uns zu sagen, die Koalition solle mal vorlegen. Wir haben ganz viele Vorschläge für Einsparmöglichkeiten gemacht. Erste Ergebnisse aus dem Vermittlungsausschuss liegen nun vor. Sie sind dort mit der Handbremse gefahren und haben all diese Vorschläge abgelehnt.

   Es ist eigentlich eher eine Tat der Verzweiflung, dass wir Sie ermutigen, selbst zu sagen, wo Sie die restlichen 75 Prozent einsparen wollen. Denn es ist ja nicht mehr auszuhalten: Wenn wir Ihnen Vorschläge zum Subventionsabbau machen, dann ziehen Sie nicht mit. Wenn wir Ihnen Vorschlägen zu Strukturreformen machen, dann mosern Sie herum.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Machen Sie mal einen Vorschlag zum Bündnis für Arbeit!)

Wenn Sie also der Meinung sind, Sie könnten stärker einsparen - dieser Meinung sind Sie ja, sonst hätten Sie nicht gesagt, man könne noch 6 Milliarden Euro mehr einsparen, wie Herr Solbes das wollte -, dann machen Sie konkrete Vorschläge. Denn wir sind langsam von Verzweiflung geplagt:

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das glaube ich!)

Was geht Ihnen eigentlich im Kopf herum, dass Sie all unsere Vorschläge immer nur ablehnen und meinen, das sei bereits Politik? Ich wünsche mir sehr, dass wir langfristig vernünftige Entscheidungen mit einer großen und breiten Mehrheit in Deutschland hinbekommen.

   Im Vermittlungsverfahren wird es vielleicht eine Fußnote betreffend die weitere Entwicklung des Steuersystems in Deutschland geben müssen; denn das würde eine gewisse Berechenbarkeit herstellen, sodass dafür gesorgt würde, dass im nächsten Jahr Investitionen getätigt werden und nicht nur die Kaufkraft gestärkt wird. Ich halte das für ein wesentliches Moment. Wenn man das will, dann muss man sich über eine Fußnote verständigen, in der steht, wie es im Jahre 2005 weitergehen soll.

   Ich bin sehr für Steuervereinfachungen und weiß die Mehrheit der Rot-Grünen hinter mir; das sehen viele bei uns so. Wir haben ja auch entsprechende Vorschläge vorgelegt. Aber auch hier haben Sie wieder gekniffen. Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, die Eigenheimzulage zu streichen. Das wäre eine große Vereinfachung.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Oje!)

Natürlich würde es auch gut funktionieren, die Pendlerpauschale herunterzusetzen. Man darf nicht überall nur ein bisschen wegnehmen, sondern man muss einige Dinge auch mutig streichen. Herr Merz hat das mit seinem Diskussionsvorschlag ja vorgestellt. Ob er eine Mehrheit findet, weiß niemand so richtig. Natürlich wird das harte Entscheidungen erfordern.

   Wir alle haben noch ein wenig im Ohr, wie Ulla Schmidt und Horst Seehofer im Sommer am frühen Morgen etwas erschöpft von einer so „schönen Nacht“ wie lange nicht mehr sprachen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schönste Nacht!)

Das Ergebnis dieser einen Nacht reicht aber natürlich nicht. Uns allen ist bewusst, dass zum Beispiel die Entscheidungen im Gesundheitswesen offensichtlich nicht so lange tragen, wie es nötig wäre. Das heißt, wir werden wieder über das Rentensystem, die Steuerreform und das Gesundheitswesen reden.

   Entweder machen Sie endlich mit oder es verstreicht weiterhin wertvolle Zeit, in der Deutschland die Chance, die der Ecofin uns allen eingeräumt hat, nicht nutzen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schon wieder? Meine Güte! Er hat doch gestern während der Rede des Finanzministers die ganze Zeit dazwischengeredet! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das war doch gestern schon nichts!)

Steffen Kampeter (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Anfang meines Redebeitrages stelle ich fest, dass in den vergangenen zehn Minuten vielleicht fünf oder sechs Sozialdemokraten anwesend waren, während wir hier über die Zukunftsfragen der deutschen Politik entscheiden.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist aber eine bedeutende Feststellung!)

Ich muss sagen: Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir der Öffentlichkeit das Bild vermitteln, dass uns das nicht interessiert. Selbst die FDP als kleine Fraktion war stärker vertreten als die Sozialdemokraten, die offenkundig kein Interesse mehr an den Zukunftsfragen dieses Landes haben.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gleich rennen wir hier raus!)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Müntefering hat in seiner langen Rede einen ganz interessanten Satz in Bezug auf die Gesetzgebungsvorhaben gebracht - auch wenn er ihn wahrscheinlich mehr für die Öffentlichkeit und weniger für das Parlament gesagt hat -: „Lassen Sie sich nicht durch die Details irritieren!“ Wenn ich in der Situation des Fraktionsvorsitzenden der SPD nach dem Bundesparteitag wäre - alles ist etwas in Unruhe, es gibt Auflösungserscheinungen und zentrale Personen der Regierung sind beschädigt -,

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): So ein Quatsch!)

dann würde auch für mich diese Aufforderung wirklich Sinn machen.

   Mit dem präsentierten Haushalt werden die Verfassung und völkerrechtlich verbindliche europäische Verträge von Rot-Grün vorsätzlich gebrochen. Aber wir sollen uns durch die Details ja nicht irritieren lassen.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Doch! Doch!)

Es ist ein Verstoß gegen Haushaltsklarheit und -wahrheit. Auch hier stören offenkundig die Details. Der Haushalt ist eine finanzpolitische Missgeburt, die auch für das Jahr 2004 eine Explosion der Schulden erwarten lässt. Der Haushalt ist eher ein Signal von sozialdemokratischer Misswirtschaft anstatt von leistungsfähiger sozialer Marktwirtschaft, wie wir sie brauchten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Kollege Müntefering war der Auffassung, alle Probleme seien völlig unvorhersehbar auf diese Regierung zugekommen. Wir vertreten eine fundamental andere Auffassung: Die Lage ist hausgemacht. Sie war ebenso vorhersehbar wie abwendbar. Der erste Punkt, der hier anzuführen ist: Diese Regierung ist im Augenblick die Wachstumsbremse unserer Volkswirtschaft. Hatte sie am Anfang ihrer Amtszeit noch respektable Wachstumsraten von der Vorgängerregierung übernommen, gilt unsere Volkswirtschaft derzeit als Wachstumsbremse in Europa. Anders ausgedrückt: Die anderen Länder wachsen im gleichen weltwirtschaftlichen Umfeld stärker als wir. Das ist eindeutig eine hausgemachte Entwicklung.

   Ein weiterer Punkt, der auf die hausgemachte Krise in Deutschland hinweist, ist, dass in den vergangenen Jahren eine Reihe von Ausgabensteigerungen vorgenommen worden sind, die in der Sache begründet scheinen, aber ohne eine solide Finanzierung zur Haushaltslast werden. Ich nenne die Verbesserung beim Wohngeld, beim BAföG, beim Erziehungsgeld, beim Kindergeld und bei der Kinderbetreuung. Diese Regierung hat kraft ihrer eigenen Mehrheit - gegen unseren Widerstand - dafür Sorge getragen, dass der Zuschuss zur Rentenversicherung seit Regierungsübernahme um 50 Prozent auf 77,3 Milliarden Euro angestiegen ist.

   Man mag dies machen, aber wenn man für diese Vorhaben keine solide Gegenfinanzierung vorschlägt und keine Basis über Steuereinnahmen oder Wirtschaftswachstum hat, darf man sich heute nicht beklagen, dass man in finanziellen Nöten steckt. Die Finanzkrise, über die wir heute diskutieren, dieser drohende Staatsbankrott ist im Wesentlichen hausgemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster (SPD): Na, na, Herr Kampeter! Das wird ja immer schlimmer! Solidität war noch nie Ihre Sache!)

   Ein weiterer Hinweis auf den hausgemachten Staatsbankrott ist im Zusammenhang mit der Reform der Unternehmensteuer zu geben. Diese Bundesregierung hat kraft eigener Mehrheit und eigenen politischen Willens im Jahre 2000 die Körperschaftsteuer nachhaltig ruiniert. Innerhalb von zwölf Monaten sind die Körperschaftsteuereinnahmen in der Bundesrepublik zusammengebrochen. Betrugen sie anfangs noch rund 23 Milliarden Euro, so waren im darauf folgenden Jahr 400 Millionen Euro an die Unternehmen zurückzuzahlen.

   Wir haben vor den Auswirkungen dieser Unternehmensteuerreform gewarnt. Sie verschenken durch diese Reform jedes Jahr Mittel in der Höhe des Verteidigungshaushaltes. Um es anders auszudrücken: Sie hätten drei Jahre lang den Bildungs- und Forschungshaushalt allein dadurch finanzieren können, wenn Sie bei der Körperschaftsteuerreform solide und entsprechend unseren Vorschlägen gearbeitet hätten. Sie können uns nicht vorwerfen, wir hätten keine Vorschläge gemacht. Wir haben Sie eindeutig vor einem solchen Ausfall gewarnt. Diese Haushaltskrise, dieser drohende Staatsbankrott ist eindeutig hausgemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Apropos verschenken: Wir klagen seit einigen Jahren den sich ausweitenden Umsatzsteuerbetrug an. Der Rechnungshof hat vor wenigen Monaten nochmals festgestellt, dass durch Tatenlosigkeit der Verantwortlichen im Finanzministerium dem deutschen Fiskus zweistellige Milliardenbeträge, also mehr als 10 Milliarden Euro, Jahr für Jahr durch Umsatzsteuerbetrug verloren gehen. Sie verschenken Milliardenbeträge und eine Änderung ist nicht in Sicht. Dieser Staatsbankrott ist von dieser Bundesregierung hausgemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich will an dieser Stelle auch an die Einsichten sozialdemokratischer Finanzpolitiker aus der Vergangenheit hinweisen. Helmut Schmidt hat, anders als Gerhard Schröder und Hans Eichel, Anfang der 80er-Jahre die Notwendigkeit umfassender Konsolidierung gesehen. Unter Konsolidierung verstehe ich nicht Steuererhöhungen, sondern Ausgabeneinsparung. Wenn Herr Müntefering seiner Frau vorschlägt - gestatten Sie mir dieses Beispiel - „Nun kosolidieren wir mal unseren Haushalt!“ und gleichzeitig zusätzliche Schulden macht, dann wird Frau Müntefering zu Recht sagen: „Sparen, mein lieber Franz, heißt, weniger auszugeben!“ An dieser Form der Konsolidierung mangelt es in diesem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun kamen zwar die Konsolidierungsmaßnahmen der Regierung Schmidt zu spät. Es hat nichts geholfen, der Koalitionspartner ist damals geflüchtet. Meine Vorrednerin, die Kollegin Hermenau aus Sachsen, hat sich entschlossen, den Bundestag zu verlassen und in die sächsische Landespolitik zu gehen. Auch in dieser Koalition gibt es also schon Absetzungsbewegungen derjenigen, die glauben, etwas von Finanzen zu verstehen.

   Helmut Schmidt hatte Ausgabensenkungen für ein Jahr in einer Größenordnung - übertragen auf die heutige Situation - von etwa 13 Milliarden Euro beschlossen, für vier Jahre sind das Einsparungen von mehr als 45 Milliarden Euro. Diese Regierung ist nicht in der Lage, 6 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres einzusparen, sondern bricht vorsätzlich den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt.

   Wer konsolidieren und einsparen will, wer weniger Ausgaben will, der kann das auch durchsetzen. Diese Regierung möchte gar nicht konsolidieren, sie möchte ausschließlich Steuern erheben und ihre ideologischen Spielwiesen weiter finanzieren. Der Haushaltsbankrott ist hausgemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es sind das politische Versagen und die finanzpolitische Ignoranz, die unser Land in diese Situation geführt haben. Unser Land braucht daher dringend einen Politikwechsel. Vorerst aber muss festgestellt werden, dass sich die Gestaltungsfähigkeit dieser Regierung in faulen Kompromissen erschöpft, denen nur eines gemein ist: Sie sind teuer für unsere Bürger und sie schaden unserem Land.

   Eines muss deutlich sein: Es ist weder die Flut noch der internationale Terrorismus, es ist nicht die Globalisierung und auch nicht die Opposition, es sind nicht der heiße Sommer oder die bösen Medien, die diese Lage herbeigeführt haben, es ist nahezu ausschließlich die rot-grüne Bundesregierung dafür verantwortlich. Deswegen mahnen wir einen Politikwechsel für unser Land an.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dieser Politikwechsel muss vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt stattfinden; dazu ist heute schon das Richtige gesagt worden. Er muss in einen Umbau des Sozialstaates mit mehr Eigenverantwortung münden; anders ist unser Sozialstaat nicht mehr zukunftssicher. Wir müssen den wirtschaftlich Handelnden mehr Freiräume gewähren, anstatt sie mit Strafsteuern, wenn sie nicht ausbilden, zu verärgern. Nur so werden die Unternehmen ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen nachkommen.

   Wenn der Kollege Müntefering hier sagt, er habe dafür gesorgt, dass die Ausgaben für das Meister-BAföG gestiegen sind, und dabei verschweigt, dass durch die Abschaffung der Handwerksordnung gleichzeitig die Ausbildungsgrundlage vieler Handwerksbetriebe zerschlagen wurde, dann zeigt das, wie wenig die Sozialdemokraten von den Zusammenhängen wirtschaftlichen Handelns in diesem Land verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): Sie stellen sich doch ein unheimliches Zeugnis aus! Von nichts Ahnung!)

   Wir müssen die umfassende Vertrauenskrise in unserem Land bekämpfen. Klartext statt unerfüllbarer Versprechungen - das muss die Handlungsmaxime nicht nur in der Finanz- und Haushaltspolitik, sondern auch in der Gesellschaftspolitik sein. Aus diesem Grunde hätten wir die Aussetzung der Haushaltsberatungen bis zum Abschluss der Beratungen des Vermittlungsausschusses für richtig gehalten. Jetzt müssen die Länder dafür Sorge tragen, dass das Finanzchaos nicht eintritt und Deutschland vor den falschen Beschlüssen, die Rot-Grün kraft ihrer eigenen Mehrheit durch das deutsche Parlament tricksen will, geschützt wird.

(Lothar Mark (SPD): Was Sie erzählen, glauben Sie selbst nicht!)

   Wir unterstützen alle Maßnahmen der Regierung, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Stabilität unserer Währung wiederherzustellen. Dazu bedarf es vor allen Dingen der Aufnahme der Preisstabilität als wesentliches Ziel in die EU-Verfassung. Wir fordern die Bundesregierung auf, statt den Verfassungsbruch und die Nichteinhaltung der Kriterien von Maastricht fortzusetzen, relativ rasch auf die EU-Kommmission zuzugehen und zu einvernehmlichen Lösungen in der europäischen Finanzpolitik zu kommen.

   Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Allein mit der Bekämpfung des kriminellen Umsatzsteuerbetrugs wäre der Stabilitätspakt wieder ins Lot zu bringen. Man muss es nur wollen. Diese Regierung will nicht, sie will das Land in den Dreck fahren, weil ihr Kompass und Orientierung fehlen, die entsprechenden Dinge anzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.

Steffen Kampeter (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss.

(Beifall bei der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Gott sei Dank!)

   Dieser Haushalt ist zum Schaden für Deutschland. Wir werden als Opposition alles Erdenkliche tun, um Schaden von unserem Land abzuwenden. Daher lehnen wir diesen Haushalt ab.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Merkel für die SPD-Fraktion.

Petra-Evelyne Merkel (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Schwarzmalerei von Herrn Kampeter kommt jetzt etwas Erfreulicheres, nämlich der Bereich Kultur. Sie, Herr Kampeter, haben hier angekündigt, dass Sie mitmachen wollen. Sie haben die Gelegenheit gehabt - dazu komme ich später -, aber Sie haben gekniffen. Bei den Ausschussberatungen hätten Sie mitarbeiten können.

   Ich finde, dass sich der Haushalt für den Kulturbereich, der beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist, auch im Jahr 2004 sehen lassen kann. Der Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Dr. Weiss, ist im Vergleich zum letzten Etat erneut gestiegen, und zwar auf insgesamt über 900 Millionen Euro. Einige Schwerpunkte dieses Haushalts, die die rot-grüne Koalition setzt, möchte ich besonders hervorheben, weil sie belegen, dass Kultur für uns Priorität hat. Das heißt jedoch nicht, dass alles so bleibt, wie es ist. Auch hier sind Reformen und Innovationen gefragt.

   Erstens. Die Mittel für die Bundeskulturstiftung sind um 12,8 Millionen Euro auf insgesamt 40,79 Millionen Euro aufgestockt worden.

(Beifall bei der SPD)

Das ist die letzte Stufe der jährlichen Erhöhung. Wir haben damit die größte Kulturstiftung in Europa.

   Zweitens. Der Titel „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ wurde der Koalitionsvereinbarung entsprechend mit 6,1 Millionen Euro ausgestattet.

(Beifall bei der SPD)

Hier schaffen wir eine neue Struktur und können weit mehr leisten als die reinen Erste-Hilfe-Maßnahmen, die mit dem Programm „Dach und Fach“ möglich waren. So wird dieses Programm kompensiert. Die Erfahrungen von „Dach und Fach“ werden aufgegriffen und ergänzt.

   Drittens. Das Programm „Kultur in den neuen Ländern“ läuft aus. Das bedauere ich. Sichergestellt ist jedoch, dass bereits begonnene Projekte fortgeführt werden können. So kann der Übergang gesichert werden, bis der Solidarpakt II im Jahr 2005 auch für den Kulturbereich greift. Außerdem steht mit der bereits erwähnten Bundeskulturstiftung ein neues kulturpolitisches Instrument für Projekte aus allen Bundesländern bereit.

   Viertens. Wie immer werden auch kleine Projekte gefördert. So gibt es zum Beispiel 500 000 Euro mehr bei der Projektförderung „Leuchttürme Ost“, sodass die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz jetzt in der Lage ist, die historisch wertvollen Gebäude und Parkanlagen nach historischem Vorbild wieder - herzustellen und zu erhalten und den Auftrag des Weltkulturerbes einzulösen.

   Als ein Beispiel des Strukturwandels, den wir unterstützen und fördern, möchte ich Berlin herausgreifen. Im Rahmen des neuen Hauptstadtkulturvertrages fördert der Bund nun die gesamte Akademie der Künste; bisher förderte er nur das Archiv. Der Gesamtanteil der Beauftragten für Kultur und Medien beträgt nun 18,2 Millionen Euro.

   Auch bei der Stiftung Deutsche Kinemathek und dem Hamburger Bahnhof übernimmt der Bund künftig den Zuschussanteil Berlins. Insgesamt stellt der Bund dafür 23,9 Millionen Euro zur Verfügung. Vertraglich soll und wird geregelt werden, dass diese Entlastung des Berliner Haushalts dazu dient, die drei Berliner Opern zu erhalten. Die Errichtung einer Stiftung Berliner Operhäuser mit dem einmaligen Bundeszuschuss von bis zu 3 Millionen Euro bietet eine große Chance. Denn nur durch diese neue Struktur ist der Erhalt der drei Berliner Opernhäuser möglich. Nicht nur als Berliner Bundestagsabgeordnete, sondern auch als Haushaltspolitikerin für den Kulturbereich danke ich Frau Dr. Weiss für ihr Engagement, eine neue Struktur in Berlin zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD)

Mit dem großen Einsatz, den sie geleistet hat, hat sie vieles vorangebracht und die Berliner Kulturpolitik unterstützt. Ich hoffe sehr, dass die Erfahrung beispielhaft für die deutsche Theaterlandschaft genutzt werden kann. Denn das ist ein Impuls, der gesetzt werden soll, um beispielhaft eine Strukturänderung in anderen Bundesländern zu initiieren.

Ich spreche von Kultur und möchte jetzt den Kulturbegriff etwas weiter fassen und ihn um die Streitkultur und die Kultur des Umgangs miteinander ergänzen. Die Politik, die wir machen, beschränkt sich nicht auf das, was sich in diesem Raum abspielt. Die Streitkultur und die Kultur des Umgangs zwischen Regierungsfraktionen und Opposition spiegeln sich - das sage ich insbesondere für die Zuschauer an den Fernsehschirmen und die Besucher hier im Saal - in den Berichterstattergesprächen, in der Ausschussarbeit und nicht zuletzt in den Plenarsitzungen wider. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit unserer Diskussionskultur dafür sorgen müssen, unsere politische Arbeit verständlich, manchmal emotional und manchmal sehr leidenschaftlich darzustellen - bei allen politischen Unterschieden. Im Grunde genommen haben wir alle es in der Hand, wie wir für den Parlamentarismus werben.

   Die Berichterstattergespräche, in denen unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit den Ministerien, dem Rechnungshof und anderen die Etatberatungen vorbereitet werden, sind in gewohnt sachlicher Atmosphäre verlaufen. Das haben übrigens alle Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss bestätigt. Was dann in den Sitzungen des Haushaltsausschusses stattfand, habe ich allerdings während meiner gesamten politischen Arbeit noch nicht erlebt.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist wahr!)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wieso Sie eigentlich dabei waren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie haben 283 Seiten Papier verbraucht, um 283 Anträge auf Beratung einzelner Titel vorzulegen. In jedem Antrag wurde großspurig Erörterungsbedarf festgestellt. Dieser Stapel Papier ist an alle Mitglieder des Haushaltsausschusses verteilt worden. Wie sich später herausstellen sollte, war das nur eine Verschwendung von Papier und der Arbeitszeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

(Widerspruch des Abg. Steffen Kampeter (CDU/CSU))

- Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Kampeter! Es ist unglaublich, was Sie uns vorgelegt haben. Wir haben gedacht „Jetzt geht es los, jetzt wollen Sie beraten“, aber danach kam nichts mehr.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter?

Petra-Evelyne Merkel (SPD):

Nein, ich komme gleich zum Schluss.

   Sie haben Ihre Rolle als Opposition nicht genutzt, Herr Kampeter. Sie haben in diesem Jahr die Beratungen über die einzelnen Etats im Haushaltsausschuss schlicht verweigert. Im Grunde genommen haben wir alle es in der Hand, wie wir für den Parlamentarismus werben. Sie von der CDU/CSU haben Ihre Chance vertan.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter das Wort zu einer Kurzintervention.

Steffen Kampeter (CDU/CSU):

Die Kollegin Merkel hat den falschen Eindruck erweckt, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht an den Haushaltsberatungen beteiligt hat.

(Zuruf von der SPD: Nur physisch!)

Dies muss richtiggestellt werden.

   Wir haben in den Beratungen des Haushaltsausschusses selbstverständlich alle Titel intensiv geprüft,

(Lachen bei der SPD)

aber feststellen müssen: Es ist zu erwarten, dass keiner der wesentlichen Einnahmetitel über die nächsten Wochen hinaus Bestand haben wird. Denn am 19. Dezember werden hier im Deutschen Bundestag wahrscheinlich Änderungen am Etat in einem Umfang von 20 bis 30 Milliarden Euro vorgenommen werden müssen.

   Wir haben deshalb die politische Entscheidung getroffen, diesen Etat nicht als Beschlussgrundlage zu akzeptieren. Das ist etwas völlig anderes als die Form der Arbeitsverweigerung, die die Kollegin Merkel dargestellt hat. Es ist vielmehr die politische Entscheidung, deutlich zu machen, dass der Etat, den Sie von der rot-grünen Koalition zu verantworten haben, eine Halbwertszeit von wenigen Wochen haben wird, bevor er durch Beschlüsse, die Sie ebenfalls zu verantworten haben, in einer Größenordnung von mehr als 10 Prozent verändert werden muss.

   Insofern sind alle Bekenntnisse, die Sie heute zu einzelnen Haushaltstiteln ablegen, Makulatur. Sie stehen unter dem Vorbehalt der im Vermittlungsausschuss erzielten Ergebnisse. Das wollten wir mit unserem Verhalten deutlich machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Zur Erwiderung Frau Kollegin Merkel.

Petra-Evelyne Merkel (SPD):

Herr Kampeter, Sie haben einen Zickzackkurs gefahren. Sie wussten nicht, was Sie wollen. Wenn Sie sagen, Sie seien als Parlamentarier nicht dazu in der Lage, diesen Haushalt zu beraten, weil Sie nicht wüssten, welche Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt werden, dann nehmen Sie Ihre Aufgabe schlicht nicht wahr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie eigentlich Erörterungsbedarf sehen, dann aber zu der politischen Entscheidung kommen, doch nichts zu erörtern, sondern lieber alles dem Bundesrat zu übertragen, dann nehmen Sie Ihre Aufgabe als Parlamentarier nicht wahr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das werfe ich Ihnen vor. Sie werden dafür bezahlt und dazu sitzen wir hier stundenlang zusammen. Aber Sie sind dieser Aufgabe nicht nachgekommen. Das ist Ihre Entscheidung gewesen. Ich halte sie für schlecht; sie ist im Hinblick auf den Parlamentarismus ein absolut schlechter Stil.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nun hat die Abgeordnete Petra Pau das Wort.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern erleben wir hier eine mächtige Debatte über den EU-Stabilitätspakt, die ihresgleichen sucht. Insbesondere die CDU/CSU übertrifft sich mit Kassandrarufen und beschwört geradezu das Ende des Abendlandes. Vielleicht glauben die Redner der CDU/CSU ja wirklich, was sie hier fundamentalistisch vor sich herbeten. Es klingt gefährlich, aber klug ist das alles nicht.

(Beifall bei der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Stabilitätspakt war schon umstritten, als Sie ihn zu Waigels Zeiten einführen halfen. Er ist seither nicht besser geworden. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, über neue Regeln nachzudenken,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Geld drucken!)

anstatt an alten Fehlern festzukleben.

   Wesentlich ist in der heutigen Debatte aber etwas anderes: Rot-Grün und Schwarz-Gelb, die Regierung und die Opposition zur Rechten, führen die EU als Kronzeugen für ihre eigenen Sozialabbaupläne ins Feld und versuchen, ihre politische Verantwortung an die EU abzuschieben: SPD und Grüne entschuldigend, schließlich habe man ja schon gestrichen, was zu streichen sei, die CDU/CSU eher drängend, schließlich könne man noch viel mehr als bislang streichen. Diesen Hang zur verantwortungslosen Tat aber lässt Ihnen die PDS im Bundestag nicht durchgehen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Sie beklagen, die Verschuldung sei zu groß, weil die Ausgaben zu hoch seien. Wir fragen aber: Warum reden Sie nicht auch über die Einnahmen? Warum verzichten Sie auch in diesem Bundeshaushalt auf zig Milliarden? Warum machen Sie andererseits Milliardengeschenke an Unternehmen, die selbst keine Steuern zahlen, sondern diese abzocken? Das ist Ihre Politik und die können Sie keinem EU-Pakt anlasten, genauso wenig wie die Folgen: Denn heraus kommt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Diesen Kurs lehnen wir ab; wir wollen dessen Umkehr.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Deshalb fordert die PDS eine Vermögensteuer. Deshalb wollen wir eine Wertschöpfungsabgabe. Deshalb fordern wir eine Ausbildungsumlage. Deshalb wollen wir parasitäres Kapital besteuern.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was für Kapital?)

Wir fordern eine Rentenversicherung von allen für alle. Wir wollen Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität erneuern. Das heißt, die PDS fordert wirkliche Reformen. Das ist der Unterschied. Deshalb haben wir eine „Agenda sozial“ als Alternative vorgeschlagen.

   Nun diskutieren wir über den Haushalt 2004 sowie darüber, was ihn trägt. Es gibt eine simple Lebensweisheit, die besagt: Was auf drei stabilen Beinen steht, das steht gut. Sie kennen das von Tischen und Stühlen. Also haben wir uns gefragt, welches die drei Säulen sind, auf denen Rot-Grün und dieser Haushaltsplan fußen.

   Die erste Säule heißt Agenda 2010. Sie zieht sich quer durch den Haushalt: Ob Arbeitsmarkt, Gesundheitspolitik oder neue Bundesländer, überall geht es um die Agenda 2010. Nur, sie hat einen Kardinalfehler: Sie stabilisiert nicht. Im Gegenteil, die Agenda 2010 gibt das Solidarprinzip preis, sie gefährdet den Sozialstaat und damit auch einen Gründungsgrundsatz der Bundesrepublik. Millionen spüren es jetzt schon, allemal Arbeitslose, Kranke und Alte. Die Folgen betreffen aber auch alle, die arbeitslos, krank und alt werden könnten. Deshalb lautet unser erster Befund: Die erste Säule trägt nicht, sie ist morsch.

Die zweite Säule heißt Außenpolitik. Seitdem Rot-Grün regiert, haben wir hier im Bundestag insgesamt 29-mal über Militäreinsätze der Bundeswehr geredet; 25-mal wurde sie ins Ausland in Marsch gesetzt. Dem stehen sieben grundsätzliche Debatten über weltweite Entwicklungspolitik oder zivile Konfliktlösungen gegenüber. Dieses Missverhältnis durchzieht auch den Haushaltsplan 2004. Deshalb sind Sie gestern zu Recht von den UN-Organisationen kritisiert worden. Auch die zweite Säule weist also eine gefährliche Schieflage auf.

   Nun zur dritten Säule, zu der Akzeptanz: Umfragen belegen, dass zwei Drittel aller Deutschen die Agenda 2010 und drei Viertel die zunehmende Militarisierung der Außenpolitik ablehnen. Ich komme aus einem Land, in dem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die damals vorherrschende Politik nicht mehr verstehen, tragen und stützen wollte. Diesen Staat gibt es heute nicht mehr. Damit möchte ich nur sagen: Auch die dritte Stütze trägt nicht. Rot-Grün fußt also auf drei maroden Säulen. Fatal ist allerdings, dass die Angebote der CDU/CSU noch fauler sind. Sie werden auch nicht besser, wenn Sie ständig mit einer Blockade im Bundesrat drohen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Einmal im Jahr widmet sich der Bundestag explizit der Lage in den neuen Bundesländern. Das ist doppelt bemerkenswert: zum einen weil die neuen Bundesländer - zu Recht - noch immer eine Sonderdebatte wert sind und zum anderen weil sie - zu Unrecht - ansonsten fast immer ausgeblendet werden. Leider trifft das auch auf die heutige Debatte und den Haushalt zu, über den heute beraten und abgestimmt wird. Er ist ungeeignet, um die Lage im Osten zu verbessern. Die Zahlen sprechen dagegen, ebenso wie die Politik, die dahinter steckt. Die Hartz-Konzepte greifen nicht. Im Gegenteil: Sie werden den Mittelstand schwächen sowie die Arbeitslosigkeit und die Armut im Osten vergrößern. Die Ost-West-Angleichung stagniert seit fünf Jahren. Das belegen alle Analysen. Zugleich werden aber die Fördermittel für die neuen Bundesländer gekappt und die Arbeitsämter kastriert. Die Kultur wird weiter verarmen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Kurzum: Die Hoffnung schwindet und die Jugend flieht aus dem Osten. Die neuen Bundesländer werden als Stiefkind des Schicksals behandelt. Das ist ein weiterer Grund, warum die PDS im Bundestag den Haushalt ablehnt.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Jüngst gab es ein Treffen der Arbeits- und der Sozialminister der Länder. Dabei ging es auch um die Frage, wie die neuen Bundesländer vor extremen Negativwirkungen der Bundespolitik zu schützen seien. Heraus kam: Die unionsregierten Länder, auch Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, lehnten alles ab, was helfen könnte. So ist das, wenn Parteidisziplin mehr zählt als politische Vernunft und Weitsicht.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das müssen gerade Sie sagen!)

   Fazit zum Osten: Bundeskanzler Kohl wollte die neuen Bundesländer gewinnen. Er hat gelogen und das war schlimm. Aber Bundeskanzler Schröder gibt die neuen Bundesländer verloren. Er schreibt sie ab und das ist noch viel schlimmer.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Den Vorwurf der Lüge nehmen Sie zurück!)

- Herr Kollege, ich nehme den Vorwurf der Lüge nicht zurück. Wer hat denn die blühenden Landschaften versprochen und wo finden Sie welche?

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das ist charakterlos!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müntefering ist leider schon weg, nachdem er die Regierungsbank leer geredet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage trotzdem an seine Adresse: Hören Sie endlich auf, einen solchen Unsinn über die Gemeindefinanzreform zu erzählen! Wenn ich mir die Auswirkungen aller Ihrer diesbezüglichen Gesetzentwürfe anschaue, dann stelle ich fest, dass die Gemeinden nicht mehr, sondern 2,2 Milliarden Euro weniger erhalten werden. Das ist ein tödlicher Fehler. Wenn man unserem Sofortprogramm, das wir im Bundesrat verabschiedet haben, gefolgt wäre, dann wäre die Gewerbesteuerumlage auf ihr früheres Niveau zurückgeführt worden, wodurch die Gemeinden bereits 2003 um 2,1 Milliarden Euro entlastet worden wären. Außerdem wäre im nächsten Jahr der Anteil der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen erhöht worden. Das wäre wirksam gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Poß, Sie haben immer wieder behauptet, wir hätten uns nicht an den Haushaltsberatungen beteiligt. Das ist doch Unsinn. Sie haben aus den Haushaltsberatungen 2003 nichts gelernt. Als Ihnen der Kollege Austermann bei der Verabschiedung des Haushalts im März dieses Jahres vorgerechnet hat, welche Risiken in ihm stecken, haben Sie ihn abqualifiziert. Gestern mussten Sie den Offenbarungseid leisten und einen Nachtragshaushalt verabschieden, der exakt die von uns prognostizierten Werte enthält. Genauso machen Sie es jetzt wieder. Der Haushalt enthält Risiken in Höhe von über 20 Milliarden Euro und ist eigentlich nicht beratungsfähig. Beratungsfähigkeit setzt eine ordnungsgemäße Grundlage voraus. Für eine solche Grundlage ist niemand anders als die Regierung verantwortlich. Murks bleibt Murks; da helfen auch keine Anträge.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Was die Entwicklung am Arbeitsmarkt angeht, gibt es eine aussagekräftige Zahl: die geleisteten Arbeitsstunden. Als Sie 1998 an die Regierung kamen, gab es dank unserer Politik einen Aufschwung. Ich erinnere daran, dass der Kanzler einmal in Anlehnung an jemand anders behauptete, dieser Aufschwung sei auf seine Kanzlerkandidatur zurückzuführen. Mit Ihrer Politik haben Sie diesen Aufschwung abgewürgt; nur deswegen ist die Lage in Deutschland so schlecht.

   Sie haben die kühne Behauptung aufgestellt, dieser Haushalt sei die Lösung aller Probleme. Ein Beispiel dafür, dass das falsch ist, sind die Platzhaltergeschäfte: Sie verkaufen der KfW Aktien; damit sie sie bezahlen kann, geben Sie ihr ein Darlehen. Im Privatleben spricht man in so einem Fall von Wechselreiterei. Mit solider Haushaltspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Um 11 Millionen Euro zusätzliche Verkaufserlöse zu erzielen, wollen Sie die Vermögensverwaltung des Finanzministeriums in eine öffentlich-rechtliche Anstalt umwandeln. Die für die Umstellung erforderlichen Investitionen betragen 10 Millionen Euro. Was ist das für eine Geschäftspraxis? Weil Sie dem Ergebnis Ihrer Bemühungen selbst nicht trauen, räumen Sie im Bundeshaushalt gleichzeitig die Möglichkeit ein, der neuen Anstalt ein Betriebsmitteldarlehen in Höhe von 200 Millionen Euro zu gewähren. Die Rechtsform der Bundesanstalt für Arbeit versuchen Sie gerade zu ändern.

   Was soll dieser ganze Unsinn? Reicht Ihnen das Desaster mit der Steuerverschwendungsmaschine GEBB nicht? Ich kann Ihnen sagen, worum es eigentlich geht: Statt eines verantwortlichen Abteilungsleiters soll es drei Vorstandsmitglieder geben. Das bedeutet drei gut bezahlte Posten für Genossen. So haben Sie es immer gehandhabt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie wollen die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen. Um das zu tun, haben Sie zwei Gelegenheiten verpasst: Wenn Sie bei der Finanzierung des Wiederaufbaus nach den Flutschäden unseren Vorschlägen gefolgt wären, wäre das In-Kraft-Treten dieser Stufe der Steuerreform nicht verschoben worden. Wenn es der Bundesrat 1998 nicht verhindert hätte - die damaligen Ministerpräsidenten Eichel und Schröder befinden sich heute in verantwortlichen Positionen der Bundesregierung -, dann wären der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz heute schon längst niedriger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Was ist das für ein Umgang mit Steuermitteln?

   Der Bundesfinanzminister müsste mit seinem Etat Vorbild für die anderen Ministerien sein. Was macht man? Die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit seines Ministeriums werden - angeblich zur Bekämpfung der Schwarzarbeit - verdoppelt. Das ist gar nicht notwendig, weil sich jeder des Problems der Schwarzarbeit bewusst ist. Es geht um nichts anderes als um Regierungspropaganda.

   Wir haben den größten Beitrag zum Wachstum und zur Bekämpfung der Schwarzarbeit geleistet. Der „Schwarzarbeitsforscher“ Schneider hat gesagt, die Neuregelung der Minijobs hat Schwarzarbeit in einem Umfang von 10 Milliarden Euro verhindert. Bei einer Staatsquote von 50 Prozent bedeutet das, dass 5 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen gespült wurden. Sie haben die alte Regelung gegen unseren Rat abgeschafft, wir haben eine Neuregelung durchgedrückt. Also haben wir für den Arbeitsmarkt am Ende mehr getan, als Ihnen jemals eingefallen ist. Das ist doch die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wollen für diesen Bereich 2 000 Stellen zusätzlich. Kümmern Sie sich erst einmal um die vorhandenen Möglichkeiten! Wenn Sie das tun, dann brauchen wir keine weiteren Staatsbediensteten.

   Sie reden immer über das Subventionsabbaugesetz. Ich kann Ihnen nur sagen: Für uns von der Opposition war es eine Pflicht, dieses Gesetz abzulehnen; denn die Sachverständigen haben uns gesagt: Die Verabschiedung dieses Gesetzes hätte 0,5 Prozent weniger Wachstum bedeutet, also weniger Beschäftigung, weniger Steuereinnahmen, geringere Einnahmen der Sozialkassen und mehr Soziallasten. Sie werden uns eines Tages noch dafür dankbar sein, dass wir dies verhindert haben; denn das war für den Arbeitsmarkt wirksam. Alle Ihre Vorschläge sind Luftschlösser.

   Jetzt wollen Sie möglicherweise den „Chefkreateur“ Ihrer Vorstellungen, Herrn Hartz, zum Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit machen. Herausgekommen ist bei der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission bis jetzt überhaupt nichts.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Für so wenig Geld wird der Hartz doch gar nicht tätig!)

- Das ist richtig: Für so wenig Geld wird der gar nicht tätig. Aber vielleicht verdoppelt man sein Gehalt - so hat man es bei Herrn Gerster gemacht -, dann wird er dort tätig und es kommt ein bisschen mehr heraus.

   Ich verstehe überhaupt nicht, dass sich Herr Müntefering gegen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wehrt. Eben hat er erklärt, es sei gängige Praxis, dass sich Betriebsinhaber, Betriebsräte und Belegschaft über Abweichungen vom Tarifvertrag einigen. Wenn das so ist, dann begreife ich nicht, warum man keine entsprechenden rechtlichen Regelungen schaffen soll. Im Augenblick handelt es sich bei solchen Einigungen um einen Rechtsverstoß nach dem anderen. Angesichts dessen verstehe ich überhaupt nicht, warum Sie zu solchen Maßnahmen nicht fähig sind.

Was müssen wir anders machen? Eines ist doch klar geworden: Wenn es zu mehr Wachstum kommt, weil es weniger arbeitsfreie Feiertage gibt oder weil mehr Feiertage auf einen Sonntag fallen, dann könnte es doch auch gut sein, pro Woche eine Stunde mehr zu arbeiten. Das ist kein Verlust an Lebensqualität.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das macht aber zusammen eine Woche Arbeit aus und das bringt noch mal so viel wie die Feiertage. Das sind ganz konkrete Vorschläge, die nicht einmal etwas kosten. Die Belegschaften sind eher bereit, eine Stunde mehr zu arbeiten, glaube ich, als in der Zukunft mehr Sozialabgaben zu zahlen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Das sind die Dinge, die wir brauchen.

   Der Kollege Schöler hat uns gesagt: Machen Sie nur so weiter! - Darauf kann ich nur erwidern: Natürlich werden wir so weitermachen. Wir werden unsere Pflichten im Bundesrat und auch hier im Parlament erfüllen und werden das tun, was für die Bevölkerung richtig ist.

(Zuruf von der SPD: Wie im Haushaltsausschuss! Kein Erörterungsbedarf!)

- Wie im Haushaltsausschuss. Es war aber nicht so, dass kein Erörterungsbedarf bestand, sondern es ging darum, eine richtige Beratungsgrundlage zu haben.

(Zuruf von der SPD: Eure Anträge sind doch ebenfalls keine Beratungsgrundlage! Die sind nur peinlich!)

Sie sind mit einem verunfallten Schrottauto als Vorlage angekommen und haben von der Opposition erwartet, dass sie daraus ein fabrikneues Fahrzeug fertigt. So geht es nicht! Sie sind in der Pflicht, eine Vorlage einzubringen, die tragfähig ist. Der Bundestag kann diese dann unter politischen Gesichtspunkten verändern. Aber der Bundestag ist keine Reparaturanstalt für den Murks und den Schrott, den Sie vorgelegt haben.

(Zurufe von der SPD)

- Ich verstehe Ihre Unruhe. Sie hören die Wahrheit nun mal nicht so gern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Was ich Ihnen jetzt sage, hören Sie vielleicht lieber: Wir liegen absolut richtig. Das erfahren wir jede Woche aus den Umfragen. Warum haben denn die Menschen das Vertrauen zu Ihnen verloren und Vertrauen zu uns gewonnen? Was ist der Unterschied zwischen Herrn Westerwelle und Herrn Schröder? Ich sage Ihnen: Der Schröder schafft die 18.

   Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Gerhard Rübenkönig, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gerhard Rübenkönig (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fromme, Herr Müntefering ist wieder hier; aber Sie haben Ihre Ausführungen ja an das Haus gerichtet.

   Zur Gemeindefinanzreform sei zu Beginn Folgendes noch einmal klargestellt: Wenn Sie ihr im Bundesrat zustimmen, werden alle Städte und Gemeinden in Deutschland damit einverstanden sein, insbesondere Ihre Parteikollegin Roth aus Frankfurt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das stimmt doch nicht! Das wissen Sie auch! Sie sagen hier wider besseres Wissen nicht die Wahrheit!)

- Herr Kampeter, Sie haben sich schon gestern durch zahlreiche Zwischenrufe ausgezeichnet.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ja, das kann er!)

Ich will Sie damit heute nicht aufwerten. Das hat nämlich zu der positiven Entscheidung, die wir in diesem Hause dringend brauchen, nicht beigetragen.

   Die deutsche Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Das sage ich ganz bewusst am Anfang meiner Ausführungen, weil Sie in Ihren Redebeiträgen gestern und heute genau das Gegenteil dargestellt und versucht haben, alles schlecht zu reden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Fünf Millionen Arbeitslosen, Minuswachstum usw.!)

   Nach drei bitteren Jahren mit sehr geringen Wachstumsraten haben wir die Talsohle durchschritten. Diese Einschätzung wird vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Wirtschaftsforschungsinstituten geteilt. Die wichtigen Indikatoren Ifo-Geschäftsklima-Index, GfK-Konsumklima und auch die Auftragseingänge in der Industrie untermauern diesen Trend.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Und was passiert auf dem Arbeitsmarkt?)

   Das kommende Jahr könnte ein Wachstum zwischen 1,5 und 2 Prozent bringen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wohl eher nominal als real!)

Das hängt jedoch wesentlich davon ab, ob die Reformvorhaben, die wir auf den Weg gebracht haben, im Vermittlungsausschuss im Kern unverwässert beschlossen werden.

   Eines steht fest: Mit der Agenda 2010 tragen die Bundesregierung und die sie tragende Koalition maßgeblich dazu bei, den wirtschaftlichen Aufschwung zu befördern.

(Beifall bei der SPD)

Die Agenda 2010 bedeutet: Reformstau beenden, Strukturreformen anpacken.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wie lange regieren Sie eigentlich schon?)

Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben mit der Agenda 2010 Strukturreformen in Angriff genommen, um den Reformstau in Deutschland endgültig aufzulösen. Die Reformen werden in vielen Bereichen der Gesellschaft nachhaltig zu Veränderungen führen. Wir haben es auch gestern gehört: Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa finden sie große Aufmerksamkeit und Anerkennung.

   Am wichtigsten ist dabei der Arbeitsmarkt. Im nächsten Jahr werden wir den flexibelsten Arbeitsmarkt seit über 20 Jahren in Deutschland haben. Die Wirtschaftsexperten sagen uns, dass wir mit unseren Reformen die Schwelle, bei der Wachstum mehr Beschäftigung auslöst, von annähernd 2 Prozent auf rund 1,5 Prozent senken. Mit anderen Worten

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist hanebüchen!)

- da sollten Sie einmal zuhören, Herr Kampeter - bedeutet das, dass wir in Zukunft etwas weniger Wachstum brauchen,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist wahr: weniger Wachstum! Unglaublich!)

um die Arbeitslosigkeit komplett abbauen zu können. Das ist der richtige Weg für mehr Teilhabe am Arbeitsleben.

   Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz ohne Wachstum - das wissen wir alle - geht es nicht.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist ja beruhigend!)

Deshalb zielen wir mit unseren Maßnahmen auf Konsolidierung und Wachstum.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ein bisschen weniger Wachstum? Mehr Armut!)

- Hören Sie gut zu: Wir zielen mit unseren Maßnahmen auf Konsolidierung und Wachstum.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden den Konsolidierungskurs durch konsequenten Subventionsabbau verstärken. Allein die im Entwurf des Bundeshaushalts 2004 vorgesehenen Maßnahmen - das hätten Sie im Haushaltsausschuss alles mitbekommen, wenn Sie mitberaten hätten -

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir haben mitberaten! Behaupten Sie nicht vorsätzlich die Unwahrheit!)

werden den Bund bis zum Jahre 2010 um über 50 Milliarden Euro entlasten.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist eine gute Basis, um den sich abzeichnenden Aufschwung durch Steuersenkungen entscheidend zu stärken. Deshalb haben wir beschlossen, die ohnehin für 2005 im Gesetzblatt stehende dritte Stufe der Steuerreform auf 2004 vorzuziehen. Der Eingangsteuersatz sinkt auf ein historisch niedriges Niveau von 15 Prozent. Das ist eine Zahl, die Sie bitte auch einmal zur Kenntnis nehmen sollten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die zu zahlende Einkommensteuer reduziert sich durchschnittlich um 10 Prozent. Dies führt zur stärksten Entlastung des Mittelstandes in der bundesdeutschen Geschichte. Meine Damen und Herren, dem sollten Sie, wo Sie doch immer davon reden, dass wir den Mittelstand entsprechend entlasten müssten, doch zustimmen können; denn wir nehmen eine starke Entlastung vor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn ich Ihre vielen Reden zu diesem Thema Revue passieren lasse, kann ich es kaum glauben, dass Sie gegen Steuersenkungen für den Mittelstand sind.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das stimmt doch nicht!)

Wir sind jedenfalls dafür.

(Joachim Poß (SPD): Wenn es der CDU nutzt, sind sie auch dagegen! - Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Poß, erzählen Sie keinen Unsinn!)

- So ist es, Herr Poß.

   Wir geben das richtige Signal. Es ist auch richtig, wie wir es machen; denn es macht keinen Sinn, einerseits den Bürgerinnen und Bürgern durch die Steuersenkung finanzielle Spielräume zu eröffnen und andererseits durch weitere und noch schmerzhaftere Kürzungen die positiven Effekte auf das Konsumverhalten zu konterkarieren. Linke Tasche, rechte Tasche - das kann nicht funktionieren.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist doch Ihr Basisprinzip!)

   Richtig ist jetzt eine Finanzierung der Steuersenkungen durch eine höhere Nettokreditaufnahme, verbunden mit der klaren Absicht, die Konsolidierung mit dem neuen Wirtschaftsaufschwung zum Erfolg zu bringen, damit die Maastricht-Kriterien - das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich - 2005 eingehalten werden können.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die OECD hat heute genau das Gegenteil festgestellt!)

   Im Übrigen bin ich im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zutiefst davon überzeugt, dass der Weg, den die EU-Finanzminister mit ihren gestrigen Beschlüssen eingeschlagen haben, richtig ist und unsere Sparanstrengungen unterstützt. Somit wird der zu erwartende Aufschwung nicht durch die von Ihnen geforderten Strafzahlungen abgewürgt werden. Ich empfehle Ihnen: Hören Sie endlich mit der ewigen Schwarzmalerei auf! Der Euro hat sich als stabile und krisenfeste Währung erwiesen. Das wird auch Ihr ewiges Genörgel und Schlechtreden nicht ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

An den für die Bürgerinnen und Bürger schmerzhaften Reformen, die mit der Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden, wird deutlich, dass wir im Einklang mit den Forderungen der Europäischen Kommission die Arbeits- und Gütermärkte, die sozialen Sicherungssysteme, die Steuer- und Abgabensysteme mittelfristig wesentlich verändern. Dadurch sorgen wir für mehr Wachstum, für stabilere Staatsfinanzen und für mehr Beschäftigung in Deutschland. Dies ist die Linie, die die Bundesregierung - im Übrigen auch gegenüber der Europäischen Kommission - vertreten hat.

   Meine Damen und Herren, durch die Umsetzung der Agenda 2010 kann das Jahr 2003 in die Geschichte eingehen, und zwar als das Jahr, in dem es Politik und Gesellschaft gelungen ist, sich ein Stück weit vom Besitzstands- und Anspruchsdenken zu lösen und sich auf wirklich Wichtiges zu konzentrieren. Ich glaube, wir können in einigen Jahren im Rückblick feststellen, dass die Agenda 2010 Schluss gemacht hat mit dem jahrelangen Verdrängen und Aussitzen, das Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit praktiziert haben und das uns in Deutschland in Stagnation und Selbstlähmung geführt hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn ich mir so manche Äußerungen von Unionspolitikern ansehe, zum Beispiel die des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber in seiner Regierungserklärung am 6. November dieses Jahres, in der er ausführt - gleich werden Sie Beifall klatschen -, die Bundesrepublik Deutschland befinde sich in der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen, Deutschland sei Wachstumsschlusslicht, es steige ab, dann frage ich mich, ob Sie überhaupt in der Lage sind, zu erkennen, welche ausgezeichneten Chancen dieses Land hat. Ich bin davon überzeugt, dass sich Deutschland mit Macht aus der Krise befreien und sich wieder positiv im internationalen Wettbewerb positionieren wird.

   Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, hören Sie endlich auf, die Leistung, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande vollbringen, schlechtzureden! Wir können stolz sein auf das, was wir in diesem Jahr vollbringen. Deutschland bewegt sich; das ist feststellbar. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition unternehmen die richtigen Schritte hierzu. Wir sind in der Lage, die Probleme anzupacken und Lösungen aufzuzeigen, und die wirtschaftliche Entwicklung gibt uns Recht. Damit stellen wir uns auch unserer europäischen Verantwortung als wirtschaftlicher Motor der Eurozone. Wir werden weiter für langfristige Strukturreformen und für kurzfristig spürbare Impulse durch Steuerentlastungen kämpfen, weil dieses Land mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze braucht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Nun ist es an Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer Verantwortung in den Ländern den Kurs für Strukturreformen, Subventionsabbau und Steuersenkungen und damit mehr Wirtschaftswachstum und Steuerung des Sozialstaates in seiner Grundidee mitzutragen. Die Menschen in unserem Land werden es nicht hinnehmen, wenn Sie das Interesse Ihrer Partei vor das Interesse des Landes stellen. Machen Sie Schluss mit Ihrer Blockadepolitik und sorgen Sie im Vermittlungsausschuss dafür, dass unsere Bürgerinnen und Bürger ab dem 1. Januar 2004 mehr Geld in der Tasche haben!

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bernhard Kaster (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den aktuellen Ereignissen in Brüssel muss hier eines deutlich festgestellt werden: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Finanzminister haben in den letzten Jahren Bund, Länder und Kommunen in die größte Haushaltskrise geführt. Das hat in diesen Tagen jetzt auch eine europäische Dimension erreicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Den Stabilitätspakt unserer gemeinsamen Währung, für den gerade wir in Deutschland in den 90er-Jahren so gekämpft haben, de facto aussetzen zu müssen - ein größeres Armutszeugnis für die eigene Finanzpolitik kann sich ein deutscher Finanzminister gar nicht ausstellen. Wie Theo Waigel gestern zu Recht festgestellt hat, ist das, was sich hier abgespielt hat, eine Schande für Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, es ist deshalb kein Wunder, dass neben der gescheiterten Politik auch die vollkommen überzogene Öffentlichkeitsarbeit immer mehr in die Kritik der Medien gerät. Gute Arbeit verkauft sich von selbst; Ihre schlechte Arbeit müssen Sie mit teuren Werbemillionen als gut verkaufen.

   Ich habe hier eine Broschüre, aus der ich jetzt zitiere:

Diese Broschüre informiert Sie, welche Reformen vorgesehen sind.

Die Betonung liegt auf „vorgesehen sind“. So das Vorwort unseres Bundeskanzlers in dieser kleinen Broschüre.

   Ähnlich könnte es - sinngemäß - im Vorwort des Haushaltes 2004 lauten: Dieser Haushalt informiert Sie über das, was wir uns wünschen. - Das ist alles schon schlimm genug; aber mit der Realität hat dieser Haushalt nichts zu tun.

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen, professionelle Werbung soll in der Öffentlichkeit das alles wieder ausbügeln. Schlechte Arbeit gut verkaufen - das macht auf der Bundesebene langsam Schule, wie wir in den letzten Tagen eben auch aus Nürnberg umfangreich erfahren haben.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wohl wahr!)

1,3 Millionen Euro für Medienberatung und nahezu eine Verdoppelung der Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit, um die Bundesanstalt für Arbeit und Florian Gerster ins rechte Licht zu rücken - darüber empört man sich in Deutschland zu Recht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Der soll mal anständige Arbeit machen!)

   Florian Gerster, vom Bundeskanzler persönlich in dieses Amt gebracht, hat hier sehr schnell von seinem Förderer gelernt. Inhalte ersetzen wir durch PR-Arbeit - Herr Gerster, schnell gelernt vom Bundeskanzler. Informationspflichten ersetzen wir durch Imagewerbung - gut gelernt von der Bundesregierung. Werbeagenturen übernehmen komplett die Arbeit - das Vorbild Bundespresseamt lässt grüßen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ohne Ausschreibung! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ohne Rücksicht auf bestehende Gesetze!)

Werbeaufträge ohne Ausschreibung, das Stichwort ist gefallen - für Haushaltsausschuss und Rechnungsprüfungsausschuss ist das keine neue Idee von Herrn Gerster; man kennt das bereits von der Bundesregierung. Leistungen kürzen und senken, den Öffentlichkeitsetat massiv erhöhen - der rot-grüne Bundeshaushalt ist für Florian Gerster hier das Lehrbuch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, die Verpackung kommt vor dem Inhalt. Das ist die besondere Form der Richtlinienkompetenz unseres Bundeskanzlers.

   Wir haben ja in diesem Jahr schon sehr viel erlebt. Eine Kampagne jagt die andere:

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Unglaublich!)

„Erfolg braucht alle“, „Teamarbeit für Deutschland“, „Deutschland bewegt sich“, „Zeit für mehr“ - man kann es unendlich fortsetzen,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Alles rausgeschmissenes Geld! Keine Substanz!)

alles frei nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, handle frei und ungeniert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Pfui!)

So ist im schlimmsten Schuldenhaushalt nicht Sparen angesagt, nein, jetzt will man es in Sachen Öffentlichkeitsarbeit so richtig wissen. Öffentlichkeitsmittel des Bundespresseamtes: ein Plus von 10,4 Prozent.

(Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Pfui!)

Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesfinanzministeriums: ein Plus von 120,5 Prozent.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Unglaublich! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Der Sparminister!)

Mittel für Öffentlichkeitsarbeit aller Bundesministerien einschließlich Bundespresseamt: ein Plus von 21 Prozent. Mittel für Öffentlichkeitsarbeit im Gesamtetat: zwischenzeitlich über 97 Millionen Euro.

   Aber damit nicht genug. Zusätzlich erfolgt eine Veranschlagung so genannter Fachinformationen in einer Größenordnung von fast 70 Millionen Euro,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Also noch mehr Geldverschwendung!)

allein im Etat für das Haus Trittin 6,8 Millionen Euro.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Davon zahlt er dann die Torten und den Champagner!)

Aber auch damit nicht genug. In mehreren Zuschussprogrammen - für Fachleute: das ist die Hauptgruppe 6 - sind weitere PR-Millionen enthalten. Beispiel: Bundesprogramm Ökolandbau.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Noch mehr rausgeschmissenes Geld!)

Hier hinter verbirgt sich beispielsweise „Kater Krümels Bauernhof“. Es werden 1,7 Millionen Euro für ein Kindergesellschaftsspiel ausgegeben. Jegliches Fingerspitzengefühl geht hier verloren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das darf doch wohl nicht wahr sein! Unglaublich!)

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch im Hause von Herrn Minister Stolpe finden sich zweimal 2 Millionen Euro Werbemittel in den Zuschussprogrammen Niedrighausenergie und Wohnraummodernisierung.

In Zeiten von Rekordschulden, Bruch des Eurostabilitätspaktes, Leistungskürzungen und Subventionsabbau sind diese dreisten Werbemillionen einfach ein Skandal.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Für die Koordinierungsstelle der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, das Presse- und Informationsamt, empfinden wir zwischenzeitlich Mitleid, weil man dort vor Hilflosigkeit und Panik bereits den dritten Rahmenvertrag für PR-Arbeit mit Werbeagenturen ausgeschrieben hat.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wieder so ein Gemauschel!)

Alle Rahmenverträge werden gleichzeitig in Kraft treten.

   Die Verpackung kommt vor dem Inhalt. Sie haben dieses Prinzip inzwischen sogar in den Zeitabläufen verankert. Ich will ein paar Beispiele nennen.

   Erstes Beispiel. Am 11. Juli 2003 gab es den Kampagnenauftakt für die Gesundheitsreform. Am 21. August, also mehr als einen Monat später, haben sich die Verhandlungspartner der Konsensrunde auf die Eckpunkte der Gesundheitsreform verständigt. Die Kampagne startete aber, wie gesagt, bereits am 11. Juli.

   Zweites Beispiel. Am 22. August, also wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, gab es den Start der Kampagne für die Agenda 2010 „Deutschland bewegt sich“.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Unglaubliche Wahlbeeinflussung! Ich will aber hinzufügen, dass das nicht geholfen hat!)

Zu diesem Zeitpunkt lagen uns die entsprechenden Gesetzentwürfe noch nicht vor. Erst am 9. und 11. September erfolgte die erste Lesung der zentralen Punkte der so genannten Agenda 2010.

   Für das Kanzleramt rollt derzeit das 16 Tonnen schwere Adlerauge,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Was ist denn das?)

ein rollendes Fernsehstudio, durch unser Land. An 18 Stationen werden Bürger in Fernsehinterviews nach ihren Visionen für 2010 gefragt. Die ersten beiden Filmclips können Sie sich bereits im Internet anschauen. Das ist sehr zu empfehlen. Siehe da, im ersten Filmbeitrag erscheint unter anderem der „Bürger Hans Eichel“. Ich zitiere ihn: „Meine Vision für 2010: Wir haben einen Haushaltsüberschuss, wir haben begonnen, unsere Schulden zurückzuzahlen.“

(Lachen bei der CDU/CSU)

   Was sagen uns diese Bilder? Damit sind zwei Botschaften verbunden. Erstens. Hans Eichel spricht als Normalbürger zu uns, nicht als Minister. Das ist ein beruhigendes Bild.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens. Wir haben 2010 einen Haushaltsüberschuss. Folglich gilt: Die rot-grüne Bundesregierung ist seit Jahren nicht mehr im Amt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Rudolf Bindig (SPD): Ha! Ha!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Diese Form der Agenda 2010 würde uns sehr gefallen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2070? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von Gesine Lötzsch und Petra Pau bei Zustimmung aller Fraktionen abgelehnt.

   Wir stimmen nun über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung ab. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

   Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

   Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Dann warten wir noch darauf. - Ich glaube, jetzt hat jedes Mitglied seine Stimme abgegeben.

   Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.

(Unterbrechung von 13.38 Uhr bis 13.45 Uhr)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

   Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 - Bundeskanzler und Bundeskanzleramt - in der Ausschussfassung auf Drucksachen 15/1904 und 15/1921 bekannt. Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 298, mit Nein haben gestimmt 282. Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschussfassung angenommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 78. Sitzung - wird morgen,
Donnerstag, den 27. November 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15078
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion