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16.05.2000
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Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerung

Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, empfängt anlässlich des Internationalen Tages der Kriegsdienstverweigerung heute im Reichstagsgebäude (Raum 2 N 024, 13.30 Uhr) Mitglieder der Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerer und hält dabei nachstehende Ansprache:

"Die Väter und Mütter unseres Grundgesetz haben in Artikel 4 Absatz 3 festgelegt, dass in der Bundesrepublik Deutschland niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden kann. Sie nehmen dieses Grundrecht in Anspruch - aus der Überzeugung, dass der Griff zur Waffe und zur Gewalt immer in die falsche Richtung weist, dass Krieg stets inhuman ist.

Diese Gewissensentscheidung wird durch das Grundgesetz nicht nur zugelassen, sondern von ihm ausdrücklich geschützt. Dieser Empfang im Reichstagsgebäude soll - einen Tag nach dem "Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer"- deutlich machen, dass der Deutsche Bundestag diese Gewissensentscheidung respektiert, aber auch die Leistungen der Kriegsdienstverweigerer im Zivildienst anerkennt. Die Entscheidung gegen den Dienst mit der Waffe ist in aller Regel zugleich eine Entscheidung für den Zivil- und Friedensdienst. Er ist für unsere Gesellschaft sehr wichtig - und nicht nur für den sozialen Bereich, in dem Zivildienstleistende hauptsächlich eingesetzt werden.

Den Wert von Artikel 4 Absatz 3 unseres Grundgesetzes kann wohl nur der wirklich schätzen, der - wie ich - in einem System leben musste, das kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung kannte. In der DDR hatte jeder, der den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen ablehnte, mit schwerwiegenden Folgen für seine weitere persönliche und berufliche Zukunft zu rechnen. Zwar gab es die sogenannten "Bausoldaten". Jedoch bedeutete die Entscheidung gegen den Dienst mit der Waffe, dass der Weg zu Studium und Universität verschlossen blieb.

Den hohen moralischen und politischen Stellenwert von Artikel 4 Absatz 3 GG verdeutlicht der Blick auf die Situation von Kriegsdienstverweigerern in anderen Teilen der Welt. Schon in Europa haben manche Länder nur unbefriedigende Regelungen. In anderen Teilen der Welt gibt es das Kriegsdienstverweigerungsrecht überhaupt nicht - oder es steht nur auf dem Papier, Ausführungsgesetze und entsprechende Praxis fehlen.

Was dies praktisch bedeutet, haben zuletzt der Tschetschenien-Krieg und der Kosovo-Konflikt dramatisch vor Augen geführt. Aus beiden Kriegsgebieten haben wir bedrückende, aber auch beeindruckende Berichte erhalten, wie junge Männer sich unter Berufung auf ihr Gewissen geweigert haben, durch den Dienst mit der Waffe zur brutalen Unterdrückung der Bevölkerung beizutragen.

Das Beispiel des Kosovo-Konfliktes konfrontiert uns mit einer Problematik, die tendenziell allen einfachen, pauschalen, schematischen Festlegungen innewohnt: Kann, wer aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe verweigert, um so menschenverachtende Taten eines Unrechtsregimes nicht unterstützen zu müssen, wer sich dann durch Flucht den oft harten Strafen entzieht, wie ein Deserteur aus Ländern mit geregeltem, funktionierendem Kriegsdienstverweigerungsrecht und politisch-militärisch einwandfreiem Verhalten behandelt werden? Unsere deutsche Praxis beantwortete diese Frage bisher mit Ja - mit ganz wenigen Ausnahmen einer Reihe von Stadträten, wie z.B. in Münster.

Aber müssen nicht - mit Blick auf den Kosovo - Zweifel angemeldet werden, weil doch die Nato damals die serbischen Soldaten dazu aufgerufen hat, sich nicht durch den Kriegsdienst an Milosevics verbrecherischen Taten zu beteiligen? Vor diesem Hintergrund sollte es doch möglich sein, unsere gegenwärtige Praxis, die sich aus den Asylregelungen ergibt, mit dem Ziel größerer Differenzierung zu überprüfen. Das war die einstimmige Auffassung auch des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Ich begrüße, dass sich der Bundesinnenminister dies zu eigen gemacht hat und Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus dem ehemaligen Jugoslawien nun als Flüchtlinge anerkannt werden.

Die Entscheidung gegen den Kriegsdienst ist immer auch ein Plädoyer für die Überzeugung, Konflikte und Krisen mit friedlichen Mitteln zu lösen. Kriegsdienstverweigerer setzen auf die Chance des Friedens, auf den Abbau von Feindbildern und den Verzicht auf Aggressivität. Diese Grundeinstellung beweisen Sie durch Ihr tagtägliches Handeln in den verschiedensten Bereichen des Zivildienstes. Ob es die Arbeit in Altenheimen, die Betreuung von Behinderten, der Einsatz im Umweltschutz oder der zivile Friedensdienst im Ausland (z.B. in der Gedenkstättenpflege) ist - in allen diesen Feldern leisten Sie nicht nur unverzichtbare soziale Hilfe, sondern aktive Friedensarbeit.

Damit setzen Sie ein Beispiel - auch für die Politik. Was Sie durch Ihr persönliches Handeln unterstreichen, muss noch stärker als bisher Grundlage politischen Handelns werden. Die friedliche Lösung von Konflikten muss stets oberstes Ziel der Staatengemeinschaft sein und bleiben.

Die Kriegsdienstverweigerer geben unserer zivilen Bürgergesellschaft insofern ein unverzichtbares Beispiel dafür, dass man den Dienst mit der Waffe ablehnen und sich zugleich aktiv für Friedensförderung - im Inneren wie im Äußeren - einsetzen kann.

Es ist im pazifistischen Weltbild nicht vorgesehen: Aber die friedliche Konfliktregulierung kann auch scheitern. Ich kenne die vielen Erwägungen auch vor, während und nach dem Kosovo-Krieg, ob das Scheitern erst nach weiterem diplomatischen Bemühen hätte festgestellt werden dürfen, ob es durch anderes taktisches Vorgehen hätte verhindert werden können, ob die militärische Gewalt in angemessenem Verhältnis zu dem Erreichten und Erreichbarem steht, ob Militär überhaupt Frieden schaffen könne.

Ich kenne diese Erwägungen auch deshalb, weil sie mir selbst viel Kopfzerbrechen bereitet haben, bevor ich im Bundestag dem militärischen Eingreifen zugestimmt habe. Ich musste am Ende eine Einsicht akzeptieren, die sehr sperrig ist: Friedliche, zivile Konfliktregulierung hängt auch und ganz entscheidend davon ab, dass alle Konfliktbeteiligten willens sind, friedlich zu bleiben oder es zu werden. Ich habe bei Milosevic eine solche Möglichkeit nicht gesehen und sehe sie auch im Nachhinein nicht.

Es ist allerdings nicht zuletzt das Verdienst der Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten, dass es sich heute niemand leicht machen kann, wenn es um militärische Gewalt geht. Wir brauchen Ihr Gewissen, Ihre Argumente, damit auch in Zukunft allergrößte Sorgfalt und vor allem allergrößte Zurückhaltung im Umgang mit den eigenen militärischen Mitteln an der Tagesordnung bleiben.

Diese umfassende "Chance des Gewissens" wie sie von Horst Eberhard Richter treffend charakterisiert worden ist, rücken Sie tagtäglich in unserer Bewusstsein. Hierfür möchte ich Ihnen - anlässlich des "Internationalen Tages der Kriegsdienstverweigerer" - meinen Dank aussprechen."

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2000/pz_000516
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