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Juli 02/1998
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"La leçon du Bundestag"

Der deutsche Parlamentarismus aus französischer Sicht

von Alfred Grosser
Grosser
Am 24. April 1998 (wie üblich mit dem Datum des folgenden Tages, dem 25.) hieß der Leitartikel von Le Monde, der angesehensten und einflußreichsten französischen Zeitung, "La leçon du Bundestag" - "Die Lehre des Bundestages". Voller Bewunderung erklärte Le Monde noch einmal, was die Einführung des Euro und damit das Ende der Deutschen Mark für die Bundesrepublik bedeute und hob hervor, daß trotzdem alle Fraktionen, Koalition und Opposition, zugestimmt hatten, weil es für sie ein gemeinsames Interesse gebe, nämlich den Platz eines demokratischen Deutschlands innerhalb eines friedlichen und vereinten Europas. Dies am Beginn des deutschen Wahlkampfes - während in Paris nach dem Wahlkampf die Nationalversammlung ein "trauriges Schauspiel" gegeben habe. Aus innenpolitischen Gründen hatten hier viele Abgeordnete der neuen Opposition zu dem nein gesagt, was das Staatsoberhaupt, dessen Stütze sie bleiben wollten, ausgehandelt und gutgeheißen hatte.
Am 26. April begann der Leitartikel der einzigen französischen Sonntagszeitung, "Le Journal du Dimanche", mit dem gleichen Thema. Der erste Absatz beschrieb mit der gleichen Bewunderung die Bundestagsdebatte vom Donnerstag zuvor, um dann lange und hart das französische Parteien- und Parlamentsleben zu kritisieren.
Modell Deutschland heißt es überhaupt seit langen Jahren in Frankreich, wenn von parlamentarischen Demokratien die Rede ist. Vielleicht, weil es seit 1949 keine dramatische politische Krise in Bonn gegeben hat. Vielleicht auch, weil es eine Regierungsstabilität gibt, mit echter (in Frankreich allerdings oft überschätzter) Kanzlermacht. Vierzehn Jahre Adenauer, sechzehn Jahre Kohl, dreizehn Jahre Brandt und Schmidt, d. h. Kanzler der wirklichen demokratischen Alternative: unter der IV. Republik in Frankreich, d. h. zwischen 1947 und 1958, hatte es ständig unsichere und zerstrittene Regierungen gegeben. Das System der V. Republik hat 1986 bis 1988, 1993 bis 1995 und nun seit 1997 die Aufteilung der Macht erlaubt zwischen dem Präsidenten einerseits, der direkt gewählt wurde von einer Mehrheit, die bei der Parlamentswahl zur Minderheit geworden war, und dem Premierminister andererseits, den die neue parlamentarische Mehrheit legitimiert.
In Bonn geht es einfacher. Jedenfalls glaubt man das in Frankreich, mit viel Unwissen und Unterschätzung der politischen Schwierigkeiten in der Bundesrepublik. Nicht nur, weil es ja ständig Koalitionen gegeben hat ( 1957/61 war ein Sonderfall), nicht nur weil es nach den Bundestagswahlen am 27. September eine neue Situation geben könnte, sollte es keine Mehrheit für eine stabile Regierungskoalition geben. Es handelt sich auch um eine Fehleinschätzung des Wahlgesetzes, um ein großes Unwissen über den Föderalismus und die Macht des Bundesrates, sowie um das gleiche Verkennen der Bedeutung der Wiedervereinigung, dem man auch in der "alten Bundesrepublik" begegnet.
Daß Wahlgesetze wichtig sind, hat man vor kurzem in Frankreich bei den Regionalwahlen wieder bestürzt erfahren. Das Proporz-System hat in vielen Regionen Jean-Marie Le Pen viel Einfluß gegeben. Seit Jahrzehnten glaubt man in Frankreich - auch unter den Politologen -, das deutsche System sei eine echte Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahl. Seit Jahrzehnten aber muß Journalisten und Politikern aufs neue erklärt werden, daß in der Bundesrepublik die Zweitstimme den Ausschlag gibt, daß die Bremse (im Vergleich zu Weimar und zum Beispiel zu Israel) die 5-Prozent-Klausel ist (die aber zu Recht 1990 für die PDS nicht galt, so wie für die Bayern-Partei 1949), es sei denn, eine Partei gewinnt mindestens drei Direktmandate, wie 1994 die PDS. Erst langsam wird deshalb in Frankreich gesehen, daß die Verhältniswahl in Deutschland nach dem 27. September 1998 eine Art "Unregierbarkeit" erzeugen kann.
Auch welche Auswirkungen der deutsche Föderalismus hat - und sei es nur auf europäischer Ebene -, versteht man in Frankreich nur bedingt. Für die wichtige Medien-Richtlinie aus Brüssel zum Beispiel waren die deutschen Verhandlungspartner einerseits die Bundesregierung, andererseits der gewählte Vertreter der Bundesländer. Wenige französische Kommentatoren haben wirklich wahrgenommen, daß es in Bonn faktisch eine große Koalition gibt, seit die Mehrheit im Bundesrat "rot" ist. Umgekehrt - und im Gegensatz zur Situation in der französischen Provinz - weiß man in Frankreich kaum, daß die Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf oder Manfred Stolpe oft nicht als CDU- oder SPD-Mitglieder entscheiden, sondern als durch gemeinsame Interessen verbundene Landesväter.
Ihre Bundesländer Sachsen und Brandenburg gehören zu den "neuen Ländern", deren Existenz die Bundesrepublik verändert hat. Die Wiedervereinigung über Art. 23 GG hat gezeigt, daß es keine "Westbindung" gegeben hat. Die Bundesrepublik war nicht angebunden gewesen, sondern eingebunden in die Europäische Gemeinschaft; sie war Bestandteil des freien Europas, zu dem dann alle Befreiten strebten. Nur wurde in Westdeutschland vergessen, daß die deutsche Vereinigung letztlich die erste Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft war und Menschen betraf, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang nicht in Freiheit und Wohlstand gelebt hatten, was eigentlich Mitempfinden und nicht Überheblichkeit hätte zeitigen sollen.
In Frankreich weiß man wenig von den "neuen Ländern", denn die Franzosen kommen meist nur mit ihren alten westdeutschen Freunden zusammen, die selbst nicht viel über die Ostdeutschen wissen. Wer sich Regierung, Partei- und Fraktionsführungen ansieht, der kann gar nicht erkennen, wie tief im Grunde der Ost-West-Graben in Deutschland heute noch ist. Dies stellt übrigens auch die Repräsentativität des Bundestages in Frage.
Die Bundesrepublik hat, im Vergleich mit Frankreich, starke Parteien, von denen zumindest die SPD und die CDU viele Mitglieder haben. Daß es auch parteinahe Stiftungen gibt, wissen die nicht wenigen Franzosen, mit denen zum Beispiel die Konrad-Adenauer- und die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammenarbeiten. Auch wissen die, die mit dem "Weimarer Dreieck" Polen/Deutschland/Frankreich zu tun haben, welche Leistungen beide Stiftungen in Warschau vollbringen. Von Paris aus wird dieses Wirken übrigens oft bewundernd und manchmal auch eifersüchtig betrachtet.
Aber sind die Parteien in der Bundesrepublik eben nicht doch allzu mächtig? Die Entmachtung der Pariser Nationalversammlung durch die Parteiführungen geht schon weit. Wie steht es in Bonn? Wer Art.1 des Parteiengesetzes von 1967 liest, muß sich zunächst fragen, ob die dort den Parteien zugestandenen Kompetenzen den Bundestag nicht zum Leerlauf verurteilen. Jeder französische Beobachter der Arbeit des Deutschen Bundestages wird jedoch schnell davon überzeugt, daß es in Bonn für die Parlamentarier viel mehr Spielraum gibt als in Paris. Sei es durch die Arbeit in den Ausschüssen, die effizienter ist, oder auch durch die im allgemeinen geräuschlose Tätigkeit des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat.
Jedesmal, wenn eine Welle der Wehleidigkeit durch Deutschland geht (und das ist oft der Fall!), sollte man bedenken, wie man von außen betrachtet wird. Das würde Genugtuung verschaffen und Mut machen. Der Bundestag ist ein wichtiger Bestandteil eines Deutschlandbilds, das viel positiver ist, als es das deutsche Selbstmitleid wahrhaben will.

Alfred Grosser ist emeritierter Professor am angesehenen Pariser Institut für politische Wissenschaften und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels.
Sein jüngstes Buch "Deutschland in Europa" erscheint im August im Beltz/Quadriga Verlag.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9802/9802012
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