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Mai 05/2000
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"Ein schöner Tagesbeginn"

Die christliche Morgenfeier im Reichstagsgebäude

Etwas schüchtern bleibt die Putzfrau hinten in der Ecke stehen, als gehöre sie nicht richtig dazu. Erst als ein Plenarassistent im Frack sie vorsichtig in den Raum schiebt und auf den letzten freien Stuhl zeigt, nimmt die Frau zwischen Abgeordneten, Saaldienern und anderen Mitarbeitern Platz. Hier gehören alle zusammen. Das Harmonium setzt ein.

Der Andachtsraum im Reichstagsgebäude ist ein Werk des Künstlers Günther Uecker
Der Andachtsraum im Reichstagsgebäude ist ein Werk des Künstlers Günther Uecker

Es ist Donnerstag, 8.40 Uhr. Organist Christian Schlicke eröffnet mit einem Orgelvorspiel die christliche Morgenfeier im Reichstagsgebäude. Der Andachtsraum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. "Das kommt nicht sehr oft vor", freut sich Platzmeister Achim Glomb, der Chef der Saaldiener. Er muss es wissen, schon seit 1991 betreut er die Morgenfeier. Heute ist jeder der 20 Stühle besetzt.

"Das Schöne ist, dass hier alle, die im Bundestag arbeiten, zusammenfinden. Jeder ist willkommen – ob Abgeordneter, Saaldiener oder Putzfrau."

Lotti Lietzmann ist Mitarbeiterin eines Abgeordneten und gehört zu den regelmäßigen Besuchern der Morgenandacht. "Ich schaffe es nicht immer, aber es ist doch so ein schöner Tagesbeginn!" Wenn sie ganz viel Zeit hat, bringt sie eine Blume mit, die sie auf den Altar legt. "Blumen gehören doch zu einem Gottesdienst dazu."

Etwa eine Viertelstunde dauert die Andacht. Sie findet in Sitzungswochen immer donnerstags und freitags statt. Um 8.30 Uhr ertönen die Glocken des Kölner Doms per Lautsprecher durch die Gebäude, um auf die Andacht aufmerksam zu machen. "Um 8.40 Uhr beginnt die Feier, um 9.00 Uhr müssen alle ins Plenum, da schätzen die Gäste die kurze Zeit der Besinnung. Ihre Hektik wird unterbrochen, man kommt vor dem ganzen Stress noch einmal zur Ruhe", erklärt Lotti Lietzmann, warum sie sich immer auf die Morgenandacht freut.

Die katholische und die evangelische Kirche wechseln sich jährlich mit der Vorbereitung der christlichen Feier ab. In diesem Jahr schickt die katholische Kirche Herrn Glomb die inhaltliche Vorbereitung: ein Lied, einen Bibelausschnitt, Gedanken zum Text, den Psalm des Tages und ein Gebet. Für alle Gäste liegt ein Zettel mit der Abfolge und dem Liedtext auf ihren Stühlen bereit.

Nach dem Orgelvorspiel wird zu Beginn gemeinsam ein Lied gesungen. Anschließend begrüßt einer der Gäste alle Anwesenden und liest den ausgewählten Bibeltext vor. Es gibt keinen ständigen Pfarrer oder Mitarbeiter einer Kirche, nur eine unausgesprochene Rangfolge: Ist ein Abgeordneter unter den Besuchern, trägt er vor. Andernfalls wechseln sich Herr Glomb oder Mitarbeiter der Abgeordneten ab. "Jeder Abgeordnete hält es anders, manche lesen den Text der Kirchen so, wie er vorgegeben ist, andere bringen spontan eigene Gedanken mit ein oder interpretieren den Bibelausschnitt auf ihre Weise", erzählt Lotti Lietzmann. "Jeden Morgen ist es unterschiedlich, aber immer schön." An diesem Morgen steht ein Text aus dem Evangelium von Matthäus, und der Abgeordnete Heinrich Fink legt den Text sehr persönlich aus.

Auf den Bibeltext folgt der Psalm, der im Wechsel von Redner und übrigen Gästen gesprochen wird. Glomb: "So beziehen wir alle in die Andacht mit ein." Ein Gebet, das Vaterunser und einige Minuten der Stille runden die christliche Morgenandacht ab. Mit einem Orgelnachspiel werden alle in ihren ereignisreichen Tag entlassen. "Hier kommen wir zum Gespräch mit Gott, reflektieren unseren Tag. Das ist das Wertvolle an dieser Viertelstunde.", sagt Lotti Lietzmann.

Die Institution der christlichen Morgenfeier existiert schon seit 1949. In Bonn wurde sie noch bis zur Sommerpause 1999 gefeiert. Seit September vergangenen Jahres findet sie nun im eigens dafür geschaffenen Andachtsraum im Reichstagsgebäude statt. Der Künstler Günther Uecker hat diesen Raum gestaltet. Alles ist neu – nur die Orgel wurde aus Bonn mitgenommen.

Nach dem Umzug mussten die regelmäßigen Gäste um ihre Morgenandacht bangen. Es nahmen immer weniger Gäste teil. "In Bonn waren wir fast ein eingeschworener Kreis, aber inzwischen sehen wir auch hier immer häufiger neue Gesichter." freut sich Lotti Lietzmann. Jeder neue Gast ist willkommen. "Es ist doch auch eine so schöne Gemeinsamkeit, sich bei der Andacht zu treffen und den Tag zusammen beginnen zu lassen." Birte Betzendahl

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0005/0005078
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