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Juli 07/2000
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Zwei Projekte und ein Europa

Von Anne-Marie Le Gloannec

Durch seine beachtete Rede im Bundestag, die erste, die seit 1983 ein französischer Präsident hielt, hat Jacques Chirac mehreres signalisiert. Erstens ist sie eine Antwort auf Joseph Fischers Rede, eine Rede, die der französische Präsident offensichtlich ernst nimmt. Bisher hatte der deutsche Außenminister nur eine höflich-laue Antwort seines französischen Kollegen Hubert Védrine bekommen. Zweitens wagt der Präsident etwas Neues, indem er zum ersten Mal überhaupt in der französischen Debatte um eine europäische Verfassung wirbt. Es ist um so bemerkenswerter, als Franzosen bei diesem Wort irgendwie an einen Superstaat denken. Denn eine Verfassung setzt ja ein Staatsvolk vo-raus, und ein europäisches Staatsvolk gibt es eben nicht. Drittens haucht der Präsident der deutsch-französischen Beziehung neues Leben ein, indem er ein Zusammentreffen der sozialen Kräfte beider Länder (und die Schaffung einer Stiftung deutscher und französischer Unternehmer) vorschlägt und vor allem indem er eben eine europäische Vision entwirft.

Eiffelturm und Brandenburger Tor

Bisher hat die deutsch-französische Beziehung nur dann geblüht, wenn die Staats- und Regierungschefs beider Länder eine gemeinsame europäische Vision hegten...

De Gaulle und Adenauer wurden von der Aussöhnung und dem Aufbau Europas getragen, Schmidt und Giscard von einem gemeinsamen Verständnis der Entspannung und der Notwendigkeit einer europäischen Währungsstabilität, Mitterrand und Kohl von der Vereinigung Europas und der Währungsunion. In den letzten Jahren dieses Jahrhunderts ist aber der deutsch-französische Motor ins Stocken geraten.

"Furcht vor der deutschen Umarmung"

1994, als Wolfgang Schäuble und Karl Lamers ihr berühmtes Papier über die Zukunft der Europäischen Union veröffentlichten, hatten sich sehr wenige in der Regierung und in den politischen Parteien Frankreichs die Mühe gegeben, darauf zu antworten. Verstimmung dominierte eher, weil die zwei Deutschen ein föderalistisches Europa im Sinne hatten, mit dem harten Kern einer deutsch-französischen Achse in Paris fürchtete man sich vor einer deutschen Umarmung, die Frankreich in eine ungewünschte Richtung gezogen hätte. Diesmal ist der französische Präsident kühn genug, um Fischers Einladung zu Zukunftsvisionen zu folgen.

Der Unterschied zwischen damals und heute liegt darin, dass Mitte der neunziger Jahre gewisse Politiker – darunter Premierminister Edouard Balladur, später Präsident Chirac – sich mehr oder weniger offen nach einer größeren Distanz gegenüber der Bundesrepublik und einer Annäherung an Großbritannien sehnten. Der 1995 gewählte Präsident hoffte sogar darauf, eine Art Vermittlerrolle zwischen London und Bonn zu spielen. Die damalige zwischenstaatliche Konferenz, die zum Amsterdamer Vertrag führte, zeigte aber, dass zwischen den britischen und den deutschen Positionen es keinen Mittelweg gab (nur Deutschland und Frankreich wollten Europa aufbauen). Stattdessen einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Später, mit Gerhard Schröder als Kanzler, erwies es sich, dass Großbritannien und Deutschland keinen Vermittler brauchten. Frankreich schien ins Abseits zu geraten, und die deutsch-französischen Beziehungen drohten einzufrieren – insbesondere nachdem der französische Präsident eine Reform der Armee ankündigt hatte, ohne vorher den Partner zu informieren. Jetzt möchten sowohl der französische Präsident als auch seine Regierung gern privilegierte Beziehungen mit Deutschland neu knüpfen. Die Rückkehr Großbritanniens ins kontinentale Spiel wird sehr geschätzt, vor allem erlaubt sie, eine europäische Verteidigung aufzubauen, und zwar auf der Basis der britisch-französischen Gemeinsamkeiten. Sie reicht aber nicht, um eine Reform der europäischen Institutionen vo-ranzutreiben.

"Über die nächsten Etappen einer Meinung"

Mit anderen Worten: Europa wird größer, die Kombinationen möglicher Partnerschaften und Allianzen wachsen. Aber eine enge deutsch-französische Abstimmung bleibt unerlässlich, wenn die zwei Partner Europa weiter integrieren wollen. Bei dieser Feststellung bleiben jedoch zwei Fragen offen. Die erste besteht darin, ob Chirac und Fischer, ob Frankreich und Deutschland auf derselben Linie sind, und da sind Zweifel angebracht. Zwar sind der französische Präsident und der deutsche Minis-ter einer Meinung, was die zwei nächsten Etappen des Aufbaus Europas betrifft: Dabei geht es um einen erfolgreichen Abschluss der zwischenstaatlichen Konferenz am Ende des Jahres in Nizza, die die in Amsterdam nicht erledigten Schulaufgaben anpackt, und um die Bildung einer "Avantgarde", die die Europäer ermutigen soll, weitere Aufgaben anzugehen.

Doch Chirac und Fischer unterscheiden sich auch, weil der eine föderalistisch und der andere klar supranational denkt. Chirac schlägt eine europäische Verfassung vor, die aber nur darauf zielen sollte, Bürgerrechte zu sichern und lokale, nationale und europäische Befugnisse voneinander abzugrenzen. Aber im Unterschied zu Fischers Projekt zielt er nicht darauf, Gewalten zu teilen. Von einer europäischen Regierung ist bei Chirac gar keine Rede, und die Kommission wird nicht erwähnt. Man könnte gar den Vorschlag so verstehen, dass eine Kompetenzaufteilung eine mögliche Renationalisierung Europas verbirgt, wenn der Präsident nicht hinzufügen würde, dass die Aufteilung nicht ein für allemal festgeschrieben sein soll.

Die zweite offene Frage betrifft Drittländer. Sowohl in London als auch Warschau wurden Besorgnisse ausgedrückt, dass eine Avantgarde eine Zweiteilung Europas bedeuten würde, zwischen einerseits denjenigen Ländern, die die Integration vorantreiben wollen, und denjenigen, die sie nicht wünschen oder können. Unter diesen Umständen ist es für beide Regierungen äußerst schwierig, diese – und andere – Regierungen zu überzeugen. Das wiederum hieße, dass der deutsch-französische Motor seine Eigenschaft verloren hat, Impulse zu geben. So weit sind wir aber noch nicht: Man kann immerhin hoffen, dass beide Projekte, Fischers und Chi-racs, eine Diskussion in Gang gesetzt haben, aus der auch etwas entstehen kann.



Anne-Marie Le Gloannec

Anne-Marie Le Gloannec ist in Paris geboren. Sie kam nach mehreren Aufenthalten in den Vereinigten Staaten, u.a. in Harvard, nach Deutschland. Sie ist zurzeit stellvertretende Direktorin des Centre Marc Bloch in Berlin. Ferner arbeitet sie als Forscherin beim Centre d'Etudes et de Recherches Internationales (Fondation Nationale des Sciences Politiques) in Paris. Anne-Marie Le Gloannec ist Verfasserin zahlreicher Publikationen über Deutschland und die Rolle der Staaten in der EU. Vor dem Erscheinen steht ihr Buch "Retrait ou Retour de l'Etat? L'Etat en République Fédérale d'Allemagne".

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0007/0007004
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