Menschen im Bundestag
Leiter ohne festen Wohnsitz
Hubertus Reger steht dem Fachbereich Kultur und Medien vor, einem jungen Arbeitsgremium, das noch in Bonner und Berliner Büros aufgeteilt ist.
Am ersten Dienstagmorgen im Juli verliert Hubertus Reger Zeit. Ihm bleiben immer noch die Stunden, aber Minuten und Sekunden stehen plötzlich nicht mehr zur Verfügung. Die beiden dafür zuständigen Zeiger an seiner Armbanduhr sind einfach abgefallen. Ob das ein Zeichen ist, muss Herr Reger erst rausbekommen. Die praktische Seite des Vorfalls ist, dass er ohne Uhr von Bonn nach Berlin fährt.
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Hubertus Reger. |
In einer Stadt, die den Tagen ein hektisches Stakkato aufzwingt und in der man sich sicherheitshalber in einem Zeitfenster verabredet, um nicht zu spät zu kommen, sollte das kein Problem sein.
Hubertus Reger lebt ein wenig zwischen den Welten – zwischen Bonn und Berlin, einer beendeten und einer begonnenen Arbeit, zwischen Büros und Übergangsquartieren. Um bei der Wahrheit zu bleiben: In Berlin hat der Mann noch gar kein eigenes Büro. Aber Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen er sich regelmäßig trifft. Und natürlich tagt der Ausschuss Kultur und Medien, für den sein Fachbereich zuständig ist, regelmäßig, und in einigen Monaten wird man ganz und gar in der Hauptstadt sein. Also pendelt Hubertus Reger und verabredet sich im Zweifelsfall in der Kuppel des Reichstages, weil man dort reden kann, obwohl hunderte Menschen an ihm vorbeiflanieren, mit den Fingern über seinen Kopf hinweg auf spektakuläre Ziele zeigen und ab und zu einen neugierigen Blick auf die kleine Sitzgruppe unter der Doppelhelix werfen. Hubertus Reger ist Zwischenlösungen und Improvisationen gewohnt. Jetzt sowieso.
Man kann dem ersten Blick vertrauen und auf den ersten Eindruck setzen und zu dem Schluss kommen, dass es ihn nicht anficht. Er hat das berühmte breite Kreuz, gelassene Bewegungen, seine Erzählungen bekommen Zeit für Rückblenden und Ausblicke, die Hände beschreiben in einer Linie gezeichnete Figuren in der Luft, er sucht nie eine seiner Brillen mit den kleinen runden Gläsern. Hinzu kommen eine Lust an der Ironie und eine Neigung zur Philosophie. Das zwingt geradezu zur Ruhe.
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Hubertus Reger. | ||||||||||
Der Sachstand allerdings lässt ahnen, dass es noch einen anderen Reger geben muss. Einen, dem die Gelassenheit vielleicht manchmal abhanden kommt zu Gunsten großer Ungeduld und Momenten der Selbstbefragung – "Selbstfindung", sagte er wahrscheinlich an dieser Stelle. Schuld daran ist ein Organisationserlass des Bundeskanzlers vom 27. Oktober 1998. Erlassen wurde da, einen "Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien" zu bestellen. Dem wiederum hatte zu folgen ein Ausschuss für Kultur und Medien, der einen gleichnamigen Fachbereich zur Unterstützung der inhaltlichen Arbeit bekam. Leiter dieses Fachbereiches, der die römische Zahl X trägt, wurde Hubertus Reger, zum damaligen Zeitpunkt seit sieben Jahren Leiter des Sekretariates des Haushaltsausschusses im Deutschen Bundestag.
Ein Ausschusssekretariatsleiter schlägt Sitzungstermine und Tagesordnungen vor, trägt Mitverantwortung für die Bereitstellung aller wichtigen Sitzungsunterlagen, sorgt während der Sitzungen für die Einhaltung der Geschäftsordnung, erstellt die Protokolle und Berichtsentwürfe an das Plenum, berät den Ausschussvorsitzenden in fachlichen und organisatorischen Fragen.
Das hatte Hubertus Reger sieben Jahre lang gemacht. Er war sozusagen ein alter Hase – auch in seinen eigenen Augen, denn so lange hatte er vorher noch nie an einem Platz gearbeitet. Er ist schon ein Mann, der den Wechsel liebt, aber die Ausschussarbeit bot diesen Wechsel in der Kontinuität. Ein stressnaher Arbeitsbereich kann man sagen.
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Hubertus Reger. | ||||||||||
Der allererste Tag, den er als Ausschusssekretär in diesem Gremium zubrachte, war so anstrengend und schnell, dass ihn am Abend ein Anflug von Panik ereilte. "Ich dachte, mein Gott, wie kriegst Du das hin, jedes Thema, das hier besprochen wird, in der Kürze der Zeit zu erfassen. Wer ein Protokoll anfertigen muss, kann sich ja nicht rausmogeln. Ich wollte aus dem Fenster springen." Das ist übertrieben, signalisiert er bei diesem letzten Satz, aber starke Eindrücke brauchen starke Bilder, und in der Reichstagskuppel haben sie große Konkurrenz.
Sieben Jahre also hat er diese Arbeit gemacht. In dieser Zeit ist der studierte Jurist sozusagen umgesattelt auf Haushalt – ein Metabereich, in den fast alles hineinspielt, was in Politik und Wirtschaft beraten, behandelt, beschlossen und durchgesetzt wird.
Andererseits – und das ist der Vorteil eines solchen Bereiches – man muss niemandem am Telefon erklären, woher man kommt und wer man ist. Jeder weiß um die Bedeutsamkeit des Gremiums, und die Frage "Wozu brauchen Sie das Material?", erübrigt sich oder besser: Sie wird nicht gestellt.
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Hubertus Reger. | ||||||||||
Es gibt Momente, wo Hubertus Reger, heute 53 Jahre alt, diese Zeit vermisst – den Trubel, den Stress in Sitzungswochen, manchmal sogar die Sitzungen bis tief in die Nacht hinein, die Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Dem steht sein Satz "Sieben Jahre waren ausreichend" nicht entgegen und auch nicht die Tatsache, dass die heutige Arbeit für den Mann wieder wie ein Abenteuer daherkommt.
"Ausschussarbeit ist in erster Linie Management. In den Fachbereichen geht es vorrangig um inhaltliche Zuarbeiten. Das ist schon mal ein ganz wesentlicher Unterschied. Ich habe – da sollte man immer versuchen, ehrlich zu sich selbst zu sein – wieder von vorn angefangen. Salopp gesagt, kannte ich zwar nach diesen sieben Jahren den ganzen Laden. Ich wusste, dass hier, wie überall, die Uhren auch mal falschrum gehen können, dass es chaotische Situationen gibt und Momente, in denen alle gleichzeitig überfordert sind. Ich kann mit Menschen umgehen, organisieren, managen, zu- und vorarbeiten. Aber es war der Haushaltsausschuss, für den ich das gemacht habe. Und jetzt mache ich Kultur und Medien. Was heißt das? Neu dazulernen, anwenden, was man kann, Fragen stellen, Antworten suchen."
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Hubertus Reger. | ||||||||||
Der Fachbereich Kultur und Medien ist, wie Hubertus Reger sagt, "ein ganz kleiner Haufen" – ein Referent und eine Referentin, eine Sachbearbeiterin, eine Sekretärin und er, der Leiter. Die räumliche Trennung der Büros, mehr als 600 Kilometer dazwischen, macht es nicht einfacher, auch wenn Kommunikation durch die modernen Medien leichter geworden ist. Und einfacher wird die Geschichte auch nicht, wenn man den Themenumfang betrachtet, der vom Fachbereich für den Ausschuss und von diesem für den Bundestag inhaltlich abgedeckt werden muss: Kultur- und Kulturförderung, Medienpolitik und -forschung, Literatur, Musik, Darstellende Kunst, Denkmalschutz, Gedenkstätten, auswärtige Kulturpolitik.
Wenn man mal von dem amtlichen Deutsch für so schöngeistige Inhalte absieht, sind das spannende Themen und ein geradezu unermesslich großer Katalog von Forderungen. Vor allem eben an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die inhaltlich unterfüttern sollen, was so schön klingt.
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Hubertus Reger. | ||||||||||
Es kommt vor, dass die gegenwärtige Arbeitssituation von Hubertus Reger, die Arbeit im Fachbereich, mit seiner philosophischen Neigung Allianzen eingehen kann. Wenn es zum Beispiel um das Thema "Neue Medien" geht und die Frage, wie heute Kommunikation definiert wird, dann reist Hubertus Reger von A (Bonn) nach B (Berlin), um mit seinen Mitarbeitern zu reden und Dokumentationen und Vorlagen vorzubereiten. Er überlegt sich, ob das jetzt alles auch per E-Mail und Telefon möglich wäre, ob die gleichen Arbeitsergebnisse entstünden oder ob es doch der persönlichen Auseinandersetzung bedarf. Er denkt darüber nach, ob die leibhaftige Anwesenheit der Kolleginnen und Kollegen in einem Raum etwas an den Ergebnissen der Arbeit ändert oder nicht.
Überhaupt kommen ihm im Zug von Bonn nach Berlin oder umgekehrt all diese Sachen in den Sinn, für die er im Flugzeug wahrscheinlich gar keine Zeit hätte. Sein Brockhaus zum Beispiel, den er von seinem Vater geerbt hat. Hubertus Reger überlegt, ob er sich nun besser einen neuen Brockhaus anschafft oder das Gesamtwerk gleich als CD-ROM erwirbt. Er kommt zu dem Schluss, dass es noch lange – vielleicht sogar ganz lange – ein besseres Gefühl bleiben wird, ein Buch anzufassen, anstatt eine CD ins Laufwerk D einzulegen. Jedenfalls bei vielen Büchern.
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Hubertus Reger im Gespräch. |
Egal, wie die Frage in seinem Kopf entschieden wird, besser ist in seinen Augen auf jeden Fall, Joe Cocker life zu erleben – egal wie toll die CD ist. Das wird ihm ja, da ist er sicher, an Berlin gefallen – die weitaus größere Wahrscheinlichkeit, dass Joe Cocker oder die Rolling Stones kommen. Es wird ihn damit versöhnen, dass die Freundlichkeit der Berliner "nicht so aufdringlich ist", wie er es ausdrückt. Vor allem die der Berliner Busfahrer.
Das führt ihn zu der Frage, wie man in Berlin – und
jenseits der Arbeit – Menschen kennen lernt. Ein Kollege hat
ihm erzählt, das gehe am besten, wenn man einen Hund habe.
Zumindest was das Einstiegsgespräch anbelangt. Aber über
diese Brücke wird Hubertus Reger nicht gehen. Wenn er in der
Stadt richtig angelandet ist, wird sich manches von selbst ergeben.
Dessen ist er sicher. Man muss sich nur Zeit nehmen und sie sich
vor allem gönnen. Kann ja sein, dass dies die Botschaft des
Morgens war, als ihm zwei Uhrzeiger verloren gingen und er nur noch
die Stunden zählen konnte.
Kathrin Gerlof