Die Geschichte des Reichstagsgebäudes
Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zugleich eine Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Unter Bismarcks Ägide vollzog sich der Wandel vom Deutschen Bund, einem Staatsverband von zuletzt 34 nahezu souveränen Staaten, zum föderalen Nationalstaat. Wenn auch einzelne der Bundesstaaten sich noch der Parlamentarisierung ganz oder teilweise versagten, durch das Dreiklassenwahlrecht in Preußen zum Beispiel oder durch die altständische Verfassung in den beiden Großherzogtümern Mecklenburg, so erlaubte nun doch der Nationalstaat erstmals allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Wahlen zum Reichstag. Die neu errungene politische Macht der Bürger verlangte nach angemessener architektonischer Repräsentation. Doch bevor der Neubau eines Reichstagsgebäudes zustande kam, musste sich das Parlament aufgrund verschiedener Hindernisse, die sich bei der Suche nach einem geeigneten Grundstück ergaben, zunächst mit provisorischen Unterbringungen zufriedengeben.
Der erste neugewählte gesamtdeutsche Reichstag trat zu seiner ersten Sitzung Ende März 1871 in einem Gebäude in der Leipziger Strasse 75 zusammen. Dieses hatte zuvor u.a. dem preußischen Abgeordnetenhaus als Tagungsort gedient. Der schlechte bauliche Zustand des Gebäudes führte bereits im folgenden Monat zu einer Debatte im Reichstag über den Neubau eines Parlamentsgebäudes. Es ist bezeichnend für das Selbstbewusstsein der Abgeordneten, dass sie den Vorschlag der Regierung, lediglich auf dem Grundstück des Kanzleramtes ein kleineres Parlamentsgebäude zu errichten, ablehnten. Sie forderten ein frei stehendes Gebäude, da es sich doch, wie die Deutsche Bauzeitung später formulierte, "um den bedeutendsten und dem Range nach ersten Monumentalbau des deutschen Volkes" handele. Eine Reichstagsbaukommission wurde eingesetzt, der Reichstag bezog als neues Provisorium das Gebäude der Königlichen Porzellanmanufaktur zu Berlin in der Leipziger Strasse 4 und entschied sich bei der Wahl eines Baugrundstückes für das künftige Parlamentsgebäude für die Ostseite des damaligen Königsplatzes. Noch im Jahre 1872 wurde ein erster Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Über 100 Entwürfe, darunter solche aus England, Amerika und Frankreich, erreichten die Reichstagsjury. Sie vergab einen ersten Preis, doch der Entwurf des Preisträgers musste zu den Akten gelegt werden, da es nicht gelang, den Besitzer des vorgesehenen Baugrundstückes, den Grafen Raczynski, zur Aufgabe seines dort gebauten Palastes zu bewegen. Erst im Jahre 1882 konnte nach einer Einigung mit den Erben des Grafen Raczynski die Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung durchgesetzt werden.
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So wurde im Jahre 1882 der zweite Wettbewerb für das Reichstagsgebäude ausgeschrieben. Unter nahezu 200 eingereichten Entwürfen erhielt derjenige von Paul Wallot (1841-1912) den ersten Preis. Der aus Oppenheim stammende Architekt hatte seine Lehrzeit in Berlin u.a. im Büro von Martin Gropius verbracht und war später nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Das Wallot und nicht ein Berliner Architekt den ersten Preis erhalten hatte, führte zunächst zu einigen Intrigen und Pressequerelen.
Auch blieb es Wallot nicht erspart, seinen preisgekrönten Entwurf mehrfach überarbeiten zu müssen. Erst am 9. Juni 1884 konnte schließlich in einer prunkvollen Feier - Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Fürst Bismarck nahmen an ihr teil - der Grundstein gelegt werden. In der Folgezeit musste Wallot energisch darum kämpfen, die Kuppel - entsprechend seinem ursprünglichen Entwurf - zentral über dem Sitzungssaal anzubringen. Wallot betrachtete die Kuppel sowohl aus Gründen der Lichtwirkung im Gebäude als auch für die ästhetische Gesamtwirkung des Gebäudes, die Verteilung der Baumassen also, als unerlässlich. Was seiner Konzeption einen besonderen Rang verlieh, war die Tatsache, dass in der damaligen Zeit ein solcher Kuppelbau eine technische Meisterleistung darstellte, gleichsam ein Symbol zukunftsweisender Ingenieurbaukunst. Nicht weniger energisch musste sich Wallot gegen die Versuche Kaiser Wilhelms II., eigenwillig, aber doch dilettantisch mitzuentwerfen, zur Wehr setzen. Freilich trug ihm diese aufrechte Haltung kaiserliche Ungnade ein. Diese äußerte sich in wiederholt, auch öffentlich vorgetragener unsachlicher Kritik an der Architektur des Reichstagsgebäudes und führte zu des Kaisers Weigerung, Wallot - trotz eines einstimmigen Jury-Urteils - die Goldmedaille der großen Berliner Kunstausstellung zu verleihen.
Am 5. Dezember 1894 endlich konnte die Schlusssteinlegung gefeiert werden. Am gleichen Tag fand die Reichstagseröffnung im Berliner Schloß statt. Kennzeichnend für die bestehende Dominanz des Militärischen über das Zivile war der - freilich von der Presse kritisierte - Umstand, dass der Reichstagspräsident von Levetzow an der Zeremonie in der Uniform eines Landwehrmajors teilnahm. Die gleiche Atmosphäre erhellt aus dem Schicksal der Giebel-Inschrift. Bei der Schlusssteinlegung fehlte sie noch, da der Wortlaut, "Dem Deutschen Volke", dem Kaiser aus offensichtlicher Distanz zum Parlamentarismus unwillkommen war. Er hätte dem Schriftzug "Der Deutschen Einigkeit" den Vorzug gegeben. Erst im Jahre 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde sie - entworfen von dem Jugendstilkünstler Peter Behrens - mit der Zustimmung des Kaisers angebracht, der in politisch schwieriger Lage dem Parlament Entgegenkommen bezeigen wollte.
Zwei Jahre später stand das Reichstagsgebäude im Mittelpunkt der revolutionären Ereignisse in Berlin. Nach der Abdankung des Kaisers rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Gebäudes die Republik aus, und im Plenarsaal tagten die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte. Infolge der Unruhen in Berlin wurde die im Januar 1919 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung nicht nach Berlin in das Reichstagsgebäude, sondern in das Staatstheater nach Weimar einberufen und dort Anfang Februar 1919 eröffnet. Erst in der zweiten Hälfe des Jahres 1919 kehrten die Parlamentarier in das Reichstagsgebäude zurück.
Wie der Beginn so war auch das Ende der Weimarer Republik eng mit dem Schicksal des Reichstagsgebäudes verknüpft. Ein vermutlich von dem holländischen Kommunisten van der Lubbe gelegter Brand zerstörte den Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Der Brand bot den Nationalsozialisten den willkommenen Vorwand, in einer offenkundig schon vorbereiteten Aktion mitten im Wahlkampf führende kommunistische Abgeordnete zu verhaften, die sozialdemokratische Presse vorübergehend zu verbieten und wichtige Grundrechte außer Kraft zu setzen. Wenigstens blieb dem Reichstagsgebäude durch den Brand erspart, zum Ort der Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" zu werden. Mit der Annahme dieses Gesetzes am 23.März 1933 entmachteten sich die verbliebenen Parlamentarier selbst. Lediglich die Sozialdemokraten stimmten gegen das Gesetz. Die Abstimmung fand in der dem Reichstagsgebäude gegenüberliegenden Krolloper statt.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude nicht mehr für parlamentarische Zwecke genutzt. In der Endphase der Kämpfe um Berlin tobte ein besonders erbittertes Gefecht um das Reichstagsgebäude, da seiner Eroberung von der sowjetischen Führung offenkundig große symbolische Bedeutung beigemessen wurde. Weltweit bekannt wurde das - inszenierte - Foto der Flaggenhissung durch Soldaten der Roten Armee auf dem Hauptgesims der Ostfassade des Reichstagsgebäudes.
Nach dem Kriege bildete die Ruine des Gebäudes den Hintergrund für die gewaltige Demonstration der Berliner am 9. September 1948 während der Blockade Westberlins, als Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen berühmten Appell "Ihr Völker der Welt ... Schaut auf diese Stadt" an die freie Welt richtete.
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Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden dann erste Enttrümmerungsarbeiten in der Ruine durchgeführt. Infolge einer fragwürdigen Entscheidung wurde die beschädigte Kuppel gesprengt, später wurde ein Teil der Fassade unter Entfernung des historischen Stucks wiederhergestellt. Erst im Jahre 1955 beschloss der Deutsche Bundestag definitiv den Wiederaufbau, allerdings zunächst ohne Festlegung einer späteren Nutzung. Nach Ausschreibung eines beschränkten Wettbewerbs erhielt schließlich Paul Baumgarten im Jahre 1961 den Auftrag zum Ausbau des Reichstagsgebäudes. Dieser wurde bis zum Jahre 1973 vollendet. Bereits im Jahre 1971 war vom Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude die Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" eröffnet worden. Bundestagssitzungen durften seit dem Viermächte-Abkommen von 1971 ohnehin nicht in Berlin abgehalten werden, lediglich Fraktions- und Ausschusssitzungen fanden daher in den neu eingerichteten Sitzungssälen statt. Gleichwohl war im Zentrum des Hauses ein vollständiger Plenarsaal hergerichtet worden, der jederzeit den Abgeordneten eines wiedervereingten Deutschlands hätte Platz bieten können.
Seine Stunde kam am 4. Oktober 1990: Das erste gesamtdeutsche Parlament trat zu seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammen. Doch das Gebäude sollte noch stärker in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rücken, und zwar durch den Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen, sowie durch den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erheben.
Nach einem 1992 ausgelobten internatonalen Architektenwettbewerb wurde Sir Norman Foster mit den Umbauarbeiten beauftragt. Mit der Verhüllung des Gebäudes durch Christo vor Beginn der Umbauarbeiten stand das Reichstagsgebäude im Jahre 1995 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.
Auch die Wiedererrichtung einer - wenngleich gegenüber Wallots Werk modifizierten - Kuppel ist inzwischen realisiert. Der Deutsche Bundestag eröffnet im April 1999 das umgebaute Reichstagsgebäude mit einer feierlichen Sitzung. Am 23. Mai 1999 wählt die Bundesversammlung den neuen Bundespräsidenten an gleicher Stelle. Im September 1999 verlegt der Deutsche Bundestag seinen Sitz endgültig nach Berlin. Von diesem Zeitpunkt an finden die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude statt.