Ein Faxinterview von Astrid Wege mit Hans Haacke (April
2000)
Redigierte Fassung veröffentlicht in
Texte zur Kunst, Nr. 38, 10. Jahrgang,
Berlin/Köln, Juni 2000
Astrid Wege: Die Bundestagsdebatte am 5. April, in der
über die Realisierung Ihres Projektvorschlags für das
Berliner Reichstagsgebäude abgestimmt wurde, bildet den
vorläufigen Abschluss einer teilweise äusserst polemisch
geführten Auseinandersetzung. Während die Gegner in jedem
Element Ihrer Arbeit, das die Abgeordneten einlädt, jeweils
einen Zentner Erde aus ihren Wahlkreisen oder Bundesländern in
den Holztrog im nördlichen Lichthof zu bringen, Anklänge
an die Blut- und Bodenmythologie des Nationalsozialismus sahen und
die Leuchtschrift "Der Bevölkerung" als Verunglimpfung des
parlamentarischen Auftrags ablehnten, der doch "Dem Deutschen
Volke" gewidmet sei, verteidigen die Befürworter nicht nur die
Freiheit der Kunst im Allgemeinen, sondern erkannten in Ihrem
Vorschlag einen Denkanstoss, wie Staatsbürgerschaft und das
"Deutsche" gegenwärtig (neu) definiert werden könnten.
Unser Gespräch findet nach der knappen
Mehrheitsentscheidung für Ihr Projekt statt, und ich sehe
darin eine Chance. Einzelne Aspekte zu vertiefen, die in der
Diskussion zwar erwähnt und für oder wider Ihr Projekt
eingesetzt wurden – ohne jedoch in der Struktur der
bisherigen Polarisierungen gefangen zu bleiben. Doch zunächst
möchte ich mit der Frage beginnen, wie Sie selbst – mit
einigem Abstand – die Plenumsdebatte im Deutschen Bundestag
beurteilen?
Hans Haacke: Nach drei Wochen fehlt mir wohl noch der
nötige Abstand. Meine Antwort ist deshalb etwas unausgegoren.
Ich habe die Debatte von der Tribüne aus verfolgt. Es war
faszinierend. Dem Tagesordnungspunkt meines Projektes ging eine
Kosovo Debatte voraus, in der unter anderen Joschka Fischer und der
Verteidigungsminister sprachen. Das Plenum war spärlich
besetzt. Viele der anwesenden Abgeordneten redeten miteinander oder
lasen die Zeitung, und es wurde am Ende lustlos per Hammelsprung,
also anonym, abgestimmt. Dann füllte sich der Saal.
Möglicherweise spielte eine Rolle, dass die Abstimmung
freigegeben war, das heisst, die Abgeordneten waren in ihrer
Entscheidung über mein Projekt nicht an Parteidisziplin
gebunden. Und es sollte namentlich abgestimmt werden. Jeder konnte
und musste Farbe bekennen! Insgesamt gaben 549 Parlamentarier (von
669) ihre Stimme ab: 260 dafür, 258 dagegen, 31 enthielten
sich der Stimme. Jede Partei, mit Ausnahme der PDS, schickte einen
Fürsprecher und einen Gegner ans Rednerpult. Von der SPD
nahmen ausser einer Gegnerin zwei Befürworter das Wort. Die
PDS war nur durch einen Fürsprecher, den Abgeordneten Heinrich
Fink, vertreten. Alle sprachen mit Leidenschaft. Es wurde
gegrölt, gelacht, und es gab Buhrufe. Sicher haben die
Fernsehkameras, die jede Regung aufzeichneten und per Phönix
sogar simultan übertrugen, zur Dramatik der Veranstaltung
beigesteuert. Wie zu erwarten, gab es kaum Argumente, die nicht
bereits im Vorfeld ausgetauscht worden waren. Am spannendsten war
für mich, zu beobachten, welchen Rednern von wem applaudiert
wurde. Für Frau Süssmuth, die sich entschieden zugunsten
meines Projektes aussprach, regte sich in ihrer eigenen Partei
keine Hand. Dagegen erhielt sie regen Applaus aus allen anderen
Parteien. Ähnlich ging es dem FDP-Abgeordneten Ulrich
Heinrich, einem Landwirt, der als Mitglied des Kunstbeirats bereits
für mein Projekt votiert hatte. Antje Vollmer, eine "Gegnerin
der ersten Stunde," erhielt frenetischen Beifall von der CDU/CSU,
weniger stürmischen von ihren Parteikolleginnen und Kollegen.
Letzten Endes schloss sich ihr bei der Abstimmung nur eine
Minderheit der Fraktion an. Die meisten Abgeordneten von
Bündnis 90/Die Grünen folgten den Argumenten ihrer
Berliner Kollegin Eichstädt-Bohlig, einer Architektin, und
votierten für das Projekt. Die CDU/CSU stimmte als
geschlossener Block dagegen. Keiner enthielt sich der Stimme. Es
war für die in diesen Monaten so gebeutelte Fraktion eine
seltene Gelegenheit, Einigkeit zu zeigen und die Partei bei rechten
Wählern in Erinnerung zu rufen. Nur zwei CDU/CSU Abgeordnete
scherten aus der Reihe: die ehemalige Bundestagspräsidentin
Rita Süssmuth und die CSU-Abgeordnete Renate Blank, eine
Geschäftsfrau aus Nürnberg. Beide sind - wie Herr
Heinrich - Mitglieder des Kunstbeirates und hatten wie er mein
Projekt von Anfang an befürwortet. In der FDP wurde es ausser
von ihm nur vom Parteivorsitzenden Wolfgang Gerhardt und der
ehemaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
unterstützt. Wie Bündnis 90/Die Grünen war die SPD
gespalten. Die überwiegende Mehrzahl der Genossen folgte dem
Abgeordneten Gert Weisskirchen. Als energischer Verfechter des
liberalisierten Staatsbürgerschaftrechts und der Offenheit
gegenüber zeitgenössischer Kunst engagierte er sich
leidenschaftlich für mein Projekt. Und die Genossen nahmen
sich die warnende Schlussrede des Bundestagspräsidenten
Wolfgang Thierse zu Herzen. Es gab in der SPD aber auch eine nicht
unbedeutende Zahl von Stimmenthaltungen und ein paar Gegenstimmen.
Vor der Auszählung hatte ich den Eindruck, mein Projekt
würde nicht überleben. Einhellig wird angenommen, der
CDU-Abgeordnete Volker Kauder habe es in letzter Minute gerettet.
Seine Rede war derart ausfallend und deutschnational, dass
Abgeordnete, die bis dahin geneigt waren, negativ zu stimmen oder
sich der Stimme zu enthalten, von seiner schrillen Tonart so
abgestossen waren, dass sie umgeschwenkt sind. Ein klassisches
Eigentor. Im November war der Abgeordnete des Wahlkreises Rottweil
– Tuttlingen bei der 9:1 Abstimmung im Kunstbeirat der
Einzige gewesen, der aufgeregt gegen meinen Entwurf gestimmt hatte
und dann – zusammen mit Antje Vollmer, die die Abstimmung
verpasst hatte - nicht bereit war, das Abstimmungsergebnis
demokratischen Gepflogenheiten entsprechend zu akzeptieren.
Unmittelbar nach dem Kunstbeiratsvotum hatte Kauder in der FAZ eine
wütende Kampagne gegen den Kunstbeirat und mein Projekt
angezettelt und ihm damit die inzwischen bis zum Überdruss
reichende Publizität verschafft. Treu flankierte ihn dabei die
grüne Antje Vollmer. Die Aufregung kulminierte schliesslich in
der für die Opposition letzten Endes desaströsen
Bundestagsdebatte. Ähnlich soll seinerzeit im Bundestag eine
Brandrede von Wolfgang Schäuble zur nicht erwarteten Annahme
der Reichstagsverpackung von Christo und Jeanne-Claude gesorgt
haben.
A.W.: Ein zentraler Begriff, auf den sich beide Lager
wiederholt berufen haben, ist der der Freiheit: Freiheit zum einen
als verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Kunst auf Seiten
der Verteidiger, die in der nachträglich herbeigeführten
Plenumssitzung einen Präzedenzfall sahen, der die
vielbeschworene Freiheit der Kunst auf fatale Weise in
Mehrheitsentscheidungen umdefinieren würde, zum anderen als
die von einigen Gegnern Ihres Projekts beschworene Freiheit des
einzelnen Abgeordneten, sich aus der vermeintlichen Bevormundung
durch die künstlerische Arbeit und dem angeblichen
Meinungsmonopol der Kunstexperten zu lösen – wobei
zumindest nicht nur die Freiwilligkeit des partizipatorischen
Moments Ihrer Arbeit ignoriert wurde, sondern auch die Tatsache,
dass eine Ablehnung durch das Parlament über eine rein
persönliche Abstimmung hinaus natürlich einen
repräsentativen Ausschluss vornehmen würde: Eine
Formulierung wie die Volker Kauders, der – nachdem ein von
ihm vorgestelltes Gutachten über die vermeintliche
"Verfassungswidrigkeit" Ihrer Arbeit nicht gegriffen hatte –
bemerkte, Sie könnten die Arbeit ja "überall in Berlin
aufstellen…nur nicht im Reichstag," täuscht darüber
hinweg, dass es bei der Auswahl der Kunstprojekte im
Reichstagsgebäude um nichts weniger geht als um ein
repräsentatives Bild deutscher Geschichte und den Ausweis von
Weltoffenheit und Fortschrittlichkeit. Eingeladen waren
"international anerkannte Künstlerpersönlichkeiten aus
den Ländern der ehemaligen Vier Alliierten," die sich
"besonders mit deutscher Geschichte oder allgemein mit
Erinnerungsarbeit auseinandergesetzt haben." So zumindest hiess es
in einer Presseerklärung zu den Direktvergaben für den
Reichstag 1998. Ohne hier im Einzelnen auf die
Diskussionswürdigkeit einer solchen
Repräsentationsfunktion von Kunst eingehen zu können,
wird jede künstlerische Arbeit in diesem Kontext, ob
beabsichtigt oder nicht, Teil dieser Zuschreibung, selbst wenn sie,
wie die Ihre, so heftige Abwehrreaktionen hervorruft. Der ohnehin
schon ambivalente Begriff künstlerischer Autonomie, den Sie in
Ihren Arbeiten ja wiederholt in Frage gestellt haben, erfährt
an einem Ort wie dem Reichstagsgebäude nochmals eine weitere
Wendung. Ihr Projekt wird nach dieser Debatte auch als
Aushängeschild parlamentarischer Toleranz fungieren –
ein Mechanismus, der bereits in den zahlreichen Bezugnahmen auf
Christo und Jeanne-Claude während der Debatte deutlich wurde,
deren Projekt damals nur mit knapper Mehrheit verabschiedet wurde,
nun aber als positiver Referenzpunkt vor allem von den Gegnern Ihre
Projekts in Anspruch genommen wurde. Weiterhin interessiert mich in
diesem Zusammenhang, inwieweit Sie ihr Projekt als Ergänzung
oder Korrektiv zu den anderen Projekten im Reichstagsgebäude
konzipiert haben – Sie haben Ihren Vorschlag ja erst relativ
spät nach der Einladung durch den Kunstbeirat eingereicht,
kannten also die meisten Projekte Ihrer Kollegen, die, wenn sie
sich nicht von vornherein auf den Standpunkt einer rein formalen
Präsenz zurückgezogen haben, ambivalent auf die
Geschichte des Ortes und den damit verbundenen Auftrag
reagierten.
H.H.: Ich war einer der letzten Künstler, die
eingeladen wurden. Das war im Mai 1998. Im Frühjahr 1999 war
ich mit meinem Entwurf und der Aushandlung eines Vertrages mit der
zuständigen Bundesbaugesellschaft so weit, dass ich dem
Kunstbeirat einen Entwurf präsentieren konnte. Dazu ist es
schliesslich erst im September gekommen. In einer zweiten Sitzung
hat der Kunstbeirat dann am 2. November seiner Realisierung
zugestimmt (eine Entscheidung, die er am 25. Januar 2000
bekräftigte). Zur Zeit als sich meine Überlegungen
präzisierten, kannte ich die meisten Arbeiten meiner Kollegen
nur vom Hörensagen. Ich nehme auf den viel weiter gespannten
gesellschaftlichen Kontext der deutschen Geschichte und -
ortsspezifisch - der Rolle des Parlaments in der Gegenwart und
Zukunft Bezug. Das war von den eingeladenen Künstlers
ausdrücklich erwünscht. Unsere Arbeiten erfüllen an
diesem Ort, wie Sie richtig sagen, eine Repräsentationsrolle.
Eben deshalb ist über sie, besonders im Falle meines
Projektes, so erbittert gestritten worden. In der entscheidenden
Sitzung des Kunstbeirates vom 2. November hatte sich Herr Kauder
empört, mein Projekt sei ein unzulässiger
"Paradigmenwechsel," ein Terminus, der wenige Tage später
wutschnaubende von dem CDU-nahen Journalisten Karl Feldmeyer in der
FAZ aufgegriffen wurde. Die rechte Wochenzeitung Junge
Freiheit pustete aufgebracht in dasselbe Horn. Herr Kauder
sorgte ausserdem in seiner Nachbarstadt Freiburg für die
Erstellung eines kritischen "Verfassungsgutachtens." Die Anrufung
des Grundgesetzes demonstriert zwar nicht, dass die
verfassungsmässig vorgeschriebene Funktion des Parlaments
bedroht war, wohl aber dass das parlamentarische
Selbstverständnis einiger Bundestagsabgeordneter zur Debatte
stand. Im Kontrast zum Abgeordneten Weisskirchen konnte man auf der
Website von Herrn Kauder bis vor kurzem eine durch die inzwischen
erfolgte Gesetzgebung überholte Polemik gegen die Novellierung
des Staatsbürgerschaftsrechtes anklicken.
Ein wesentliches Thema der Debatte war das Verhältnis des
Bundestages zur "Freiheit der Kunst." Im Grundgesetz ist sie
garantiert. Es kann demnach in der Bundesrepublik und damit
natürlich auch am Parlamentssitz keine verfassungswidrigen
Kunstwerke geben. Im vorliegenden Falle hatte der Bundestag als
Auftraggeber - absolut legitim - das Recht, einen
künstlerischen Entwurf für das Reichstagsgebäude
anzunehmen oder seine Realisierung abzulehnen. Gebrannt durch
üble Erfahrungen mit dem "gesunden Volksempfinden" und der
Geschichte der DDR, an die Wolfgang Thierse in seiner Rede warnend
erinnerte, hatte sich der Ältestenrat des Bundestags schon vor
Jahren den Kunstbeirat geschaffen, ein zwölfköpfiges, im
Parteienproporz besetztes Gremium kunstineressierter Abgeordnete,
die, beraten durch namhafte Kunstexperten , den Bundestag quasi vor
sich selber, das heisst vor potentiellen populistischen
Strömungen in den eigenen Reihen schützen sollte. Da die
Herbeiführung von Erde aus den Wahlkreisen freiwillig ist (wie
hätte ich die Abgeordneten denn zwingen können, wenn ich
das gewollt hätte?), gab es keine Notwendigkeit, über
diesen Aspekt meines Entwurfes abzustimmen. Wenn das Votum negativ
ausgegangen wäre, dann wäre der Kunstbeirat desavouiert
und sein Überleben als sachverständiger Puffer in Frage
gestellt worden. Ein solcher Ausgang hätte möglicherweise
auch als Signal verstanden werden können, es sei für eine
demokratische Gesellschaft normal und diene dem Wohl der Kunst,
wenn über Ausstellungen, Aufträge und Ankäufe von
Kunstwerken allgemein in Vollversammlungen abgestimmt würde.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Procedere zu leicht
verdaulicher Ware führen würde, ist allen, die sich im
Milieu ein bisschen auskennen, bewusst. Aus Furcht vor einer
solchen Entwicklung erinnerte der SPD-Abgeordnete Weisskirchen
daran: "Vor allen Wahlen und Abstimmungen beruht Demokratie…
darauf, anzuerkennen, dass es nicht Abstimmbares gibt. Bislang galt
bei uns die Überzeugung und der Konsens, dass über Kunst
nicht abgestimmt werden kann." Er schloss damit an die Rede
"Demokratie als Bauherr" an, die der ehemalige, allseits
respektierte SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt 1961 zum
Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Demokratie gehalten
hatte. Die Diskussion über dieses Spannungsverhältnis ist
vertrackt, weil einerseits natürlich die Notwendigkeit
besteht, auch im Künstlerischen Entscheidungen zu fällen,
andererseits aber klar ist, dass Fachgremien sich nicht allein
durch ein utopisches, "interesseloses Wohlgefallen" leiten lassen.
Kunstsachverständige und Künstler sind durch ihren
persönlichen und institutionellen Habitus – manchmal
auch durch "Sachzwänge" - geprägt, d.h. sie sind auch nur
Menschen. Man sollte jedoch als warnende Beispiele aus der
Gegenwart die im U.S. Congress gegenüber dem National
Endowment for the Arts und von dem für einen Senatssitz
kandidierenden New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani
wahlstrategisch motivierte Repression nicht aus dem Auge verlieren.
Dass künstlerische Ermesssensfragen bei den Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen zum Wahlkampfthema werden könnten, haben
unter anderem bei der Terminierung der Bundestagsdebatte zu meinem
Projekt ein Rolle gespielt. Der Abgeordnete Norbert Lammert,
CDU-Sprecher für Kunst und Medien und Koordinator des
Gruppenantrages zu seiner Ablehnung stammt aus Bochum. Sein
Landesvorsitzender Jürgen Rüttgers hatte sich mit dem
Reim "Kinder statt Inder" gerade als Kandidat für den Posten
des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen einen Namen
gemacht. Wir fahren mit Sachverständigen, solange sie nicht
als politische Handlanger fungieren, wahrscheinlich grosso modo
besser als mit dem "gesunden Volksempfinden."
Ich zögere, das Abstimmungsergebnis als Zeichen von
Toleranz zu verstehen. Wenn ich das täte, würde ich alle,
die mein Projekt nicht unterstützt haben, über einen Kamm
scheren und implizit für intolerant erklären. Das
wäre falsch. Die Gemengelage war zu komplex. Allerdings gab es
von der Opposition Äusserungen, deren Wortwahl und
Stossrichtung gegenüber zeitgenössischer Kunst ein
erschreckendes Mass an Intoleranz demonstrierten. Es zeigte sich
auch, dass eine beträchtliche Zahl der Abgeordneten
anscheinend Schwierigkeiten haben, sich mit dem Artikel 3 des
Grundgesetzes anzufreunden. Die Knappheit des Votums lässt
nicht zu, es gegenwärtig als "Aushängeschild" für
eine fraktionsübergreifende Toleranz des Bundestags zu
benutzen. Aber das könnte sich ändern.
A.W.: Ihre Arbeit für das Reichstagsgebäude
lässt sich als ein Porträt des parlamentarischen Systems,
seiner relativen Abgeschlossenheit und seiner
Veränderungsprozesse lesen, versinnbildlicht in dem
Zusammentreffen der verschiedenen Erdzentner und dem wildwachsenden
und nicht gärtnerisch manipulierten Wuchern der pflanzen,
ergänzt zudem durch die tafeln mit den Namen der Abgeordneten,
ihrer Parteizugehörigkeit, den Wahlkreisen oder
Bundesländern, die sie vertreten, und durch eine Website, die
regelmässig aufgezeichnete Aufnahmen einer Videokamera der
Öffentlichkeit zugänglich macht. Dieser Ansatz
knüpft in gewisser weise an Ihre frühen systemischen
Arbeiten an, die ein komplexes Wechselspiel zwischen relativer
Abgeschlossenheit und Ausseneinflüssen darstellten, und
überträgt den Gedanken der Entropie auf die letztlich
nicht vollständig kalkulierbaren Prozesse und Vorgänge
parlamentarischer Arbeit.
Wiederholt wurde gegen den Vorwurf der
"Blut-und-Boden"-Metaphorik eingewendet, dass der Wildwuchs der
Pflanzen und seine Nichtplanbarkeit der Ideologie des
Nationalsozialismus widerspreche. Sie selbst haben in einer Replik
auf einen Artikel von Martin Warnke, in dem er sein Unbehagen
gegenüber der Erdausschüttung artikulierte, betont, dass
man dem Nationalsozialismus nicht einen zweiten Sieg feiern lassen
dürfe, indem man ihm die Bedeutungshoheit über das
Material Erde überliesse. Künstlerische Arbeit wird also
als eine Wiederaneignung, Bedeutungsverschiebung und Neubesetzung
dieses Materials begriffen, als Strategie, die sich gezielt an die
Grenzen klischierter, stereotyper Vorstellungen, wie hier, Tabus
begibt und damit, zumal an diesem speziellen historischen Ort,
keineswegs so "unschuldig" sein kann, wie es sich mir zum Teil in
Ihren Äusserungen darstellte.
Wenn Sie in dem zumindest in Deutschland zwiespältig
konnotierten Erdschüttritual die Möglichkeit einer
Umdrehung sehen, wieso gestehen Sie dem Begriff des Volkes nicht
ein ähnliches Potential der Bedeutungsverschiebung zu? Zumal
der Transfer des Brechtzitats, das im Exil unter dem unmittelbaren
Eindruck des Nationalsozialismus entstand, seinerseits ja bereits
eine Bedeutungsverschiebung impliziert, wenn man ihn auf die
heutige Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft
anwendet?
H.H.: In meiner Replik auf Martin Warnke in der
Süddeutschen Zeitung habe ich an den Gemeinplatz der
Geistes- und Sozialwissenschaften erinnert, dass, wenn man nicht zu
falschen Schlüssen kommen will, bei allen Interpretationen der
historische Kontext des zu interpretierenden Forschungsgegenstandes
zu berücksichtigen ist. Das Wort "Volk" ist in Deutschland
bekanntlich nicht wie in anderen Ländern, die unter ganz
anderen Bedingungen und in einem viel längeren Prozess eine
nationale Identität entwickelt haben, mit primär
republikanischen Konnotationen besetzt. Der Volksbegriff ist bei
uns schillernd, sowohl sehr positiv wie äusserst negativ
aufgeladen. Besonders ist das in der Kombination mit dem Adjektiv
"deutsch" der Fall. Dazu etwas Ortsspezifisches: die
Nationalsozialisten haben 113 Reichstagsabgeordneten ihre
Zugehörigkeit zum deutschen Volk aberkannt. 75 der
Ausgebürgerten überlebten die Haft nicht, acht
verübten Selbstmord. Zwei Söhne der jüdischen
Bronzegiesser, der Brüder Siegfried und Albert Loevy, die auf
Geheiss des Kaisers zur Stärkung der Kampfmoral im 1.
Weltkrieg die Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE für den
Reichstagsgiebel hergestellt hatten, sind im Namen des deutschen
Volkes ermordet worden (es ist interessant, dass ausgerechnet diese
ortsspezifischen Informationen von den Herausgebern der FAZ aus
einem Leserbrief von mir gestrichen worden sind). Die Verheerungen,
die mit dem Wortpaar ausserhalb des Reichstagsgebäudes
verbunden waren, brauche hier nicht zu rekapitulieren. Dieses
verbrecherische Kapitel der deutschen Geschichte gehört zu
unserer nationalen Identität genauso wie nach 1945 die
Schaffung einer stabilen demokratischen Gesellschaft und die
emanzipatorischen Volksaufstände von 1953 und 1989 in der DDR,
auf die wir stolz sein können.
Obgleich ich dem Argument nicht folgen kann, habe ich
Verständnis für den Einwand, der Revolutionsruf "Wir sind
das Volk" von 1989, erlaube uns, nun wie andere Länder
unbefangen mit dem Volksbegriff umzugehen. Erinnern wir uns aber an
die historische Situation! Der Nachdruck lag 1989 auf dem Wort
"wir." Die Bevölkerung (!) der DDR erinnerte ihre Oberen
daran, dass deren penetrante Identifikation mit dem Volk jeder
Legitimation entbehrte. Sie schleuderten dem verhassten Regime
sozusagen die ideologische Handgranate zurück, die ihnen
eigentlich gegolten hatte. An deutsches "Volkstum" dachten sie
nicht. Sie handelten vielmehr in der Tradition der
Französischen Revolution, von der auf unserem Kontinent alle
demokratischen Bewegungen inspiriert worden sind. Mit der Parole
Liberté, Égalité, Fraternité hatten die
Franzosen als Erste den republikanischen Volkssouverän. le
peuple, inthronisierte. Das Volk in diesem Sinne, das sind wir alle
– und zwar ohne Unterschied!
Es wird in der Bundesrepublik aber immer noch unterschieden.
Trotz des Artikels 3 des Grundgesetzes ("Niemand darf wegen seines
Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen
oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden")
in dem die Gleichheit aller Menschen garantiert wird, geistert das
ausgrenzend "Völkische" weiter in den Köpfen. Daran hat
der Ruf "Wir sind das Volk!" in der DDR nichts geändert. Immer
wieder hören wir von Überfällen auf Menschen, die
den Vorstellungen der Schläger vom rechten "Deutschtum" nicht
entsprechen. Anschläge auf Synagogen und Häuser, in denen
Ausländer wohnen. nehmen kein Ende. Rechtsradikale berufen
sich bei ihren Gewalttaten auf ein blutsmässig definiertes
deutsches Volk. Die Inschrift auf dem Reichstagsgebäude sperrt
sich gegen eine solche, deutschnational exklusive Interpretation
nicht. Zu meinem Projekt erhielten die Bundestagsabgeordneten
haufenweise Briefe, aus denen sie unmissverständlich dumpfe
Ressentiments vernahmen. Frau Süssmuth warnte in ihrer Rede:
"Diese Minderheit hebt kräftig an und wirft den noch
Mächtigen vor, sie seien für die Milliardenbeiträge
an Sozialhilfe, die für Ausländer und Asylsuchende, die
hier nicht hingehören, zahlen müssen, verantwortlich. Ich
muss nicht Namen nennen, weil es Grundtenor nicht nur einzelner
Briefe, sondern Hunderter Briefe ist. Weiter wird gefragt, ob
diejenigen, die zugestimmt hätten [zu meinem Projekt für
das Reichstagsgebäude] nicht sowieso geisteskrank oder von
allen guten Geistern verlassen seien. Es wird gefragt: Sollen die
Gelben, die Schwarzen, die Türken und die Zigeuner auch dazu
gehören? Das wäre der Verrat am Vaterland." - Frau
Süssmuth schlug deshalb vor: "Es wäre gut, wenn all die
Briefe, die viele von uns bekommen haben, bei einer Ablehnung des
Projekts als Dokumentation an den leeren Platz des nördlichen
Lichthofes gelegt würden."
Zu unserer Gegenwart gehört aber auch, dass die Wirtschaft
schon seit Jahren nicht mehr in "national"-ökonomischen
Kategorien operiert, dass die europäische Integration auf
allen Ebenen zunimmt – auch im persönlichen Leben - und
dass wir zunehmend global denken wollen oder müssen. Es ist
rührend zu beobachten, wie Bundestagsabgeordnete sich
angesichts dieser Entwicklung in einer Festung Deutschland
verschanzen wollen . Der FDP-Abgeordnete Heinrich erinnerte seine
Kollegen, dass in der Bundesrepublik heute etwa 10 Millionen
Menschen ohne deutschen Pass leben. Das ist der Kontext, in dem die
Inschrift über dem Westportal des Reichstages und meine
Widmung DER BEVÖLKERUNG als sich ergänzendes Paar zu
verstehen sind.
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Und noch einmal zur "Mutter Erde." Für den Gott des Alten
Testamentes stand die von ihm geschaffene Erde für die
"irdische" Welt schlechthin. Heute dominiert die Fruchtbarkeit des
Bodens das Warentermingeschäft. Dass die Nationalsozialisten
das altbewährte Material während ihrer
zwölfjährigen Herrschaft - wie so vieles – in ihre
ideologischen Dienste gepresst haben, verwundert nicht. Geblieben
ist davon praktisch nichts. Bedenkenlos lassen sich
Würdenträger heute beim ersten Spatenstich für den
Beginn grösserer Bauvorhaben fotografieren, obwohl Hitler und
Konsorten mit demselben Ritual ihre Parteibauten initiierten.
Grüne Ökologen stehen ebenso wenig im Verdacht brauner
Kontamination wie die Bauernverbände und die so beliebten
Gartenschauen. Im Gegensatz zu theoretischen Auseinandersetzungen
und den daraus resultierenden Schaukämpfen zu meinem Projekt
im Bundestag, ist der praktische Umgang mit Erde im
Nachkriegsdeutschland unverkrampft. Niemand meint, die
Zusammenführung von Erde aus Konzentrationslagern an zentralen
Gedenkstätten sei ein nationalsozialistisches Ritual. Dasselbe
galt 1995 für die zum Tag der Deutschen Einheit aus den
Braunkohlenabbaugebieten von Cottbus und Garzweiler in
Düsseldorf vereinigte Erde.
Nichts deutet darauf hin, dass die Abgeordneten, die sich
Gedanken machen, von welchem Ort in ihrem Wahlkreis sie eine
Erdprobe zur Mini-Bundesrepublik im Reichstagsgebäude bringen
wollen, einem Blut-und-Boden Wahn verfallen seien. Der Boden der
Wahlkreise ist nicht durch das Blut ihrer Bewohner oder das Blut,
das da einmal in Schlachten vergossen sein mochte, determiniert.
Wie ich mir erzählen liess, denkt die Justizministerin
Däubler-Gmelin an Erde aus dem Umkreis von Carlo Schmid, einem
der Väter des Grundgesetzes, also im fast buchstäblichen
Sinne an "Verfassungserde." In einem Interview sagte der
Bundestagspräsident, er wolle aus seinem Kiez am Prenzlauer
Berg Erde vom jüdischen Friedhof zum Platz der Republik nach
Berlin-Mitte bringen. Der Solinger Abgeordnete Hans-Werner Bertl
möchte, dass in seinem Sack unter anderem Erde von dem Haus
der Familie Genc dabei ist, das von Neonazis wegen seiner
türkischen Bewohner abgebrannt worden war. Eifelbauern haben
Elke Leonhard bereits aus verschiedenen Tälern Vulkanerde nach
Berlin auf den Weg gegeben. Wie der Trierische
Volksfreund(!) berichtet, wurde die Erde vorher von
Umweltschützern und einem Pastor gesegnet. Viele Abgeordnete
wollen die Bevölkerung ihres Wahlkreises an der Auswahl der
Orte beteiligen, durch die sie in Berlin vertreten sein
möchten. Es würde also im doppelten Sinne eine
partizipatorische Aktion. Ich bin gespannt, ob Norbert Lammert sein
Wort hält. Er hatte bei einer Podiumsdiskussion in der
Akademie der Künste angekündigt, wenn der Bundestag
zugunsten meines Projektes stimmen würde, wäre er unter
den ersten, die Erde zum Reichstagsgebäude brächten.
Eines ist aber wohl sicher, der CSU-Geschäftsführer Peter
Ramsauer wird, wie er vorsichtshalber schon im vergangenen Jahr
angekündigt hat, eher Erde auf den Watzmann schleppen als nach
Berlin. Vielleicht nähme Antje Vollmer eine Einladung des
Traunsteiner Abgeordneten an, ihn bei einer solchen
Gipfelbesteigung zu begleiten. Vor "Biokitsch" bräuchte sich
die Grüne Theologin in der dünnen Höhenluft nicht zu
fürchten.
A.W.: In einem Interview mit Jeanne Siegel
äusserten Sie 1971, dass Informationen, zur richtigen Zeit und
am richtigen Ort eingesetzt, sehr viel Macht erhalten und die
gesellschaftliche Struktur beeinflussen könnten. Kunst wird
mithin als Motor der gesellschaftlichen Veränderung, als
positiver Verstärker oder Resonanzkörper projiziert,
wobei Sie bei der Wahl der Mittel häufig auf starke Symbole
und Reizbegriffe setzen. Auch Ihr aktuelles Projekt im Berliner
Reichstagsgebäude – ebenso wie Ihr Beitrag zur "Whitney
Biennial" in New York – scheinen von der Überzeugung
getragen zu sein, durch künstlerische Interventionen Kritik an
gesellschaftspolitischen Entwicklungen artikulieren zu können.
Insbesondere Ihre New Yorker Arbeit, die durch Ihr Statement im
Katalog eine strukturelle Analogie zwischen der kulturpolitischen
Haltung des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani und der
des Nationalsozialismus nahe legt, löste einen politischen
Skandal aus. Vorgeworfen wurde Ihnen die Banalisierung des
Holocaust. Auch wenn man diesen Vorwurf als unzulässsige
Diffamierung Ihrer Person und Ihrer Arbeit ablehnen muss, stellt
sich die Frage, inwieweit der Verweis auf die Kulturpolitik des
Nationalsozialismus im Katalogtext nicht die Engführung der
Rezeption Ihrer Whitney-Arbeit und die daran anschliessenden
Polemiken möglicherweise mitprovozierte. Anders formuliert
interessiert mich, wie Sie selbst das Zusammenspiel zwischen der
Wahl der formalen Mittel, der von Ihnen in Begleittexten
angebotenen Leseweisen und der anschliessenden Rezeption
einschätzen, und wie Sie die jeweilige Wirkung Ihrer Arbeiten
an den spezifischen Orten des Whitney Museums und des
Reichstagsgebäudes beurteilen.
H.H.: Ich hatte meinen Text für den Whitney-Katalog
geschrieben, bevor ich eine Idee für eine Arbeit entwickelt
hatte. Mitte Oktober war der Redaktionsschluss. Ich entschied mich,
auf zwei Ereignisse Bezug zu nehmen, die zum Kontext gehörten,
in dem meine Arbeit stehen würde. Das eine war die
ungewöhnlich krasse Präsenz von Intel Markenartikeln in
der im Oktober laufenden Whitney Ausstellung "The American Century"
(die Ausstellung war von Intel gesponsert). Das andere war der
unglaubliche Angriff des New Yorker Bürgermeisters Rudolph
Giuliani auf das Brooklyn Museum. Am 1. Oktober war im Brooklyn
Museum die "Sensation" Ausstellung eröffnet worden, die
vorher, ohne Aufsehen zu erregen, im Hamburger Bahnhof gelaufen
war. Weil das Brooklyn Museum dem Verlangen des Bürgermeisters
nicht nachgekommen war, ein Bild von Chris Ofili abzuhängen,
hatte Giuliani den monatlichen Scheck der Stadt für das Museum
von rund 500.000 Dollar storniert. Er hatte weiterhin
angekündigt, er werde die Trustees des Museums ihres Amtes
entheben und durch ein Board seiner Wahl ersetzten, und er werde
dem Museum sein der Stadt New York gehörendes Gebäude
wegnehmen. Giuliani behauptete, das Bild, das er selber nie
persönlich gesehen hatte, sei "sick." Es beleidige Katholiken.
Deshalb sei er als Bürgermeister verpflichtet, dem Museum jede
Unterstützung durch die öffentliche Hand zu
entziehen.
Zum Verständnis der politischen Landschaft gehört,
dass Giuliani sich um den vakanten Senatssitz des Staates New York
bewirbt. Das strategische Ziel seiner Kampagne war, katholische
Wählerstimmen zu gewinnen (Giulianis Rivalin ist Hillary
Clinton). Dem Vorbild von Jesse Helms und anderen erzkonservativen
amerikanischen Politikern folgend, die sowohl der
zeitgenössischen Kunst wie einer offenen Gesellschaft den
Kampf angesagt haben, argumentierte der Bürgermeister,
Steuerzahler dürften nicht gezwungen werden, eine Kunst zu
fördern, die sie ablehnen. In einem 1990 verabschiedeten
Gesetz wird gleichsam das "gesunde Volksempfinden" als Kriterium
(…"sensitive to the general standards of decency and respect
for the diverse beliefs of the American public") für die
Vergabe von Fördergeldern durch das National Endowment for the
Arts (NEA)eingeführt. Das von Giuliani und seinen
Kampfgefährten benutzte denunziatorische Vokabular ähnelt
verblüffend dem der nationalsozialistischen
Kunstsäuberer. 1991 hatte Stephanie Barron, die Kuratorin des
Los Angeles County Museums im Katalog zu ihrer Ausstellung
über die "Entartete Kunst"-Ausstellung deshalb auf
"Parallelen" zwischen den Angriffen auf das NEA und der Hetze
hingewiesen, die in Deutschland 1937 zu der Münchner
Schandausstellung geführt hatten.
In meinem Katalogtext für die Biennale folgte ich ihrem
Beispiel: "…dem Bürgermeister zufolge gelten das First
Amendment [Garantie der freien Meinungsäusserung] und die in
der amerikanischen Verfassung verankerte Trennung von Staat und
Kirche nicht für öffentliche Institutionen und
Institutionen, die öffentliche Gelder erhalten. Er scheint die
Meinung der Nazis zu teilen, die 1937 in München eine
Ausstellung mit dem Titel "Entartete Kunst" organisiert hatten. An
jedem der aus den deutschen Museen entfernten Werke war ein Schild
angebracht "Bezahlt von den Steuergroschen des arbeitenden
deutschen Volkes." Was auch immer man von Charles Saatchi und
seiner Sammlung in der "Sensation" Ausstellung im Brooklyn Museum
halten mag – ich gehöre nicht zu den Bewunderern -
für die USA war es ein wichtig, dass am 1. November ein
Bundesgericht der Klage des Brooklyn Museums gegen Giuliani
entsprach und ihn in scharfen Worten des Verfassungsbruches
für schuldig befand. Die populistisch äusserst wirksam
verbrämte Missachtung des First Amendment wurde schliesslich
das Thema meiner Arbeit für die Whitney Biennnial.
Dass meine Reklamation der in der amerikanischen Verfassung
garantierten Freiheit der Kunst als skandalös empfunden wurde,
spricht Bände. Ebenso bemerkenswert war, dass das Museum sich
gezwungen sah, sich wegen der Ausstellung meiner Arbeit zu
verteidigen und der Direktor meinte, er müsse sich vorsichtig
von ihr distanzieren. Dass die Giuliani-Wahlkampfstrategen von
meiner Installation nicht erbaut sein würden, war mir
natürlich klar. Ich wäre allerdings nie darauf gekommen,
dass sie auf die raffinierte Idee kommen könnten, als
Ablenkungsmanöver auszustreuen, ich trivialisiere den
Holocaust. Damit war es ihnen gelungen, vom problematischen
Verhältnis ihres Kandidaten zur Verfassung abzulenken, und
stattdessen mich zum Thema zu machen und moralisch an den Pranger
zu stellen. Ausserdem rechneten sie wohl, mit dieser Beschuldigung
bei ungenau informierten jüdischen Wählern auf
Stimmenfang gehen zu können. Für eine Weile verfing das.
Auch in der deutschen Presse wurde dieses für politisch helle
New Yorker recht durchsichtige Wahlkampfmanöver unbefragt
weitergetragen. Dadurch wurde es sogar Teil der Debatte über
mein Projekt für das Reichstagsgebäude.
Auf dem Katalogumschlag für die Ausstellung "The American
Century" des Whitney Museums vom vergangenen Jahr prangt das Jasper
Johns Bild "Three Flags" von 1958. Das Bild gehört dem Museum.
In meiner Installation "Sanitation" für die Biennale habe das
allgemein als amerikanische Ikone gehandelte Bild durch ein
Ready-made aus drei in einem Fahnengeschäft erstandene
amerikanische Fahnen unterschiedlicher Grösse ersetzt. Die
kleinste in der Mitte droht, sich von der nächst
Grösseren zu lösen und herabzufallen. Ein goldgerahmtes
Faksimile des First Amendment, in der Wachsmalweise, mit der Jasper
Johns seine Fahnen auf Zeitungspapier gemalt hatte – bei mir
sind es New York Times Artikel zur Brooklyn Museum
Kontroverse -, liegt auf dem Boden zwischen zwölf grauen
Mülltonnen mit wie Mäuler geöffneten Deckeln. Aus
jeder Tonne tönen, wenn man genau hinhört, Marschtritte.
Die Marschierdenden scheinen im Begriff zu sein, den in feiner
Kanzleikursivschrift ausgeführten Verfassungsartikel auf dem
Boden niederzutrampeln. Politikersprüche in denen von der
"Verschwendung von Steuergeldern" und von Kunst als "garbage," der
in Mülltonnen gehört, die Rede ist, flankieren in weisser
Fraktur auf schwarzem Grund rechts und links die aus der Kunst in
den Fahnenhandel "zurückgeholten" Stars and Stripes.
Die Besucher der Ausstellung "The American Century:" des
vergangenen Jahres (ich war darin mit einer älteren Arbeit
über New Yorker Immobilien vertreten) wurden in der
Orientierungsgalerie im Erdgeschoss des Museums durch ein Videoband
ins Thema der Ausstellung eingestimmt. Es war ein 3-minütiger
Verschnitt der politischen und künstlerischen Ereignisse des
Jahrhunderts. Am Ende las man weiss auf blauem Grund "MAKE SOME
SENSE OF AMERICA. Diese Losung habe ich mir zu Herzen genommen.
Entsprechend habe ich es auch in Berlin gehalten.
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