Wem gehört das Volk?
|
Der Begriff des Volkes hat eine zwiespältige Geschichte. 1789 was es das peuple français, das die Bastille stürmte und die Republik ausrief. Eben diese revolutionäre Anmutung war es, die Wilhelm II. bewog, die von Wallot vorgesehene Widmung am Reichstagsportal 21 Jahre lang zu verhindern. Erst als 1915 der Enthusiamus für das Kriegspielen zu erlahmen drohte, liess er sich umstimmen. Er stellte dann sogar zwei in den napoleonischen Kriegen erbeutete Kanonen zum Einschmelzen für die ungeliebte Inschrift zur Verfügung. Die erhoffte Stärkung der Heimatfront war ihm das wert. Wallots projektierte Huldigung an die Nutzer seines Gründerzeitmonstrums hatte sich im grossen Krieg der Nationen am Anfang des Jahrhunderts in eine martialischen Parole verwandelt.
Zwei Söhne der Bronzegiesser, die 1916 die Buchstaben für die Widmung DEM DEUTSCHEN VOLKE hergestellt hatten, wurden ermordet, der eine in Plötzensee, der andere in Auschwitz. 113 Reichstagsabgeordneten wurde ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk aberkannt. 75 von ihnen kamen in der Haft um, acht verübten Selbstmord. Es ist wohl über die ortsspezifischen Aufschlüsse hinaus nicht nötig, die bekannten, fürchterlichen Folgen der "völkischen" Interpretation des Begriffes hier noch einmal zu rekapitulieren.
In seinem Aufsatz über die "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" schrieb Bertolt Brecht 1935 im Exil: "Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung sagt [...], unterstützt schon viele Lügen nicht." Brecht hatte auch einen relevanten Kommentar zum 17. Juni 1953. Er empfahl den Oberen der DDR, die gerade ihre proklamierte Identifikation mit der klassenkämpferischen Tradition des Volkes verspielt hatten, das Volk einfach aufzulösen und sich ein anderes zu wählen. Dummerweise sind sie diesem Rat nicht gefolgt. Das Volk - im Sinne der französichen Revolution - kündigte ihnen dann seinerseits fristlos im Herbst 1989. Zum 10. Jubiläum des Ereignisses verkündete am Berliner Alexanderplatz ein triumphierendes und zugleich wehmütiges Riesentransparent "Wir waren [sic] das Volk".
In der deutschen Geschichte finden wir also durchaus den Volksbegriff in der emanzipatorischen Tradition der Liberté, Égalité, Fraternité. Daher Worte wie Volksvertreter, Volksbühne, Volksschule, usw.. Daneben ist der Volksbegriff aber - insbesondere in der Wortkombination "deutsches Volk", die eine mythische, ausgrenzende Stammeseinheit impliziert - mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert. Es ist dieses spätestens seit der Invasion der Römer dubiose Ahnenpassdenken, das den Verbrechen der "Volksgenossen" den Weg bereitet hat. Und es ist dieser eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff, der immer noch Unheil stiftet, wie es Wahlergebnisse und rassistisch motivierte Gewalttaten belegen.
In Artikel 3 des Grundgesetzes heisst es: "Alle Menschen sind gleich...Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Dieser Artikel gilt ausdrücklich für alle Menschen nicht etwa nur für Angehörige eines völkisch, durch den Reisepass oder in anderen Weise definierten deutschen Volkes. Trotz Grundgesetz und trotz Engagement zahlloser Menschen und Institutionen kann aber von allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Lebensalltag auch heute leider immer noch nicht gesprochen werden.
4.) Denken Sie, dass mit der sprachlichen Kritik historisch geprägter Formen eine notwendige Veränderung des kollektiven Bewusstseins zu erreichen ist?
Das allein reicht natürlich nicht. Wenn aber am Sitz eines der höchsten Verfassungsorgane der Bundesrepublik die historische Dimension dieser unglücklich belasteten Beschwörungsformel ins Bewusstsein gerückt wird, könnte das ein gesellschaftlich bedeutsames Signal sein.
5.) Ist die Akkumulation symbolgeladener (fast archetypischer) Begriffe und Assoziationen in Ihrer Arbeit - "Erdanteil" in einem "Holztrog" im "nördlichen Lichthof" des "Reichstages" - nicht an sich schon eine Überlast, die das Leichte, Prozesshafte des Wachstumsgedankens, der doch als positive Metapher für Vielfalt, Offenheit und demokratische Entwicklung von Gleichen steht, Ihrerseits konterkariert?
Ich verwende das Wort "Reichstag" wie der Historiker Michael S. Cullen es in seinem gleichnamigen Buch tut, d.h. nur in Bezug auf die Geschichte des Hauses. Im übrigen spreche ich immer vom Reichstagsgebäude. Der "nördliche Lichthof" ist eine geographische Bezeichnung, den die für den Bau zuständige Bundesbaugesellschaft benutzt. Es gibt auch einen südlichen Lichthof, in dem Ulrich Rückriem eine Arbeit installiert hat. Die Aussenwände der projektierten Vegetationsfläche bestehen aus Rubinienholz, das im Laufe der Zeit oxydiert und grau aussehen wird. Ich verstehe nicht, wie dieses von Dachbegrünungsfirmen empfohlene, dauerhafte und keiner Pflege bedürftige Material das "Leichte, Prozesshafte des Wachstumsgedankens" konterkarieren könnte. Und was den "Erdanteil" angeht: die Rede ist von dem Teil des gesamten Erdvolumens im Holztrog, den jeder einzelne Abgeordnete beisteuert. Auch das ist, wie ich meine, ein beschreibender und kein symbolgeladener Terminus.
6.) Gerade jetzt wird in Deutschland vehement um den Umgang mit den Relikten der Nazizeit gestritten. In den Bundestagsbüros in Berlin fand man jetzt Hakenkreusmäander über Türstürzen, in Nürnberg gab es ein Symposium zu der Frage, ob man sich mit dem Nationalsozialismus an Orten museal auseinandersetzen könne, die deren architektonische Rhetorik bewahren. Muss man nicht lernen, mit den Provokationen einer verabscheuten Hinterlassenschaft umzugehen, indem man die Auseinandersetzung mit diesen Provokationen provoziert? Ist Ihre Arbeit so zu verstehen? Und könnte dann die Frage, ob ein Begriff wie "Volk" lieber abgeschafft gehört, als eine Position missverstanden werden, die solchen Provokationen eher aus dem Weg geht?
Als ich 1993 bei der Biennale in Venedig gefragt wurde, ob der von Hitler umgerüstete deutsche Pavillon abgerissen werden sollte, war meine Antwort, so würde man nicht mit der deutschen Geschichte fertig. Wallots Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE gehört zum Reichstagsgebäude genauso wie die Graffiti der sowjetischen Truppen. Wir sollten uns aber mit der fatalen historischen Aura, die der ursprünglich emanzipatorisch gemeinten Widmung inzwischen anhaftet, ohne Scheu auseinandersetzen und klarstellen, wie wir sie heute auf keinen Fall verstanden wissen wollen. Und vorwärts gewandt, wäre es wohl gut, den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten in Deutschland Ausdruck zu verleihen. Beides versuche ich mit meiner von Brecht inspirierten Widmung DER BEVÖLKERUNG.