Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, bei der Verleihung des Bertini Preises am 29. Januar 2001 in Hamburg
Es gilt das gesprochene Wort
Als Bundespräsident Roman Herzog vor sechs Jahren den 27.
Januar zum Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft erklärte, hoffte er, dass wir Deutsche
"gemeinsame Formen des Erinnerns finden, die zuverlässig in
die Zukunft wirken." Er wollte vor allem junge Menschen anregen,
über die Vergangenheit nachzudenken und die notwendigen
Konsequenzen daraus zu ziehen. Sinnvoller als ein offizieller
Feiertag schien ihm deshalb ein nachdenklicher Tag "inmitten des
Alltags", überall im Land.
Hier in Hamburg wird - man kann schon sagen: traditionell - zum 27.
Januar der Bertini-Preis an Schülerinnen und Schüler
verliehen. Er honoriert die eigenständige Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit, er honoriert das Engagement für ein
gleichberechtigtes Miteinander, er honoriert das Eintreten gegen
Ausgrenzung, Unrecht und Gewalt. Der Bertini-Preis zeigt, wie man
die Lehren aus der Geschichte ganz konkret umsetzen kann: nicht nur
an diesem einen Gedenktag, sondern an 365 Tagen im Jahr. Das ist
die richtige Konsequenz aus Erinnern und Gedenken.
Sie alle wissen es: Pate (und Überbringer) dieses Preises ist
Ralph Giordano, der in seinem Roman "Die Bertinis" eigene
Erfahrungen verarbeitet hat. Das Buch ist weit mehr als eine
literarische Leistung. Es ist auch eine Art Vermächtnis an die
nachfolgenden Generationen, für die Auschwitz nicht mehr
gegenwärtig, sondern Geschichte ist.
Wer den Leidensweg der "Bertinis" lesend nachverfolgt hat, der
erinnert sich sicher daran, dass die Familie die letzten Wochen des
Krieges unter unmenschlichen Bedingungen in einem Kellerversteck
verbringen musste. Als sich die Bertinis - drei Tage vor Kriegsende
- endlich heraus wagen konnten, erfuhren auch sie, was nach der
Befreiung von Auschwitz zur Gewissheit geworden war: dass Millionen
Menschen, jüdische Menschen vor allem, in Konzentrationslagern
exekutiert und mit Gas erstickt worden waren. Als Roman Bertini das
Ausmaß des Grauens offenbar wird, weiß er, (ich
zitiere) "dass es für ihn keine Sekunde mehr ohne Auschwitz
geben würde, dass er gekettet war an diesen Namen und an
alles, was er symbolisierte und materialisierte, (...) dass er,
Roman Bertinti, jedes Gefühl, jedes Wort, jeden Blick und jede
Entscheidung an Auschwitz messen würde; dass er das Zentrum
aller Beurteilungen seiner selbst und anderer gefunden hatte." Die
Bedeutung dieses Satzes vermittelt sich heute nicht mehr von
selbst. Unsere Erinnerungskultur befindet sich im Übergang von
einer Zeit, in der Erlebtes zu Überliefertem wird. Der
Generationenwechsel erschwert die Aufgabe, die Erinnerung wach zu
halten und das Bewusstsein für die Gefährdungen von
Menschenwürde und Menschenrechten zu schärfen. Als das
Grundgesetz verfasst wurde, war die Erinnerung an die
nationalsozialistische Gewaltherrschaft noch schmerzlich nah. Die
Bedeutung des Völkermords an den Juden war und ist den wenigen
überlebenden Opfern bewusst. Sie war den Tätern bewusst -
auch wenn sie ihre Verbrechen leugnen, verdrängen, vergessen
wollten. Und sie war denen bewusst, die nach dem Krieg daran
gingen, ein demokratisches Deutschland aufzubauen.
Heute müssen die Erfahrungen und die Lehren der Vergangenheit
transportiert werden von den älteren Generationen, die noch
selbst die Repressionen einer totalitären Staatsgewalt
erleiden mussten, zu den jüngeren Generationen, die das
Glück haben, in Frieden und Freiheit aufzuwachsen. Ihnen
müssen wir erklären, warum die Grundrechte, Parlament und
Gewaltenteilung die erste und wichtigste Lehre aus der
Vergangenheit sind: Die demokratischen Institutionen sichern
Menschenwürde und individuelle Freiheit.
Gerade die Freiheit ist ein besonders gefährdetes Gut. Man
erkennt ihren Wert am deutlichsten, sobald man sie verloren hat,
sobald sie nicht mehr selbstverständlich ist. Schlimmer noch:
Es tut nicht weh, wenn andere ihre Freiheit einbüßen, es
tut erst weh, wenn die eigene Freiheit verloren gegangen ist. Auch
die Geschichte der Bertinis macht eindringlich klar: Eine
Gesellschaft verliert ihre Freiheit nicht mit einem Schlag, sondern
langsam, Stück für Stück. Sobald sie den Mitmenschen
jüdischen oder islamischen Glaubens, dem ausländisch
aussehende Nachbarn genommen ist, sind die Voraussetzungen
geschaffen, auch noch der nächsten und übernächsten
Gruppe die Freiheit zu nehmen. Freiheit muss verteidigt werden,
bevor sie akut gefährdet ist, bevor die Demokratie in ihren
Grundfesten erschüttert wird. Deshalb ist es so wichtig, die
Erfahrungen der Vergangenheit weiterzugeben.
Ralph Giordano gehört zu denen, die von Anfang an alle
Tendenzen zu vertuschen, zu verdrängen und zu vergessen,
schonungslos angeprangert haben. Nach der verspäteten
Auseinandersetzung um die "Zweite Schuld" ist die gesellschaftliche
Debatte in eine neue Phase getreten: Heute geht es vor allem um die
Frage, wie wir die Erinnerung und die daraus erwachsende
Verantwortung an die jüngeren Generationen vermitteln
können. Unsere Bemühungen um angemessene Formen des
Gedenkens sind nicht ohne Erfolg geblieben: In Berlin wird ein
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas gebaut; lokale,
authentische Orte des Gedenkens werden erhalten und erforscht; am
27. Januar finden überall im Land Gedenkveranstaltungen statt;
in den Schulen wird die Zeit des Nationalsozialismus mit Ernst und
Engagement behandelt - und nicht zuletzt erwachsen daraus
Initiativen wie die der heute ausgezeichneten Schülerinnen und
Schüler. Und doch: Mit einem Abstand von mehr als fünfzig
Jahren wird es immer schwieriger zu vermitteln, dass Freiheit und
Menschenwürde auch in der Gegenwart gefährdet sind und
geschützt werden müssen. Unsere Anstrengungen, über
den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aufzuklären,
haben nicht immer und nicht überall die Wirkung, die wir uns
erhoffen. Das zeigen Untersuchungen, nach denen heute ein
großer Teil der jungen Leute nichts mit den Worten
"Auschwitz" und "Holocaust" verbindet. Offenbar müssen wir
immer wieder neu fragen: "Wie können wir historisches Wissen
so vermitteln, dass es tatsächlich ankommt und auch
gegenwärtige Verantwortung auslöst?"
Wie sehr Bücher und andere Medien die Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit befördern können, dafür stehen das
"Tagebuch der Anne Frank" oder "Die Bertintis", dafür stehen
Filme wie "Holocaust" oder "Schindlers Liste". Natürlich
können Romane und Spielfilme nicht die historische Forschung
und die intellektuelle Auseinandersetzung mit dieser Zeit ersetzen,
aber sie erleichtern es gerade auch jungen Menschen, sich in diese
Zeit "hinzuversetzen" und sich "hineinzufühlen". Ich halte
Empathie für ein unentbehrliches Element der
Auseinandersetzung mit der Geschichte, damit aus der zeitlichen
Distanz keine innere Distanz zu den Leiden der Opfer wird.
Wer nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreift,
was die Beschneidung der Freiheit und die Missachtung der
Menschenwürde zur Zeit des Nationalsozialismus bedeutet hat,
der wird auch in der Gegenwart besser erkennen, wo beide
gefährdet sind. Gewiss, Menschenwürde und Menschenrechte
sind heute nicht so gefährdet wie zu Zeiten des Naziterrors.
Deutschland ist kein rechtsextremistisches Land. Aber es gibt in
Deutschland wieder Nachfolger der braunen Unkultur. Auch heute
werden in Deutschland Menschen verhöhnt und diskriminiert,
gejagt und zu Tode geprügelt - 14.000 rechtsextremistische
Gewalttaten allein im vergangenen Jahr.
Ich will und kann hier nicht über alle Ursachen dieser
Entwicklung sprechen. Für die zunehmende Gewaltbereitschaft
und für zunehmenden Rassismus gibt es keine einfachen
Erklärungen, man müsste über viele Ursachen reden.
Nur so viel: Es gibt in unserer Gesellschaft erhebliche
Integrations- oder Desintegrations-Probleme. Viele Menschen haben
das Gefühl, dass sie durch diese Gesellschaft nicht mehr
getragen werden, dass sie keinen sicheren Platz mehr darin haben.
Das Grundmuster der Reaktion auf Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse ist bekannt, es ist die Ethnisierung
sozialer Konflikte. Vor sechzig Jahren waren die Juden an allem
schuld, jetzt sind die Ausländer an allem schuld. Abgrenzung,
Abwehr, Aggression, wie wir sie zur Zeit immer häufiger auch
in ihren schlimmsten Auswüchsen erleben, sind nicht zuletzt
eine Reaktion auf Unsicherheit, Bindungslosigkeit,
Orientierungslosigkeit. Wenn soziale Ängste zunehmen, sind
Menschen leichter verführbar für Gruppen und
Beheimatungsangebote der einfachen Art, wie sie die rechtsextremen
Ideologen bieten.
Mit Bestürzung ist uns das Ausmaß moralischer
Entwurzelung bewusst geworden: elementarste Regeln des
Zusammenlebens gelten nicht mehr, alltägliche Gewalt nimmt zu,
Angst breitet sich aus an manchen Schulen, in manchen Klein- und
Mittelstädten, auf dem "flachen Land". Viele wollten es nicht
wahrhaben: Der Rechtsextremismus ist kein Randphänomen mehr,
er reicht in die Mitte dieser Gesellschaft. Im letzten Sommer ist
dies endlich zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte
geworden. Wir haben begonnen, uns zu fragen, was wir falsch gemacht
haben. Ich fürchte, wir haben uns zu lange in der Sicherheit
gewähnt, dass die Werte und Spielregeln des demokratischen
Zusammenlebens nach fünfzig Jahren in dieser Gesellschaft fest
verankert seien. Wir haben geglaubt, dass sich die Demokratie
gewissermaßen von selbst und umfassend in die nächste
Generation vermittelt. Dabei haben wir übersehen, dass sich
der Wert von Freiheit und Toleranz, von Gerechtigkeit und
Solidarität nicht von selbst versteht.
Jetzt wächst eine Generation heran, die ganz andere Sorgen hat
- allen voran die Sorge um einen Ausbildungsplatz und um eine
berufliche Zukunft. Sicher: Arbeitslosigkeit und
Perspektivlosigkeit sind wichtige Ursachen für
Rechtsextremismus, und gegen beides schützen gute Ausbildung,
berufliche Perspektiven und die verlässliche Aussicht auf
Arbeit noch am besten. Ich glaube aber nicht, dass sich mit mehr
Arbeitsplätzen und einer boomenden Wirtschaft Intoleranz,
Rechtsextremismus, und Gewaltbereitschaft erledigen. Es ist mehr
notwendig, um bei jungen Menschen Achtung vor dem anderen und
Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden zu entwickeln.
Wenn wir schon, wie das ja üblich geworden ist, Bildung als
die soziale Frage des 21. Jahrhunderts bezeichnen, dann ist es um
so wichtiger, dass die demokratisch verankerten Institutionen eben
nicht resignieren, sondern auch den Mut und die Kraft zur
Werteerziehung aufbringen. Die einseitige Ausrichtung von Bildung
und Erziehung auf den Arbeitsmarkt und die Vernachlässigung
der anderen Dimensionen von Bildung und Erziehung halte ich
für eine Engführung, die letztlich den demokratischen
Wertekonsens gefährdet. In den Köpfen junger Menschen
muss mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf
durchzusetzen. Wenn es auch in Zukunft demokratisch zugehen soll,
brauchen wir Erziehung zur verantworteten Freiheit. Die Kompetenz,
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden,
soziale Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares
Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen
Zusammenhalt zu erkennen, ist eine Schlüsselqualifikation
für die demokratische Gesellschaft - nicht nur
naturwissenschaftliche Kenntnisse, technische Fertigkeiten, die
Beherrschung des Internet und von Fremdsprachen.
Wir sollten neu darüber streiten, wie wir das Ziel des
mündigen Bürgers erreichen, das in unzähligen
Lehrplänen, Verordnungen, Landesverfassungen benannt und
beschrieben ist: selbstverantwortlich, solidarisch, zum Mitleid und
zur Nächstenliebe fähig, tolerant, lernfähig,
demokratisch, antitotalitär. Sicher, die Gesellschaft kann
nicht ihre Orientierungsprobleme in der Schule abladen. Aber die
Schulen können viel dazu beitragen, dass junge Menschen den
Wert von Freiheit und Toleranz, von Gerechtigkeit und
Solidarität erkennen. Das zeigt nicht zuletzt auch der
Bertini-Preis: Die Initiativen gegen Ausgrenzung und Gewalt stehen
zwar nicht in den Lehrplänen, und die Schülerinnen und
Schüler leisten einen großen Teil der Arbeit
außerhalb der Schulzeit. Doch ihr Interesse für
Geschichte und ihre Bereitschaft zum Engagement ist zu einem guten
Teil in der Schule geweckt worden. Wenn es über die Schule
hinaus reicht, wenn es nach dem Unterricht fortgesetzt und
umgesetzt wird, dann ist gerade das für mich das sicherste
Zeichen dafür, dass Geschichtsvermittlung und Werteerziehung
nachhaltigen Erfolg haben können.
Noch etwas macht der Bertini-Preis deutlich: Es gibt keinen Grund
anzunehmen, dass die jungen Menschen weniger sensibel wären
für Verletzbarkeit und Verletzungen der Menschenrechte. Um so
wichtiger ist die Aufgabe, zu erklären, welches Unrecht zur
Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist und dass die Regeln und
Werte unserer freiheitlichen, demokratischen, pluralistischen
Gesellschaft nicht beliebig sind. Die Verbrechen der
Nationalsozialisten konnten geschehen, weil niemand den Tätern
in den Arm fiel. Die Mehrheit der Bevölkerung war
eingeschüchtert. Man schwieg, schaute weg und ließ die
gemeinsame Grundlage eines zivilisierten Rechts- und Kulturstaates
mißbrauchen und zugrunde gehen. Diese bittere Erfahrung darf
nicht ohne Konsequenzen in der Gegenwart bleiben. Sie ist die
Mahnung, heute nicht wegzuschauen, wenn einzelne Mitbürger
oder Personengruppen ausgegrenzt oder gedemütigt werden. Was
in einer zivilisierten und anständigen Gesellschaft getan
werden muss, ist nicht allein Aufgabe des Staates. Es liegt in der
Hand jedes einzelnen, sich zu engagieren und politische
Verantwortung zu übernehmen, wenn die Rechte und Freiheiten
unseres demokratischen Staates gefährdet sind. Doch wie sollen
junge Menschen das lernen, wenn überall in dieser Gesellschaft
moralische Gleichgültigkeit um sich greift? Ralph Giordano hat
einmal den Mangel an Zivilcourage als die eigentliche Schande und
Schmach der deutschen Gesellschaft bezeichnet. Wir haben uns daran
gewöhnt, über die Medien alltäglich skandalöse
Vorgänge zu konsumieren, ohne dass wir uns davon betroffen
fühlten. Die Zeitungen sind voll davon. Erinnern Sie sich an
die Meldung vom Strafverfahren gegen Taxifahrer, die nicht einmal
zum Mobiltelefon griffen, um die Polizei zu holen, sondern kalt
(und womöglich zustimmend) zusahen, wie vor ihren Augen ein
Ausländer fast zu Tode geprügelt wurde? Darüber
regen wir uns gar nicht mehr auf, ja wir bemerken es kaum noch. Wo
sollen junge Menschen Beispiele und Vorbilder finden, wenn Gewalt
zum wichtigsten Gegenstand der abendlichen Fernsehunterhaltung
geworden ist, wenn wir in den Zeitungen zwar viel über
Gewalttäter lesen, aber nur wenig darüber, wie man sie in
ihre Schranken weisen kann?
Wer wusste noch vor einigen Jahren, wo Solingen und Mölln, wo
Hoyerswerda, Eberswalde und Guben liegen? Diese Orte sind in
schlimmem, traurigem Zusammenhang weithin bekannt geworden. Warum
kennt kaum einer Orte der Gegenwehr? Es gibt sie, doch sie sind,
gemessen an den Gesetzen der Medien, zu unspektakulär - es sei
denn, die Gegenwehr formiert sich in einer großen
Demonstration wie am 9. November letzten Jahres. Solche
Demonstrationen sind wichtig, um weithin Zeichen zu setzen. Noch
wichtiger sind aber die kleinen Gesten, die den Alltag bestimmen.
Statt der falschen Faszination durch Gewalt nachzugeben, sollten
wir unsere Aufmerksamkeit denen zuwenden, die den Verführungen
einfacher Denkmuster widerstehen.
Die Jugendlichen, die sich mit dem Rechtsextremismus nicht
einlassen, sind in der Mehrheit - aber sie finden in der
Gesellschaft noch zu wenig moralische Rückenstärkung (und
auch zu wenig materielle Unterstützung). In vielen
Städten und Kommunen wird dem Rechtsextremismus nicht offensiv
genug entgegen getreten. Häufig wird aus Furcht, als
rechtsextreme Hochburg zu gelten, das Problem einfach
totgeschwiegen oder verharmlost. Diese Feigheit hat dazu
geführt, dass rechtsextreme Halbstarke sich mancherorts stark
genug fühlen, andersdenkende Altersgenossen unter Druck zu
setzen. Sie verbreiten so konsequent Angst und Schrecken, dass es
Mut erfordert, ihnen etwas entgegen zu setzen und sich offen gegen
sie zu stellen.
Ich weiß aber, dass es in unserem Land viele Jugendliche
gibt, die den Mut haben, sich der Szene entgegen zu stellen -
selbst wenn sie damit riskieren, von den rechtsradikalen
Schlägern bedroht oder angegriffen zu werden. Sie brauchen
mehr Unterstützung, Zustimmung und öffentliche
Aufmerksamkeit. Deshalb fahre ich seit Jahren überall im Land
herum und besuche - möglichst mit interessierten Journalisten
- Initiativen, die sich gegen Ausgrenzung, Unrecht und Gewalt
einsetzen. (Auch nach dieser Veranstaltung). Wir brauchen solche
Initiativen, die in den Städten und Gemeinden für ein
partnerschaftliches Miteinander fördern. Mit ihrer Hilfe
entsteht vielleicht so etwas wie ein Netzwerk couragierter
Demokratinnen und Demokraten, die sich gegen rechts stellen.
Der Bertini-Preis ist eine Ermutigung, die engagierte und
couragierte junge Menschen brauchen. Denn er belässt es nicht
bei dem bloßen Appell: "Lasst Euch nicht einschüchtern",
sondern verbindet damit ideelle und materielle Unterstützung.
Das Preisgeld, das heute vergeben wird, hat mehr als nur
symbolischen Wert: Es ermöglicht den Schülerinnen und
Schülern, ihre Projekte weiter zu führen oder zu Ende zu
führen, und es hilft vielleicht sogar, weitere Projekte
anzuschieben.
Was nicht heißt, dass der symbolische Wert dieses Preises
gering veranschlagt werden dürfte. Zu Recht weisen die
Initiatoren und Juroren immer wieder darauf hin, dass das Preisgeld
vor allem auch die Wertschätzung solcher Initiativen zum
Ausdruck bringen soll. Eine Gesellschaft, die Fußballern
für den Wechsel vom einen zum anderen Verein
Millionenbeträge zahlt und die in Quizsendungen innerhalb
weniger Minuten zehntausende, hunderttausende Mark verteilt, sollte
nicht ausgerechnet das Engagement gegen Ausgrenzung,
Rechtsextremismus und Gewalt mit leeren Händen
unterstützen. Auch und gerade dieses Engagement braucht mehr
als moralischen Beistand. Deshalb sage auch ich den Unternehmen und
Institutionen der Region: Das Geld, das hier als Preis vergeben
wird, ist gut investiert. Helfen Sie mit, dass Initiativen dieser
Art weiter leben und weiter wirken können.
In diesem Jahr teilen sich das Preisgeld sieben Preisträger,
die Ralph Giordano gleich vorstellen und auszeichnen wird. Es sind
sieben vorbildliche Initiativen, die hoffentlich viele Nachahmer
finden. Auch ich gratuliere den Preisträgern herzlich und
danke ihnen für ihr Engagement. Ich danke dem Initiator des
Bertini-Preises, Michael Magunna, ich danke Ralph Giordano, den
anderen Mitgliedern der Jury und allen anderen, die dazu beitragen,
dass hier in Hamburg jedes Jahr zum 27. Januar der Bertini-Preis
vergeben werden kann. Ihnen und uns allen wünsche ich, dass
diese Initiative über Hamburg hinaus bekannt wird. Denn sie
ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus Erinnern und Gedenken
tatkräftiges Engagement für unsere Gesellschaft und ihre
Werte wachsen kann.