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Januar 01/2000
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Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger und Überlebender von Auschwitz:

"Ich kann dieses Geschehen nicht fassen"

(Auszüge der Rede vor dem Bundestag)

In diesem kurzen Augenblick will ich nichts anderes tun, als mit wenigen Worten an ein beispielloses Geschehen erinnern, das auf Generationen hin auf dem Schicksal Ihres und meines Volkes lasten wird.

Ich kann dieses Geschehen nicht fassen. Ich versuche es immer noch. Seit meiner Befreiung am 11. April 1945 habe ich alles gelesen, was ich dazu in die Hand bekommen konnte. Historische Abhandlungen, psychologische Analysen, Zeugenaussagen und Vermächtnisse, Gedichte und Gebete, Tagebücher von Mördern und Betrachtungen von Opfern, sogar an Gott adressierte Kinderbriefe.

Elie Wiesel.
Elie Wiesel.

Doch bringe ich es auch fertig, mir die Fakten, Zahlen und technischen Aspekte der "Aktionen" anzueignen, so entzieht sich mir immer noch die unerbittliche Bedeutung, die allem innewohnt und es übersteigt. Die Nürnberger Gesetze, die judenfeindlichen Verordnungen, die Kristallnacht, die öffentliche Demütigung stolzer jüdischer Bürger, darunter auch tapferer Frontkämpfer des Ers-ten Weltkrieges, die ersten Konzentrationslager, die Euthanasie deutscher Bürger, die Wannsee-Konferenz, auf der die höchsten Beamten des Landes einfach den Wahnsinn hatten, die Gültigkeit, Legalität und Methoden der Vernichtung eines ganzen Volkes zu diskutieren.

Und dann natürlich Dachau, Auschwitz, Majdanek, Sobibor – diese Hauptstädte dieses Jahrhunderts. Oh diese Namen ... Wahrzeichen, Flaggen, schwarze Flaggen, der Welt zur Erinnerung an eine Welt, die damals war. Was hat sie ermöglicht? Wie soll man den Kult von Hass und Tod begreifen, der in Ihrem Lande herrschte? Wie konnten intelligente, oft hervorragend gebildete junge Männer aus gutem Hause und mit Diplomen der namhaftesten deutschen Universitäten in der Tasche, die damals zu den angesehensten der Welt zählten, sich so sehr vom Bösen verführen lassen, dass sie ihren Genius, diesen Genius des Bösen, dafür einsetzten, jüdische Männer, Frauen und Kinder zu quälen und zu töten, die sie noch nie gesehen hatten? Sie taten es ja nicht etwa, weil diese Juden reich oder arm, gläubig oder ungläubig, politische Gegner, Patrioten oder Kosmopoliten waren, sondern einzig darum, weil sie als Juden geboren waren. Ihre Geburtsurkunde war de facto ihr Todesurteil.

"Waren die Mörder überhaupt noch Menschen?"

Haben sich ihre Henker wirklich stark und heldenhaft gefühlt, indem sie wehrlose Kinder mordeten? Konnten sie denn wirklich Angst haben vor alten und kranken Personen und kleinen Kindern, so dass sie sie zur erwählten Zielscheibe stempeln mussten? Was hatten sie denn an sich, das ihnen solche Angst einjagte? Ihre Schwäche, ihre Unschuld vielleicht? Waren die Mörder überhaupt noch Menschen? Diese Frage ist meine Zwangsvorstellung. Wo endet Menschlichkeit? Gibt es eine Grenze, jenseits der Menschlichkeit ihren Namen nicht mehr verdient.

Während meiner Vorbereitung auf meine heutige Begegnung mit Ihnen – die ich (und Sie, Herr Bundestagspräsident, haben es gesagt) auf mehr als nur einer Ebene symbolisch empfinde -, habe ich gewisse Berichte von Überlebenden und Zeugen wieder gelesen, die zum Teil noch leben, zum Teil schon tot sind. Und wieder traf mich mit voller Wucht die ewige Gleichartigkeit der grausamen Szenen. Es ist, als habe ein einziger Deutscher, immer derselbe, je und je immer nur ein und denselben Juden gequält und getötet, sechs Millionen Mal. Und doch ist jede Episode so unverwechselbar einmalig, wie jeder nach Gottes Bildnis geschaffene Mensch einmalig ist.

Häftlinge nach der Befreiung des KZ Wöbbelin, eines Außenlagers des KZ Neuengamme.
Häftlinge nach der Befreiung des KZ Wöbbelin, eines Außenlagers des KZ Neuengamme.

Das ist der Grund, warum ich – ich bin kein Historiker – nicht von der Geschichte spreche, sondern einfach Geschichten erzähle. Hier ist eine von ihnen: Sie geschieht im September 1941 in Babi-Yar in Kiew und wird von einem Augenzeugen, einem gewissen B. A. Liebmann, berichtet.

Eine jüdische Familie hält sich seit Tagen in einer Höhle versteckt. Die Mutter beschließt, mit ihren beiden Kindern im nahen Dorf Hilfe zu suchen. Sie fallen einer Gruppe betrunkener Deutscher in die Hände, die nun vor den Augen der Mutter erst das eine Kind köpfen, dann das andere. Während die fassungslose Mutter die Körper ihrer beiden toten Kinder umklammert, bringen die Deutschen, denen das Schauspiel offenkundig Vergnügen bereitet, auch die Mutter um. Als der Vater auf der Bildfläche erscheint, wird er ebenfalls ermordet. Ich fasse das nicht.

Man könnte mehr solche Geschichten erzählen, sechs Millionen mehr. Von allen Verbrechen gegen das jüdische Volk, das meinige, ist das Schlimmste der Mord an seinen Kindern. Immer waren sie die Ersten, die ergriffen und in den Tod geschickt wurden. Eineinhalb Millionen jüdischer Kinder sind umgekommen. Meine Damen und Herren, wollte ich heute allein ihre Namen aufsagen, die Moischele, die Jankele, die Sodele, wollte ich allein ihre Namen rezitieren, ich stünde Monate und Jahre hier ...

"Ich glaube nicht an Kollektivschuld"

Ich weiß, dass nicht alle Deutschen mitmachten, und auch an sie müssen wir denken. An jene, die den Mut hatten, sich gegen die amtliche Rassenideologie zu stellen. Jene, die dem totalitären Nazi-Regime widerstanden. Jene, die es zu stürzen versuchten und mit ihrem Leben dafür bezahlten. Zu Recht ehren Sie ihre Tapferkeit. Nur, leider, waren es wenige. Und die jüdischen Freunden und Nachbarn beistanden, waren noch weniger ...

An diesem Ort versuchen die neuen Führer des deutschen Volkes tapfer und ehrenvoll ein neues Schicksal aufzubauen. Eine menschlichere Philosophie für die Lebenden, und wir sind gekommen zu sagen, wie sehr wir dies begrüßen. In jener Zeit kam der Beschluss, uns aus der Geschichte zu beseitigen, zwar von höchster Stelle, aber ausgeführt wurde er unten. Und wenn man die Opfer fragt, war alles deutsch – das Zyklongas war deutsch, die die Krematorien bauten, waren deutsch, die die Gaskammern bauten, waren deutsch. Die Befehle wurden auf deutsch gegeben. Paul Celan sagt: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland." Celan hat Selbstmord verübt, weil er gespürt haben dürfte, dass sein Ausspruch diese wesentliche Wahrheit seiner oder unserer Erfahrung immer noch nicht mitzuteilen vermochte. Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so wie es Teil der meinigen sein wird ...

Ich sehe mich veranlasst, hier zu wiederholen, was ich überall sage: Ich glaube nicht an Kollektivschuld; nur die Schuldigen sind schuldig; nur sie und ihre Komplizen. Nicht jene, die damals noch nicht waren, und schon gar nicht die Kinder. Die Kinder von Mördern sind nicht Mörder, sondern Kinder. Und Ihre Kinder, von denen viele so gut sind, ich kenne sie doch. Ein paar waren meine Schüler. Sie sind wunderbar, hoch motiviert und zugleich sich quälend, verständlicherweise. Irgendwie fühlen sie sich schuldig, obwohl sie keinen Anlass dazu haben. Und was sie tun, um Ihr Land und Volk zu erlösen, ist gewaltig. Alles Geistige berührt sie. Sie gehen nach Israel und helfen beim Aufbau mit, verhelfen den Menschenrechten zum Durchbruch, weil sie, Ihre Kinder, spüren, dass diese dunkle Zeit nicht in Vergessenheit geraten darf ...

Nach dem Krieg erwarteten einige von uns von einem besiegten und gedemütigten Deutschland eine kraftvollere Botschaft der Reue und Zerknirschung, die dem moralischen Anspruch gemäß wäre; es war aber eher nur eine politische. Doch dann, seit Konrad Adenauers Zeiten, sind Sie eine Demokratie geworden, die würdig war, ihren Platz in der Völkerfamilie einzunehmen. Sie haben Israel politisch, wirtschaftlich und strategisch konsequent unterstützt. Ihre finanziellen Wiedergutmachungsleistungen an die Opfer, vor allem die jüdischen, und das, was sie für die Zwangsarbeiter nun als Gesetzentwurf vorsehen, sind positiv. Aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen für eine Geste, die weltweites Echo fände.

Bundespräsident Rau, vor ein paar Wochen haben Sie sich mit einer Gruppe von Ausch-witz-Überlebenden getroffen. Einer davon erzählte mir, Sie hätten etwas sehr Bewegendes gesagt. Sie baten um Verzeihung für das, was das deutsche Volk ihnen angetan hat. Warum dies nicht auch hier tun, im Geist dieses feierlichen Tages? Warum soll nicht der Bundestag dies Deutschland und seinen Verbündeten und Freunden und insbesondere den jungen Menschen sagen? Haben Sie das jüdische Volk gebeten, Deutschland zu verzeihen, was das Dritte Reich in Deutschlands Namen so vielen von uns angetan hat? Tun Sie es, und es wird in der Welt widerhallen. Tun Sie es, und dieser Gedenktag erhält eine noch größere Dimension. Tun Sie es, und die Welt wird wissen, dass ihr Vertrauen auf Deutschland nun wahrhaft gerechtfertigt ist ...

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0001/0001008
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