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Juli 07/2000
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hoyerswerda

Bundestagspräsident in zwei ostdeutschen Städten

Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde

Ich heiße Thierse, und wenn ihr euch die letzten beiden Buchstaben wegdenkt, kann man erkennen, dass meine Vorfahren einst aus Frankreich in dieses Land gekommen sind", erzählt der Bundestagspräsident den noch etwas schüchtern wirkenden 8- bis 16-jährigen des Schülerclubs WK 9 in Hoyerswerda. Und er fügt hinzu: "Auch wir waren damals Ausländer." Mit dem Bundestagspräsidenten diskutieren die Schüler in ihrem Jugendtreff zwischen Dart-Scheibe und Fußballkicker über Ausländer, Ausländerfeindlichkeit und das, was sie dagegen tun. Reihum berichten sie vom Schüleraustausch in den USA oder dem Besuch in der Solinger Partnerstadt. Stolz liest eine Viertklässlerin vom Blatt, dass ihre Schule jetzt den Titel "Schule ohne Rassismus" trägt. Doch Wolfgang Thierse will mehr wissen: Ob die Schüler schon von der "Green Card" gehört haben, wie viele ausländische Mitschüler in ihrer Klasse sind und was sie überhaupt in ihrer Freizeit machen. Meist erfährt er auch mehr, denn er fragt nach und lässt nicht locker, wenn er das Gefühl hat, stereotype Antworten zu bekommen. Dass Vorurteile, Ängste und falsche Informationen Meinungen und Stimmungen machen, erlebt er auch hier in Hoyerswerda. "Wenn ich über Ausländer positiv rede, dreht mein Vater ab", berichtet eine 15-jährige Schülerin auf die Frage, was denn ihre Eltern von ihrem Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit denken.

Wolfgang Thierse unterstützt Initiativen gegen rechts, hier beim Schülerclub WK 9 in Hoyerswerda
Wolfgang Thierse unterstützt Initiativen gegen rechts, hier beim Schülerclub WK 9 in Hoyerswerda

Auf seinen Reisen sucht Thierse vor allem das Gespräch mit Jugendlichen, denn mit ihnen zu reden ist für ihn "interessanter, klärender und sie beschönigen nichts", so seine Erfahrung. "Wie viele Ausländer wohnen eigentlich heute in Hoyerswerda?", möchte Thierse von den Schülern schließlich wissen. Erst langes Schweigen. "2.000" raten die einen, "bestimmt 1.000" schätzen die anderen. Alle liegen falsch. Nur noch ein Prozent der 53.000 Einwohner zählenden Kleinstadt haben einen ausländischen Pass, weiß der Bundestagspräsident von seinem vorherigen Termin in der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen in Hoyerswerda zu berichten. Der Ruf "ausländerfeindlich" zu sein, klebt an der Kleinstadt nahe der polnischen Grenze noch immer wie ein Kaugummi an einer Schuhsohle. Seit den menschenverachtenden Ausschreitungen gegen Asylbewerber im September 1991, als rechtsradikale Jugendliche ein Asylbewerberheim anzündeten und dafür von Passanten mit Beifall bedacht wurden, hat die Stadt viel gegen diese Ausländerfeindlichkeit zu tun versucht. Von Projekttagen, bilateralen Ferienfreizeiten und Jugendbegegnungen können der Bürgermeister, die Jugendamtsleiterin, der Schuldirektor und die Bundestagsabgeordneten berichten. Initiativen getragen von großem persönlichen Engagement, die der Präsident des Deutschen Bundestages mit seinem Besuch unterstützen will.

Bereits zum dritten Mal seit 1999 ist Wolfgang Thierse in Ostdeutschland unterwegs, um "Menschen kennen zu lernen, die Zivilcourage gegen rechts zeigen". "Ich möchte nicht nur in Berlin Politik machen, sondern reise durch das Land in die Orte, an denen demokratische Auseinandersetzung stattfindet", erklärt Thierse sein Engagement. Er hatte es satt, in den meisten Medien mehr von den Tätern als von den Opfern zu lesen. Und es ärgerte ihn, dass niemand von denen sprach, die sich couragiert gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus engagieren. Ihnen will der Bundestagspräsident jetzt eine Stimme geben; allen anderen Mut machen.

Jugendliche vom "Netzwerk für Demokratische Kultur" in Wurzen.
Jugendliche vom "Netzwerk für Demokratische Kultur" in Wurzen.

Das gleiche Ziel verfolgt die Amadeu-Antonio-Stiftung, deren Schirmherr Thierse ist. Sie hilft Opfern, berät Kommunen und Gemeinden und unterstützt Initiativen von Jugendlichen, die sich dem rechten Terror in ihren Städten mutig entgegenstellen. Ihr Namensgeber, Amadeu-Antonio, war im Jahr 1990 als erstes Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Ostdeutschland nach der Vereinigung zu Tode geprügelt worden. Seit dem ist rechtsextreme Gewalt so "alltäglich", dass nur noch besonders brutale Taten von den Medien aufgegriffen werden. Die öffentliche Empörung ist kurz, die Angst vor Überfällen rechtsextremer Jugendlicher in der Schule, in Jugendclubs, Bahnhöfen oder Parkanlagen keine Nachricht mehr wert. Alleine ein ostdeutsches Problem sind Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus nicht. "Ausländerhass und Intoleranz gibt es auch im Westen", weiß Wolfgang Thierse, "aber der Unterschied ist schon gravierend, nicht nur quantitativ. Der Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist direkter, spontaner, brutaler. Und er ist weniger gebunden an rechtsextreme Parteien." Der radikale Umbruch in der früheren DDR und die damit verbundenen Ängste sind für ihn entscheidende Ursachen dieser Entwicklung. Seine Gespräche mit Gruppen und Initiativen gegen Rechtsextremismus in der Uckermark, Frankfurt/Oder, Guben, Dresden und Leipzig haben den Bundestagspräsidenten darin bestätigt, "dass Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit keine Randphänomene sind, sondern aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen. Dass gerade in dieser Gesellschaft die Angst um den Ruf der eigenen Stadt größer als die Angst vor dem rechten Terror ist, erlebt der Bundestagspräsident an diesem heißen Junitag auf seiner nächsten Station im sächsischen Wurzen. Im Garten eines alten Hauses, in dem sie Büros und Fahrradwerkstatt eingerichtet haben, berichten ihm die Mitglieder des "Netzwerkes für Demokratische Kultur" von ihren oft zähen Bemühungen, finanzielle Mittel und Bündnispartner zu finden, sei es für ihre Zeitung, für kulturelle Veranstaltungen oder Fahrten ins ehemalige Konzentrationslager Theresienstadt.

Rundgang durch Wurzen: Das Hakenkreuz scheint hier niemanden zu stören.
Rundgang durch Wurzen: Das Hakenkreuz scheint hier niemanden zu stören.

Beim anschließenden Rundgang durch die Stadt zeigen die Jugendlichen des Netzwerkes dem Bundestagspräsidenten, hinter welchen sauber getünchten Fassaden sich für sie Orte rechter Gewalt befinden. Das Hakenkreuz an einer Häuserwand scheint hier kaum noch jemanden zu stören. In einer Galerie am Marktplatz hat das Netzwerk kurz darauf zu einer Diskussion über bürgerschaftliches Engagement eingeladen. Trotz des prominenten Besuchs ist der Bürgermeister der Einladung nicht gefolgt. An seiner Stelle rechnet der Landrat dem Bundestagspräsidenten minutiös die Ausgaben für die Jugendarbeit vor: "Die Zahlen zeigen, dass vieles getan worden ist", argumentiert der Kommunalpolitiker. Das Wort Rechtsextremismus scheint er aus seinem Sprachschatz gestrichen zu haben. Obwohl die sächsische Stadt als Schwerpunkt rechtsextremer Aktivitäten gilt, wird das Problem von vielen Seiten der Kommunalpolitik auf die Formel verkürzt, man kämpfe gegen "Extremismus jeglicher Couleur". Der Bundestagspräsident verbirgt seine Verärgerung nur schwer, seine Stimme wird energisch: "Rechtsextremismus ist unser aller Problem. Schon einmal haben Wegsehen und Beschönigung in die Katastrophe geführt." Städten wie Wurzen einen rechtsextremen Stempel aufzudrücken, wäre eine Pauschalverurteilung, falsch und demokratisch unanständig, "aber man darf sich auch nicht vor der Analyse und der Lösung der Probleme drücken, weil einige Angst vor einer Art von Nestbeschmutzung haben", warnt der zweite Mann im Staate seine Zuhörer.

Dass es keine Zaubermittel und keine Patentlösungen für den Umgang mit Rechtsextremismus gibt, ist allen bewusst. Der Bundestagspräsident setzt auf die Auseinandersetzung, sinnvolle Freizeitangebote, auf das demokratische Engagement der Bürger und auf eine Politik, die Verlässlichkeit und soziale Sicherheit an die Stelle weit verbreiteter Verunsicherung stellt.

Doch bei einem kennt er kein Pardon: Wo Rechte Jugendclubs, Parkanlagen oder ganze Stadtquartiere beherrschen, sind Nachgiebigkeit und Verständnis fehl am Platz. Hier hilft nur eins: "Flagge zeigen und gegenhalten." In diesem Sinne will er weiter demokratische Courage gegen rechts fördern und durch seine Besuche unterstützen, so wahr er Thierse heißt.

Annette Sach

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0007/0007092
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