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Oktober 09/2000
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essay

Die Demokratie als Bauherr

von Michael S. Cullen

Einem unbestätigten Gerücht zufolge soll der erste Ministerpräsident der Volksrepublik China, Zhou Enlai, auf die Frage "Welche Meinung haben Sie von der Französischen Revolution?" geantwortet haben: "Noch ist es zu früh, darüber ein Urteil abzugeben." Wenn ein so umsichtiger Politiker – sicher etwas kokett – sich der Meinung über eine 170 Jahre zurückliegende Geschichte enthält, um wie viel vorsichtiger muss ein Architekturkritiker mit einem Bauphänomen umgehen, das noch im Entstehen begriffen ist – das Werden der Bundeshauptstadt Berlin?

Zu den vielfältigen Aufgaben, die sich die größere Bundesrepublik gestellt hat, gehört der Bau bzw. Ausbau Berlins zur Hauptstadt, und dies mit dem Vorsatz, in allen Bauten für Parlament und Regierung Demokratie zu verkörpern oder zu demonstrieren. Noch ist der Prozess im Gange, manches ist aber schon fertig; man kann sich – vorsichtig, vorsichtig – ein Urteil erlauben.

Das sichtbarste Zeichen der jungen Hauptstadt ist das Reichstagsgebäude von Paul Wallot und nun Lord Norman Foster. Der Reichstag wurde 1894 nach über 10-jähriger Bauzeit eingeweiht. Schon damals war seine Kuppel umstritten; wer den im italienischen Renaissancestil gehaltenen Bau mochte, verschmähte die Kuppel, wer sie mochte, lehnte den restlichen Bau ab.

Baustelle im Berliner Parlamentsviertel.
Baustelle im Berliner Parlamentsviertel.

Berliner sind mit drastischen Architektururteilen nie verlegen; weil die Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor im Vergleich zu den vier Pferden viel zu groß ist, wird sie als "Frau ohne Verhältnis" verspottet. Auch Fosters Kuppel passt in den Proportionen nicht recht zum Wallotbau, aber die Berliner und Touristen lieben sie allemal.

Mit der Kuppel, die Foster ursprünglich nicht wollte, ist sein Bau mittlerweile zum Symbol des neuen Deutschlands aufgerückt, wie der "Lange Eugen" lange Zeit das Bonner Parlament verkörperte. Ob das Reichstagsgebäude zum vollständigen Symbol der deutschen Politik wird, wie etwa das Kapitol zu Washington, muss abgewartet werden; schon jetzt aber kommt keine Zeitung, kein Politik-Magazin in Deutschland ohne Reichstagskuppel aus. Es mag sein, dass die Architekturkritiker dereinst den Bau verurteilen, der millionenfache Besuch der Kuppel zeigt, dass sich das Gebäude in der Fosterschen Fassung sehen lassen kann.

Dennoch sei Kritik erlaubt: Bei allem Respekt für Fosters Leistung ist sein Plenarsaal groß geraten. Wallots Plenarsaal maß rund 630 qm; am Ende der Weimarer Republik hatte das Parlament 589 Abgeordnete, und für nur fünf bis sechs von ihnen mussten Klappstühle herbeigeschafft werden – alle anderen hatten Stühle mit Pulten.

Heute, mit 668 Abgeordneten, misst der Plenarsaal knapp 1.400 qm – der Grund: Für die alle fünf Jahre stattfindende Bundesversammlung muss der Raum Platz für 1.338 Personen bieten; für diese Versammlung zur Wahl des Bundespräsidenten hat man die Intimität geopfert, die ein kleinerer Raum möglicherweise vermitteln würde.

Es kann auch nicht gefallen, dass Foster noch immer Kontrolle über die Inneneinrichtung ausübt – eine Zeit lang sogar wollte er keine Grünpflanzen dulden, und noch immer findet er es nicht gut, wenn Vorschläge zur Zierde seiner ach so kahlen Wände gemacht werden – zum Beispiel mit Porträts verdienter Altparlamentarier, zum Beispiel mit alten faksimilierten Karten, zum Beispiel mit Bildern deutscher Landschaften. Alle Nationalparlamente der westlichen Welt benutzen ihre Häuser zur Darstellung von Land, Leuten und Geschichte – nur der Besucher des Reichstagsgebäudes muss ohne Geschichte auskommen. Warum ist also der Bundestag noch immer nicht souverän genug, um zu sagen, "Wir schämen uns nicht für unsere ganze Geschichte, nur für einen schrecklichen Teil davon"?

Bereits jetzt aber scheinen auch andere Bauten positiv auf Besucher und Berliner gleichermaßen zu wirken; vor allem am anderen Ende der Innenstadt der Neubau des Auswärtigen Amtes, am Werderschen Markt. Dieser gläserne und an zwei Seiten offene Kubus gehört zweifellos zu den gelungensten Neubauten der neu-alten Hauptstadt, vor allem durch den großen überglasten Innenhof und die Aufnahme der Frontlinien der alten Reichsbank, die im Neubau fortgeführt werden.

Noch der Vollendung harrt das von Axel Schultes & Charlotte Frank entworfene Bundeskanzleramt, doch bereits heute wird die Größe von vielen Berlin-Besuchern getadelt – der Berliner sagt dazu allemal: "Hättenses nicht 'ne Numma kleena?" Die Architekten behaupten jedoch, dass die Maße und Massen nicht so groß erscheinen werden, wenn die Landschaftsgestaltung beendet ist – hier bleibt es – siehe oben – abzuwarten. Sozialdemokraten wird es auf jeden Fall gefallen, dass Berlin dem Hause eine wichtige neue Anschrift gegeben hat – Willy-Brandt-Straße 1.

Wie kann man durch Bauwerke "Demokratie" zeigen? Gibt es "demokratische" Bauwerke, gibt es eine "demokratische" Bauweise? Und wenn die Antworten "Ja" wären, sind sie besser oder schlechter als solche, die in undemokratischen Regimen entstanden sind?

Dazu zwei Gedanken. Die Demokratie tut sich als Bauherr schwer: Das Schloss Sanssouci zeigt den Bau- und Gestaltungswillen von Friedrich dem Großen. Er stritt darüber nur mit seinem Baumeister Knobelsdorff – große Architektur. Der Wallotbau, und nun der Umbau durch Foster, wurde erkauft durch Hunderte von Gremiensitzungen – überall spürt man den Kompromiss. Man könnte sagen, das Ende dieser Diskussion ist noch offen – nur in einigen Generationen wird man den richtigen Vergleich ziehen können.

Michael S. Cullen.
Michael S. Cullen.

Auf jeden Fall ist es möglich, Bauwerke, die in undemokratischen Zeiten errichtet wurden, für demokratisch legitimierte Zwecke umzufunktionieren – seit vielen Jahren hat man frühere Schlösser zu Museen umgebaut, und unter dem damaligen Bundesbauminister Klaus Töpfer hat man richtig entschieden, dass viele Bauwerke aus schlechter alter Zeit für die Berliner Republik nutzbar sind.

Weit verbreitet ist im Übrigen die Ansicht, dass Bauwerke, die aus Glas sind, "transparent" seien, dass gläserne Häuser "Transparenz" symbolisieren. Heute wird viel mit Glas gebaut – es ist einfacher als vor einem Jahrhundert, und Glasfassaden können ökologisch sinnvoll sein. Symbolisch kann alles sein – Symbole verlangen nur Übereinstimmung zwischen den diskutierenden Parteien. Aber Transparenz mit Glas? Das ist tatsächlich ein Trugschluss. Wenn es so einfach wäre, würde man alles wissen, was sich hinter den Glasfassaden im Frankfurter Bankenviertel abspielt. Wenn das Gegenteil wahr wäre, müsste man dem englischen Parlament jeglichen Anspruch auf Transparenz absprechen. Ergo: Zu wenig Glas ist nicht automatisch demokratiefeindlich, und viel zu viel Glas ist keine Garantie für inhaltliche Transparenz. Freilich: Glas ist auch nicht schädlich für die Demokratie – frei nach dem Bonmot über das Beten – es hilft nicht immer, aber schaden tut es auch nicht.

Ob Demokratie, ob Transparenz die neuen Bauten kennzeichnen, wird nicht zuletzt nicht von den Architekten, sondern von den Politikern und Beamten abhängen, die in diesen Bauwerken arbeiten und ihr Mandat wahrnehmen. Im alten Knobelspiel heißt die Regel: Papier deckt Stein zu; mächtiger als alle Steinbauten sind die Verfassungen.




Michael S. Cullen, der Christo die Anregung zur Verhüllung des Reichstagsgebäudes gegeben hatte, ist 1939 in New York geboren. Er ist Bürger der USA, seit 1964 wohnhaft in Berlin, Journalist und Bauhistoriker. Von ihm stammen zahlreiche zum Teil kritische Veröffentlichungen zur Geschichte des Reichstagsgebäudes und des Brandenburger Tores. Er war Mitglied der Jury für den "Realisierungswettbewerb Umbau Reichstagsgebäude zum Deutschen Bundestag" und ist Träger des Verdienstordens des Landes Berlin.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0009/0009004
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