Vorwort
Was macht der Deutsche Bundestag?
von Wolfgang Thierse
Liebe Leserinnen und Leser,
der Deutsche Bundestag hütet die Freiheit. Dabei steht er ständig in der Kritik, unter Beobachtung der Öffentlichkeit – und so muss es auch sein. Demokratie ist Meinungsstreit. In den öffentlichen Angelegenheiten hat niemand die Wahrheit gepachtet.
In den Begriffen der Gewaltenteilung ist der Bundestag der Gesetzgeber. Die Parlamentarier machen die Gesetze, nach denen sich entscheidet, wie die soziale Sicherheit organisiert ist, wie der Schutz gegen Kriminalität gewährleistet wird, was verboten und strafbar ist. Es geht um alle öffentlichen Angelegenheiten, von den Regeln für den Straßenverkehr bis zur Steuer, vom Handel und Wettbewerb bis zum Aufbau Ost, von der Altersversorgung bis zu Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit. In allen diesen Fragen unterscheiden sich Parteien und Fraktionen. Im Parlament machen sie diese Unterschiede deutlich. Schließlich findet sich entweder ein Kompromiss oder eine Entscheidung durch die Mehrheit.
Manchmal – und das könnte nach Meinung auch vieler Abgeordneter häufiger sein – diskutiert das Parlament Themen öffentlichen Interesses auch schon, bevor Entscheidungen nötig sind. Das geschah zuletzt in einer Debatte über die Bioethik, also über die Verletzung der Menschenwürde durch Manipulationen an menschlichen Genen.
Aber auch Aktuelle Stunden, die kurzfristig auf die Tagesordnung kommen, und die Fragestunden, in denen Abgeordnete Auskünfte von der Bundesregierung verlangen, führen nicht unmittelbar zu Entscheidungen, sondern greifen Themen und Sorgen auf, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Mit diesen Instrumenten repräsentiert der Bundestag die Bevölkerung und er kontrolliert die Regierung.
Nach klassischem Verständnis ist die Aufstellung und Verabschiedung des Bundeshaushalts die wichtigste Aufgabe. Damit entscheidet der Bundestag, wie viel Geld der Bundesregierung für welche Zwecke zur Verfügung steht.
Dass das Parlament die Regierung kontrolliert, ist so bekannt, dass wohl jede Bürgerin, jeder Bürger damit die Frage "Was tut der Bundestag?" beantworten würde. Weniger bewusst scheint Vielen die Verantwortung des Parlaments für die Stabilität der Regierung zu sein. Das Grundgesetz verlangt: "Der Bundeskanzler wird ... vom Bundestag ohne Aussprache gewählt." Das Parlament stellt und bestellt das Regierungspersonal. Die scharfe Trennung zwischen Regierung und Parlament, die viele Menschen für selbstverständlich halten, ist in unserer Verfassung gar nicht vorgesehen!
In der parlamentarischen Praxis dieses Bundestages hat es von Anfang an eine deutliche Rollenteilung zwischen Regierungsmehrheit, in den meisten Fällen eine Koalition aus zwei Fraktionen, und Opposition gegeben. Oft genug wurde der ganze Bundestag als schwach empfunden, wenn die Opposition schwach war und umgekehrt das Parlament gelobt, wenn die Oppositionsfraktionen es verstanden, der Regierung ordentlich zuzusetzen. Das erhöht zweifellos den Unterhaltungswert des Parlaments und die Aufmerksamkeit der Beobachter. Oft genug haben Mitglieder von Koalitionsfraktionen geklagt, sie könnten nichts bewirken, ohne das Risiko, für das Land eine Führungskrise und für ihre Parteien ein Desaster anzurichten. Also würden sie der Regierung folgen und damit für Stabilität sorgen. Aber genau da liegt ihre Aufgabe: dafür zu sorgen, dass die Regierung regieren kann – bis eine Regierung den Bogen überspannt und Koalitionen daran zerbrechen.
Dabei ist der Deutsche Bundestag ein fleißiges Arbeitsparlament. Von den seit der letzten Wahl bis Mai 2001 in den Bundestag eingebrachten 196 Gesetzentwürfen sind nur 41 so beschlossen worden, wie sie eingebracht worden waren. Durch Anhörungen von Experten und Interessengruppen, durch Beratungen in den Ausschüssen sammelt das Parlament Wissen und entscheidet eigenständig.
Damit die tatsächliche, oft mühsame Arbeit am Kompromiss, die Gesamtverantwortung des Bundestages auch für die Regierung deutlicher wird, plädiere ich für häufige Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen.
Nach welchen Regeln der Bundestag seine Aufgaben erfüllt, wie der Alltag der Abgeordneten aussieht, das möchte dieses Sonderheft darstellen.
Ihr
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