Hintergrund
Ecken & Kanten
Hinter der nächsten Ecke ist nicht immer Neuland. Und wenn
doch, dann darf man vermuten, was man will. Es kann ganz wunderbar
oder ganz fürchterlich oder auch ganz vertraut sein. Ohne
Ecken wäre die gerade Linie so endlos wie wirklich gottlos.
Die Ecke erzwingt den Richtungswechsel. Die Architektur kennt den
Begriff "Eckkonflikt" . Die Definition ist ganz und gar prosaisch,
aber was könnte man alles interpretieren, verließe man
sich nur auf seine Fantasie. Es hat doch nicht umsonst
berühmte Eckensteher gegeben, die sich ein Leben lang nicht
entscheiden konnten, wohin es sie nun zieht.
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Geht man im Reichstagsgebäude vier Mal ums Ecke, hat man
einen Rundgang gemacht. Auf die Sprache ist Verlass. Sie hat ihre
eigene Logik. Und führe man mit dem rechten Zeigefinger in
diesem großen und hohen Haus an allen Kanten entlang, die
erreichbar und ertastbar sind, machte man eine kleine Weltreise.
Schon von der Strecke her. Unzählige Kilometer kämen
zusammen, und wie viele Kanten sind aus unterschiedlichem Stoff
gemacht. Man ertastete geschliffenes Metall, rauen Stein, glatte
Täfelung, warmes Holz, kühles Glas, moderne Chemie,
gewebten Stoff, gepressten Belag, verlegtes Parkett –
Unebenheiten und Perfektion, Neuigkeiten und Althergebrachtes.
Keinen Statistiker interessiert, wie viele Ecken und Kanten es
im Reichstagsgebäude gibt. Deshalb wird sie auch niemand
zählen. Abenteurer sind selten geworden. Schade.
Kathrin Gerlof