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10/2001
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Essay

Reisen bildet

von Ernst-Otto Czempiel

Das alte Steckenpferd von Steuerzahlerverbänden und Rechnungshöfen, die Auslandsreisen von Parlamentariern als überflüssigen Polittourismus zu kritisieren, sollte endlich abgesattelt werden. Ordentlich begründet und mit öffentlichen Mitteln finanziert, ermöglichen besonders die Reisen den Abgeordneten, eigene Informationen vor Ort zu sammeln und mit den dortigen Parlamentariern Kontakt aufzunehmen.

Ernst-Otto Czempiel

Ernst-Otto Czempiel

Diese internationale Kooperation der Volksvertreter kommt sowohl der Kontrollfunktion des Parlaments zugute wie seiner Aufgabe, gesellschaftliche Bedürfnisse in politische Anforderungen zu transformieren. Sie vor allem verlangt die Fähigkeit, die internationale Lage, die Konfliktsituation, richtig einzuschätzen. Die Definitionsmacht darf nicht allein der Exekutive überlassen, sondern muss von der Volksvertretung kritisch überprüft werden. Dazu muss sie sich in Stand setzen, indem sie sich selbst informiert.

Aus der alten, national geordneten Staatenwelt ist längst die regionalisierte oder gar globalisierte Gesellschaftswelt geworden, in der die Interaktion staatlicher und nicht staatlicher Akteure die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischt haben. Der 11. September war ein erschreckendes Beispiel dafür. Die Interdependenz hat die Staaten aneinander geschoben, so dass sie ihre Steuerungskompetenz nur in Zusammenarbeit mit anderen wiedergewinnen können. Deutsche Politik wird keinesfalls nur in Berlin gemacht. Andererseits haben gesellschaftliche Akteure die Staaten unterlaufen und in Handlungszusammenhänge eingebunden, die ebenfalls nicht von innen, sondern von „außen“ gesteuert werden. Wer sie beeinflussen will, muss sie verstehen. Nicht umsonst sind Regierungsmitglieder und Ministerialbeamte viel unterwegs.

Die Gesellschaftswelt ist also nach wie vor exekutivlastig verfasst. Der Zusammenarbeit der Regierungen steht bei den Volksvertretungen wenig Ebenbürtiges gegenüber. Das daraus entstandene Demokratiedefizit kann durch internationale Zusammenarbeit individueller Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht behoben werden. Aber die Bildung interparlamentarischer Netzwerke kommt, wie der Erwerb eigener Kenntnisse über das Ausland, der Meinungsbildung in den Volksvertretungen zugute, stärkt ihre Kontrollfunktion gegenüber den Exekutiven.

Der Bundestag sollte die Welt auch einladen. Ist es schon widersinnig, dass unter „Staatsbesuchen“ vornehmlich die Visiten von Staatschefs verstanden werden, nicht aber die der Parlamentspräsidenten, so sollten die Repräsentanten anderer Völker weiter großzügig nach Deutschland eingeladen werden. Zusammenarbeit kann nicht als Einbahnstraße betrieben werden. Es muss der Bundesrepublik aber auch daran gelegen sein, von den Gesellschaften anderer Staaten richtig gesehen zu werden. In der Welt von heute kommt der öffentlichen Meinung eine sehr viel höhere Bedeutung zu als früher. Sie entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Außenpolitik.

Nicht nur die Regierungen gilt es zu überzeugen, sondern vor allem die Gesellschaften. Deren Repräsentanten sind dafür die besten Multiplikatoren; sie durch den Bundestag nach Deutschland einzuladen, ist eine wichtige Informationsofferte. Sie ist völlig neutral und frei von jenen Werbeaspekten, die mit der Einladung durch eine Regierung unvermeidlich verbunden werden.

Deswegen eignet sich die Einladung von Parlamentariern besonders für die wichtigste außenpolitische Strategie des Westens: die Ausbreitung des demokratischen Herrschaftssystems. Darin liegt kein Widerspruch. Weder soll die bundesdeutsche Demokratie den Besuchern verkauft, noch das westeuropäische Demokratiemodell als das allein richtige dargestellt werden. Vielmehr können die Besucher hier selbst feststellen, wie das bundesrepublikanische Herrschaftssystem funktioniert, ob und wie seine Mechanismen übersetzt und übertragen werden können in andere politische Kulturen. Die USA hatten dieses Verfahren seinerzeit im Rahmen des Marshall-Plans praktiziert, als sie deutsche Parlamentarier zu sich einluden. So konnten sie selbst die Demokratie in Amerika studieren und davon nach Hause mitnehmen, was sie für passend hielten.

Auslandsreisen von Abgeordneten sind kein Luxus, sondern dienen in der komplexen Welt der Informationsgewinnung, der interparlamentarischen Zusammenarbeit und damit der wichtigsten Aufgabe aller Legislativen: der Kontrolle der Regierungen. Daran sollte nicht gespart werden.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0110/0110003a
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