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Juni 4/2003
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Die Initiatorin

Die Vizepräsidentin von Bündnis 90/Die Grünen, Antje Vollmer, liebt die Anfänge von Geschichten - die ersten Ideen, die ersten Sätze, die ersten Handlungen. Und wenn sich niemand an das Skript wagt, übernimmt sie selbst die Initiative.

Antje Vollmer in den "KunstWerken" in Berlin-Mitte
Antje Vollmer in den "KunstWerken" in Berlin-Mitte.

Zu Beginn einer jeden Legislaturperiode wählen die Abgeordneten das Bundestagspräsidium. Es besteht aus dem Präsidenten und in der Regel so vielen Stellvertreterinnen und Stellvertretern, wie es Fraktionen gibt. Sie alle entscheiden über Angelegenheiten, die die Leitung des Hauses betreffen, und sitzen abwechselnd den Plenarsitzungen vor. Eine Ehre ist es, diesem Gremium anzugehören, und eine Herausforderung dazu.

Wer aber sind die Menschen, die diese Herausforderung annehmen?

Ein ungewisser Ausgang ist für die Frau kein Hindernis. Sie hat oft genug erlebt, dass auch ein grandioser Prolog nicht für ein glückliches Ende garantiert. Denkbar ist alles. Nur eines nicht: der Verzicht auf Neuanfänge. Das ließe sich selbst noch an der Biografie der Politikerin und Publizistin Antje Vollmer, Jahrgang 43, ablesen, auch wenn diese in nüchtern tabellarischer Form daherkommt. Die Selbstdarstellung von Antje Vollmer ist knapp gehalten. Sehr knapp.

Schon während der Schulzeit hat einmal ein Lehrer zu ihr gesagt: „Du gehst am besten nach Berlin“, und damit den politischen Menschen Antje Vollmer gemeint, ihre Lust auf Auseinandersetzung und ihre Vorliebe für schwierige Fragen statt einfacher Antworten. Zu Beginn und dann wieder zum Ende ihres Theologiestudiums 1967 ist sie wirklich nach Berlin gegangen. Da änderte sich gerade das Leben im Land, weil Studenten revoltierten und die Ruhe einer fast fragenlosen Gesellschaft störten. Das war der Anfang einer langen Geschichte, die als Aufbruch begann. 1990 schrieb die Publizistin Vollmer: „Eine politische Biografie definiert sich um historische Schlüsselereignisse.“ An Schlüsselereignissen hat es nie gefehlt in ihrem Leben, auch dann nicht, wenn eine Geschichte vermeintlich ganz ruhig begann.

Antje Vollmer
Antje Vollmer

1976 ging die inzwischen promovierte Philosophin in die ländliche Bildungsarbeit nach Bielefeld-Bethel. Das hört sich an wie ein Rückzug aus dem Gefecht. Es waren aber die Jahre, da die Ökologiebewegung entstand - auf dem Lande. Wieder wurden Fragen gestellt, die vorher keiner zur Sprache bringen mochte. Dass sich da allerdings etwas etablieren würde, was die politische Landschaft der Bundesrepublik nachhaltig verändert, mochte zu Beginn niemand prophezeien. „Ich habe oft Anfänge miterlebt“, sagt Antje Vollmer, „das sind die kreativsten Phasen, alles ist offen. Macht und Verwaltung entstehen erst später und diese Routine ist nicht so meine Sache.“

Und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, verwaltet die nicht mehr als sie gestalten kann? 1994, als Antje Vollmer mit den Stimmen aller Fraktionen erstmals in dieses Amt gewählt wurde, begann das Nachdenken über eine Parlamentsreform, die auch auf den Weg gebracht wurde. Das war gestalterische Arbeit, Auseinandersetzung, am Ende an manchen Stellen Kompromiss statt reine Lehre, aber doch ein Erfolg. Die Parlamentsreform hat Antje Vollmer lange beschäftigt, nun sind die Erfolge und die Kompromisse umgesetzt, eine Geschichte hat ihren Abschluss gefunden. „Natürlich verwaltet man im Präsidium des Bundestages viel, das ist ganz einfach laufende Arbeit. Auch die Leitung der Plenarsitzungen. Aber man kann als Vizepräsidentin natürlich zugleich Neues anfangen, Initiativen unterstützen oder selbst auf den Weg bringen.“



„Anfänge sind die kreativsten Phasen, alles ist offen. Macht und Verwaltung entstehen erst später. Und diese Routine ist nicht so meine Sache.“



Das Amt ist für Antje Vollmer in diesem Sinne Instrument, um außerhalb des Gremiums Neuanfänge zu wagen, gemeinsam mit anderen. Man braucht da nicht drumherum zu reden: Ein Titel schafft Aura und sei es nur die, dass andere überzeugt sind, wenn die Vizepräsidentin das gut und wichtig findet, dann wird es gelingen. Das Amt, zitiert Antje Vollmer an dieser Stelle den einstigen Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kurt Scharf, sei dazu da, missbraucht zu werden. Sie sieht das positiv: Wer ein Amt innehat und es nicht gebraucht, um Bewegung in Angelegenheiten zu bringen, ist eine Fehlbesetzung. In diesem Sinne hat sie Ämter immer gehandhabt. Sie hat die Stiftungsidee vorangetrieben, weil sie bürgerschaftliches Engagement will und schätzt. Sie hat 1999, nach einer Reise durch Kolumbien, einen Sportstudenten mitsamt Familie von dort nach Deutschland geholt, um in Brandenburg ein Präventivprojekt gegen Jugendgewalt, eine Bewegung für Straßenfußball ins Leben zu rufen. Ein Idealprojekt sei das, sagt sie. Die Probleme in den neuen Ländern waren augenfällig. Der Straßenfußball bot einen unkonventionellen Lösungsansatz, Mädchen gehören hier fest zum Spielerteam.

Es gab andere Anfänge und Geschichten im Leben von Antje Vollmer, die kräftezehrend und aufreibend waren und trotz aller Mühen nicht gleich die erhofften Erfolge brachten, obwohl sie nicht erfolglos blieben. Die „Dialog-Initiative“ 1985 beispielsweise, ein Vermittlungsversuch zwischen Staat, Gesellschaft und der Roten-Armee-Fraktion (RAF) mit dem Ziel, den Terrorismus zu beenden. Antje Vollmer und ihre Grünen-Kollegin Christa Nickels haben den Anfang gemacht, sogar die staatlichen Behörden ließen sich „anstecken“ und am Ende bekam die Geschichte den Namen „Kinkel-Initiative“.

Antje Vollmer
Antje Vollmer

Ein ganz anderer Dialog sollte drei Jahre später innerhalb der Grünen beginnen. Gemeinsam mit anderen gründete Antje Vollmer den „Aufbruch 88“, der zwischen den miteinander hadernden und gegeneinander kämpfenden Flügeln der Partei vermitteln sollte. Es wurde am Ende keine andere Partei, aber ein Beitrag zur Überlebensstrategie der Grünen war es doch. Antje Vollmer versucht oft, sich auf die Grenzlinie zwischen den Lagern zu stellen, denn jenseits der Grenze interpretiert sich die Welt oft einfacher. „Ich denke häufig, dass ich quer im eigenen Stall bin. Bis heute. Und ich bemühe mich bis heute, eine eigene Sprache für die Dinge zu finden.“

Neun Jahre in einem Amt - jetzt dem der Vizepräsidentin - sind für Antje Vollmer eigentlich eine lange Zeit. Acht Jahre sagt sie, hätten sonst den politischen Lebensrhythmus bestimmt: beispielsweise die acht Jahre in der ersten Bundestagsfraktion der Grünen. Da war sie eine Zeit lang Fraktionssprecherin und Mitinitiatorin des ersten Feminats, einer Fraktionsspitze, die nur aus Frauen bestand. Das hatte die bundesdeutsche Parteienwelt noch nicht gesehen.

Antje Vollmer

Vielleicht ist jetzt in der Arbeit ein Verhältnis zwischen vertrautem Terrain und immer wieder zu eroberndem Neuland erreicht, das der Politikerin gefällt. Schließlich erfüllt sie sich immer wieder Träume. Die Arbeit im Kulturausschuss des Bundestages gibt ihr die Möglichkeit, ihre Neugier auf das, was in den kulturellen und künstlerischen Bereichen des Landes geschieht, zu stillen. Nicht nur das, sie kann gestalten und initiieren. Bald wird es eine Enquete-Kommission geben, die beraten wird, welche Kulturaufgaben der Staat und besonders die Kommunen haben. Dabei gibt es noch gar nicht so lange eine Kulturpolitik des Bundes. Der Gedanke fühlt sich noch immer neu an, die Ernsthaftigkeit, die mit ihm verbunden ist, ebenso.

Einmal im Jahr lädt Antje Vollmer Künstlerinnen und Künstler aus der Berliner Szene in den Bundestag ein. Dieses Ereignis gilt inzwischen als Geheimtipp. Zeitgenössische Kunst verkörpert für die 59-Jährige Aufbruch. Aufbruch ist Anfang. Das Gegenteil von Stillstand, Langeweile und Verfall. Der schönste Teil einer Geschichte. Egal wie sie ausgeht.

Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0304/0304011
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