Peter Dudek
Vermessung des Bildungswesens
Kenntnisreicher Überblick
Das umfangreiche Handbuch steht in der Tradition der
unabhängigen Berichterstattung des Max-Planck-Instituts
für Bildungsforschung, die von der "Arbeitsgruppe
Bildungsbericht" bereits Ende der 70er-Jahre begonnen wurde und
hiermit fortgesetzt wird. Stand der letzte Band aus dem Jahre 1994
noch unter dem starken Eindruck der deutschen Vereinigung und der
daraus resultierenden Folgeprobleme für das Bildungswesen, so
ist das jetzt vorlie-gende Handbuch durch eine Reihe neuer
gesellschaftlicher Entwicklungen geprägt.
Die Herausgeber nennen hier zu Beginn die Auswirkungen der
anhaltenden Wirtschaftsschwäche, die verzögerte Anpassung
an den europäischen und internationalen Wettbewerb, den Umbau
des Sozialstaates im Kontext hoher struktureller Arbeitslosigkeit,
die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung und
nicht zuletzt die Ergebnisse der verschiedenen internationalen
Bildungsstudien. Sie alle verweisen darauf, dass das Bildungswesen
sich in doppelter Hinsicht neuen Herausforderungen stellen muss -
Herausforderungen, die einerseits durch die gesellschaftliche
Umwelt bedingt werden, andererseits aus
Modernisierungsversäumnissen im System selbst resultieren.
Diagnose und Handlung
Diese Diagnose durchzieht als roter Faden alle Beiträge des
Bandes, der Problemsituationen analysiert, Hinweise auf
Handlungsoptionen gibt, sich aber bewusst mit Empfehlungen
zurückhält, weil, so die Herausgeber, "kein direkter Weg
von der wissenschaftlichen Diagnose zur Handlungsempfehlung
führt." Sie waren gut beraten, diesen Weg zu gehen, weil
Bildungspolitik eben Politik ist und hier auch Politik gefordert
ist.
Für ihren "roten Faden" haben die Herausgeber eine Reihe
national und international renommierter Bildungsforscher als
Autoren gewinnen können. Sie haben die 18 Beiträge in
fünf thematische Blöcke gegliedert. Es macht an dieser
Stelle wenig Sinn, die differenzierten Befunde der einzelnen
Artikel aufzulisten, vielmehr sollen Einblicke in die thematische
Breite des Handbuches vermittelt werden.
Eröffnet wird es mit einem allgemeinen Teil, der
zunächst die soziale Einbettung bildungspolitischer Trends in
der Bundesrepublik skizziert und an internationalen Erfolgsmodellen
misst. Ihnen folgt ein längerer Beitrag zu grundlegenden
Entwicklungen und Strukturproblemen des allgemeinbildenden
Schulwesens, der mit Blick auf die einzelnen Bundesländer auch
vergleichend argumentiert, alte und neue Themen auflistet und
ungelöste beziehungsweise übersehene Probleme
erörtert.
Die Aufsätze von Achim Leschinsky über den
institutionellen Rahmen des Bildungswesens und von Klaus Klemm
über Bildungsausgaben und Bildungskosten beenden den
allgemeinen Teil. Ihnen folgen ausführliche Studien zur
Vorschulerziehung und Grundschule, zu den Sekundarstufen I und II
sowie zum Hochschulwesen und dem facettenreichen Feld der
Weiterbildung.
Der letzte Teil des Bandes widmet sich verschiedenen
Einzelthemen, so der Situation von Migrantenkindern im deutschen
Bildungswesen oder den Jugendlichen ohne Schulabschluss und ihren
Möglichkeiten, Wege in den Arbeitsmarkt zu finden, sowie
Kindern, die einer sonderpädagogischen Förderung
bedürfen.
Beschlossen wird das Buch mit einem zur Zeit aktuellen und
kontrovers diskutierten Thema, nämlich dem Zustand der
Lehrerbildung. Ewald Terhart hat sich dieses Komplexes angenommen
und er bietet den Lesern zunächst Einblicke in die Geschichte
der Ausbildung "niederer" und "höherer" Lehrer, diskutiert
verschiedene Strukturprobleme der Lehrerbildung - etwa das
Verhältnis von universitärer und berufsprakti-scher
Ausbildungsphase -, um sich dann den Forschungen zur Lehrerbildung
zuzuwenden und verschiedene Modelle künftiger Reformen zu
diskutieren - Modelle, die für die Universitäten so oder
so neue Herausforderungen bringen würden.
Warnungen
Speziell die Forderungen nach einer Entstaatlichung der
Lehrerausbildung decken sich "in mehrfacher Hinsicht mit der Idee
zur Verknüpfung von gestufter Studiengangsstruktur und
Lehrerausbildung". Terhart warnt aber auch vor solchen
Entwicklungen, denn "der Verzicht auf staatliche Ausbildungs- und
Prüfungshoheit könnte zur Folge haben, dass eine
spezifische, von Beginn an am späteren Berufsfeld
ausgerichtete Lehrerausbildung an den Universitäten faktisch
nicht mehr erkennbar wäre". Und wie immer, wenn es in
Deutschland um Bildung geht, fehlt es nicht an guten
Vorschlägen, aber am politischen Willen, ideologisch
gefärbte Schatten zu verlassen und zu konstruktiver
Zusammenarbeit zu finden.
Alle Beiträge sind sehr informativ verfasst und zeugen von
der großen Kompetenz der Autoren. Darin liegt unzweifelhaft
die Stärke des Bandes, aber zugleich auch seine große
Schwäche. Denn die Autoren bedienen sich durchweg einer hoch
elaborierten Fachsprache, die den Band für ein
größeres interessiertes Laienpublikum zu einer schwer
verdaulichen Lektüre werden lässt. Mit Bildungsfragen
bewanderte Leser werden dagegen hier ein fundiertes und umfassendes
Nachschlagewerk finden, das durch sein differenziertes
Sachwortregister auch einen schnellen Zugang zu Einzelfragen
ermöglicht.
Kai Cortina, Jürgen Baumert, Achim Leschinsky, Karl Ulrich
Mayer, Luitgard Trommer, (Hrsg.)
Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland.
Strukturen und Entwicklungen im Überblick.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2003;
906 S., 16,90 Euro
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