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Ruth Allenstein
Historische Momente
Jüdische Geschichtsschreibung
Ist die Geschichte der Juden die Geschichte
eines Volkes oder die einer Religionsgemeinschaft? Besteht sie aus
einer Aneinanderreihung zahlreicher Einzelgeschichten oder ist sie
das Beispiel einer in der Welt weit verstreuten Diaspora? Besteht
sie nur aus Verfolgungen und Kalamitäten oder ist sie am Ende
gar als Erfolgsgeschichte zu betrachten? Historiker haben diese
Fragen, je nach ihrem individuellen Standpunkt und besonderem
wissenschaftlichen Ansatz, verschieden beantwortet, wie dieser Band
deutlich zeigt.
Zu Wort kommen Historiker aller
Schattierungen: Zionisten, Vertreter eines Diasporajudentums, west-
und osteuropäische, amerikanische, jüdische und
nichtjüdische Wissenschaftler. Während sich die einen wie
Salo Wittmayer Baron und der Doyen der jüdischen Geschichte in
Großbritannien, Cecil Roth, zeitlebens gegen eine
"tränenreiche Version" jüdischer Geschichte gewehrt
haben, interpretieren andere, zum Beispiel der
Völkerpsychologe Moritz Lazarus, Leopold Zunz und Heinrich
Graetz die jüdische Vergangenheit als Leidensgeschichte, wenn
auch mit voneinander abweichender Akzentsetzung.
Im ersten Kapitel werden zunächst
Klassiker und Grundmodelle der jüdischen Geschichtsschreibung
vorgestellt. Der Bogen reicht vom emanzipatorischen Ansatz eines
Isaak Markus Jost über den marxistischen eines Raphael Mahler
bis hin zum klassisch-zionistischen eines Haim Hillel Ben-Sasson.
Die Texte des zweiten Kapitels befassen sich mit der Frage, ob die
jüdische Geschichte nur ein zusätzliches Kapitel in der
Weltgeschichte sei oder ob sie einen historisch-theologischen
Sonderweg darstelle. In einem anderen Kapitel wird darauf
hingewiesen, dass sowohl Israel als auch die Diaspora die
jüdische Erfahrungswelt und die Vorstellung von Juden
geprägt haben. Hier geht es vor allem um Migration, Heimkehr
und Heimatlosigkeit.
Während für Jizchak Fritz Baer die
Diaspora, die er mit dem hebräischen Wort "Galut" (Exil)
bezeichnet, durch "Verfolgung, Schimpf und Ratlosigkeit"
gekennzeichnet war, die nur durch die Gründung eines
jüdischen Nationalstaates beseitigt werden konnten, macht
Yosef Hayim Yerushalmi geltend, dass sich Juden im Exil durchaus zu
Hause gefühlt hätten.
Ein weiteres Kapitel geht auf das
Spannungsverhältnis zwischen Integration und Selbstbewahrung
ein. Die einen, so Simon Dubnow, kritisieren die Assimilation. Salo
Wittmayer Baron dagegen, weder Zionist noch Diaspora-Nationalist,
sucht einen Mittelweg zu finden zwischen Gleichberechtigung und
Bewahrung. Gerson D. Cohen wiederum streicht den "Segen der
Assimilation in der jüdischen Geschichte" heraus.
Ein zentrales Element in der Wahrnehmung der
jüdischen Geschichte stellen zweifellos die Auswirkungen des
Judenhasses auf die jüdische Identitätsbildung in der
Moderne dar. Bei einigen Juden führten Antijudaismus und
Antisemitismus zur Stärkung ihres jüdischen
Selbstbewusstseins, bei anderen jedoch zu jüdischem
Selbsthass.
Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht der
1819 gegründete "Verein für Cultur und Wissenschaft der
Juden", der die Bewahrung und wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Judentum fördern wollte. Fürchteten wie Leopold
Zunz doch viele, dass spätere Generationen infolge zunehmender
Assimilations- und Säkularisierungsprozesse den Zugang zu
jüdischen Kulturgütern verlieren könnten. Zugleich
sollten die Studien des Vereins eine entscheidende Rolle bei der
"Verbesserung der Juden" spielen, zu ihrer Integration in der
allgemeinen Gesellschaft beitragen und Nichtjuden eine Tür zur
jüdischen Kultur öffnen.
Inzwischen haben, laut Gershom Scholem, drei
historische Momente - nämlich der Zionismus, der Holocaust und
die Gründung des Staates Israel - dazu geführt, dass die
Geschichtsschreibung nicht mehr Mittel in der Auseinandersetzung
zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen Umgebung ist, sondern
konstruktiver Teil eines innerjüdischen Diskurses.
In der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts erhielt die Diskussion über die jüdische
Geschichtsschreibung durch Yosef Hayim Yerushalmi, Amos
Funkenstein, Susannah Heschel und Laurence J. Silberstein neue
Impulse - trotz oder gerade wegen ihrer recht gegensätzlichen
Standpunkte. Die mit ausführlichem Anhang von vier
Wissenschaftlern herausgegebenen und ausführlich kommentierten
Texte - darunter befinden sich auch einige bislang schwer
verfügbare Texte - veranschaulichen sehr gut die Bandbreite
unterschiedlicher Positionen zur jüdischen Geschichte und
schärfen Blick und Sensibilität für deren
Komplexität.
Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon
Reuveni, Nils Römer (Hrsg.)
Jüdische Geschichte lesen.
Texte der jüdischen Geschichtsschreibung
im 19. und 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2003; 447 S.,
29,90 Euro
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