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Ursula Homann
Ein gewöhnliches Ereignis?
Nachkommen des Holocaust
Kinder von Holocaust-Überlebenden mussten oft
Großeltern und andere Verwandte entbehren, da diese die Nazis
ermordet hatten. Einige von ihnen kamen auf die Idee, sich
Verwandte zu erfinden. So auch der Ich-Erzähler in Amir
Gutfreunds Roman "Unser Holocaust". Allerdings nahmen er und seine
Altersgenossen es mit der selbst geschaffenen Verwandtschaft nicht
allzu genau. Alle, die das entsprechende Alter hatten, wurden
"Onkel" und "Tante" genannt, ihre Kinder "Cousins" und "Cousinen".
Dabei wurden durchaus auch gewisse Regularien beachtet. Die
Generationen mussten einander ungefähr dasselbe Gefühl
von Nähe entgegenbringen.
Die Kinder benötigten vor allem Großeltern. Deshalb
sammelten sie so viele Großeltern ein, wie sie nur konnten.
Für den Vater des eigenen Vaters erkor sich der
Ich-Erzähler dessen Neffen Lolek und Cheinek zu
Großvätern. Ähnlich verfuhr er mit den Verwandten
der Mutter. Ihrem Vater, dem kranken Großvater Schalom, dem
Letzten aus der Holocaust-Generation, der durch eine von der
Gestapo ausgelöste Krankheit vor sich hin vegetierte, stellte
man einen entfernten Verwandten als Verstärkung zur Seite,
Großvater Menasche. Bei anderer Gelegenheit erwarben die
Kinder noch Großvater Ernst, Großmutter Eva und
Großvater Will. Der wichtigste war zweifellos Großvater
Josef, der jeden aufkommenden Streit zu schlichten verstand.
"Hauptsache keinen Streit, ihr Juden", hieß seine Devise.
In dem Viertel, in dem Großvater Josef mit seiner Frau
Feijge und anderen Überlebenden wohnte, war die vergangene
Tragödie allgegenwärtig. Zu Hause verlief das Leben
dagegen normal. Waren doch die Eltern während des Nazi-Terrors
jung genug gewesen, um sich hinterher wieder zu "berappeln".
Letztlich hatte der Holocaust zwei Erscheinungsformen: der eine
wurde bei Feierstunden in der Schule beschworen und bestand aus
Fackeln, schwarzer Pappe und sechs Millionen. Der andere war der
familieninterne Holocaust, der nicht die sechs Millionen, aber
einen kleinen Personenkreis umfasste, den man kannte. Doch eine
wichtige Regel musste die nachkommende Generation beherzigen. Sie
musste warten, bis sie alt genug war, ehe sie die schrecklichen
Dinge, die den Älteren widerfahren waren, zu hören bekam.
Schließlich wollte man verstehen, warum Effis Mutter nachts
weinte und warum sich die Nummern von Onkel Anteks Handrücken
nicht abreiben ließen.
So errichteten sich die Zwölfjährigen nach und nach
eine eigene zusammengewürfelte Welt des Holocaust, ohne
freilich aus dem angehäuften Material ein klares Bild zu
bekommen. Gleichwohl spielte man Buchenwald, fastete und trank
nichts. Als die "Wie-Enkel" ihre Kindheit beendet und schon ein
wenig ihr Interesse am Holocaust verloren hatten, begann das
große Erzählen, über den Untersturmführer Kurt
Franz, der erst 1959 vor Gericht gestellt worden war, über
Franz Rademacher, den Schreibtischmörder, und andere
NS-Täter. Der Erzähler - er ist mittlerweile verheiratet,
hat einen Sohn, der erste Golfkrieg bricht aus - reist mit seinem
Vater nach Polen, um die Wurzeln der Familie zu suchen.
Und endlich gibt auch Großvater Josef seine Geschichte
preis, mit allen Einzelheiten, langsam und bedächtig. Er
erzählt haargenau von seinen Erlebnissen im Ghetto von Lodz,
von der Gestapo, von seiner Gefangenschaft in Ravensbrück, von
harter Arbeit, schweren Krankheiten, von Sachsenhausen, von der
Hölle im Lager Dora-Mittelbau, von Buchenwald und davon, dass
ein anderer namens Rothschild für ihn in den Tod ging. Der
Erzähler bringt anschließend alle Geschichten zu Papier,
liest unzählige Zeugenaussagen von Holocaust-
Überlebenden und erkennt, dass es im Grunde genommen nicht
viele Geschichten gibt, sondern nur eine Unsumme von Versionen ein
und derselben Geschichte. Der Holocaust war, so lautet sein Befund,
ein ganz gewöhnliches Ereignis. "Gewöhnliche Menschen
hatten ihn begangen, und gewöhnliche Menschen waren seine
Opfer."
Der Roman bietet einige bemerkenswerte Aspekte. Doch wartet er
mit so vielen Geschichten auf, dass man höllisch aufpassen
muss, um sich in ihnen nicht zu verirren. Auch ist er ziemlich
weitschweifig angelegt, so dass sich nur wenige Leser von ihm
angesprochen fühlen dürften, es sei denn, sie lesen den
Band aus wissenschaftlichem Interesse.
Amir Gutfreund
Unser Holocaust. Roman.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Berlin Verlag, Berlin 2003; 634 S., 19,90 Euro
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