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Manfred Funke
Die Juden nicht nach Madagaskar
Eine umfassende Studie über die
"Endlösung"
Am 27. Januar 1945 erreichte die Rote Armee Auschwitz. Bald
wurde dieser Ort zur Chiffre für die Vernichtung des
europäischen Judentums. Hitler setzte sein rassistisches
Programm zwischen 1939 und 1942 um. Voraussetzung war die
militärische Okkupation entlegener Territorien als
Deportationsareale. Sie waren nach den Siegen in Russland ab
Spätsommer 1941 verfügbar.
Den vermeintlichen Triumph über Stalin vor Augen,
verwandelten Hitler, Himmler, Heydrich den bisherigen, von
Einsatzgruppen begangenen selektiven Mord zum "totalen Massenmord"
(Browning). Im "Laboratorium Polen" hatte man das Töten zuvor
erprobt. Von einer technisierten Vernichtung versprach sich Himmler
nicht nur höhere Effizienz, sondern auch eine geringere
psychische Destabilisierung seiner Vollstrecker.
Den gesamten Prozess dieser rassistischen Radikalisierung stellt
Christopher Browning (University of North Carolina) ins Zentrum
seiner Recherchen zur Rekonstruktion der "twisted road to
Auschwitz" (Karl Schleunes) von der Aussiedlung über die
Austreibung zur Ausrottung der Juden. Browning sichert unter
Assistenz von Jürgen Matthäus (US Holocaust Memorial
Museum) mit großer investigativer Disziplin auch die letzten
Spuren des Infernos. Allein 195 Seiten umfassen die Belegstellen
und Literaturverweise. Die Darstellung selbst fügt alle
Ermittlungsergebnisse vom Kriegsbeginn bis zur Installation der
Vernichtungslager aneinander. Das Wissen darüber bündelt
Browning zur summa historica des Holocaust. Ersichtlich wird daraus
ein hohes explosives Gemisch an Vernichtungspotentialen. Die Frage
nach dem schriftlichen Führer-Befehl zur Endlösung
erübrigt sich. In den diversen Dienststellen konkurrierten die
willigen Vollstrecker um Exekution des vermuteten
Führerwillens. Wehrmacht, SS und Polizei blockieren einander
nicht bei der Liquidierung von Juden, Kommunisten, Partisanen. Zur
"nationalen Selbstreinigung" werden Antisemiten in Litauen,
Serbien, Ostgalizien, Rumänien, in Frankreich und den
Niederlanden ermuntert.
Die "Rassefront"
Hitler selbst beabsichtigte die Deportation der Juden aus dem
Reich ursprünglich erst nach dem Krieg. Doch ab 15. Oktober
1941 rollten die Züge aus Prag, Wien und Berlin nach Osten. Am
23. Oktober wurden alle Auswanderungstore offiziell geschlossen.
Offenbar im Scheitelpunkt von Hitlers Erwartung der sowjetischen
Niederlage (14. Juli) und seiner Einsicht in das Scheitern des
Blitzkriegs (19. November) wurde die "Rassefront" vom
kriegswichtigen zum kriegsentscheidenden Strategiekonzept
aktiviert.
In Goebbels Tagebuch heißt es: "An den Juden wird ein
Strafgericht vollzogen, das zwar barbarisch ist, das sie aber
vollauf verdient haben. Die Prophezeiung, die der Führer ihnen
für die Herbeiführung eines neuen Weltkriegs mit auf den
Weg gegeben hat, beginnt sich in der furchtbarsten Weise zu
verwirklichen." Längst waren auf der Wannsee-Konferenz (20.
Januar 1942) die Maßnahmen zur Endlösung abgesprochen,
als der "Judenreferent" im Auswärtigen Amt, Franz Radermacher,
am 10. Februar auch formell die Akten zur Prüfphase
alternativer Lösungswege schloss: "Der Krieg gegen die
Sowjetunion hat inzwischen die Möglichkeit gegeben, andere
Territorien für die Endlösung zur Verfügung zu
stellen. Demgemäß hat der Führer entschieden, dass
die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben
werden sollen. Madagaskar braucht nicht mehr für die
Endlösung vorgesehen zu werden."
Brownings Studie endet mit den Ereignissen im März 1942.
Sie bildet das Mittelstück einer geplanten mehrbändigen
Edition zum Holocaust. Diese soll, so die Herausgeber, dem
"für die wissenschaftliche Welt charakteristischen
Pluralismus" der Blickwinkel und Bewertungen verpflichtet sein.
Damit bekäme die dreibändige große
"Enzyklopädie des Holocaust" (deutsche Edition 1993 von
Jäckel, Longerich, Schoeps) ein historiografisches
Zentralregister im Prosa-Gewand. Ohne apologetischen
Faltenwurf.
Christopher Browning
Die Entfesselung der "Endlösung".
Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 - 1942.
Propyläen Verlag, München 2003; 832 S., 35,- Euro
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