Ulrich Rosengarten
Die Gräben sind tief - und keiner
schüttet sie zu
Die Europäische Union und Russland - eine
schwierige Partnerschaft
Die Beziehungen der EU zu Russland hatten - im
Unterschied zu den westlichen GUS-Staaten Belarus, Ukraine und
Moldawien, stets eine besondere Qualität. Dies ergab sich aus
der flächenmäßigen Größe und
Bevölkerungszahl dieses Landes - durch Sibirien ein Kontinent
für sich. Russland bleibt daher für die EU ein Problem.
Nicht allein wegen seiner Ausdehnung bis in den Fernen Osten, nicht
nur, weil Russland nur zu einem relativ geringen Teil als
"europäisches" Land bezeichnet werden kann, besteht das
politische und wirtschaftliche, aber auch kulturelle Problem seiner
Beziehungen zum "übrigen" Europa.
Die EU-Aufnahme religiös oder
zivilisatorisch überwiegend "westlich" geprägter Staaten
droht eine neue, geistesgeschichtlich beunruhigende Trennlinie
entlang der Ostgrenze der neuen Beitrittsländer entstehen zu
lassen, eine Konfrontation des westlichen Europa mit dem
führenden Land der Orthodoxie, wie dies Samuel Huntington in
seinem "Kampf der Kulturen" plakativ dargelegt hat.
Russland als geopolitischer Sonderfall, als
gewaltiges Land mit geistlich-orthodoxen,
autokratisch-nichtdemokratischen Traditionen, begegnete immer
wieder west- und mitteleuropäischem Misstrauen. Weder
wäre Russland auf absehbare Zeit mit der Schwäche seiner
staatlichen Institutionen, Vernachlässigung der
Menschenrechte, Unterdrückung von Minderheiten, wie in
Tschetschenien, politisch auf die Konditionalität einer
EU-Mitgliedschaft vorbereitet. Noch scheint das Land wirtschaftlich
und finanziell trotz mancher Fortschritte derzeit in der Lage,
durch Modernisierung und Liberalisierung seine Probleme beim
Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft kurz- oder
mittelfristig eigenständig so zu lösen, dass seine
Wirtschaft dem Druck marktwirtschaftlichen Wettbewerbs standhalten
könnte.
Die EU wäre völlig
überfordert
Seine gegenwärtige innen- und
wirtschaftspolitische Situation macht die Unmöglichkeit
deutlich, politisch oder wirtschaftlich die "Kopenhagener
Kriterien" und damit die Konditionen für eine Mitgliedschaft -
die ohnehin größenmäßig die EU
auseinandersprengen würde - oder auch nur Assoziierung
erfüllen zu können. Ihrerseits wäre die EU im
hypothetischen Falle eines EU-Beitritts Russlands finanziell,
wirtschaftlich und auch institutionell mit einem Versuch einer
Lösung der russischen staatlich-institutionellen, politischen,
rechtlichen, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Finanzprobleme
völlig überfordert.
Die raison d`etre der EU, als Gemeinschaft
demokratischer, gleichberechtigter europäischer Staaten,
wäre angesichts des Übergewichts des russischen
Bären hinfällig. Sie ist bereits durch einen
möglichen Beitritt der Türkei bedroht.
Kommissionspräsident Prodi hat hierzu im Mai 2002 in Moskau zu
Recht erklärt, Russland sei ein "wesentlicher Teil" Europas,
doch würde sein Beitritt die "Natur der EU selbst"
verändern. Für eine engere Verbindung Russlands mit der
EU müssen daher andere prozedurale Wege als ein EU-Beitritt
gefunden werden, sollten die bisherigen vertraglichen
Vereinbarungen nicht ausreichen. Es ist in der EU allerdings
unstrittig, dass Russland kulturell-zivilisatorisch zu Gesamteuropa
gehört. Seine großen Schriftsteller sind
unveräußerlicher Bestandteil europäischen
Kulturerbes.
Eine engere Bindung Russlands an dieses
Europa reicht daher weiter als seine wirtschaftlich-politische
Anbindung an die EU. Sie ist auch ein kulturell-zivilisatorisches
Vorhaben. Russland ist wirtschaftlich der EU eng verbunden. Die EU
ist heute Russlands größter Handelspartner mit einem
Anteil von mehr als 40 Prozent am russischen
Außenhandel.
Dieser Anteil würde im Volumen mit der
EU-Osterweiterung, also unter Einbeziehung etwa des
polnisch-russischen Handels auf mehr als 50 Prozent wachsen. 52
Prozent der Direktinvestitionen in Russland stammen derzeit aus der
EU. Diese enge Verzahnung Russlands mit der EU und ihren neuen
Mitgliedstaaten macht deutlich, dass das künftige Europa der
27 eine Strategie finden muss, die eine Isolierung Russlands als
Folge der Osterweiterung vermeidet.
Eine solche Isolierung würde
zwangsläufig dann eintreten, wenn Russland von den
wirtschaftlichen Impulsen und damit der immer stärker
werdenden Attraktivität der Osterweiterung ausgeschlossen
bliebe. Bereits durch die "Europaabkommen" vorbereitet, wird sich
der Adaptionsprozess der neuen EU-Mitglieder an die Rechtsnormen
der EU rasch vollziehen, ihre Bindung an die alten 15
Mitgliedstaaten und an die EU selbst festigen.
Russland wäre von der mit diesem
Modernisierungs- und Transformationsprozess verbundenen
wirtschaftlichen Dynamik abgeschnitten und auch in seinem
traditionellen Handelsaustausch beeinträchtigt. Hinzu kommt
die Drohung des Schengen-Regimes mit seiner Forderung nach strikter
Kontrolle und Abschirmung der künftigen EU-Ostgrenze, worauf
Putin beim Petersburger EU-Russland-Gipfel dezidiert mit der
Bemerkung hinwies, niemand wolle, dass aus der "Schengener Wand"
eine "Berliner Mauer" werde und Visafreiheit ab 2007
verlangte.
Ungeachtet einer Reihe seit 1989 zwischen der
EU und Russland zustande gekommener politischer Erklärungen
und wirtschaftlicher Vereinbarungen, die eine Einbeziehung
Russlands in die europäische Wertegemeinschaft sowie eine
engere wirtschaftliche und handelspolitische Kooperation zum
Gegenstand hatten, ist bisher eine klare Perspektive für eine
konstruktive Weiterentwicklung der Beziehungen schwer zu
erkennen.
Daran haben auch die in ihrer Substanz eher
mageren Abschlußssdeklarationen der EU-Russland-Gipfel von
Petersburg (Mai 2003) und Rom (November 2003) wenig geändert.
So sprach etwa das Petersburger Abschlussdokument das Problem einer
Isolierung Russlands durch die Osterweiterung lediglich mit der
Absichtserklärung an, man wolle "ein neues Europa ohne
Trennlinien" aufbauen. Eine Aufwertung des durch Artikel 90 des
Abkommens über Partnerschaft und Kooperation (PKA) von 1994
eingesetzten Kooperationsrats zu einem "Ständigen
Partnerschaftsrat" war kaum mehr als ein optisches Entgegenkommen
gegenüber diesbezüglichen russischen Wünschen. Auch
scheint seine Implementierung derzeit ausgesetzt.
Meinungsunterschiede gibt es offenbar in der
Frage der WTO-Fähigkeit Russlands und entsprechenden
russischen Wünschen sowie zu Modalitäten der Ausdehnung
des PKA auf die neuen EU-Staaten. Das bereits 1997 in Kraft
getretene PKA stellte zweifellos einen wichtigen
Annäherungsschritt der EU dar, um mittels verbesserter
Handels- und kooperativer Wirtschaftsbeziehungen Russland durch
einen Transformationsprozess die schrittweise Anpassung an den
europäischen Binnenmarkt zu erleichtern. Von den im PKA
vorgesehenen partnerschaftlichen Zielsetzungen zur Entwicklung
enger Beziehungen blieb der im Kooperationsrat institutionalisierte
politische Dialog jedoch im Grunde ohne substanzielle Ergebnisse,
wie an der Tschetschenien-Frage deutlich wurde, wo europäische
Proteste auf russische Intransigenz stießen.
Lediglich in der strittigen Einzelfrage der
Transitvisen für Kaliningrad konnte eine Lösung erreicht
werden (kein Transitvisum, sondern litauisches Reisedokument). Bei
wichtigen wirtschaftspolitischen Themen wie Transformation und
Investitionen kam es zu keiner echten Annäherung. Das im PKA
(Artikel 3) genannte Ziel einer Freihandelszone zwischen den
Vertragsparteien blieb angesichts der schwierigen Reformlage in
Russland problematisch. Im Vorfeld des Petersburger
EU-Russland-Gipfels hatte die Kommission am 11. März 2003
Vorschläge für Nachbarschaft in einem größeren
Europa vorgelegt, mit denen "ein neuer Rahmen für die
Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen
Nachbarn" geschaffen werden soll.
Der Kommission ging es bei ihren
Vorschlägen um zukünftige Nachbarstaaten, "die derzeit
kein Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU haben". In Osteuropa
sind diese "neue Nachbarn" Russland und die drei anderen westlichen
GUS-Staaten (Belarus, Ukraine, Moldawien). Ihnen wird eine
intensivierte Zusammenarbeit und Unterstützung in Aussicht
gestellt ,um einen "Ring von Freunden" an den künftigen
östlichen Außengrenzen der EU zu schaffen und neue
Trennungslinien in Europa zu vermeiden.
Zu diesem Zweck soll Russland und den drei
anderen westlichen GUS-Staaten "die Teilnahme am Binnenmarkt der EU
und weitere Integration und Liberalisierung zur Förderung der
Freizügigkeit und des freien Waren-, Dienstleistungs- und
Kapitalverkehrs" angeboten werden. Mit dieser "neuen Vision" eines
EWRartigen offenen und integrierten Markts würde Russland -
laut Interpretation von Kommissionspräsident Prodi - so eng
der EU angenähert, wie dies ohne EU-Mitgliedschaft
möglich wäre.
Damit wird die Absicht der Kommission
erkennbar, Russland und andere GUS-Staaten als Kooperationspartner
wirtschaftlich und politisch an die EU zu binden, ohne wie etwa in
Südosteuropa ihnen hierfür die spätere
EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Als nächster Schritt
ist hierfür seitens der EU ein individueller "Aktionsplan"
für Russland mit konkreten Maßnahmen für eine
differenzierte Zusammenarbeit in einer Reihe von Bereichen
vorgesehen.
Voraussetzung für den mit diesem Konzept
anvisierten Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum der vier
Binnenmarktfreiheiten bleibt für die EU jedoch der
nachgewiesene konkrete Fortschritt bei der "Verwirklichung der
gemeinsamen Werte" (auch der Menschenrechte) und bei der effektiven
Umsetzung politischer, wirtschaftlicher und institutioneller
Reformen. Zudem sieht die Kommission diese neue
Nachbarschaftspolitik als ergänzenden Anschluss an die
bestehende strategische Partnerschaft mit Russland, deren Grundlage
das PKA bildet.
Die volle Implementierung des bisher nicht
hinreichend umgesetzten PKA, insbesondere die Angleichung der
Rechtsregeln, bleibt für die Kommission Vorbedingung für
die von ihr längerfristig angebotene EWRähnliche neue
politische und wirtschaftliche Konstruktion neuer Partnerschaft,
die Russland eine Art Kompensation zu der Osterweiterung bieten
soll. Für die notwendige Transformation der russischen
Volkswirtschaft besteht die Kommission zu Recht auf strikter
Umsetzung und voller Anwendung des PKA.
Beseitigung von Relikten
Ob das noch eher vage Konzept eines
EWR-ähnlichen Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums
als weitere Zielsetzung angesichts der bisher unzureichenden
Implementierung des PKA durch die russische Politik und
Administration in der Folge auch realisiert werden kann, scheint
indessen fraglich. Es geht schließlich darum, die russische,
noch mit sowjetischen planwirtschaftlichen Relikten und
rechtsstaatlichen Schwächen behaftete Wirtschaft auf den
fortgeschrittenen Integrationsraum der EU einschließlich der
Freiheiten des Binnenmarkts auszurichten; eine Konvergenz von
Vorschriften und Gesetzen in Schlüsselbereichen zu erreichen
und schließlich, für die europäische Industrie
besonders wichtig, im Vorgriff auf den bisher nicht erreichten
WTO-Beitritt Russlands um die Beseitigung von Hindernissen für
Handel und Investitionen.
Angesichts der immensen rechtlichen und
praktischen Probleme,die sich hieraus für Russland ergeben,
werden echte Fortschritte wohl nur langfristig zu erreichen sein.
Die Vision eines Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums mit
Russland ist daher wenig realistisch. Gegenwärtig dürfte
dieses hochgesteckte Ziel mehr als ein politisches Signal der EU
für ein größeres Europa denn als taugliches
wirtschaftspolitisches Integrationsinstrument zu bewerten sein.
Damit verbleibt für eine kurz- und mittelfristige
Intensivierung der wirtschaftlichen, aber auch politischen
Beziehungen zu Russland für die EU eine möglichst
konditionierte Zug-um-Zug-Politik im Rahmen des PKA als
institutionellem Hebel.
Auch sind andere Möglichkeiten der
Kooperation nicht immer hinreichend ausgeschöpft worden. So
zeigt der sich seit sechs Jahren hinziehende "Energiedialog", der
das für die EU wichtigste Element der wirtschaftlichen
Kooperation mit Russland zum Gegenstand hat, wegen konträrer
Positionen keine nennenswerte Fortschritte, wenn sich auch einzelne
europäische Großunternehmen wie BP, Royal Dutch und
Ruhrgas an russischen Erdöl- und Erdgasunternehmen beteiligen
konnten. Allerdings dürfte sich die offensichtlich aus
politischen Gründen erfolgte willkürliche Verhaftung des
international bekannten russischen Erdölgroßindustriellen
Chodorkowkij zukünftig eher negativ auf die
Investitionsbereitschaft europäischer Energieunternehmen in
Russland auswirken.
Erdöl- und Erdgasexporte
Auch wurde die Europäische Energiecharta
von Rußland bisher nicht ratifiziert, obwohl die EU 53 Prozent
des Erdölexports Russlands und 62 Prozent seiner Erdgasexporte
aufnimmt und damit Hauptabnehmer des russischen Energieexports ist.
Russland strebt eine energiepolitische Interdependenz an, um sich
den Absatzmarkt EU möglichst weitgehend zu sichern,
während die EU, um Abhängigkeiten zu vermeiden, am
Prinzip einer diversifizierten Energieversorgung
festhält.
Die derzeitige Stagnation in den Beziehungen
zwischen der EU und Russland lässt erkennen, daß seit
Mitte der 90er-Jahre relativ wenig geschehen ist, um die wiederholt
postulierte Absicht, in Europa keine neuen Trennungslinien
entstehen zu lassen, in der Praxis auch zu
verwirklichen.
Mit der Anerkennung Russlands als
"funktionierende Marktwirtschaft" durch Kommissionspräsident
Prodi im Mai 2002 und der neuen EU-Nachbarschaftspolitik vom
März 2003 wurden von der Kommission zwar positive Impulse
für eine engere marktwirtschaftliche Zusammenarbeit gegeben.
Russland müsste hierfür jedoch die seit langem
überfälligen Änderungen seiner Rechtsordnung und
grundlegende Strukturreformen vornehmen. Der von Putin
verkündete innere Wandel zu Demokratie und Marktwirtschaft
wäre andernfalls weder glaubhaft noch praktikabel. Ohnehin hat
das Ergebnis der Duma-Wahl vom Dezember 2003 zur Schwächung
der marktwirtschaftlich orientierten politischen Kräfte und
damit der von diesen unterstützten Strukturreformen
beigetragen.
Hindernis für Kooperation
Auch scheint die von Russland initiierte
Gründung eines "Einheitlichen Wirtschaftsraums" der vier
GUS-Staaten Russland, Ukraine, Kasachstan und Belarus am 18.
September 2003 in Jalta, der faktisch auf die Bildung einer Art
Zollunion hinauslaufen könnte, neuerdings ein Hindernis
für eine zukünftig mehr marktwirtschaftlich ausgestaltete
Kooperation mit der Europäischen Union aufzurichten und eine
Rückkehr zu früheren postsowjetischen
Integrationsversuchen anzuzeigen.
Russland sollte jedoch verstehen, dass nur
durch Brückenschlag zur Rechts- und Wirtschaftsordnung der EU
dem Aufreißen einer sich negativ auswirkenden Trennlinie
zwischen den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedern
und Russland vorgebeugt werden kann. Letztlich müssen in den
Beziehungen angesichts der Osterweiterung beide Seiten
substantieller, flexibler und damit aktiver werden, um Russland den
ihm angemessenen wichtigen Platz in einem durch die
EU-Osterweiterung neugestalteten Europa finden zu
lassen.
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