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Claudia Heine
Das Erlebte weitergeben
Gedenkstunde im Bundestag
Das ?Niemals wieder' hat noch nie gereicht, um künftige
Generationen zu schützen. Es braucht mehr als Worte, mehr als
Resolutionen, mehr als gute Absichten." Simone Veil sprach diese
Sätze vor versammelten Abgeordneten und Ehrengästen, als
Hauptrednerin der diesjährigen Gedenkstunde des Deutschen
Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus. Sie, die
Auschwitz überlebt und von 1979 bis 1982 als erste
Präsidentin des Europäischen Parlaments amtiert hat,
richtete diese Worte aber auch an die deutschen, französischen
und polnischen Jugendlichen, die von der Besuchertribüne aus
die feierliche Zeremonie beobachteten.
Auf Einladung des Bundestages nahmen sie an einer
mehrtägigen internationalen Jugendbegegnung teil, die zum
Konzept des 1996 geschaffenen Gedenktages dazugehört. Die
"guten Absichten" werden hier konkret, die Jugendlichen erhalten
die Möglichkeit, sich direkt mit der Geschichte auseinander zu
setzen. In diesem Jahr beschäftigten sie sich mit dem
Schicksal von 44 jüdischen Kindern, die in dem Dorf Izieu bei
Lyon versteckt worden waren und 1944 von der Gestapo nach Auschwitz
deportiert und dort ermordet wurden. Sie besuchten die
Gedenkstätten in Izieu und Auschwitz und tauschten ihre
Erfahrungen in gemeinsamen Workshops in Berlin aus.
Im Anschluss an die Gedenkstunde trafen sich die Schüler zu
einer Diskussion, an der neben Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse und Simone Veil auch Christoph Heubner, der
Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees und die
Leiterin des Gedenkstätte in Izieu, Geneviève
Eramuzpé, teilnahmen.
Mehr als Lippenbekenntnisse
Dass es den Jugendlichen in ihrem historischen Interesse um mehr
ging als um Lippenbekenntnisse, zeigte gleich ihre erste Frage:
"Was ist der Zweck einer solchen Gedenkstunde, einer solchen
Zeremonie?" Wolfgang Thierse, an den sie sich zuerst richtete,
knüpfte in seiner Antwort an Simone Veil an: "Die BRD gedenkt
in ihrem höchsten Gremium der Toten des Nationalsozialismus.
Das ist das erste und wichtigste. Es geht aber auch darum, dass
dieser offizielle Vorgang Anregung ist über das Gedenken zu
einer moralischen Verpflichtung für die Gegenwart zu
gelangen." Eine Verpflichtung, die die anwesenden Jugendlichen
längst in ihren Alltag integriert haben. Denn die Einladung
nach Berlin ist eine Auszeichnung für ihr Engagement in
verschiedenen Gruppen und Verbänden, die sich gegen Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit stark machen.
Auch Simone Veil bezog ihr eigenes politisches Engagement
für ein geeintes Europa auf diese Vergangenheit und der daraus
resultierenden Einsicht, dass nur im friedlichen Miteinander
katastrophale Entwicklungen wie die des Nationalsozialismus
vermieden werden können. Das setzt zunächst jedoch einen
Erkenntnisprozess voraus, der in den letzten Jahrzehnten nicht
immer einfach war und mit dem sie selbst als Zeitzeugin
schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat: "Es war nicht leicht, unser
Zeugnis anzunehmen. Lange Zeit wollten die Leute es nicht
hören und wir wollten, dass sie es hören. Wir wollen die
Emotionen unseres Erlebten weitergeben, und nur wir können das
tun."
Die Gebäude können uns nichts sagen
Für die vor ihr sitzenden Jugendlichen barg aber gerade die
Begegnung mit Zeitzeugen und deren Emotionen das Wesentliche. Eine
polnische Schülerin resümierte den Besuch der
Gedenkstätte in Auschwitz: "Die Gebäude allein
können uns nichts sagen. Im Grunde können uns nur
Menschen, die dort waren, erzählen, wie es ist, 18 Stunden im
Schnee zu stehen, oder was es dort für Gerüche gab. Wir
können zwar Zahlen auswendig lernen, aber die können uns
das Geschehen nicht wirklich vermitteln." Diesen Gedanken griff
Simone Veil lebhaft auf und sprach damit die Schwierigkeiten
solcher Gedenkstätten an: "Ich war vor kurzem in Auschwitz und
muss sagen: Es ist schwer, man kann fast niemanden mehr dorthin
führen. Es sieht aus wie in einem Park, es war warm und nichts
erinnert einen mehr daran, wie es mal war." Hier beginnt die
Vermittlungsarbeit der Zeitzeugen, "die es uns auf eine emotionale
Weise rüberbringen können, mit einer Kraft, die uns sagt,
dass wir das Vermächtnis weitertragen müssen", meinte ein
junger Deutscher.
Wie aber setzt man so ein Vermächtnis in der Politik um?
Muss es eine Ethik in der Politik geben? Fragen, die eine
französische Schülerin an Simone Veil richtete: "Ethik in
der Politik ist natürlich ein ganz schwieriges Thema. Das
erste, was man machen muss, ist, die Ereignisse selber zu kennen,
aber das ist Geschichte und nicht Ethik", antwortete die Gefragte.
Politik bestehe aber zu einem erheblichen Teil aus Banalisierungen
und einem Negationismus, dem man widerstehen müsse,
erklärte sie ihren jugendlichen Zuhörern. Das zeige sich
gerade im Umgang mit einem historischen Verbrechen, wie es die
Nazis begangen hätten: "Auschwitz wird mittlerweile als
Referenz für alles benutzt, und das ist eine Art von
Negationismus in der Politik." Und noch etwas energischer im
Tonfall fügte sie an: "Die Verbrechen in Bosnien und die von
Auschwitz sind nicht das Gleiche."
Einer internationalen Perspektive auf die Vergangenheit stehen
solche Polarisierungen eher im Weg, das machten alle Beteiligten
deutlich. Als die Jugendlichen am Ende nach einem Resümee der
diesjährigen Begegnung gefragt wurden, bemerkte eine polnische
Schülerin: "Der grenzüberschreitende Austausch hilft,
Stereotype zu überwinden. Wir sind die Zukunft Europas und wir
bauen dieses Europa und das geht nur gemeinsam." Und auch wenn der
Anlass ernst war, so machten die Schüler deutlich, dass es -
neben den inhaltlichen Diskussionen - auch schön gewesen sei,
gemeinsam Spaß zu haben.
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