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Uwe Thaysen
Es waren Parlamentarier, die sich der
europäischen Sache und der Demokratie annahmen
Andreas Maurer erhält den
Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages: Die Demokratisierung
Europas ist kein Nullsummenspiel zwischen den
Parlamenten
Für das, was den nationalen Parlamenten heute noch
verfügbar ist, und das, was ihnen künftig übrig und
zugleich aufgetragen bleibt, ist die Entwicklung der politischen
Integration und Kooperation in Europa von maßgeblicher
Bedeutung. Kein Wunder also, dass die Jury zur Vergabe des
Wissenschaftspreises 2003 des Deutschen Bundestages ihr Augenmerk
einmal mehr auf eine Arbeit zu diesem bedeutsamen Themenkomplex
gerichtet hat.
Der Jury imponiert, dass Andreas Maurer über die bisher
schon umfassende Literatur nochmals weit hinauszugehen vermochte.
Maurer ergänzt die überwiegend rechtswissenschaftlichen
Schriften um eine primär empirische Untersuchung. In seinem
jetzt prämierten Werk untersucht er zum einen - auf der Ebene
der EU - Willensbildung und Wirkung des Europäischen
Parlamentes im Gefüge der EU-Institutionen. Zum anderen
analysiert er - auf der weiten und nicht minder komplexen Ebene der
EU-Staaten - die europawärtige Politik aller 15 nationalen
Parlamente: ihren Einfluss in europarelevanten Materien nicht nur
auf die Exekutiven in den heimischen Hauptstädten, sondern
auch auf die Kommission und den Rat in Brüssel. Damit nicht
genug, weist er nach und erklärt seinen Lesern, wie die 16
Parlamente der beiden Ebenen zusammenwirken.
Er selbst klassifiziert seine außerordentlich
materialreiche Studie als einen Beitrag zur Erforschung des in
Europa mittlerweile zunehmend selbstverständlich praktizierten
"Mehrebenenparlamentarismus". Maurer hat sich dieser weltweit
einzigartigen und vergleichsweise neuen politischen Praxis wie kein
Autor vor ihm angenommen. Insofern würdigt die Jury eine
einschlägige und neue Erkenntnisse bereitstellende Studie zur
Bestandsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in
Europa.
Maurers Darlegungen erstrecken sich schwerpunktmäßig
auf die zwölf Jahre von der Einheitlichen Europäischen
Akte (1986/87) bis zum Vertrag von Amsterdam (1998, inklusive
dessen Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente).
Genau wie nie zuvor wissen wir nun auf breitem letztmöglichem
Stande, welche institutionellen Vorkehrungen wo getroffen wurden
zur parlamentarischen Partizipation auf welcher Ebene, in welchem
Land, in welchem europawärtigen Politikfeld; und wir erfahren,
welche Parlamente wie zusammenwirken.
Maurers Ergebnisse rechtfertigen seine zentrale These, wonach
das viel beklagte Demokratiedefizit in Europa auf dem nun schon
zehn Jahre - seit Maastricht (1993) nämlich - beschrittenen
"Pfad des Mehrebenenparlamentarismus" erheblich verringert werden
konnte. Und Maurer identifiziert die Schaltstellen, an denen
weitere Reformen zur Stärkung des Parlamentarismus anzusetzen
hätten. Das Defizit an Parlamentarismus und damit an
Demokratie in Europa zu reduzieren, ist Maurers normativer
Anspruch.
Methodologisch hat Maurer seine Arbeit mehrfach komparativ
angelegt: teils diachron, also historiographisch in
Längsschnitten vorgehend, teils synchron, also synoptisch
Querschnitte einander zuordnend - so zum Beispiel die Wahrnehmung
der unterschiedlichen Parlamentsfunktionen, die Darstellung der
Parlamentsstrukturen und Parlamentstypen in den Staaten der EU.
Seine Dissertation fällt in das politologische Fach der
Vergleichenden Regierungslehre, dort ist sie an der Schnittstelle
zur Außen- und Internationalen Politik angesiedelt. Von der
geschichtswissenschaftlich sorgfältig "akteurorientierten"
Institutionenanalyse ist es allerdings nur ein kleiner Schritt zum
seriösen Rechtsvergleich - und natürlich auch umgekehrt.
Die interdisziplinär zusammengesetzte Jury ist beeindruckt
davon, dass Maurer seine empirische Komparatistik auf dem Boden
überzeugender Aneignung des nationalen wie des internationalen
Rechts zu leisten verstand. Sowohl qualitativ als auch reichlich
quantifizierend hat Maurer der Parlamentarismusforschung
offengelegt und der Parlamentspraxis kompakt verfügbar
gemacht, was die Volksvertretungen beider Ebenen aus den rechtlich
und institutionell seit Maastricht geschaffenen "Anreizstrukturen"
faktisch gemacht haben.
Maurers Dokumentationen und Ausblicke stellen klar: Es waren
Parlamentarier, es waren die europäischen Parlamente
insgesamt, die sich sowohl der europäischen Sache als auch der
Sache der parlamentarisch fundierten Demokratie annahmen, als beide
- für jedermann sichtbar unsichtbar besonders in Nizza (2000)
- notleidend wurden: Mit dem "Konventsprozess" seit Laeken (2001)
haben die europäischen Volksvertreter einen entschlossen
parlamentarisch gesteuerten und dezidiert parlamentarisch
orientierten Kurs eingeschlagen. Was sie im Sommer 2003 mit dem
Verfassungsentwurf des Konvents zuwege brachten, wird - trotz der
sonstigen Einwände seit Thessaloniki - nicht in Zweifel
gezogen. Dieser Teil der verfassungsrechtlichen Konventsarbeit hat
beste Aussicht, zum tatsächlichen acquis communautaire der EU
zu avancieren - ein Gewinn für den Parlamentarismus in
Europa.
Erwägungen und Empfehlungen, die Maurer im Vorfeld des
Verfassungskonventes anstellte, haben in dessen Beratungen und
Willensbildung Eingang gefunden. Die Jury würdigte mithin
ebenfalls eine wissenschaftliche Leistung von unmittelbar
praktischer Bedeutung.
Dem Europäischen Parlament bescheinigt Maurer einen
relativen Erfolg in der Ausweitung seines Einflusses. Für die
Parlamente der nationalen Ebene vermochte er dagegen kaum
substanziellen Machtgewinne zu registrieren. Offenbar prägen
der Zeitpunkt und die allgemeine Lage in der Phase des Beitritts
der verschiedenen Nationen zur EG/EU das Verhalten ihrer Parlamente
in der EU noch heute. So bescheiden sich die Volksvertretungen der
vorletzten, südlichen, Erweiterungswelle (1986) mit einer
vergleichsweise schwachen Rolle, während die der letzten
Norderweiterung (1995) sich sowohl zu Hause als auch in
Brüssel kritisch und aktiv einmischen. Fordernd und
erfolgreich in diesem Sinne haben vor allem die skandinavischen
Parlamente ihre europawärtigen Selbstbefassungsrechte und
Kontrollinstrumente ausgebaut und eingesetzt. In Deutschland,
Österreich und Finnland besteht heute eine
parteiübergreifende Neigung, vorrangig auf das
Europäische Parlament zu zeigen, wenn es um den
parlamentarischen Abbau des Demokratiedefizites in Europa geht. Die
dänischen, britischen, aber auch die französischen
Abgeordneten ziehen es dagegen immer noch vor, zuerst und vor allem
ihre heimischen Parlamente als Garanten eines parlamentarisch
fundierten Europas zu stärken.
Insgesamt aber ermutigen Maurers Resultate, die Zukunft der
parlamentarischen Demokratie in Europa nicht als Nullsummenspiel zu
begreifen. Viele von uns können und müssen sich wohl
verabschieden von der Annahme einer zwangsläufig negativen
Korrelation zwischen hie Parlamentarisierung Europas und da
Deparlamentarisierung der nationalen Regierungssysteme - so als
könnte die eine Ebene jeweils nur zu Lasten der anderen
gestärkt werden. Umgekehrt heißt dies erfreulicherweise,
dass die Reparlamantarisierung der nationalen Ebene einerseits
nicht zwangsläufig die Stornierung oder gar den Stop der
weiteren Parlamentarisierung Europas anderseits zur Folge haben
muss. Maurer zeigt theoretisch wie praktisch, normativ und
empirisch, dass der Parlamentarismus beider Ebenen zugleich zu
fördern ist und auch tatsächlich gleichzeitig ausgebaut
werden kann. Ein aufmunternder Befund zu Beginn des Jahres 2004, in
dem die nächste Wahl zum Europäischen Parlament
stattfindet.
Uwe Thaysen ist Vorsitzender der Jury des Wissenschaftspreises
des Deutschen Bundestages.
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