Udo Scheer
Umarmungen des Großen Bruders
Briefe, die ins Zuchthaus
führten
Können Gedanken ein Verbrechen sein? In
George Orwells Roman "1984" macht Winston Smith diese bittere
Erfahrung. Er ist am Ende ein gebrochener Mann, der wesenlos in der
Liebe zum "Großen Bruder" aufgeht. Nach der Lektüre von
Orwells Roman konnte diese Fiktion auch für DDR-Bürger
brutale Wirklichkeit werden.
In seinem autobiographischen Buch "Briefe,
die ins Zuchthaus führten" dokumentiert Baldur Haase genau
diese Erfahrung. Während eines deutsch-deutschen
Arbeiterjugendtreffens Ostern 1958 knüpft der
literaturbegeisterte Buchdruckerlehrling Kontakt zu einem jungen
Westdeutschen. In ihrem Briefwechsel übt er zunehmend Kritik
an der DDR. Was er nicht ahnt: er steht unter MfS-Postkontrolle,
seit er sich einem Konstanzer Verlag als Autor anbot und
erwähnte, er wolle in die Bundesrepublik
übersiedeln.
Als sein Brieffreund ihm Owells "1984"
schickt, fotokopiert die Staatssicherheit den Roman, lässt ihn
zustellen und verführt Haase so zur Lektüre. Er ist
fasziniert, wie Orwell vor jeglicher Spielart des Totalitarismus
warnt, diskutiert mit seinem Briefpartner Parallelen in der DDR und
leiht das Buch zwei Freunden aus. Sein Schwager, zugleich "Geheimer
Informant" des MfS, denunziert ihn.
In einer Phase steigender
Flüchtlingszahlen und verschärfter Repressionen trifft es
den 19-Jährigen zur Abschreckung anderer wegen "Verbreitung
staatsgefährdender Hetze". In seiner Eitelkeit hatte er
Notizen und einen ihm zu kritisch erschienenen, nicht abgeschickten
Brief aufbewahrt. Nach der Wohnungsdurchsuchung triumphiert der
Vernehmer: Auch der Versuch sei strafbar. Bei Orwell noch Fiktion,
verschärft hier das Delikt des "Gedankenverbrechens" die
Anklage. Das Urteil: drei Jahre und drei Monate.
Nach seiner Entlassung lebt Haase mit
Angstzuständen und bei banalsten Anlässen in der Furcht,
erneut verhaftet zu werden.1963 heiratet er nach Jena, arbeitet
wieder als Buchdrucker, bis ihn 1970 der "Große Bruder" in
Gestalt der Abteilung Kultur der SED-Bezirksleitung Gera
fürsorglich in die Arme schließt und ihm eine Stelle im
Bezirkskulturkabinett zur Anleitung "Schreibender Arbeiter"
offeriert. Haase taucht dort ab, spielt den Überzeugten, damit
man ihn in Ruhe lässt und wird später beim Studium seiner
Stasi-Akten erfahren, dass er bis 1989 unter Postkontrolle
stand.
Sein nachwirkender Schreck ist ahnbar, wenn
er schreibt: "Sieben Jahre lang hatte die Gedankenpolizei in
Ozeanien Winston Smith wie einen Käfer unter der Lupe
beobachtet. Die Gedankenpolizei der Staatsfirma Honecker &
Mielke beobachtete mich sogar zweiunddreißig
Jahre."
Haase ist nicht der einzige DDR-Bürger,
den Orwells Roman ins Zuchthaus brachte. Um so hervorhebenswerter
ist es, dass der auf Zeitzeugenerinnerungen spezialisierte Berliner
Verlag mit diesem Buch das "Big-Brother"-Prinzip der SED-Macht den
aktuellen Verklärungstendenzen entgegenstellt.
Baldur Haase
Briefe, die ins Zuchthaus führten.
Orwells "1984" und die Stasi.
DDR-Erinnerungen 1948 -1961.
JKL Publikationen Berlin, 2003, 224 S., 19,80
Euro
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