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Balduin Winter
Zwei Slowenen: und schon ein Dichter...
Europäischer Mikrokosmos - eine Zeitreise
durch die slowenische Literatur
Drei mal vier Stunden, dann hat man mit dem Auto
die Hauptachsen des Landes abgefahren. Ein kleines Land also,
zwischen Österreich, Ungarn, Italien und Kroatien
eingepuffert, mit vielfältigen Kleinlandschaften alpinen,
pannonischen, mediterranen Zuschnitts. Und die Slowenen?
Zahlenmäßig gering, gerade ein mal die Einwohnerzahl von
Hamburg und Bremen zusammen; ein Fünftel wohnt in der
Hauptstadt Ljubljana, durchströmt von der kleinen Ljubljanica,
die von einem See gespeist wird, der im Sommer verschwindet.
Immerhin hat der erste postmoderne Architekt, Joze Plecnik, die
Stadt in den 30er-Jahren gestaltet.
Slowenien ist Land voller Geschichte, als
souveräner Staat erst 1991 aufgetaucht, ein kleines Volk mit
einer kleinen, wiewohl alten Sprache mit 36 Dialekten. Und einer
Literatur, die viel beigetragen hat zur Wende in Jugoslawien, wie
überhaupt die Literatur in Slowenien eine Stellung einnimmt,
von der man hier zu Lande nur träumen kann. Es gibt 150
Verlage, die jährlich etwa 2.500 Titel herausbringen. Nicht
umsonst lautet ein slowenisches Bonmot: "Zwei Slowenen: ein
Dichter; drei Slowenen: ein Verleger."
Die Sprache war es, die, wie so oft bei
kleinen Völkern, Identität stiftete. "Slowenien" als
politische Einheit existierte lange Zeit überhaupt nicht; eine
frühe Eigenstaatlichkeit ging bereits im 9. Jahrhundert
verloren. Jahrhunderte hindurch hatte das Slowenische keine
öffentliche Funktion, es bewahrte sich als Volkssprache und in
der Volksliteratur. Vereinzelte Schriftdokumente, Bibeln,
geistliche Literatur, Grammatiken erschienen, eine echte
Schriftkultur entwickelte sich aber erst in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts und gelangte zu einer ersten Blüte gegen
Mitte des 19. Jahrhunderts.
Das Denkmal des Dichters France Prešeren
steht in Ljubljana an zentraler Stelle. Er, der Dichter des
"Sonettenkranzes", blickt in eine Gasse hinein zum Haus der
Bürgerstochter Julia Primic, die er in seinem Zyklus besang
und um deren Liebe er vergeblich warb. Aus dem Slowenischen
versuchte er eine Kunstsprache zu machen. Im tief katholischen
Laibach befasste er sich mit Religionskritik, distanzierte sich
zugleich von nationalistischen Bewegungen und starb als
unverstandener Kosmopolit an Leberzirrhose. Heute ist er der
Nationaldichter schlechthin, sein Kopf ist auf slowenischen
Banknoten verewigt, eines seiner (zensierten) Trinklieder wurde
1991 als Text der slowenischen Nationalhymne unterlegt.
In der neueren Geschichte gibt es drei
Brennpunkte von entscheidender Bedeutung für die politische,
gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes. Zum einen
ist es der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch der Habsburger
Monarchie und damit das Ende eines multiethnischen Kulturraums und
die Gründung Jugoslawiens, verbunden mit der Abtrennung
größerer gemischtsprachiger Gebiete an Italien. Die
nächste Bruchlinie ist der Faschismus, der Zweite Weltkrieg,
der Widerstandskampf und die Befreiung, die allerdings auf die
andere Seite der sich neu formierenden bipolaren Welt führt,
auch wenn sich das neue Jugoslawien von den anderen Satelliten des
Sowjetreiches unterscheidet. Die Wende von 1989/91 läutet die
dritte große Umwälzung ein. Der Zusammenbruch
Jugoslawiens bedeutet für Slowenien der Aufbruch nach Europa.
Es ist reizvoll, um diese Brennpunkte herum die Literatur zu
betrachten - zumindest um die beiden ersten zeichnen sich einige
Höhepunkte ab.
Eng war das Verhältnis zwischen
Ljubljana, damals noch Laibach, zur Habsburger Metropole. Wien war
der Magnet, der Menschen aller Völkerschaften der Monarchie
anzog. Die Vorstädte wurden zum Sammelpunkt der meisten von
ihnen. Ivan Cankar (1876 - 1918) kam 1896 nach Wien, studierte
kurz, widmete sich dann ganz dem Schreiben. Er blieb bis 1909, die
Vorstädte sind sein literarischer Ort: die armseligen
Verhältnisse der Arbeiter und Zuwanderer, der Schmutz und die
Dunkelheit der Zinskasernen, der Hunger, die Krankheiten. Und doch
ist er nicht einfach ein Sozialkritiker, auch wenn solch Leben im
Elend "wahrlich nichts anderes verdiente als Hass und Abscheu in
reichem Maß".
Jeder Mensch trägt in sich eine
Sehnsucht, noch der dunkelste Ort öffnet sich einem
menschlichen Wunsch nach Schönheit. Seine Helden sind meist
Scheiternde; gerechte und idealistische Menschen kommen nur durch,
indem sie sich selbst verleugnen und sich den erbärmlichen
Verhältnissen anpassen. Es ist die Zeit des ersten
industriellen Krieges, dessen Brutalität die Slowenen an der
Isonzo-Front hautnah erleben müssen, wo in zwölf
Schlachten unglaubliche Schlächtereien stattfinden, die
insgesamt eine Million Tote fordern.
Im Hungerwinter 1918 löst sich alles
auf. Alte Kulturen und Reiche enden, eine ganze Epoche versinkt.
Ivan Cankar gehört noch der alten Zeit an und wird dennoch zur
Schlüsselfigur der neuen slowenischen Literatur, der
große Neuerungen in Prosa und Drama einbringt. Er wird zum
Vorbild für Generationen slowenischer Schriftsteller. Sein
Werk ist heute noch modern, dem Klagenfurter Drava-Verlag ist die
Herausgabe des lesenswerten erzählerischen Werkes in neuer
Übersetzung zu danken.
Aus dem Karst oberhalb von Triest kommt
Srecko Kosovel (1904 - 1926). Zu seinen kurzen Lebzeiten wird er
kein Buch veröffentlichen, und auch den Dichtern und
Gebildeten in Ljubljana wird es erst allmählich dämmern,
was für ein Rohdiamant da unter ihnen war. Kosovel hat in
seinen sechs Schaffensjahren 1.400 Gedichte geschrieben - und was
für welche! Der Apollinaire des Karstes hat die slowenische
Lyrik gründlich umgewälzt. Seine Bandbreite reicht von
der Naturlyrik bis zum Konstruktivismus, wobei auf Grund seiner
schmalen Schaffenszeit keine Periodisierung möglich ist; eins
fließt ins andere, und das macht vielfach das Faszinosum
seines Werks aus, das erst in den 70er-Jahren in wesentlichen
Teilen zugänglich wurde.
Dass dieser Dichter von europäischem
Format auch in Deutsch gelesen werden kann, ist wiederum, wie so
oft, einem kleinen Verlag zu verdanken. Es ist eines der
schönsten Bücher dieses Jahres, das der Übersetzer
Ludwig Hartinger bei Christian Thanhäuser herausgebracht hat.
Cankar und Kosovel sind die Lichtfiguren einer Umbruchperiode; die
Literatur der Slowenen war nachhaltig in der Moderne angekommen und
entfaltete ein reichhaltiges und breites Spektrum.
Allerdings verdunkelte sich der politische
Horizont zusehends. Im Nationalsozialismus, der sich mit dem
italienischen Faschismus verbündete, erreichte der
Totalitarismus seine bislang radikalste und terroristischste
Ausprägung. Und Slowenien grenzte an beide und wurde bald an
beide aufgeteilt. Dabei gewann Triest, eine literarische Hauptstadt
Europas, eine traurige Bedeutung. Darüber berichtet der
Schriftsteller Drago Jancar und stellt zugleich einen großen
alten Mann der slowenischen Literatur vor:
"Im August vergangenen Jahres wurde der
Dichter Boris Pahor aus Triest, in seinem Haus, das von engen
Gassen umgeben ist, die in Kontovel vom Meer den Karststeilhang
hinaufsteigen, neunzig. Seine Kindheit verbrachte er unten, mitten
in der Stadt, um Ponte Rosso herum, von dort auch seine erste
Erfahrung mit der Gewalt einer wildgewordenen Menge, Erfahrung mit
dem Feuer, das sich in seiner Erinnerung und seinen Texten auch
dann wiedereinstellte, als jenes von den Feuersflammen des
Krematoriums überlodert wurde. Noch ehe die Faschisten in
Italien an die Macht kamen, haben sie mitten in Triest das
großartige Gebäude, des slowenischen Kulturhauses, ein
Werk des Architekten Max Fabiani, angezündet und in Schutt und
Asche gelegt."
Der Slowene Boris Pahor, geboren 1913, der
erst italienische Literatur studiert hat, mit Dante und Manzoni
groß geworden ist, bevor er Prešeren und Cankar gelesen
hat, schreibt über seine italienische Jugend, Kriegsdienst und
Deportation, Harzungen, Natzweiler/Struthof, Bergen-Belsen, Dachau.
Seine berühmte Erzählung "Nekropolis" betrachtet er als
"eine Form von Therapie". Er ist einer, der in der Hölle war
und der aus der Hölle wieder zurückkehrte. Später
besucht er die Stätten, an denen die Nazis diese Höllen
errichtet hatten; der sommerliche Rundgang über das von
Touristen besuchte KZ-Gelände führt ihn ins Reich seiner
Erinnerungen.
Pahor wird oft in einer Reihe mit Primo Levi,
Jorge Semprun und Imre Kertész genannt. Er thematisiert das
Unmögliche. Nun ist es keine "Erzählung" im Sinne einer
narrativen Abfolge, denn das Todeslager ist, was es ist, die totale
Nullität des Menschen, der nur noch Material in einem
Vernichtungsprozess ist. Aber auf der Suche nach seiner verlorenen
Zeit unternimmt Pahor eine Anstrengung, in diesem gigantischen
Todesprozess noch etwas anderes auszumachen: Lebenskraft und
Menschlichkeit. Sonst hat das alles aufzuschreiben keinen Sinn. Im
Nachwort heißt es: "Primo Levis Frage: ‚Ist das ein
Mensch?' erhält durch Boris Pahor als Antwort ein
brüderliches Ja."
Ciril Kosmac (1910 - 1980), aus der Gegend
von Piran, ging im italienischen Gorizia zur Schule, wurde von den
Faschisten eingekerkert, schloss sich den Partisanen an. Seine
Prosa widersetzt sich jedoch jedem Heroismus. Die kleinen Leute
erleben die Kriege der Fürsten und Diktatoren, aber auch die
Befreiungskämpfe und Revolutionen vor allem als großes
Leid. Somit stellte er sich bewusst neben die Idealisierungen des
sozialistischen Realismus. Stattdessen griff er Elemente der
Volksliteratur und der Volkslegenden auf und schuf eines der
schönsten, anrührendsten und zeitlosesten "Märchen"
der modernen slowenischen Literatur. "Tantadruj war ein winzig
kleines Wesen, und auch Verstand hatte er nur einen winzigen, seine
Seele aber war geräumig genug, um darin seinen großen und
einzigen Wunsch zu bergen: zu sterben." Sterben will er, weil er
einmal gehört hat, er werde erst mit seinem Tod glücklich
sein - der Sterbenswunsch als fixe Idee einer naiven
Glückssuche.
Noch andere Lesarten lässt Kosmacs
Parabel zu. Die Freunde des schellenbehangenen Narren sind der
slowenische Maurer Luka Bogiorno-Boserna, der friulanische Knecht
Rausepatacis und der deutschsprachige Mattl Gleichenstab. Einer
verrückter als der andere, verstehen sie sich prächtig.
Nicht im Traum fällt ihnen ein, dass unterschiedliche Sprache
und Nation ihre Freundschaft beeinträchtigen könnte. So
verkörpern sie ein idealtypisches Aufeinandertreffen
verschiedener Kulturen in dieser Region, von Kosmac in der Welt der
Verrückten angesiedelt, weil die verrückte Welt der
Normalen doch ganz anders funktioniert.
Boris Pahors Leben erstreckt sich über
alle drei Wendepunkte. Drago Jancar (Jahrgang 1948), der wohl
bedeutendste Erzähler der mittleren Generation, schreibt
über sie. Sein Essay "Erinnerungen an Jugoslawien" befasst
sich kritisch mit dem "Jugoslawismus", jener Ideologie, die eine
vermeintliche politische Einheit der Südslawen behauptet.
Schon nach dem Zerfall der Monarchie habe der neue Staat die in ihn
gesetzten Erwartungen nicht einlösen können; bald wurde
er selbst eine Diktatur. Erst recht nach 1945: "Jugoslawien als
Geographie und Kultur wurde wieder gegen eine Idee vertauscht. Eine
unantastbare, unsterbliche Idee, in der Gestalt der Dreieinigkeit:
Tito-Jugoslawien-Kommunismus."
Jancars erzählerisches Werk beugt sich
mit dem nun auch auf Deutsch wieder aufgelegten Werk "Der Galeot"
weit über die Abgründe einer Welt des verordneten "Wir".
Es ist die Geschichte eines wegen angeblicher Ketzerei zu Beginn
des 18. Jahrhunderts zu lebenslänglicher Galeere in Istrien
verurteilten Heimatlosen. Tatsächlich ist es weit mehr,
nämlich die ren und Seelenkrankheiten seiner Zeit in sich"
trägt, der sich nicht in ein Lumpenleben hineinschicken will,
der Utopien und Sekten misstraut, der in den Schicksalen seiner
Mitgefangenen die Geschichte der Welt erfährt: "Tief in jedem
Galeoten wurzelt seine Freiheit." Sie ist sein Meer und sein Stern,
niemand kann sie ihm ausjagen. Er hält durch. Als alles
überwunden ist, überwindet ihn das Schicksal: die Pest.
Er geht ohne Heilsbotschaft, doch ungebrochen.
Inzwischen hat sich, nach dem Ende der
großen Erzählungen, eine junge Welle etabliert, die ohne
große Geste die Wende auch auf dem Gebiet der Literatur
signalisiert. In der Lyrik findet gewissermaßen eine
Emanzipation von der traditionellen Melancholie der slowenischen
Poesie statt. Die Prosa individualisiert sich. Der Horizont ist
deutlich erweitert, quasi globalisiert; man reist nach Amerika und
Asien, changiert zwischen verschiedenen Formen und
Einflüssen.
Einige der jüngeren Autoren sind bereits
ins Deutsche übersetzt, zum Beispiel Aleš Šteger,
Uroš Zupan, Taja Kramberger, Suzana Tratnik, Maja Vidmar,
Andrej Blatnik, Aleš Debeljak und Jani Virk. Obwohl sich unter
den Bedingungen der freien Marktwirtschaft die Buchproduktion
deutlich verteuert hat, können es die Slowenen nicht lassen:
zwei Slowenen - ein Dichter... Aber wen wundert das, wenn doch
diesen Dichtern eine Sprache mit ganz besonderen Worten zur
Verfügung steht, eine Sprache, die für den Ort, wo ein
Teich war und noch Schilf ist, ein eigenes Wort hat, und auch
für das Schattenbild einer Frau.
Literaturhinweise
Marija Mitrovic
Geschichte der slowenischen Literatur. Von
den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Serbokroatischen und
redaktionell bearbeitet von Katja Sturm-Schnabl.
Klagenfurt/Celovec, Ljubljana, Wien
(Mohorjeva/Hermagoras Verlag), 2001; 618 S., 43,50 Euro
France Prešeren
Gedichte. Pesmi. Aus dem Slowenischen von
Klaus Detlef Olof. Klagenfurt/Celovec (Mohorjeva/Hermagoras
Verlag), 2003; 176 S., 36,20 Euro
Ivan Cankar
Frau Judit. Roman. Aus dem Slowenischen von
Erwin Köstler. Klagenfurt/Celovec (Drava Verlag), 2003; 168
S., 19,50 Euro. Neun weitere Bände der Werkausgabe sind
bereits erschienen.
Srecko Kosovel
Mein Gedicht ist mein Gesicht. Erfindung
einer orphischen Landschaft. Auswahl, Übersetzung aus
dem
Slowenischen von Ludwig Hartinger.
Holzschnitte, Federzeichnungen von Christian Thanhäuser.
Ottensheim an der Donau (Edition Thanhäuser), 2004; 174
S.,
30,- Euro
Boris Pahor
Nekropolis. Aus dem Slowenischen von Mirella
Urdih-Merkù. Berlin (Berlin Verlag) 2001; 280 S., 18,40
Euro
Ciril Kosmac
Tantadruj. Erzählung. Aus dem
Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Nachwort von Karl Markus
Gauß. Klagenfurt/Celovec (Wieser Verlag), 1994; 123 S., 29,00
Euro
Drago Jancar
Der Galeot. Roman. Neuausgabe. Aus dem
Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Wien, Bozen (Folio Verlag)
2004; 345 S., 22,50 Euro
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