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Ingrid Scheurmann
Ein Kessel Buntes
Europa schreibt - eine Bilanz
Es ist vielleicht für die viel beschworene Identität
Europas bezeichnend, dass sie zwar immer wieder zum Gegenstand von
Tagungen und Kongressen, Wissenschaftler- und Künstlertreffen
wird, dass sich aber einfassbares "Wir-Gefühl" nicht so recht
einstellen will. So berechtigt der Hinweis auf die gemeinsamen
Wurzeln von Recht und Religion, Kunst und Architektur auch sein
mag, so muss man doch nüchtern konstatieren, dass die Frage
der europäischen Identität die meisten Menschen des
vormals so genannten Abendlandes nicht wirklich bewegt.
Intellektueller Wunsch und gesellschaftliche Wirklichkeit liegen
da noch immer weit auseinander, und das ungeachtet des
erfolgreichen Programms der Kulturstädte Europas, des
europaweit ausgetragenen Tags des offenen Denkmals oder auch des
Literaturexpresses, der im Jahr 2000 unter öffentlicher
Beachtung von Lissabon nach Moskau fuhr.
Ambitioniert
Die Körber-Stiftung und das Literaturhaus Hamburg sahen bei
ihrem ambitionierten Versuch, namhafte europäische
Schriftsteller zu einer Definition Kultur-Europas zu bewegen, in
Donald Rumsfelds letztjähriger Pauschalverurteilung des "alten
Europa" und den europaweiten Demonstrationen gegen die
amerikanische Politik im Irak einen willkommenen Anlass, eine
Definition zu wagen, was Europa de facto zusammenhält und was
es idealiter zusammenhalten sollte.
"Wann, wenn nicht jetzt wäre es an der Zeit, die
Intellektuellen und Schriftsteller Europas ins Gespräch
miteinander zu bringen über das, was Europa ist, was es sein
könnte, was es sein müsste", so die Herausgeberinnen.
Europa, so stellen sie nachdenklich fest, scheint seine
Identität derzeit aus seiner Abgrenzung von den Vereinigten
Staaten zu beziehen.
Der sorgfältig gemachte Sammelband vereinigt bedeutende
Schriftsteller wie Andrej Bitow und Stefan Chwin, Eugenio Fuentes
und Durs Grünbein, Adolf Muschg und Robert Schindel.
Allerdings gelingt es nur den wenigsten der 33 Repräsentanten
zeitgenössischer Literatur, ihren Reflektionen über
Europa auch eine eigene literarische Qualität und damit einen
über das dokumentarische hinausweisenden Rang zu geben. Zu
deutlich prägten die Leitthemen des Symposiums Struktur und
Inhalt der Texte, zumal das vorgegebene Sujet doch etwas
"aufgesetzt" wirkt.
Literatur lässt sich eben nicht verordnen. Offenkundig
treibt auch die meisten Schriftsteller und Übersetzer etwas
anderes um als die Frage der europäischen Identität. Die
Globetrotter unter ihnen haben sich ohnehin von den tradierten
räumlichen und kulturellen Bindungen losgesagt. Andere setzen
sich mit Fragen der Sprachenvielfalt, der Übersetzung, der
anhaltenden Diskrepanz zwischen Peripherie und Zentrum und der
Zugänglichkeit zu den großen Literaturverlagen
auseinander.
Assoziationen
Dabei hat die Peripherie ganz unterschiedliche Namen: Für
die Vertreter kleiner Länder und selten übersetzter
Sprachen kann sie die Begrenztheit eigener Wirksamkeit bedeuten,
sie kann aber auch die große politische und ökonomische
Diskrepanz zwischen Ländern West- und Osteuropas ansprechen
und damit eine Ahnung aufscheinen lassen, dass sich mit dem Wort
"Europa" unendliche viele, auch kontroverse Bilder assoziieren
lassen.
Beim literarischen Nachdenken über Europa spielen die
eigenen Biografien eine große Rolle, ebenso Fragen der
Verwurzelung im eigenen Land und in der Muttersprache. Dabei stellt
sich schnell heraus, dass die Schriftsteller naturgemäß
in ihrem jeweils eigenen Universum leben und denken. So lässt
der Band zwar erahnen, wie anregend die einwöchigen
Gespräche der Künstler waren, er zeigt aber ebenso
deutlich, dass Europa auf dem Weg der Jahrhundertfrage wohl nicht
zu einer kulturellen Identität zu verhelfen ist.
Vielleicht lässt sich die Suche nach Identität ja
irgendwann wirklich ex negativo beenden, durch eine Klärung
des Problems nämlich, wie wir dem Anderen, dem Fremden,
begegnen, Vorurteile und Klischees abbauen und ob wir anstelle
einer vermeintlichen kulturellen Identität einen Krieg der
Kulturen zu gewärtigen haben. Das zumindest ist vielen
Schriftstellern ein wirkliches Anliegen. Ingrid Scheurmann Ursula
Keller / Ilma Rakusa (Hrsg)
Europa schreibt. Was ist das Europäische an den Literaturen
Europas?
Essays aus 33 europäischen Ländern.
edition Körber-Stiftung, Hamburg 2003;
393 S., 18,- Euro
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