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Franz Schäfer
Durch Österreich verbunden und getrennt
Die Entstehung Ungarns und der
Slowakei
Das Zusammenleben der Ungarn und der Slowaken in
einem gemeinsamen Staat beginnt am Ende des ersten Jahrtausends
unserer Zeitrechnung. Nach dem Niedergang des slawischen
Großmährischen Reiches entsteht am Ende des 9.
Jahrhunderts in der Donauebene infolge der "Landnahme" durch sieben
aus dem Osten stammenden Stämme der Magyaren ein neues
Staatsgebilde, das auch das von den Vorfahren der Slowaken bewohnte
Gebiet umfasst. Der erste König wird im Jahre 1000 Stephan I.
der Heilige.
In den Jahren 1000 - 1526 entwickelt sich
Ungarn zu einem mächtigen Staat. Der aus luxemburgischem
Adelsgeschlecht stammende ungarische König Sigismund (1368 -
1437), Sohn Kaiser Karls IV. und mächtiger Gegner der
böhmischen Hussiten, wird römischer Kaiser. König
Matthias Corvinus (1443 - 1490) gelingt es, einen Teil des
böhmischen Königreiches, die Markgrafschaft Mähren,
Ungarn einzugliedern.
Nach der Zerstörung des byzantinischen
Reiches (Eroberung von Konstantinopel 1453) beginnen die Osmanen,
den Südosten Europas zu erobern. Den Höhepunkt erreicht
die Macht des Osmanischen Reichs unter Süleyman I. (1520 -
1566). Seine Truppen schlagen die ungarische Armee im Jahre 1529
vernichtend in der Schlacht bei Mohács. König Ludwig II.
wird getötet. Zwar zieht das osmanische Heer noch vor
Jahresende vorläufig ab, aber um die Thronnachfolge gibt es
einen Streit zwischen dem Habsburger Ferdinand I. und dem Ungarn
Johann Zápolya, der die Türken um Hilfe ersucht.
Letztlich fällt das westliche Ungarn an Österreich,
während Zápolya im Frieden von Großwardein als
König Restungarns unter türkischer Oberhoheit anerkannt
wird. Nach seinem Tod 1540 besetzen die Osmanen das mittlere
Drittel des einstigen Ungarns und lassen Zapolyas Sohn das
Fürstentum Siebenbürgen. Im Jahre 1686 werden aber Buda
und Pest von Eugen von Savoyen zurückerobert. Die
schwächer gewordenen Osmanen werden zurückgedrängt.
Ganz Ungarn wird in die österreichische Monarchie
eingegliedert.
In den Jahren 1686 bis 1867, während der
uneingeschränkten Herrschaft der Habsburger, kommen starke
dezentralistische Tendenzen zum Ausdruck. Die ungarische
Aristokratie ist nicht bereit, auf ihre Privilegien zu verzichten.
In der Zeit der französischen Revolution sind in allen Teilen
der österreichischen Monarchie auch erste Anzeichen des
modernen, vorwiegend sprachlich definierten Nationalismus zu
beobachten. In Ungarn kommt es zu Aufständen. Zu erwähnen
sind vor allem der Unabhängigkeitskampf in Siebenbürgen
in den Jahren 1703 - 1711 (Fürst Ferenc II. Rákoczi) und
der nationale Unabhängigkeitskampf in den Jahren 1848/49
(Proklamation der Unabhängigkeit am 14. April 1848) unter
Lajos Kossuth. Ungarn wird nach langen Jahren wieder von
Österreich unabhängig, bevor die Österreicher den
Aufstand mit Hilfe russischer Truppen niederschlagen
können.
Zu den Ursachen des zweiten Aufstandes
gehört ohne Zweifel die zentralistische Politik der
Habsburger, die vor allem in den Jahren 1740 - 1780 unter Maria
Theresia und 1780 - 1790 unter Joseph II. fast rück-sichtslose
Züge annahm. Vor allem die Regentschaft Josephs II. wird zum
Symbol einer zwar rationell begründeten, aber zugleich alle
Traditionen negierenden Willkürherrschaft. Andererseits ist zu
betonen, dass gerade in dieser Zeit einige Schritte zur
Modernisierung (wirtschaftliche, gesellschaftspolitische und
kulturelle Reformen, Einführung der religiösen Toleranz)
sowie Entwicklung bestimmter wirtschaftlich rückständiger
Regionen unternommen werden.
Im Jahre 1867 erkennt Wien an, dass ein
österreichischer Zentralstaat keine Zukunft mehr hat. Nach
Ansicht des Kaisers Franz Joseph I. dürfen sich die
revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 nicht mehr
wiederholen. Am 29. Mai kommt es schließlich zum so genannten
Ausgleich zwischen den Habsburgern und den mächtigen
ungarischen Ständen. Kaiser Franz Joseph I. wird zum
König von Ungarn gewählt, die
österreichisch-ungarische (kaiserliche und königliche)
Doppelmonarchie wird gegründet. Pest wird zum Sitz des
ungarischen Reichstags und aller ungarischen Ämter. Über
ungarische Innenpolitik, Wirtschaft und Kultur wird zukünftig
in der ungarischen Hauptstadt entschieden. Nur über
überregionale finanzielle, außenpolitische und
militärische Angelegenheiten entscheidet das Wiener
Zentrum.
Dieser Schritt führt in den
nächsten Jahren zur beschleunigten Modernisierung Ungarns,
bildet aber auch den Anfang einer weiteren Zentralisierung, die
diesmal nicht von Wien, sondern von der ungarischen Hauptstadt Pest
ausgeht. Der Triumph der Ungarn bedeutet außerdem eine
Niederlage des wirtschaftlich hoch entwickelten Böhmens und
Mährens oder, genauer gesagt, der tschechischen politischen
Elite, die auf eine Dreiteilung der Monarchie gehofft hatte. Somit
bedeutet der österreichisch-ungarische Ausgleich gleichzeitig
den ersten Schritt zur Auflösung der Habsbuger Monarchie, zur
Entstehung der mitteleuropäischen Nationalstaaten. Die
Slowaken bezeichnen den Ausgleich bis heute als den Anfang einer
rücksichtslosen Magyarisierung, die eine substantielle
Bedrohung für die Existenz der slowakischen Nation bedeutete.
Ob diese Behauptung empirisch beweisbar ist, kann an dieser Stelle
nicht entschieden werden, es besteht aber kein Zweifel daran, dass
die Zentralisierung den Prozess der Entstehung von slowakischen
kulturellen und politischen Eliten zumindest stark behindert hat.
So sinkt von 1867 bis 1912 die Zahl der Volksschulen mit Slowakisch
als Unterrichtssprache von 2000 auf 377, und geschlossen werden
auch die einzigen drei slowakischen Gymnasien. Die oft
erwähnte Auswanderung vieler Slowaken nach Amerika muss
andererseits nicht unbedingt als Beweis für eine
verstärkte wirtschaftliche Ausbeutung der Bevölkerung der
Slowakei interpretiert werden; sie ist eher eine Folge der
Modernisierung der Landwirtschaft und der wachsenden
Attraktivität der USA als Einwanderungsland. Diese kurze und
umstrittene Periode der ungarischen und slowakischen Geschichte
wird durch den Ersten Weltkrieg beendet, in dem Ungarn als Teil der
kaiserlich-königlichen Monarchie bei den Besiegten
steht.
1918 wird das slowakische Gebiet in die
Tschechoslowakische Republik (CSR) eingegliedert. Dieser Schritt
wird ein Jahr später international anerkannt (Staatsvertrag
von Saint Germain en Laye, 10. September 1919). Während das
Ungarische Königreich (Transleithanien) 1910 21,7 Millionen
Einwohner hatte (es bestand aus dem Königreich
Ungarn-Siebenbürgen, Fiume mit Umgebung sowie dem
Königreich Kroatien und Slavonien), verliert die neue
Ungarische Republik aufgrund des Vertrags von Trianon zwei Drittel
ihres Staatsgebiets und ein Drittel ihrer Bürger. Drei
Millionen Ungarn verbleiben außerhalb der Landesgrenzen.
Ungarn wird ein Nationalstaat.
Im allgemeinen historischen Bewusstsein der
ostmitteleuropäischen Bürger wird die Entstehung moderner
Nationen (meist "nationale Wiedergeburt" genannt) mit dem Kampf um
die Nationalsprache identifiziert. Aber um diese müssen nicht
nur die Slowaken und die Tschechen, sondern auch die Ungarn und
sogar die Deutschen kämpfen. 1749 stellt die Kaiserin Maria
Theresia lakonisch fest: "Wir Österreicher haben eine sehr
schlechte Sprache." Sie meint damit den Rückstand, in den das
österreichische Deutsch gegenüber der mittel- und
norddeutschen Hochsprache geraten ist. Der Grund dafür ist
unter anderem der starke Einfluss des Lateinischen, das im
katholischen Österreich bis zu den 1774 eingeleiteten
theresianischen Reformen des Schulwesens und der Einführung
des modernisierten Deutschen als Sprache der Verwaltung in den
Jahren 1780 - 1790 die Funktion einer Schriftsprache hatte. Diese
Entscheidung Josephs ist der eigentliche Anfang der "nationalen
Wiedergeburten" aller österreichischen Völker. Den
ungarischen Ständen ist es zwar gelungen durchzusetzen, dass
seine Anordnung in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts wieder
aufgehoben werden. In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts wird
aber in ganz Ungarn das Lateinische definitiv durch Ungarisch
ersetzt. Von 1780 bis 1790 ist Deutsch offizielle Schriftsprache,
von 1790 bis 1830 Lateinisch und seither Ungarisch.
Anders verläuft die Entwicklung in der
Slowakei. Durch einen Kraftakt mehrerer Generationen von
Wissenschaftlern gelingt es zunächst, die seit dem 17.
Jahrhundert als Schriftsprache der Protestanten benutzte
tschechische Bibelsprache durch die slowakische Volkssprache zu
ersetzen. Die Reform des katholischen Priesters Anton Bernolák
(1760 - 1813) ist zwar gescheitert, aber der Protestant
L'udovít Štúr (1815 - 1856) kann sich mit seiner auf
dem mittelslowakischen Dialekt beruhenden Schriftsprache
schließlich durchsetzen.
Im Gegensatz zum Ungarischen, das nicht nur
die Sprache der schöngeistigen Literatur geblieben ist,
sondern sich außerdem auch zur Sprache der Staatsverwaltung,
der Politik und der Wissenschaft erweitert hat, ist die Entwicklung
der slowakischen Sprache insgesamt sehr viel langsamer verlaufen.
Zur vollwertigen Schriftsprache hat sich das Slowakische erst in
der Tschechoslowakischen Republik entwickeln
können.
Franz Schäfer ist Lehrbeauftragter
für Linguistik an der Universität Köln.
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