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Alexandra Freitag
"Ich weiß nicht wirklich, was ein Jude
ist"
Das hellhörige Reagieren auf rassistische
Äußerungen in Ungarn
"Genetisch gesehen, bist du doch jüdisch?",
fragte mich die hochgewachsene Kunsthändlerin kroatischer
Abstammung, eine flüchtige Bekannte, während wir durch
die verschneiten Straßen von Budapest stapften. Wir kamen von
derselben Party und überquerten gerade den vereisten Innenhof
einer neuen Wohnsiedlung. Innerlich erstarrte ich zu einem
Eiszapfen.
Wie meinst du das, genetisch? Das hat mit den
Genen nichts zu tun", sagte ich, ohne auf ihre Frage zu antworten.
Sie zuckte zusammen und ging zur Flucht nach vorn über. Seit
400 Jahren sei ihre Familie in Kroatien ansässig, all ihre
Ahnen seien auch schon Kroaten. Sie sei genetisch gesehen also eine
reine Kroatin. Ich erwiderte, fast überall auf der Welt seien
die Völker durchmischt, auch Menschen mit jüdischer
Herkunft. Ungeduldig fragte sie nochmals, ob ich nun jüdisch
sei oder nicht.
Unterdessen waren wir beim Eingang eines
menschenleeren Einkaufszentrums angelangt. Die Kroatin öffnete
die Tür, rutschte auf der vereisten Metallschwelle aus und
fiel der Länge nach hin. Sie hatte sich den Arm gebrochen. Ich
versuchte ihr zu helfen, sie ließ es nicht zu. Sie schnauzte
mich an, sie wolle jetzt allein sein. Wütend stieß sie
noch aus, das sei nur passiert, weil sie so angespannt gewesen sei.
Ich spürte, dass sie insgeheim mir die Schuld für ihren
Sturz zuwies, daher beschloss ich, dass es mir nicht leid tat, dass
sie den Arm gebrochen hatte.
Natürlich sagt mir mein
nichtjüdischer Freund oft, ich sei zu empfindlich. Ob ich
jedoch zu hellhörig auf rassistische Äußerungen
reagiere, wage ich zu bezweifeln. Von politischer Korrektheit halte
ich nicht viel, denn sie ist meistens nicht ehrlich. Den Ungarn
sind aber derartige Feinheiten sowieso fremd. Einmal hörte ich
in Budapest afrikanischen Straßenmusikanten zu. Jemand rief:
"Seid ihr endlich von den Bäumen runtergeklettert?" Die
Afrikaner verstanden kein Ungarisch und spielten weiter. In einem
ungarischen Witz sagt X zu Y: Weißt du, was die zwei Dinge
sind, die ich am meisten hasse? Der Rassismus und die
Zigeuner.
Man ist nicht zimperlich in Ungarn. Nicht mit
Zigeunern und auch nicht mit Schwulen. Mit den Juden verhält
es sich etwas komplizierter, denn die wehren sich. Sie schreiben
Artikel und erinnern an die unrühmliche ungarische Geschichte
vor und während des Zweiten Weltkriegs. Die ungarischen
Faschisten waren die emsigsten Vollstrecker der schrecklichen
Anordnungen ihrer deutschen Besetzer.
In meiner Familie ist Gott seit dem Zweiten
Weltkrieg tot. Ich wuchs völlig unreligiös auf. Da wir
aus Ungarn in den Westen emigrierten, als ich ein kleines Kind war,
hatte ich immer Probleme mit meiner Identität. Im Westen
hatten wir keine Heimat mehr, keine Religion, keine Sprache. Ich
beneidete andere Kinder, die immer am selben Ort gelebt hatten, die
gefirmt oder konfirmiert wurden, die bei den Pfadfindern
mitmachten. Wir waren nirgends dabei, denn meine Eltern waren der
Meinung, die Pfadfinder seien eine paramilitärische
Organisation. Mit den praktizierenden Juden hatten wir auch nichts
am Hut. Vor den orthodoxen Juden graute es mir. Jüdisch zu
sein war für mich etwas rein Privates, Innerfamiliäres,
das niemanden etwas anging und das nur einen Zusammenhang hatte mit
der Geschichte unserer Familie. In der Genealogie meiner Familie
gibt es Sachsen, Armenier, Schwaben und Zigeuner, natürlich
alles Nichtjuden. So ist das bei den meisten
jüdisch-ungarischen Familien.
Wir sprachen zuhause ungarisch, eine Sprache,
die wir alle liebten. Wenn ich meine Eltern mit anderen Leuten
Deutsch sprechen hörte, war es mir peinlich, dass sie mit
ungarischem Akzent sprachen. Wir hatten zuhause abgemacht, dass wir
in der Schule stets sagen würden, wir seien
römisch-katholischen Glaubens. Meine Eltern erklärten,
mit der jüdischen Herkunft gäbe es nur Schwierigkeiten.
Sie erzählten viel vom Krieg, von den Deutschen, den
Österreichern und den Ungarn. Von den Waggons, den
Todesmärschen, vom Konzentrationslager und den
Pfeilkreuzlern.
Jüdischsein war für mich als Kind
gleichbedeutend mit Konzentrationslager und Vernichtung. Ansonsten
hatte ich keine Ahnung davon, was Juden sind. Auch heute frage ich
mich oft, was das eigentlich ist.
Als so genannte Jüdin fühlte ich
mich im Westen sehr schlecht in meiner Haut. Allein schon das Wort
"Jude" empfand ich als widerwärtig, in meinen Ohren tönte
es nach Schlachthof, nach Pornographie, nach Hass. Paradoxerweise
passierte es ausgerechnet in Ungarn, dass ich als
Mittdreißigerin zum ersten Mal eine Synagoge betrat. Sie ist
Europas größter und vermutlich prachtvollster
jüdischer Sakralbau. Es gab ein Konzert des Klarinettisten
Giora Feidmann, für das mir ein Freund Karten beschafft hatte.
Die Synagoge strahlte eine Lebensfreude aus, die ich nicht erwartet
hatte. Und die freudig erregten Menschen hatten nichts mit
traurigen Ghetto-Insassen zu tun.
Es gibt relativ viele Juden in Budapest,
angeblich ist jeder zehnte Hauptstädter jüdischer
Abstammung. Die meisten kennen die Geschichte ihrer Eltern, sie
verdrängen sie oder haben sie auf die eine oder andere Art
verarbeitet. Und sie reden davon. Budapest wurde von jüdischen
Ungarn geprägt. Sie haben viele der schönsten Häuser
gebaut, den wirtschaftlichen Aufschwung mitgetragen, Politik
gemacht, Bücher geschrieben; sie waren Forscher, Ärzte,
Anwälte, Arbeiter und Nobelpreisträger. Sie kämpften
als assimilierte Patrioten im Ersten Weltkrieg für
Ungarn.
Die Tragik der ungarischen Juden ist es, dass
diese Assimilation während der faschistischen Ära
zerstört wurde. Mein Vater erzählte, dass mein
Großvater, ein geachteter Arzt und ehemaliger Offizier,
Sonntagvormittag im Kaffeehaus mit dem katholischen Pfarrer, dem
Direktor des Gymnasiums und dem Bürgermeister der Vorstadt, in
der sie wohnten, Karten spielte. Anschließend wurde der
"kleine Gulasch" verzehrt und mit einem Schnaps
heruntergespült. Das war vor dem Krieg. In gemischten Ehen in
Ungarn nahmen Christen oft die jüdische Religion ihrer
Ehepartner an.
Die Debatten um Antisemitismus werden in
Ungarn heute offen ausgetragen, roher als im Westen. Ohne
gesitteten Deckmantel. In Ungarn konnte ich judenfeindliche
Ausfälle hautnah miterleben, auf der Straße, im Taxi, im
Laden. Hätte ich offene Gewalt miterlebt, hätte ich
vielleicht auch zugeschlagen.
In Ungarn ist Geschichte allgegenwärtig.
Im Westen hat man kosmetisch das Meiste in Ordnung gebracht, hier
sind die Wunden noch offen. Ich weiß immer noch nicht
wirklich, was ein Jude ist.
Alexandra Freitag lebt als Autorin in
Budapest.
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