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Reinhold Vetter
Ungarns Volkswirtschaft reift heran
Vom Billiglohnland zum Technologie- und
Logistikstandort
Nach der Berufung von Tibor Draskovics zum neuen
ungarischen Finanzminister meinte der frühere Premier und
jetzige konservative Oppositionsführer Viktor Orbán, man
habe keine gute Wahl getroffen, da Draskovics Jurist sei. Einer
ungarischen Tradition folgend, so Orbán, hätte man einen
Ökonomen berufen müssen. Postwendend musste sich der
ehemalige Regierungschef in den Medien mangelnde
Geschichtskenntnisse vorwerfen lassen. Tatsächlich hieß
im Jahre 1848 der erste ungarische Finanzminister der neueren
Geschichte Lajos Kossuth. Auch er war Rechtsgelehrter, vor allem
aber ungarischer Nationalheld.
Armer Orbán. Bekannt ist auf jeden Fall,
dass Draskovics seit langem zu den engsten Vertrauten von Premier
Peter Medgyessy gehört. Als wichtigster Berater des Premiers
war er seit dessen Amtsantritt an allen relevanten wirtschafts- und
finanzpolitischen Entscheidungen der Regierung beteiligt. Kühl
und distanziert dagegen sind seine Beziehungen zu Zsigmond Jarai,
dem Präsidenten der Ungarischen Nationalbank. Während
Jarai den Konservativen Orbáns nahe steht, zeichnet sich
Draskovics durch enge Beziehungen zu den Sozialisten aus, auch wenn
ihn die klassischen Linken in dieser Partei als "Neureichen" nicht
mögen. Unter Beobachtern in Budapest heißt es, Draskovics
sei ein Politiker mit starkem
Durchsetzungsvermögen.
Gerade das aber wird er benötigen, wenn
es um die anstehende Sanierung der ungarischen Staatsfinanzen geht.
Ende 2002, ein halbes Jahr nach der Amtsübernahme durch die
linksliberale Regierung von Medgyessy, erreichte das Defizit im
Staatshaushalt den stolzen Wert von 9,9 Prozent des
Bruttoinlandprodukts (BIP). Als dieser Wert Ende 2003 immer noch
5,6 Prozent betrug und damit gut einen Prozent über der
ursprünglichen Planung der Regierung lag, musste der damalige
Finanzminister Csaba Laszlo für Draskovics Platz machen. Der
neue Mann soll nun ein Sparprogramm verwirklichen, das die
Reduzierung der bislang im Staatshaushalt für 2004
vorgesehenen Ausgaben um 155 Milliarden Forint (etwa 620 Millionen
Euro) vorsieht und damit die Senkung des Budgetdefizits auf 4,6
Prozent BIP zum Jahresende ermöglichen soll. Vorgesehen sind
insbesondere die Straffung der öffentlichen Verwaltung, die
Konzentration auf wesentliche staatliche Investitionen, die
Bündelung der Tätigkeit gemeinnütziger Einrichtungen
und Stiftungen, sowie Verzicht auf Lohnerhöhungen vor allem im
öffentlichen Dienst.
Draskovics betonte, die Einsparungen
dürften auf keinen Fall die Erfüllung wesentlicher
Aufgaben wie die Gegenfinanzierung von EU-Projekten und die
Modernisierung der Infrastruktur des Landes gefährden.
Außerdem sollten die Kürzungen der Nationalbank die
Möglichkeit geben, die Leitzinsen zum gegebenen Zeitpunkt zu
senken und damit einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum zu leisten.
Sinken die Zinsen, dann werden auch die Kredite billiger, die
Unternehmen zur Finanzierung von Investitionen aufnehmen. Rege
Investitionstätigkeit wiederum ist eine wesentliche Grundlage
für mehr Wirtschaftswachstum. Aufgrund der defizitären
Entwicklung sah sich die Regierung auch veranlasst, ihre
ursprüngliche Strategie zur Übernahme des Euro noch
einmal zu überdenken. Mitte vergangenen Jahres hatten das
Kabinett von Premier Peter Medgyessy und der Währungsrat der
Nationalbank beschlossen, dass Ungarn schon im Jahre 2008 der
Euro-Zone beitreten solle. In einem solchen Fall müsste das
Land die Konvergenz-Kriterien ("Maastricht-Kriterien") bereits 2006
erfüllen. Dazu zählt neben Richtwerten für die
Inflation und die längerfristigen Zinsen sowie eine gewisse
Währungsstabilität in der Vorbereitungsphase EWS II auch
ein maximales Haushaltsdefizit von drei Prozent BIP. Kaum war
dieser Beschluss gefallen, häuften sich die Ermahnungen und
Warnungen von internationaler Seite. So suggerierte die OECD in
ihrem jüngsten Länderbericht über Ungarn, dass die
Zeit für einen Verzicht auf den Forint im Jahr 2008 wohl noch
nicht reif sei. Bislang ist noch keine Entscheidung darüber
gefallen, ob man an 2008 festhalten will oder nicht.
Das große Loch in der Staatskasse geht
auf die ziemlich verantwortungslose Haushaltspolitik in der
Spätphase der konservativen Regierung unter Premier Viktor
Orbán zurück, die von 1998 bis 2002 im Amt war, und auch
auf die Frühphase der folgenden Regierung aus Sozialisten und
Linksliberalen unter Premier Peter Mesgyessy. Beide Regierungen
betrieben mit hohen Staatsausgaben eine nachfragetreibende
Wirtschaftspolitik. Während die konservative Mannschaft auf
diesem Wege ihre Wiederwahl sichern wollte, griffen deren
Nachfolger zum gleichen Mittel, um ihre versprochenen Wahlgeschenke
zu verteilen. So wurden beispielsweise die Gehälter im
öffentlichen Dienst beträchtlich angehoben, was zu einem
Sog führte, dem sich auch die Privatwirtschaft nicht entziehen
konnte. Die Konsequenz war eine Steigerung der Reallöhne um
13,6 Prozent im Jahr 2002. Die daraus resultierenden enormen
Lohnkostensteigerungen für die Unternehmen, die weit über
dem Produktivitätszuwachs lagen, sowie die unsolide
Haushaltspolitik und mangelnde Abstimmung zwischen der Regierung
und der Nationalbank über finanz- und währungspolitische
Fragen brachten die Makrowirtschaft erheblich aus dem
Gleichgewicht.
Andererseits hat die nachfragetreibende
Politik natürlich zum Wirtschaftswachstum beigetragen. Wenn
das reale Wachstum des ungarischen Bruttoinlandprodukts mit 2,9
Prozent im vergangenen Jahr geringer ausgefallen ist als in den
Jahren zuvor (2001: 3,8 Prozent, 2002: 3,3 Prozent), dann war das
vor allem auf den Rückgang der Exporte nach Westeuropa
zurückzuführen. Dieses Nachlassen des Wachstums
hätte noch stärker sein können, wenn es nicht eine
regere Inlandsnachfrage gegeben hätte, die eben auf die starke
Steigerung der Reallöhne und die höheren Investitionen
des Staates zurückging. In diesem Jahr stellt sich die
Situation umgekehrt dar. Während der private Verbrauch wegen
der stagnierenden Realkommen eher schwächer wird und die
öffentlichen Investitionen aufgrund von Haushaltsrestriktionen
zurückgehen, wird der Export wegen der konjunkturellen
Erholung in Westeuropa stärker. Die Nationalbank
prognostiziert inzwischen ein BIP-Wachstum von 3,2 Prozent in
diesem Jahr und 3,6 Prozent im nächsten.
Ist Draskovics also der Mann, der Ungarn
wieder auf den Pfad der makroökonomischen Tugend
zurück-führen kann? Vordergründig spricht alles
für ihn. Als Vertrauter von Premier Peter Medgyessy
gehört er zu den Ministern mit dem größten
politischen Gewicht. Seine altbewährten Kontakte zu den
führenden Politikern der sozialistischen Partei erleichtern
ihm die Überzeugungsarbeit, wenn es darum geht, die Mitglieder
dieser Partei auf den jeweiligen Kurs der Regierung
einzuschwören. Und die MSZP ist die entscheidende politische
Basis des Kabinetts von Medgyessy, auch wenn der Premier selbst
etwas Abstand zur Partei hält. Im unternehmerischen und
finanzwirtschaftlichen Establishment Ungarns kennt man Draskovics
als Macher, der vieles bewegen kann. Doch sein Erfolg oder
Misserfolg wird letztendlich davon abhängen, welche Strategie
die Regierung und die MSZP einschlagen werden, um bei den
Parlamentswahlen 2006 ihre Wiederwahl zu sichern. Nach dem
Systemwechsel vor 15 Jahren war es immer so, dass die jeweilige
Regierungspartei im Vorfeld von Wahlen das makroökonomische
Verantwortungsbewusstsein vergaß und die Wähler mit
Wahlgeschenken lockte, die dann das Loch im Staatshaushalt
vergrößerten. Das gilt für die Konservativen um
Expremier Viktor Orbán ebenso wie für die
Sozialisten.
Im Laufe des Jahres 2003 hat sich in Ungarn
auch eine rege Diskussion über die Vor- und Nachteile des
Landes als Standort ausländischer Direktinvestitionen
entwickelt. Wichtigster Anlass dafür war die Tatsache, dass
der Zufluss ausländischen Kapitals 2002 für Ungarn
weitaus weniger erfolgreich verlief als für seine
ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dieser Trend hat sich im
vergangenen Jahr fortgesetzt. Während Tschechien in 2003 einen
Zufluss von etwa 5 Milliarden US-Dollar verzeichnete, entfielen auf
Polen 1,8 Milliarden. Außerdem veranlasste die weltweit eher
schwache Konjunktur namhafte Unternehmen, ihre Produktion in Ungarn
zu verringern oder gar abzuziehen und in weiter östlich
gelegene Länder sowie nach Asien zu verlagern. Dazu
zählten besonders Konzerne der Elektronikbranche wie IBM,
Kenwood und Phi-lips, aber auch Unternehmen der Leichtindustrie wie
Konfektions- und Schuhhersteller.
Wenn quantitativ der Zustrom
ausländischen Investitionskapitals nach Ungarn nachgelassen
hat, dann geht das vor allem darauf zurück, dass das Land
gegenüber einigen anderen künftigen EU-Mitgliedern
Ostmitteleuropas an komparativen Standortvorteilen verloren hat. So
stiegen die durchschnittlichen Monatslöhne (in Euro) 2001 -
2002 in Ungarn um 49 Prozent, während die
Arbeitsproduktivität nur um zehn Prozent zunahm. In Polen und
Tschechien betrug der Lohnzuwachs im gleichen Zeitraum etwa 25
Prozent.
Ein weiteres spürbares Hindernis
für Neuinvestitionen aus dem Ausland war der verstärkt in
Erscheinung tretende Mangel an qualifizierten Fachkräften im
gewerblich-technischen Bereich und auch in den kaufmännischen
Berufen. Auch bei der Modernisierung des Steuersystems, dessen
Struktur und Qualität immer einen starken Einfluss auf
Investitionsentscheidungen haben, verlor Ungarn insbesondere
gegenüber der Slowakei an Boden.
Es wäre allerdings voreilig, aufgrund
des nachlassenden Zustroms ausländischer Direktinvestitionen
auf eine sinkende Attraktivität Ungarns für
internationale Investoren und damit auf eine grundsätzliche
Standortverschlechterung gegenüber anderen künftigen
EU-Mitgliedern in dieser Region zu schließen. So war ein
beträchtlicher Teil der Investitionen, die in den Jahren 2001
und 2002 nach Tschechien, Polen und in die Slowakei geflossen sind,
Ausdruck des dortigen Privatisierungsprozesses, den Ungarn
seinerseits bis dahin schon weitgehend hinter sich gebracht hatte.
Die anderen Länder holten gewissermaßen nur das nach, was
in Ungarn schon erledigt war. Ein weiterer wichtiger Faktor
für die Bewertung eines Landes als Investitionsstandard sind
Re-Investitionen. Es spricht für das längerfristige
Vertrauen, das ausländische Investoren ihrem Gastland
entgegenbringen, wenn sie Erträge nutzen, um ihr Engagement
vor Ort quantitativ und qualitativ auszubauen. Dies lässt sich
gerade in Ungarn beobachten. Audi, Bosch und Flextronics sind nur
einige der internationalen Unternehmen, die bis Ende 2004
beträchtliche Summen in den Ausbau ihrer ungarischen
Produktionsstätten investieren wollen.
Von großer Bedeutung ist
schließlich, dass sich die Struktur der ausländischen
Direktinvestitionen in Ungarn ändert. So entschlossen sich im
vergangenen Jahr mehr und mehr internationale Unternehmen,
Niederlassungen in Ungarn einzurichten, die als Dienstleistungs-,
Logistik- und Distributionszentrale für Südosteuropa oder
Ostmitteleuropa fungieren. General Motors, General Electric und
British American Tobacco sind nur einige der weltweit agierenden
Konzerne, die dem Standort Ungarn zentrale Bedeutung in der Region
eingeräumt haben. In Ungarn hat also ein Wandel vom
Billiglohnland zur modernen Industriegesellschaft eingesetzt, in
der technologieintensive Produktion, Forschung und Entwicklung
sowie Logistik und Distribution die verlängerte Werkbank
ablösen. Wenn ein führender Investor wie Audi sein
Entwicklungszentrum für Motoren im westungarischen Györ
weiter ausbaut, dann kennzeichnet das sehr gut die Entwicklung. Die
OECD beobachtet eine zunehmende Attraktivität Ungarns gerade
für solche privatwirtschaftlichen Forschungszentren. Unter den
Mitgliedern der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer
wächst der Anteil der Firmen, die sich mit Handel und
Dienstleistung befassen, auf Kosten der in der Produktion
tätigen Unternehmen. Viele Mitgliedsfirmen der Kammer, sowohl
deutsche wie ungarische, berichten weiterhin, dass sie von einer
Phase der extensiven Eroberung ihrer jeweiligen Märkte in eine
Phase der intensiven Durchdringung eingetreten sind. Das bedeutet
nichts anderes, als dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen
verfeinern und konkurrenzfähiger machen. Strukturell reift die
ungarische Volkswirtschaft heran. Der Ökonom Andras Inotai
spricht von einer Phase der wirtschaftlichen
Modernisierung.
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