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Barbara Minderjahn
"Die Schüler sollen die Schönheit ihrer
Sprache sehen"
Die Gandhischule für Romakinder in
Pécs
Ruhe ist ein relativer Begriff. Wenn Erika Csov-csics, die
Direktorin des Gandhigymnasiums in Pécs, unterrichtet, sitzen
die Kinder nicht still. Ein Mädchen flechtet ihrer Nachbarin
die langen schwarzen Haare. Die anderen unterhalten sich,
während die Lehrerin an der anderen Seite des Tisches noch
spricht. Erika Csovcsics kennt das Temperament ihrer
Sprösslinge und hat sich darauf eingestellt. Erst wenn die
Kinder dem Unterricht nicht mehr folgen, unterbricht sie das bunte
Treiben - mit einem leisen Schütteln von Münzen in einem
Glas. Sanft schwenkt die Aufmerksamkeit der Kinder zu ihr
zurück.
So einfach und doch so anders als an anderen Schulen gehen die
Lehrer am Gandhigymnasium mit Romakindern um. "Hier werden die
Romakinder akzeptiert", erklärt Erika Csovcsics. "An
ungarischen Schulen ist das leider nicht ganz normal." Rassismus
ist in Ungarn alltäglich, und über die Zigeuner denken
die Menschen ganz besonders schlecht: Roma sind faul, klauen und
leben im Dreck. Das ist das gängige Klischee. Allein deswegen
schon werden Romakinder in vielen Schulen diskriminiert. Wenn sie
sich dann auch noch anders verhalten als ihre Mitschüler,
haben selbst die intelligentesten unter ihnen kaum noch eine Chance
auf gute Noten. Tatsächlich sind Romakinder häufig
lebhafter und hibbeliger als andere Kinder. Die meisten wachsen in
Großfamilien auf, wo immer etwas los ist, und sie sind es
gewohnt, am oder auf dem Arm der Mutter überall dabei zu sein.
Körperliche Nähe und ständiger Trubel ist für
die Kinder also normal.
Das Gandhigymnasium in Pécs unterrichtet fast
ausschließlich Romakinder. Ihre verhaltensmäßigen
Besonderheiten können die Lehrer also bewusst in ihr Konzept
mit einplanen. Die Klassengruppen sind klein, die Lehrmethoden
besonders kindgerecht. Zwei Sozialarbeiter kümmern sich darum,
dass alles harmonisch verläuft. Das ist nicht
selbstverständlich, denn die Romakinder kommen häufig aus
sich gegenseitig bekämpfenden Zigeunerclans. Gewalt bekommen
sie zu Hause oft vorgelebt. Erika Csovcsics erklärt: "Wir
betreuen hier viele Schüler, die aus Familien mit einem sehr
schwierigen sozialen Umfeld kommen. Demnach unterrichten unsere
Lehrer mit anderen Methoden. Viele Kinder zum Beispiel haben zu
Hause keinen Kontakt mit Büchern oder haben Probleme, die
Arbeit eines Lehrers zu respektieren. Wir helfen ihnen dabei." Um
den Zusammenhalt der Kinder zu stärken und ihnen ein besseres
Lernen zu ermöglichen, bleibt ein Großteil von ihnen die
Woche über in einem der Schule angeschlossenen Internat. Genau
das birgt allerdings auch ein Problem.
Die Erzieher versuchen zwar eine familiäre, gemütliche
Atmosphäre zu schaffenden. Die Kinder wohnen zu dritt oder
viert in einem Zimmer. Selbst gemalte Wandbilder und
persönliche Gegenstände verschönern die Zimmer. Es
gibt einen Freizeitclub, Kinovorführungen, Schulfeste und
Fußballspiele. Und an den Wochenenden oder in den Ferien
fahren viele nach Hause. Dennoch lassen die Mütter ihre Kinder
nicht gerne allein, zumal es für sie mit einem historischen
Trauma belastet ist, die Kinder wegzugeben. Geeignete Bewerber zu
finden, ist daher nicht immer leicht, obwohl die Gandhischule den
Schülern eine hervorragende Ausbildung bietet.
Ein Team von Lehrern und Sozialarbeitern reist zu Beginn jeden
neuen Schuljahres in den umliegenden Romasiedlungen von Familie zu
Familie. Sie suchen zunächst nach motivierten und lernwilligen
Schülern, und versuchen die Eltern dann davon zu
überzeugen, wie wichtig die Ausbildung für ihre
Sprösslinge ist. Das Gandhigymnasium in der im Süden
gelegenen, nicht weit von der kroatischen Grenze entfernten Stadt
Pécs ist die einzige Roma-Schule in Ungarn, in der die Kinder
bis zum Abitur lernen können. "Unsere Zielsetzung ist es, eine
junge Roma-Intelligenz auszubilden, die offen und für
Wissenschaften empfänglich ist, aber zu ihrem Volk und ihrer
Sprache steht", sagt Erika Csovcsics. "Außerdem wollen wir,
dass alle in Ungarn lebenden Roma-Kinder, ähnlich wie auch
Kinder anderer ungarischer Nationalitäten, eine Ausbildung
guter Qualität erhalten."
Im Grunde ist die Ausbildung am Gandhigymnasium eine
Eliteförderung, wobei Elite sich in diesem Zusammenhang nicht
auf eine finanzielle, sondern eher auf eine geistige Elite bezieht.
Viele Kinder kommen aus einer armen Familie. Die Ausbildung
verhilft ihnen zu einem sozialen Aufstieg. Die Erzieher wollen
allerdings verhindern, dass aus den so geförderten Romakindern
gesichtslose, arrogante junge Menschen werden. Eine starke
kulturelle Verwurzelung soll dabei helfen und verhindern, dass sich
die Kinder von ihren Familien zu sehr entfernen. So lernen die
Kinder neben Ungarisch und zwei Fremdsprachen auch die beiden von
den ungarischen Roma gesprochenen Sprachen Romani und Beasch. "Die
Schüler sollen die Schönheit ihrer Sprache sehen. Sie
soll ein organischer Teil ihrer Identität werden",
erklärt die Direktorin.
Teil einer Minderheit zu sein, ist etwas, worauf man stolz sein
kann, lautet auch der Leitgedanke vieler anderer Initiativen. Mit
Hilfe der Düsseldorfer Niermann-Stiftung, die Wissenschaft und
Forschung im Bereich der Völkerverständigung fördert
und ethnische Minderheiten in Europa unterstützt, hat die
Schule eine große Roma-Bibliothek errichtet. Es ist, wie die
Organisatoren betonen, die einzige in ganz Ostmitteleuropa. Nicht
alle der rund 10.000 Bücher, 200 Comics, 180 Spiele, 300
Videos und 1.400 CDs oder CD-Roms befassen sich mit der Minderheit.
Doch das Thema ist in den drei hellen Leseräumen immer
präsent. Die Mitarbeiter veranstalten beispielsweise
regelmäßig Lesenächte, in der sowohl deutsche,
englische, französische, aber eben auch Roma-Literatur zu
hören ist. In den Pausen gibt es landestypisches Essen und
Musik. Zum Tag der Menschenrechte diskutiert man über
Vorurteile und Toleranz. Darüber hinaus pflegen Schule und
Bibliothek einen regen Kontakt zu anderen Minderheitenzentren in
Europa. Per Schüleraustausch kommen in Deutschland lebende
Dänen nach Pécs. Einige Roma gehen jedes Jahr zur
dänischen Minderheit nach Schleswig.
Trotz der überall präsenten
Ausländerfeindlichkeit ist es in Ungarn zunächst noch
nicht ungewöhnlich, wenn Menschen so sehr betonen, einer
Minderheit anzugehören. Ungarn hat im europäischen
Vergleich die meisten Minderheiten. Die ungarische Regierung achtet
darauf, deren Rechte zu schützen. So unterscheidet sich das
multikulturelle Konzept der Gandhischule eigentlich nicht so sehr
von anderen Minderheitenschulen. In Pécs gibt es zum Beispiel
noch ein deutsches Gymnasium. Auch hier werden die Kinder
zweisprachig unterrichtet und leben in ständigem Kontakt mit
Deutschland und der deutschen Kultur. Doch gerade dem
Roma-Gymnasium werfen ungarische Kritiker vor, zu wenig auf die
Integration der Kinder zu achten. Das ganze Konzept
unterstütze die eh schon vorhandene Ghettoisierung der
Roma.
Über Integration versus Wahrung der kulturellen
Identität und negative, sowie positive Diskriminierung kann
man lange diskutieren. Zumindest im Hinblick auf die schulischen
Leistungen und die damit erworbene berufliche Qualifikation scheint
sich das Konzept des Gandhigymnasiums jedenfalls bewährt zu
haben. Das 1994 von der Gandhi-Stiftung gegründete Gymnasium
bildet derzeit rund 250 Schüler aus. Die Schüler stammen
in der Regel aus der direkten Umgebung von Pécs. Nur einige
kommen aus völlig anderen Regionen Ungarns extra hierher.
Die meisten Roma-Kinder fangen in der 7. Klasse an.
Späteinsteiger schwenken sogar noch ab der 9. Klasse von
anderen weiterführenden Schulen um. Es gibt zwar auch immer
wieder Schülerinnen und Schüler, die ihre Ausbildung
abbrechen - Jungs, weil sie helfen müssen, den Lebensunterhalt
der Familien zu finanzieren, Mädchen, weil sie schon als
Teenager schwanger werden, wie es die Tradition vorsieht. Die
Erzieher haben es sich jedoch zu ihrem Ziel gemacht, die
Jugendlichen nach Möglichkeit bis zum Abitur zu begleiten. Und
fast die Hälfte der Schüler aus den ersten
Abiturjahrgängen hat es tatsächlich geschafft, ein
Studium zu beginnen. Dennoch hat es die ungarische Regierung
bedauerlicherweise in Frage gestellt, ob und in welchem Umfang sie
die wichtige Arbeit des Zentrums in Zukunft noch finanzieren
wird.
Barbara Minderjahn
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