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Andrea Dunai
"Als wenn wir aus dem siebten Himmel gefallen
wären"
Die ungarische Kehrseite des "Wunders von
Bern"
Ab Mitte 1953 kam in Ungarn Vieles ans Tageslicht: Man sprach
offen über das Scheitern des ersten sozialistischen
Fünfjahrplanes, über den Terror der Kollektivierung in
den Dörfern, über die Internierungslager und
Schauprozesse. Für deprimierte Stimmung im Lande gab es Grund
genug. Die Produktivität in der Industrie war gesunken, die
Selbstkosten hatten sich erhöht, die geplanten Investitionen
konnten nicht durchgeführt werden, und die
landwirtschaftlichen Erträge blieben wegen der
ungünstigen Witterung unter dem Vorjahresstand.
Nichtsdestotrotz lieferten die Statistiken auch positive Zahlen:
der Zuwachs der Bevölkerung erreichte seit 1914 die
höchste Zahl: 9.750.000 Menschen lebten nun in Ungarn. Unter
ihnen gab es 1.270.000 stolze Besitzer von Volksempfängern,
die wussten, dass wenigstens eine Sache in Ordnung war: der
ungarische Fußball.
Eine Saison nach der anderen hatten die ungarischen
Fußballspieler bereits in in- und ausländischen Stadien
traumhafte Ergebnisse erzielt. Sie hatten die Gegner in die Tasche
gesteckt und mit ihrer herausragenden Spielkunst Millionen von
Sportliebhabern verblüfft. 1952 zum Beispiel gewannen die
ungarischen Nationalkicker bei den Olympischen Spielen in Helsinki
die Goldmedaille. Beim einem Länderspiel im November 1953
stürzte die mittlerweile als "goldene Mannschaft" gefeierte
Elf sogar die bis dahin unbesiegbaren Briten im Londoner Wembley
Stadion mit 6:3 vom Thron. Spätestens von da an waren die
Spieler zum Gegenstand ungarischen Selbstbewusstseins und
nationalen Stolzes avanciert. Es schien also mehr als
selbstverständlich, dass auch die Weltmeisterschaft in Bern
für Ungarn mit einem guten Omen begannen: 4:2 gegen Brasilien,
4:2 gegen Uruguay und 8:3 gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die
ungarische Regierung, die Fußballspieler und die
Öffentlichkeit badeten im Triumph. Alle waren stolz: Die
"Jungs" auf ihre "goldenen Füße", die Politiker auf den
von ihnen geförderten Sport, und die ungarischen Fans auf ihre
Nationalhelden.
Die Parteiführung in Budapest erkannte die Bedeutung des
historischen Augenblicks und legte eine besondere
Großzügigkeit an den Tag. Trotz des allgemeinen
Reiseverbots erlaubte sie einigen Familienangehörigen der
Mannschaft, für das Endspiel Deutschland gegen Ungarn in die
Schweiz zu reisen. Die Frauen wurden am Ostbahnhof von einer
begeisterten Menschenmenge verabschiedet. Diese Vorfreude, zwei
Tage vor dem Finale, erwies sich als trügerisch. Ungarische
Sporthistoriker datieren die Häufung der ungünstigen
Ereignisse, die das Endergebnis 3:2 für Deutschland
beeinflussten, auf diesen Tag. Einige Frauen verließen
nämlich - um Wasser zu holen - den Waggon auf einer Station,
wo der Zug normalerweise nur für zwei Minuten hielt. Die
Eisenbahn fuhr fahrplanmäßig ohne sie nach Zürich
weiter. Dieser Zwischenfall löste bei den aufgrund der vielen
Verlängerungen in den vorhergehenden Spielen ziemlich
ermüdeten Spielern Unruhe aus. Dazu kam das regnerische Wetter
am 4. Juli, der nicht einhundertprozentige körperliche Zustand
des Stars Ferenc Puskás und der ein wenig konfuse Beginn der
Rundfunkübertragung. Kommentator György Szepesi, den die
ungarischen Sportfreunde als den 12. Spieler betrachteten, nahm
nämlich an der Frühbesprechung der Mannschaft nicht teil
und wusste über den taktischen Rollenwechsel der Spieler nicht
Bescheid.
Die gute Form der deutschen Spieler, die selbstsichere Strategie
Sepp Herbergers, die ausgezeichnete Qualität der Stollen bei
der Mannschaft von Fritz Walter sind hingegen nicht erst seit dem
Film "Das Wunder von Bern" hierzulande bekannt. Die ungarische
Nationalelf wurde Vizeweltmeister. Die Verbitterung der Spieler und
Fans war unbeschreiblich. Das Schluchzen des Rundfunkmoderators
Szepesi klang den Hörern noch in den Ohren, als der in die
Schweiz delegierte Korrespondent der Parteizeitung erste Bilanz
zog: "Als wenn wir aus dem siebten Himmel gefallen wären - so
fühlten wir uns am Sonntag nach dem Endspiel der
Weltmeisterschaft. Inzwischen haben wir über das Ganze schon
geschlafen. Aber es scheint noch immer ein Alptraum zu sein, dass
unsere Truppe nun eine Niederlage von einem Team einstecken musste,
das man wirklich guten Gewissens nicht zu den drei besten der Welt
rechnen kann."
Die Organisation der Rückreise der ungarischen Spieler
wurde zur Chefsache. Am 7. Juli war es so weit.
Parteifunktionäre nahmen die Mannschaft an der Grenzstation
Hegyeshalom in Empfang und brachten sie in das Trainingslager Tata.
Von dort aus fuhren die Spieler nach Mitternacht in PKWs nach
Budapest. Sie mussten regelrecht reingeschmuggelt werden, da die
enttäuschten Fans, an die 200.000 Menschen, gleich nach dem
Spiel die Straßen überfluteten, Schaufenster
zertrümmerten und den kleinwüchsigen Sohn des
Cheftrainers Sebes krankenhausreif prügelten.
Der ungarische Fussball hat sich von den Folgen der
WM-Niederlage jahrzehntelang nicht mehr erholt. 1948 hatte man noch
unter Hinzuziehung freiwilliger Bauarbeiter mit der Errichtung des
Volksstadions in Budapest begonnen. Geplant waren dort 100.000
Sitzplätze, bis 1954 wurden etwa Dreiviertel bis zur
Einweihung fertig gestellt. Dann wurde der Weiterbau gestoppt. Nach
dem Volksaufstand von 1956, dessen Zündstoff viele Historiker
in der Fußballtragödie sehen, waren die Westgrenzen des
Landes zeitweilig offen. Unter den Ausgewanderten befanden sich
manche Stars wie Kocsis, Puskás und Czibor sowie die gesamte
Nachwuchself.
Danach kam die Phase der Stagnation, wenngleich mit einigen
Höhepunkten wie bei der WM in Chile 1962, als die Ungarn unter
die fünf besten Mannschaften kamen. Zwei Jahre später bei
den Olympischen Spielen in Tokio grüßten wieder die
Klänge der ungarischen Hymne die besten Spieler. Dieser
Schwung hielt nicht mehr lange an; die Ungarn nahmen Abschied vom
Rasen der ausländischen Stadien und lebten sich fortan im
sozialistisch organisierten heimischen Fußballalltag aus. Die
Partei sorgte sich weiter um die einzelnen Profispieler: PKWs ohne
die übliche langjährige Wartezeit, Kühlschränke
und Fernsehgeräte, und nicht zuletzt das nobelste Geschenk,
die Eintragung von Schein-Arbeitsstellen in den
Personalausweis.
Langsam aber sicher verlor der ungarische Fußball seine
Anziehungskraft; in den Städten wurden kaum neue Stadions
gebaut, geschweige denn bestehende renoviert. In dieser Situation
brach die Wende von 1989 - 90 an. Für den Fußball war es
allerdings zunächst noch keine zum Guten. Während die
Nationalkicker in der sozialistischen Zeit wenigstens noch gewisse
Privilegien genossen, wurden nach dem Systemwechsel alle Zahlungen
eingestellt. Der Staat hatte kein Geld mehr, und die Privatisierung
der Klubs und Vereine begann nur langsam. Die Unlust, in einen
unfruchtbaren Industriezweig zu investieren, war jahrelang nicht zu
übersehen. Erst 1998, als die jung-dynamischen Vertreter der
rechtskonservativen Regierung an die Macht kamen, begann die
Politik, dem Fußballsport gegenüber eine ambitionierte
Haltung einzunehmen. Sie gab grünes Licht für die
Privatisierung der Fußballklubs und verabschiedete das so
genannte Nachwuchs- und das Stadionrenovierungsprogramm. Der
Verkauf der Mannschaften lief in der Hauptstadt relativ gut an, in
der Provinz liegen die Vereine jedoch nach wie vor den Gemeinden
auf der Tasche. Das Fehlen entsprechender Mittel macht Spieler und
Fans gleichermaßen unglücklich. Die Hoffnung richtet sich
auf den Nachwuchs. Bei dessen Ausbildung geschieht tatsächlich
etwas. Seither ist Fußball zumindest unter den Kindern und
Jugendlichen wieder attraktiv geworden. Immerhin verbirgt sich, so
vermuten Experten, unter 40.000 eingeschriebenen Nachwuchsspielern
einer von Weltrang. Dennoch wird der ungarische Fußball noch
Jahre brauchen, um sich wieder zu erholen.
50 Jahre nach Bern reden die Fans über den großen
Triumph im Wembley-Stadion und beweinen immer noch das Endspiel in
der Schweiz. Alle haben sich zwar damit versöhnt, dass das
dritte Tor von Puskás, das der Schiedsrichter zum Abseits
erklärte, wahrscheinlich auch nicht den Sieg gebracht
hätte. Fußballer Buzánszky wacht, wenn er von dem
Spiel träumt, schweißgebadet auf. Er wird am 4. Juli 2004
mit Grosics und Szepesi die ungarische Mannschaft in Kaiserslautern
begrüßen. Dort kommt es zu einem Freundschaftsspiel
zwischen den beiden Nationen. Wenn Ungarn siegen würden,
könnte man von einem Wunder von Kaiserslautern sprechen.
Andrea Dunai
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