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Elli Kovács
"Vinum regnum - rex vinorum" aus Tokaj
Die jahrhundertealte, süße Liaison
zwischen Ungarn und Frankreich
Es gibt eigentlich nur einen Grund, warum Fremde in das
750-Seelendorf Hercegkút im Nordosten Ungarns, unweit der
ungarisch-slowakischen Grenze gelegen, reisen. Dort, wo der Ort
endet, liegt ein Hügel, und dahinein haben die Vorfahren der
heutigen Bewohner ihre ersten Wohnungen gebaut. Die UNESCO hat die
Erdhöhlen, die schon bald als Weinkeller benutzt wurden, als
Teil des Weltkulturerbes geschützt. Doch genau wie
Erdhöhlen und Weinfässer es so an sich haben, wird die
Geschichte umso interessanter, je tiefer man sich in sie
vergräbt. Während des nationalen Bauernaufstandes unter
Ferenc Rákóczi, also zu Beginn des 18. Jahrhunderts,
wurden weite Landstriche Ungarns verwüstet. Um die
Landwirtschaft wieder aufzubauen, holte Prinz Trautson 1748/49
unter der Oberherrschaft Maria Theresias deutsche Siedler in die
verwilderte und entvölkerte Gegend. Es waren jene Leute, die
die Erdhöhlen bauten. Sie kamen aus dem Schwarzwald und dem
deutsch-französischen Grenzgebiet. Man könnte also
glauben, die aus Weinbaugebieten stammenden Siedler hätten den
veredelten Traubensaft mit nach Ungarn gebracht. Doch die
Geschichte beginnt früher.
Als wäre es Teil eines großen Planes, stießen die
mit dem Weinbau groß gewordenen Deutschen bei ihrer Ankunft in
Ungarn auf eine bereits existierende, und hervorragend ausgebaute
Weinbautradition. Der Wein aus der Region rund um den genauso
winzigen, aber berühmten Ort Tokaj, zu der auch Hercegkút
gehört, war schon damals einer der bekanntesten und besten.
Die neuen Siedler mussten sich also nur der neuen Umgebung anpassen
und die für sie ungewohnten Methoden übernehmen. Schon
damals stellten die Kellereien in Tokaj vor allem dem von
edelfaulen Trauben stammenden Süßwein, den so genannten
Aszú (überreif, edelfaul) her.
Der Weinbau im Anbaugebiet Tokaj geht bis ins Mittelalter
zurück. 1650 befahl der König den Bauern, die Trauben
hängen zu lassen, bis die Gefahr türkischer
Überfälle gebannt sei. Dadurch kreierte er erstmals die
Trockenbeerenauslese, die den Wein bis nach Frankreich und in
anderen europäischen Königshäusern bekannt machte.
Der Prozess, Trauben an den Rebstöcken hängen zu lassen,
bis, mit Hilfe von edlen Schimmelpilzen, zuckersüße
Rosinen daraus entstanden sind, war bis dahin anscheinend selbst in
Frankreich nicht bekannt. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. nannte
den Tokajer Aszú "vinum regnum, rex vinorum", Wein der
Könige, König der Weine. Erst im 18. und 19. Jahrhundert
gelang es den Franzosen, mit dem Sauternes den ungarischen
Süßwein nachzuahmen.
Dabei ist der Prozess relativ einfach. Edelsüße Weine
werden aus überreifen, äußerst zuckerreichen Trauben
gewonnen. Dazu lässt man die Trauben einfach so lange am
Rebstock hängen, bis die Traubenstiele im Herbst vertrocknen
und das Wasser in den Beeren verdunstet. Der Zuckergehalt im
Traubensaft steigt dadurch an. Die Edelfäule treibt die
Entwicklung weiter voran. Botrytis Cinerea, wie der Pilz
heißt, macht die Traubenhaut porös und lässt dadurch
mehr Flüssigkeit entweichen. Außerdem verändert der
Pilz den Geschmack der Beere. Seine Enzyme bilden die Aromastoffe
für die typische Honignote des Süßweins.
Allerdings reift Botrytis nicht immer zu einem Heilsbringer
für den Wein heran. Wenn es zu früh regnet und sich der
Edelpilz auf die noch nicht ausgereiften Trauben setzt, entsteht
die so genannte Rohfäule mit unangenehmem Geschmack. Erst bei
einem Zuckergehalt von 65 bis 70 Grad Öchsle beginnen die
Trauben in gewünschter Weise zu faulen. Das heißt, der
Wein kann also nur dort zum dem edlen Tropfen gedeihen, wo es
besondere klimatische Bedingungen gibt. Und das ist der Grund,
warum der Wein vielleicht tatsächlich zuerst in Tokaj
entstanden ist. In Kalifornien zum Beispiel sind die Sommer zwar
heiß und trocken, der Herbst für Botrytis aber nicht
feucht genug. Und auch wer in Deutschland süßen Wein
herstellen will, ohne zu panschen, muss sich besonders
anstrengen.
Um die so genannte Auslese, die erste Qualitätsstufe mit
einen Zuckergehalt von 83 bis 105 Grad Öchsle, zu bekommen,
müssen die Trauben zunächst ausgelesen werden. Das
heißt, der Winzer entfernt zur Lesezeit in Handarbeit die
schlechteren Trauben und lässt nur noch die ganz besonders
kräftigen und gesunden am Stock. Das lohnt sich allerdings
nur, wenn der Sommer trocken und sonnig genug war.
Wenn im sich späten Herbst dann die Feuchtigkeit und mit
ihm der Edelpilz über die Trauben hermachen, kann der
nötige Zuckergehalt von 110 bis 128 Grad Öchsle
entstehen. Der daraus gewonnene Wein nennt sich Beerenauslese.
In besonders guten Jahrgängen, wenn es im Herbst nicht zu
viel regnet, also nur mit besonders viel Glück, erreichen die
Trauben sogar noch einen höheren Zuckerwert (150 Grad
Öchsle). Es entsteht die so genannte Trockenbeerenauslese. Die
Trauben sind am Stock zu zuckersüßen Rosinen getrocknet.
Mit viel Mühe und in tagelanger Arbeit presst der Winzer
daraus den Most.
Die nächste Stufe sind die echten Eisweine mit 150 bis 200
Grad Öchsle. Allerdings wagen nur noch die ehrgeizigsten und
mutigsten Winzer diese Produktion. Man stelle sich vor, der
Jahrgang war bis dahin perfekt. Doch statt die wertvollen Trauben
nun zu ernten, um einen hervorragenden Wein zu machen, lasse man
die Trauben noch hängen und warte auf das kleine
Quäntchen mehr an Glück: Eiswein entsteht nicht durch
Sonne und schon gar nicht bei Regen sondern nur durch trockenen
Frost. In den Trauben trennt sich durch das Gefrieren das Wasser
aus dem Most. Zucker und Aromastoffe werden noch einmal
konzentriert.
Eiswein gedeiht in Ungarn, wo der Sommer heiß und der
Herbst mild, aber dennoch gelegentlich feucht ist, nicht.
Dafür aber eine umso bessere Trockenbeerenauslese, eben der
Wein aus Tokaj, der Tokaji Aszú. Um ihn herzustellen,
müssen die Winzer die edelfaulen Trauben auch heute noch per
Hand und in mehreren Durchgängen lesen. Die Beeren werden
einzeln vom Rebstock gepflügt. Dann, so schreibt es die
Tradition vor, vermischen die Produzenten die Trauben in einem
bestimmten Verhältnis mit dem vorher aus der gleichen Rebsorte
gewonnen Grundwein (70 Prozent Furmint, 28 Prozent
Lindenblättriger, ein bis zwei Prozent gelber Muskateller).
Die Maische wird erneut gepresst. Aus dem so gewonnenen Most
entsteht nach mehrjähriger Lagerung der Wein. Je mehr
Bütten (traditionelle Holzbehälter mit 25 Kilogramm
Traubeninhalt) edelfauler Beeren die Winzer dem 136-Liter-Fass
Traubenmost beimischen, desto süßer und aromatischer wird
hinterher der Wein. Das Mischungsverhältnis steht auf der
Flasche. Zwei, drei oder vier "puttony" (das ungarische Wort
für Bütten) pro Fass sind gut. Je nach Geschmack,
Geldbeutel, Lust und Laune kann sich der Weinkenner aber auch mal
einen fünf oder sechs puttonyos Aszú gönnen.
Während des Sozialismus haben die Ungarn begonnen, den
Tokaji Aszú in genossenschaftlich organisierten
Großkellereien herzustellen. Er wurde auch in den Westen
verkauft und brachte so Devisen. Bei der Massenherstellung gingen
allerdings nicht nur das traditionelle Winzerflair, sondern auch
ein Großteil der Herstellungstradition verloren. Aus der edlen
Beerenauslese wurde ein überall bekanntes, aber im Grunde
qualitativ minderwertiges Massenprodukt. Die Rettung kam nach der
Wende, und zwar, die Ungarn werden es nicht gerne hören, aus
Frankreich, wo schon Jahrhunderte zuvor erst Lob und Bewunderung
und später dann die Konkurrenz entstand.
Der französische Großkonzern AXA-Millésimes, der
von Hause aus eigentlich nichts mit der Weinherstellung zu tun hat,
erkannte das wirtschaftliche Potential der
geschichtsträchtigen Winzerregion. Er kaufte ein altes, etwas
außerhalb von Tokaj gelegenes Weingut und beauftragte
französische wie internationale Önologen damit, die alte
Tradition des Weins neu zu beleben. Die Umgebung bietet dafür
den nahezu perfekten Rahmen. Im 18. Jahrhundert gehörten das
Gebäude und die mehr als 160 Hektar Land zum Besitz der
Adelsfamilie Rákóczi. Spätestens seit Beginn des 19.
Jahrhunderts soll dort Wein produziert worden sein. Auf Gut
Disznókö reift der Wein heute zwar aus hygienischen
Gründen zunächst in Edelstahltanks heran. Erst zum
Schluss, wenn die Hauptgärung abgeschlossen ist, veredeln
echte Fässer und der alte, tief in den Tuffstein
hineinreichende Keller das Getränk. Das alte Gebäude
haben die Investoren aber erhalten und ein französisches
Restaurant darin eingerichtet.
Nun produziert nicht nur Disznókö guten Tokaji
Aszú. Selbst im verschlafenen Hercegkút, wo die Menschen
jahrzehntelang Wein nur für den Eigenbedarf hergestellt und
ansonsten jede Traube an die Genossenschaft verkauft haben,
entdecken immer mehr junge Winzer den professionellen
Erzeugeranbau. Das heißt, sie bewirtschaften die
Rebstöcke, ernten, vinifizieren, experimentieren im Keller und
füllen zum Schluss selber ab, und das alles in erstaunlich
guter Qualität. Einige junge Erzeuger spezialisieren sich auf
trockenen Wein statt des traditionellen Aszú. Andere wiederum
wandeln ihn kreativ ab. Der ein oder andere von ihnen hätte
mit Sicherheit eine internationale Auszeichnung verdient. Doch die
bekommen statt dessen die Winzer von Disnókö. Dahinter
stecken Geld, Verbindungen und eine gute Marketingstrategie. Denn
der französische Konzern will seinen Wein nicht nur dem
ungarischen, sondern auch dem englischen, amerikanischen, deutschen
und vor allem dem französischen Weinkenner verkaufen. Seinen
Wein einmal im Jahr einer Jury zu präsentieren gehört,
ebenso wie ein mehrsprachiges Farbprospekt, einfach dazu.
Doch zumindest in einer Hinsicht haben die Winzer von
Herzegkút denen von Disnókö etwas voraus. Sie haben
alte Keller, gebaut nicht nur für Wein, sondern für die
dazu gehörenden Menschen. Einmal im Jahr versammeln sich dort
die Bürger der umliegenden Dörfer und prämieren -
auch als Marketing-Gag - ein ganz besonderes Getränk, den so
genannten Bürgermeisterwein. Elli Kovács
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