Heinz Kramer
Reformerfolge und ungelöste Probleme
Literaturhinweise zu Politik und Gesellschaft
der Türkei und zum avisierten EU-Beitritt des
Landes
In Deutschland läuft gegenwärtig eine
politisch hoch kontroverse Debatte darüber, ob die Türkei
Mitglied der Europäischen Union werden soll. Das Pro und
Contra wird dabei erheblich von Vorstellungen über die
Türkei und ihre Identität sowie von erwarteten oder
befürchteten Folgen einer Mitgliedschaft bestimmt. Dabei ist
es gar nicht so einfach, über die Medienberichte hinaus dazu
umfassende und verlässliche Informationen zu finden. Im
deutschen wissenschaftlichen oder Fachschrifttum spielt die
Türkei, ihre Politik, Wirtschaft und Kultur, keine
herausragende Rolle. Die hier genannten neueren
Veröffentlichungen könnten helfen, einige
Informationsdefizite zu beseitigen und Vorurteile abzubauen.
Einen historisch fundierten und gut lesbaren
Überblick der Entwicklung der modernen Türkei bietet die
Arbeit von Brigitte Moser und Michael Weithmann. Die Autoren
entfalten ihre Darstellung bewusst vor dem Hintergrund der
EU-Beitrittsfrage, ohne jedoch direkt auf sie im einzelnen
einzugehen. In sechs Teilen und 29 Kapiteln schildern sie vor allem
den Weg der Republik seit der Gründung bis zu den ersten
Reaktionen auf die Entscheidung des Europäischen Rates von
Helsinki im Dezember 1999, der Türkei den offiziellen Status
eines Beitrittskandidaten einzuräumen.
Es handelt sich um eine klassische politische
Geschichte, in der Personen und Ereignisse im Vordergrund stehen,
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte eher kursorisch und
nur so weit behandelt werden, wie sie für das Verständnis
der politischen Vorgänge erforderlich sind. Die kurzen
landeskundlichen und geschichtlichen Einführungen gehen
über die Vermittlung der wesentlichsten Fakten und
Zusammenhänge nicht hinaus. Der hieran interessierte Leser
wird dazu weiterführende Fachliteratur konsultieren
müssen, auf die in einem knappen, aber kompetent
zusammengestellten Literaturverzeichnis hingewiesen
wird.
Die Autoren beschränken sich nicht nur
auf die reine Darstellung, sondern scheuen auch nicht politisch
einordnende Urteile über die in der Regel sachlich und
umfassend geschilderten Ereignisse und Strukturen. So beurteilen
sie zum Beispiel die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre
2000 und 2001 zutreffend als Ausdruck eines gesellschaftlichen
Prozesses, der die alten Machtstrukturen zugunsten jüngerer
Kräfte ablöst und formulieren für die EU die
Aufgabe, die Türkei dabei zu unterstützen.
Aktuelles Panorama
Stephen Kinzer lebte Ende der 90er-Jahre
für vier Jahre als Korrespondent der "New York Times" in der
Türkei. In seinem Buch präsentiert er in bester
journalistischer Manier, ohne oberflächlich zu werden, die
Quintessenz dieses Aufenthaltes und entfaltet in zehn Kapiteln das
ganze Panorama der aktuellen politischen Problematik des Landes.
Vom Atatürk-Kult um den Gründer der Republik über
den sich neu definierenden politischen Islam, die unbewältigte
Armenierfrage, das ebenso noch einer Lösung harrende
Kurdenproblem, die politische und gesellschaftliche Sonderrolle des
Militärs bis hin zu den staatlichen Methoden der
Einschränkung der Bürger- und Menschenrechte bleibt
keines der Phänomene unbehandelt, die vor allem im letzten
Jahrzehnt das politische und gesellschaftliche Klima bestimmt
haben.
Dieses Klima sieht er vor allem geprägt
von einem Kampf zwischen den Vertretern der alten Ordnung, des
republikanischen Dogmatismus, und den Kräften, die die
Türkei unter die modernen Demokratien des 21. Jahrhunderts
einreihen wollen. Eine der wichtigsten Triebkräfte auf diesem
Weg ist in Kinzers Sicht die Verheißung der Mitgliedschaft in
der Europäischen Union. In ihr bündeln sich jene
Perspektiven und Kräfte, die die heutige Türkei von den
Fesseln der aus der Gründungszeit der Republik resultierenden
Ängste und Dogmen befreien könnten.
Die Südosteuropa-Gesellschaft
präsentiert in Heft 1/2004 ihrer
"Südosteuropa-Mitteilungen" mit dem Schwerpunkt Türkei in
sechs Beiträgen wissenschaftlich fundierte Analysen zu den
wichtigsten Aspekten der aktuellen Beitrittsdebatte. Günter
Seufert zeigt in seiner Analyse des Verhältnisses von Staat
und Religion, dass die Türkei hier eher europäischen
Vorstellungen als islamischen Traditionen folgt, dabei jedoch noch
in einem Stadium verharrt, das in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
zugunsten einer weitgehenden Liberalisierung aufgegeben
wurde.
Fundierte Analysen
Siegfried Schultz kommt in seiner
Untersuchung der jüngsten Wirtschaftsentwicklung zum Schluss,
dass die Türkei sich erst auf halbem Wege zu einer
krisenfesten Ökonomie befindet und bis zu einem - erst
für das nächste Jahrzehnt zu erwartenden - Beitritt noch
einen erheblichen Transformationsprozess durchlaufen muss.
Gülistan Gürbey würdigt die jüngsten
Liberalisierungsmaßnahmen der türkischen Kurdenpolitik
als einen wichtigen Schritt auf dem Weg nach Europa, kommt jedoch
zum Schluss, dass ein ernsthaftes Bemühen um einen
"europäisch-türkisch-kurdischen" Konsens über eine
politische Regelung des Konfliktes noch aussteht.
Heinz Kramer identifiziert in einer Analyse
der jüngsten politischen Reformen das Militär, das
Parteiensystem und die Spitzen des Staatsapparates als andauernde
Schwachpunkte bei dem Bemühen der neuen Regierung um die
Verwirklichung des europäischen Modells der liberalen
Demokratie, für dessen Verwirklichung in der Bevölkerung
die notwendigen Elemente einer demokratischen politischen Kultur
durchaus vorhanden sind. Çigdem Akkaya und Caner Aver zeigen
in einem Panorama der sicherheitspolitischen Herausforderungen,
denen sich die Türkei in ihrer Region gegenübersieht, die
gerade in jüngster Zeit deutlich gestiegene Bedeutung des
Landes für die Entwicklung einer stabilen regionalen
Nachbarschaft der Europäischen Union.
Hieran knüpft auch Lieselore Cyrus in
ihren Überlegungen zu den deutschen Interessen an einer
Verankerung der Türkei in Europa an. Sie hebt dabei besonders
den positiven Effekt der Beitrittsperspektive für den
innertürkischen Reform- und Stabilisierungsprozeß hervor,
von dem sowohl Rückwirkungen auf die in der EU lebenden
Türken ausgehen als auch verbesserte Anreize für eine
verstärkte Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen.
Der von Wulfdiether Zippel herausgegebene
Band vereint die bekannten Vorzüge und Schwächen von
Tagungsbänden: in der Regel kompetente Behandlung der
einzelnen Themen ohne erkennbares Gesamtkonzept der getroffenen
Auswahl. Unter dem leicht irreführenden Titel
"Südost-Erweiterung der EU" geht es nicht um den
rumänischen und/oder bulgarischen Beitrittsprozess, sondern es
werden auf 141 Seiten wesentliche Aspekte der
EU-Türkei-Beziehungen mit Blick auf die Beitrittsproblematik
behandelt.
Der Leser wird in der Regel korrekt und
umfassend über die jeweilige Thematik auf dem Stand vom Herbst
2001 informiert. Dabei handelt es sich um aktuelle Momentaufnahmen
etwa der Beziehungen zur ESVP, zur sozioökonomischen Lage der
Türkei, zu Verfassungspolitik und -reform in der Türkei
sowie zum Zypernproblem oder zur Zollunion EU-Türkei. Leider
fehlt eine Zusammenschau der verschiedenen Aspekte unter der
Beitrittsperspektive. Besonders bedauerlich, dass diese
Beiträge einer deutsch-türkischen Expertentagung in der
Regel immer nur die Sicht jeweils einer Seite auf das Thema
spiegeln.
Treffen in Antalya
Ähnlich verhält es sich mit dem von
Werner Gumpel herausgegebenen Sammelband zu einer
deutsch-türkischen Konferenz vom September 2001 in Antalya. In
drei Blöcken werden in teilweise recht knappen Beiträgen
politische und wirtschaftliche Aspekte der deutsch-türkischen
Beziehungen und der regionalen Rolle der Türkei sowie Fragen
der türkischen Migration nach Deutschland und Westeuropa
behandelt.
Lesenswert sind besonders die Beiträge
von Ali Hikmet Alp über die türkische Balkanpolitik, von
Siegfried Schultz über die deutsch-türkischen
Wirtschaftsbeziehungen und von Çigdem Akkaya über die
Türken in der EU. Sie beleuchten Aspekte, über die der
interessierte Leser in deutschen Medien sonst wenig
erfährt.
In zehn Jahren "reif"?
Besonderes Interesse dürfte das von
Wolfgang Quaisser und Alexandra Reppegather vom Münchner
Osteuropa-Institut für das Bundesministerium der Finanzen
angefertigte Gutachten finden. Auf 84 Seiten untersuchen die
Autoren ausführlich die ökonomische Beitrittsreife der
Türkei und stellen wirtschaftswissenschaftlich fundierte
Überlegungen zu den Konsequenzen einer türkischen
EU-Mitgliedschaft an. Sie gehen davon aus, dass die
wirtschaftlichen Beitrittskriterien bei einer erfolgreichen
Fortsetzung des mit der gegenwärtigen Konsolidierungspolitik
eingeschlagenen Kurses in etwa einem Jahrzehnt keine Barriere
für einen EU-Beitritt mehr darstellen.
Allerdings bleibt auch dann der enorme
wirtschaftliche Abstand zwischen der EU und der Türkei
bestehen. Deswegen wirft ein Beitritt erhebliche Anpassungsprobleme
für die EU und für die Türkei auf: Ohne
größere Reformen in der Agrar-, vor allem aber in der
Strukturpolitik wird ein türkischer Beitritt nur schwer zu
verkraften sein. Die tatsächlichen Konsequenzen können
aber auch in dieser Arbeit aus methodischen Gründen nur schwer
vorher gesagt werden. So variieren die Schätzungen der Kosten
eines Beitritts im Jahre 2013 je nach den zugrunde gelegten
Annahmen zwischen 5,2 und 14,0 Milliarden Euro.
Unklar bleibt, warum mit Blick auf die
EU-internen Entscheidungsprozesse als Folge des türkischen
Beitritts gerade auf das Anwachsen des Gewichts der
Kohäsionsländer abgestellt wird. Dies wäre nur dann
von besonderer Bedeutung, wenn die Frage der EU-internen
Solidarität die überragende politische Leitlinie für
das Entscheidungsverhalten der Mitgliedstaaten in allen
wesentlichen Fragen des Jahres 2013 wäre. So sollte die Arbeit
eher als nützliches Kompendium der mit einem türkischen
Beitritt verbundenen Vielfalt an Problemen und ihrer Dimensionen
gesehen werden, denn als exakte Prognose der tatsächlichen
Folgen.
Türkischer Islam
Die europäische Identität der
Türkei als muslimisches Land ist einer der am heftigsten
diskutierten Aspekte in der Debatte über einen türkischen
EU-Beitritt. Wie die gedankenlose Charakterisierung als
"islamischer Großstaat" zeigt, fehlt es den Diskutanten
häufig an zureichenden Kenntnissen und einem vertieften
Verständnis des türkischen Islams als politisches und
gesellschaftliches Phänomen. Hier kann die Lektüre einer
Arbeit von Judith Hoffmann erste Abhilfe schaffen, die aus einer
Diplomarbeit an der FU Berlin hervorgegangen ist.
Vor dem Hintergrund der politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse, denen die
Türkei nach dem Militärputsch von 1980 und während
der Ära Özal ausgesetzt war, untersucht die Autorin den
Aufstieg und Fall der Wohlfahrtspartei (RP) des Necmettin Erbakan
als Speerspitze des politischen Islams sowie die Herausbildung des
islamischen Unternehmerverbandes MÜSIAD während der
90er-Jahre. Sie zeigt, dass diese Entwicklungen viel mehr Ausdruck
unbewältigten wirtschaftlichen und politischen Wandels waren
als Folgen einer besonderen islamischen türkischen
Identität. Dasselbe gilt für den phönixgleichen
Aufstieg der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des
heutigen Ministerpräsidenten Erdogan, den sie in einem kurzen
Nachwort skizziert.
Brigitte Moser/Michael W.
Weithmann
Die Türkei. Nation zwischen Europa und
dem Nahen Osten.
Styria/Pustet, Regensburg 2002; 351 S., 32,-
Euro
Stephen Kinzer
Crescent a tar. Turkey Between Two
Worlds.
Farrar, Strauss and Giroux, New York 2001;
252 S.,
ISBN 0-374-52866-7.
Südosteuropa-Gesellschaft
Südosteuropa Mitteilungen, 1/2004, 44.
Jahrgang, ("Schwerpunkt Türkei").
München 2004; 118 S., 10,-
Euro
Wulfdiether Zippel (Hrsg.)
Spezifika einer Südost-Erweiterung der
EU.
Die Türkei und die
EU-Türkei-Beziehungen.
Schriftenreihe des Arbeitskreises
Europäische
Integration e. V., Bd. 49.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
2003;
141 S., 34,- Euro
Werner Gumpel (Hrsg.)
Die Beziehungen der Türkei mit
Deutschland und der Europäischen Union.
Südosteuropa-Studien, Band
72.
Verlag Südosteuropa-Gesellschaft,
München 2003;
126 S., 19,50 Euro
Wolfgang Quaisser/Alexandra
Reppegather
EU-Beitrittsreife der Türkei und
Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft.
Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums
der Finanzen.
Working Papers Nr. 252 des
Osteuropa-Instituts,
München 2004; 84 S., 11,50
Euro
Judith Hoffmann
Aufstieg und Wandel des politischen Islam in
der Türkei.
Nahost-Studien, Band 5.
Verlag Hans Schiler, Berlin 2003; 132 S.,
24,- Euro
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