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Josef-Thomas Göller
Mullah-Diktatur oder Demokratie
Vor den ersten freien Wahlen im Irak
Über 100 tote Soldaten, darunter der
deutschstämmige Football-Star Pat Tillman, sowie 879 Verletzte
sind die Bilanz der amerikanischen Besatzung im Irak innerhalb der
ersten 20 Tage des Monats April. Ein Albtraum für das
amerikanische Militär wie für die Nation zu Hause.
Gleichzeitig müssen die GIs vor Ort zusehen, wie 1.500
spanische Soldaten einpacken. Auch die Japaner haben das Land
verlassen. Die von US-Außenminister Colin Powell und seinem
Präsidenten gepriesene "Allianz" bröckelt angesichts des
sich steigernden Hasses und des Widerstandes des männlichen
arabischen Bevölkerungsteils im Irak.
Kein Wunder, dass Präsident Bush unter
Druck gerät. Schließlich sind es nur noch sechs Monate
bis zur Präsidentenwahl. Bush weiß, dass er den
Wählern irgendeinen Erfolg im Irak nachweisen muss. Die
Gefangennahme des Diktators Saddam Hussein reicht nicht mehr,
seitdem täglich amerikanische Soldaten im Kampf gegen den
hartnäckigen Widerstand irakischer Aufständischer fallen,
internationale Aubauhelfer entführt und bestialisch ermordet
werden; nicht, seitdem es mehr und mehr Menschen in den USA
dämmert, dass bestimmte Bevölkerungsteile des Irak gar
keine Demokratie wollen. Die Frage nach dem Sinn einer Fortsetzung
des amerikanischen Militär-Engagements steht riesengroß
im Raum. Darstellbarer Erfolg für Bush kann nur noch seitens
der Iraker kommen. Trotz der außer Kontrolle amerikanischer
Besatzer geratenen Stadt Nadschaf, in der der radikale
Schiiten-Führer Mullah Moqtada al-Sadr und seine Miliz mit
brutaler Hand regieren, sowie der täglichen Anschläge der
Sunniten um Bagdad hält George W. Bush eisern an der vor
Monaten beschlossenen Machtübergabe am 30. Juni und den Wahlen
im Februar 2005 fest. Nach diesem Tag sollen die Iraker ihr Land
selbst regieren. Und nach einer Stabilisierungsphase von einigen
Monaten möchte Bush seine Boys nach Hause holen, einen
Großteil der derzeit 130.000 Soldaten schon vor dem
amerikanischen Wahltermin am 2. November. "Mission accomplished" -
Auftrag ausgeführt, möchte der Präsident seiner
Nation verkünden.
Betrachtet man die täglichen
kriegerischen Auseinandersetzungen der schiitischen Milizen sowie
der sunnitschen Ba'ath-Partei-Getreuen und Alt-Saddamisten gegen
die amerikanische Besatzung, scheint eine freie Wahl, die Bildung
einer demokratischen Regierung illusorisch. Doch im Land zwischen
Euphrat und Tigris agieren und positionieren sich noch andere
politische Kräfte. Ihre Chancen, den Irak nach dem 30. Juni in
ruhigere Fahrwasser zu steuern, sind besser, als die täglichen
Fernsehbilder über die Greueltaten der Aufständischen
glauben machen. Es bedarf tatsächlich eines Blicks hinter die
Kulisse aus Rauchwolken und telegenen siegestrunkenen "arabischen
Massen" vor einem zerstörten Humvee-Jeep, um jene anderen,
kaum wahrgenommenen politischen Kräfte im Irak auszumachen.
Doch sie gibt es genauso, wie die Aufständischen gegen Amerika
- und ihr Einfluss ist vermutlich sogar viel
größer.
Die bisherige Übergangsverfassung des
Irak sieht folgende Regierungsform vor: Staatsoberhaupt wird ein
eher symbolischer Präsident, der jedoch weitreichendere
Befugnisse hat als der deutsche. Seine Macht wird von zwei
Vize-Präsidenten eingeschränkt, die den Entscheidungen
des Präsidenten zustimmen müssen oder diese ablehnen
können. Staatschef wird ein Ministerpräsident.
Verteidigungs- und Außenminister sind dem
Ministerpräsidenten unterstellt.
Schon vor der Invasion machte sich der
Exil-Iraker Ahmad Chalabi einen Namen als möglicher
Ministerpräsident eines freien Irak. Vor allem in den USA
verstand es Chalabi überzeugende Lobby-Arbeit für sein
Ansinnen zu leisten. Skeptisch gegen ihn blieb stets und bleibt
standhaft allein das amerikanische Außenministerium, das
Chalabi als "windigem Geschäftsmann" mit wenig Sinn für
Demokratie misstraut. Chalabi hat Ende der 80er-Jahre die von ihm
gegründete Bank "Petra" in Jordanien in den Bankrott getrieben
und wurde dort wegen Bankbetrugs in Abwesenheit zu 22 Jahren
schwerer Zwangsarbeit verurteilt.
Zuerst vom demokratischen Präsidenten
Bill Clinton favorisiert, erfährt der ehemalige Exil-Iraker
heute die größte Unterstützung von dem Trio der
Erz-Konservativen: Vizepräsident Dick Cheney, dessen
Zögling, der Stellvertretende Verteidigungsminister Paul
Wolfowitz sowie dem Vordenker der Neo-Konservativen, Richard Perle.
Der Militärische Geheimdienst des Pentagon zahlt Chalabi nach
wie vor jährlich 340.000 Dollar, obwohl inzwischen offenkundig
ist, dass aus seinem Kreis jenes Märchen aus
Tausend-und-Einer-Nacht von den irakischen Massenvernichtungswaffen
und der Verbindung Saddams zu Osama Bin Laden stammt, das
Präsident Bush den Kriegsgrund lieferte.
Doch der durchtriebene Chalabi, nach 45
Jahren Exil in den USA, Jordanien, Syrien und England in seine
Heimat zurückgekehrt, hat sich binnen eines Jahres als
aufsteigende Machtperson in Bagdad etabliert. Als Führer der
einstigen Exil-Partei "Irakischer Nationaler Kongress" - seit 1994
von den USA mit 40 Millionen Dollar finanziert - riss er nicht nur
den Vorsitz über die Kommission der Ent-Ba'athifizierung an
sich - vergleichbar der Entnazifizierung in Deutschland nach 1945,
sondern machte sich erfolgreich ehemalige Saddam-Getreue
gefügig. Wie der Journalist Arnaud de Borchgrave von "United
Press International" kürzlich veröffentlichte, hat sich
Chalabi in den Besitz von mehreren Dutzend Tonnen Dokumente und
persönlichen Führungsakten des ehemaligen Geheimdienstes
Saddams gebracht - vergleichbar den Stasi-Akten - und verfügt
damit über einen Schatz an Informationen, die er hemmungslos
gegen jene einsetzt, die sich ihm entgegenstellen.
Der in den USA zum Mathematiker ausgebildete
Aufsteiger lässt außerdem durchsickern, dass er eine
Zusammenarbeit zwischen dem jordanischen König Abdullah und
dem 2003 getöteten Sohn Saddams, Udai, beweisen könne.
Außerdem will er über Namen von Amerikanern und
Journalisten des Nahen Ostens verfügen, die von Saddam
bestochen worden seien.
Da stets unsicher blieb, ob Chalabi in
Washington wirklich hoch im Kurs steht, kultivierte er schon seit
Jahren enge Kontakte sowohl zu Israel als auch zum iranischen
Mullah-Regime. Wie weit seine Annäherung an die schiitischen
Fanatiker geht, zeigt, dass er von ihnen die Erlaubnis erhielt, in
Teheran ein Verbindungsbüro einzurichten. Jetzt schlägt
Chalabi Kapital aus diesen früheren Kontakten. Er holt
iranische "Geschäftsleute" in den Irak und betont, dass er
selbst der schiitischen Glaubensrichtung angehöre. Die Taxis
in der Hauptstadt sind auffällig häufig von iranischen
Fahrgästen belegt, so dass sich für Sunniten in Bagdad
die Frage aufdrängt, welche wahren Absichten der Iraner sich
hinter ihrer Geschäftigkeit verbergen.
Das Ausmaß des iranischen Einflusses auf
das künftige politische Geschick des Landes bleibt
tatsächlich noch abzuwarten. Es ist unklar, ob Teheran den
radikalen irakischen Schiitenführer Moqtada al-Sadr, der den
Aufstand gegen die USA probt, favorisiert, oder
gemäßigtere Schiitenführer, wobei selbst diese aus
westlicher Sicht als "radikal" einzustufen sind, denn eine
lautstarke Mehrheit der irakischen Schiiten sieht im Religionsstaat
Iran ihr Vorbild.
Die schiitischen Wähler könnten im
Grunde genommen allein die Zukunft des Landes bestimmen, da sie mit
60 Prozent Bevölkerungsanteil die Mehrheit der Iraker stellen.
Dies wäre der endgültige Todesstoß für die
Politik Bushs: Man stelle sich vor, im Irak würde im Februar
2005 zum ersten und letzten Mal frei gewählt werden. Danach
würde eine schiitische Mullah-Junta die Macht
übernehmen.
Dies erscheint jedoch nicht als
wahrscheinlich, auch wenn die Berichte aus Falludscha und Nadschaf
einen anderen Eindruck erwecken. Denn drei weitere Faktoren spielen
bei der Wahl eine Rolle: die Kurden, die vorläufige Verfassung
und die Frauen.
Die Kurden im Norden führen seit Ende
des Irak-Krieges von 1991 ein Eigenleben. Damals haben die USA eine
so genannte "grüne Linie" durch den Irak gezogen.
Nördlich davon konnten die Kurden autonom leben und handeln.
Sie hielten einmal eine Wahl ab - 1992. Seither regieren sie sich
de facto selbst, mit rivalisierenden Fraktionen. Im Autonomiegebiet
"Kurdistan" herrscht relativer Wohlstand. Die "Ministerien"
handeln: Es gibt regelmäßigen Schulunterricht,
Gesundheitsversorgung, Polizei, Wasser, Strom, und sogar die
Müllabfuhr funktioniert; alles, was derzeit im übrigen
Irak undenkbar erscheint. Die Kurden heuern sogar aus anderen
Landesteilen und dem Iran Arbeiter an und zeigen damit der Region,
wie eine irakische Demokratie funktionieren könnte. Viele in
"Kurdistan" arbeitende arabische Iraker möchten nicht mehr
zurück. Die USA versprechen sich vom Exempel "Kurdistan" eine
Ausstrahlung auf den übrigen Irak. Im Fall einer
Machtübernahme schiitischer Mullahs in Bagdad, würden die
Kurden indes umgehend einen unabhängigen Staat ausrufen. Doch
dies soll in jedem Fall die Übergangsverfassung verhindern,
die für den Emporkömmling Chalabi geradezu
maßgeschneidert ist. Als Vorsitzender des Wirschafts- und
Finanzkomitees des provisorischen Regierungsrates hat er bereits
loyale Anhänger in Schlüsselpositionen manövriert.
Entscheidend für die endgültige Wahl des
Ministerpräsidenten bleibt zwar, was die
Übergangsverfassung vorschreibt, aber auch da hat Chalabi
wiederum gute Chancen: als Kompromisskandidat. Zwar bietet sich als
solcher auch der im Londoner Exil aufgewachsene Scharif
(König) Ali bin al-Hussein an. Der wirkt auf die breite
Bevölkerung aber zu britisch. Grundsätzlich bedarf die
Amtsernennung des Ministerpräsidenten laut
Übergangsverfassung der Einstimmigkeit von Präsident und
seinen beiden Vizes, die gemeinsam die drei ethnischen und
religiösen Hauptgruppen des Irak repräsentieren sollen.
Derzeit gilt als aussichtsreichster Kandidat für das
Präsidentenamt der schiitische Mehrheitsführer des
provisorischen Übergangsrates, Abdulaziz Hakim. Er ist der
Bruder von Mullah Mohammed Baqir al-Hakim, der vergangenes Jahr
zusammen mit 90 Anhängern in Nadschaf durch eine Autobombe ums
Leben kam. Es gilt als wahrscheinlich, dass Hakim für seinen
Mitgläubigen Chalabi stimmen wird.
Für eine der beiden Positionen der
Vize-Präsidenten hat sich Adnan Pachani positioniert. Vor der
Machtergreifung Saddams 1968 war Pachani Außenminister und
UN-Botschafter seines Landes. Er ist ein Liberaler im westlichen
Sinne, der für einen säkularen Irak eintritt. Deshalb
gilt seine Stimme für Chalabi ebenfalls als sicher. Die zweite
Vize-Stelle wird wohl ein Kurde einnehmen. Die rivalisierenden
Kurden-Fraktionen haben sich für diesen Fall auf Jalal
Talibani geeinigt. Bei einer Wahl zwischen einem Mullah und Chalabi
gilt ebenfalls als sicher, dass der Kurde für Chalabi
stimmt.
Bleiben als dritter positiver Faktor für
eine demokratische Regierung die irakischen Frauen, die mit 60
Prozent an der Bevölkerung die Männer übertrumpfen.
Ihre Rolle wird im Westen kontinuierlich unterschätzt, da sich
die irakischen Männer - wie in allen arabischen Staaten -
dominant in den Vordergrund spielen. Aber auch die Frauen werden
wählen, mit wachsendem Anteil - je nach Abhängigkeit von
einem Mann - sicherlich nicht für einen islamistischen Staat
à la Iran, in dem es zwei Frauen vor Gericht bedarf, um soviel
Gewicht zu haben wie die Stimme eines Mannes, oder wo
Pädophilie legalisiert ist, indem zehnjährige
Mädchen mit erwachsenen Männern verheiratet werden
dürfen.
Mitarbeiter der UNO haben darauf aufmerksam
gemacht, dass sich zunehmend irakische Frauen melden, die darauf
hinweisen, islamische Extremisten verlangten von ihnen, einen
Schleier zu tragen. "Andernfalls werden wir geschlagen oder
vergewaltigt." Die Vergewaltigungsrate im Irak sei "alarmierend
angestiegen", warnt die UN-Vertretung in Bagdad. Viele irakische
Frauen sind besser gebildet als die Männer und deshalb
freiheitlichen Bestrebungen aufgeschlossen.
Die irakische Frauenrechtsbewegung weist
darauf hin, dass Frauen kaum mehr, wie unter Saddams säkularem
Regime, selbst Auto fahren oder nachts unbehelligt durch die Stadt
gehen können, schon gar nicht unverschleiert oder ohne
männliche Begleitung.
Die Vorsitzende der "Organisation
Frauenfreiheit im Irak", Yanar Mohammed, erhielt im Januar 2004
zwei Todesdrohungen der vom Iran und Saudi Arabien geförderten
islamistischen Miliz "Jaish Al-Sahaba - Armee von Sahaba". Yanar
Mohammed hatte sich mehrfach öffentlich gegen das grausame
islamische Rechtssystem "Scharia" ausgesprochen und die volle
Gleichstellung von Mann und Frau gefordert. Gemeinsam mit
zwölf weiteren irakischen Menschenrechts- und Frauengruppen
heizte sie vergangenen Dezember auch dem amerikanischen Statthalter
im Irak, Paul Bremer, ein. Sie warfen ihm vor, dass keine Frau in
den Institutionen der provisorischen Übergangsregierung
vertreten sei. In der Übergangsregierung selbst sind von den
25 Ratsstellen nur drei durch Frauen besetzt, obwohl die Frauen die
Mehrheit an der Bevölkerung stellen. Als diskriminierend wurde
von ihnen angeprangert, dass im Gremium für die Ausarbeitung
eines Grundgesetzes keine Frau Mitspracherecht erhielt.
Weiter beklagten die Frauenrechtlerinnen,
dass im Hotspot Nadschaf eine aus Bagdad ernannte Richterin von den
örtlichen Autoritäten abgelehnt wurde und die Amerikaner
dies hingenommen haben. Der "Prokonsul" Bremer versuchte aufgrund
der Klagen der Frauen einige Nachbesserungen scheiterte aber an der
Ablehnung der Schiiten der Übergangsregierung.
Dabei passen die Forderungen der irakische
Frauenbewegung voll in die Pläne des amerikanischen
Präsidenten für den "gesamten Nahen Osten". Bush will
diese Initiative seiner Regierung auf dem nächsten G-8-Gipfel
der Industrieländer Anfang Juni, also noch vor der
Machtübergabe, vorstellen. Sie enthält im Wesentlichen
Pläne, wie Demokratie im Nahen Osten gefördert und den
Frauen auf sämtlichen Ebenen der arabischen Gesellschaften zu
mehr Rechten verholfen werden kann. Diese im Vorfeld bekannt
gewordenen Kernpunkte der Agenda Bushs wurden
erwartungsgemäß von einer Reihe arabischer Staaten, allen
voran Saudi Arabien, heftig kritisiert.
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